Traum und Realität; vielfältig ganz werdenWalter SchöpferLeiter Tagesstätte<strong>Stiftung</strong> <strong>Melchior</strong>Da mir sehr vieles Angstmacht, möchte ich lernen, dieseAngst abzubauen.Zitat BesucherInIch weiss nicht, wo ich bin. Alles scheint mir so andersartig undfremd und doch irgendwie vertraut. Ich sehe eine Person, diedarin vertieft ist, ein Bild zu malen. Jede Faser ihres Seins richtetsich auf das Papier, den Pinsel in ihrer Hand und die Farbeauf der Palette. Pure Konzentration. Mit schwungvollen, kräftigenStrichen malt sie Konturen auf das Blatt. Nichts hindert diePerson daran, aus dem Vollen zu schöpfen und sich über ihreKreation zu freuen. In diesem Moment wachsen der Person Flügel.Ich kann zusehen, wie sie grösser und grösser werden undihr Gewicht den gebeugten Körper in eine senkrechte Haltungzieht. Engelsgleich steht sie da – unanfechtbar.Es ist ein schönes, intensives Erlebnis, diese Erscheinung zubetrachten. Nur ungern lass ich mich durch die aufdringlich lauteStimme des Weckerradios aus meiner Traumwelt herausreissenund meine Gedanken wieder in Einklang mit der Realitätbringen. Ich kenne die Person aus meinem Traum. Sie ist eineBesucherin der Tagesstätte. Durch ihre psychische Krankheit istsie sehr eingeschränkt. In gewissen Situationen packt sie dieAngst und schüttelt sie so fest, dass sie sich nicht mehr orientierenkann. Sie verliert dabei jeglichen Bezug zur Realität undstirbt tausend Tode. Zu anderen Zeiten fühlt sie sich beim Verlassendes Hauses gezwungen, wieder und wieder die Tür aufzuschliessen,in die Küche zurückzugehen und zu kontrollieren,ob der Gasherd abgeschaltet, der Kühlschrank zu und das Lichtausgeschaltet ist. Und kaum steht sie wieder vor der verschlossenenHaustür, überkommen sie erneut Zweifel. Auf diese Weiseverpasst sie verbindliche Vereinbarungen, kann z.B. nicht anArbeit, am Alltagsleben, an sozialen Kontakten teilhaben.Auf dem Weg zur Arbeit vergleiche ich nochmals in Gedankendie Bilder, die ich von unserer Besucherin habe. Während ich indie Pedalen meines Fahrrads trete, wird mir bewusst, dass wederdas eine, noch das andere Bild die ganze Realität zeigt.Jeder Mensch hat neben seinen Fähigkeiten und Stärken auchseine Schwächen.Interessante Hinweise zu unserem Bild von Erkrankten, resp. zuunserem Krankheitsverständnis, gibt unsere Umgangssprache.Während Menschen somatische Krankheiten, z.B. einen Schnupfenhaben, sind psychisch kranke Menschen krank. Sie sind ihreKrankheit. In unserer Vorstellung scheint sie dies – im Gegensatzzum Schnupfen – vollständig als Person auszumachen. IhreVielfältigkeit, ihre Stärken und Schwächen sind so sprachlich(und damit auch in unserer Vorstellungskraft) ausgeblendet.6
Mit der Besucherin aus meinem Traum verhält es sich ebenso:Sie ist nicht ein unanfechtbarer Engel. Doch gibt es Momente,da sie dem Bilde nahe kommt. Und sie ist auch nicht einfachnur eine Angst- und Zwangserkrankte: Aber Ängste und Zwängebeherrschen sie immer wieder in ihrem Lebensalltag.Uns stellt sich in der Tagesstätte die Herausforderung, die Besuchendenwieder zu einem vollständigeren Bild ihrer selbst zubegleiten, mit Stärken und Schwächen, mit gesundheitlichenSchwierigkeiten aber auch vielen Fähigkeiten – eine faszinierendeAufgabe!Als Professionelle geben wir den gesunden Momenten mehrBeachtung, lernen sie bewusster wahrzunehmen und stärkenund vermehren sie dadurch. Das tun wir, zusammen mit unserenBesucherInnen, mit der Überzeugung, dass damit Mut undSelbstvertrauen wachsen und den Aufbau von sozialen Kompetenzen,ja sogar Gesundung ermöglichen. Diese Haltung hat sichim Laufe des letzten Jahres bei uns gefestigt und ist Teil unsererBetreuungsqualität.Mit kalten Händen steige ich vom Fahrrad, stelle es in den Ständerund drehe den Schlüssel zur Eingangstür, gespannt auf weitereEntwicklungsschritte, die heute hier gewagt werden.7