ein Name – ein Mensch - Stolpersteine Gelnhausen
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Stolperst<strong>ein</strong>e<br />
<strong>Gelnhausen</strong><br />
Ein St<strong>ein</strong> – <strong>ein</strong> <strong>Name</strong> – <strong>ein</strong> <strong>Mensch</strong>
Stolperst<strong>ein</strong>e<br />
<strong>Gelnhausen</strong><br />
Ein St<strong>ein</strong> – <strong>ein</strong> <strong>Name</strong> – <strong>ein</strong> <strong>Mensch</strong><br />
Im Februar und Mai 2008 wurde durch Beschluss des Ortsbeirats<br />
und <strong>ein</strong>stimmiges Votum der Stadtverordnetenversammlung die<br />
Verlegung von Stolperst<strong>ein</strong>en in <strong>Gelnhausen</strong> beschlossen. Nach <strong>ein</strong>em<br />
Aufruf in der Presse bildete sich <strong>ein</strong>e Interessengem<strong>ein</strong>schaft,<br />
die die Verlegung von Stolperst<strong>ein</strong>en für die Opfer nationalsozialistischer<br />
Gewalt in <strong>Gelnhausen</strong> unterstützen wollte. Aus diesem<br />
Kreis entstand die Recherchegruppe, die in den folgenden Monaten<br />
die Daten für die Stolperst<strong>ein</strong>e erarbeitete. Magistrat und Stadtverordnetenversammlung<br />
erklärten ihre Zustimmung. Auch die<br />
Bewohner der Häuser, vor denen die St<strong>ein</strong>e verlegt werden sollten,<br />
und die überwiegende Mehrheit der Bürger unterstützten das<br />
Vorhaben. Schon bald kamen so viele Spenden für <strong>ein</strong>en Stolperst<strong>ein</strong><br />
zusammen, dass der Kölner Künstler Gunter Demnig am<br />
20. Oktober 2009 die ersten 35 Stolperst<strong>ein</strong>e verlegen konnte.<br />
2
WELCHE BEDEUTUNG HABEN DIESE STEINE?<br />
„Unsere Absicht ist, dass alle <strong>Mensch</strong>en, die in den Jahren 1933 -<br />
1945 zu Opfern nationalsozialistischer Gewalt wurden, mit ihrem<br />
<strong>Name</strong>n an ihrem Wohn- oder Wirkungsort präsent bleiben. Somit<br />
sind die Stolperst<strong>ein</strong>e <strong>ein</strong> Mittel gegen das Vergessen und <strong>ein</strong>e<br />
ständige Mahnung an alle Bürger oder Besucher unserer Stadt.“<br />
3
Josef Hecht<br />
BERLINER STRASSE 20<br />
„Der Hechte Josef mit der Kuh am Seil“, unter diesem <strong>Name</strong>n ist<br />
Josef Hecht vielen Gelnhäusern <strong>ein</strong> Begriff.<br />
Er ist Viehhändler in und um <strong>Gelnhausen</strong>, und es gibt viele Anekdoten<br />
über ihn. Noch in den 1960er Jahren singt die Jugend: „Ohne<br />
Pfeil und Bogen durch Gebirg und Tal, kommt der Hecht gezogen,<br />
hatt die Kou am Saal.“<br />
Nur wenige Dinge, die über ihn erzählt werden, sind nachweisbar.<br />
Josef Hecht wird am 29. April 1873 in <strong>Gelnhausen</strong> geboren. Mit<br />
s<strong>ein</strong>en Eltern, Abraham und Karoline, wohnt er in der Neuen Straße<br />
8 in <strong>Gelnhausen</strong>. Hier besucht er auch die Oberrealschule und<br />
erlangt s<strong>ein</strong>en Abschluss. Er ist der Einzige aus s<strong>ein</strong>er Klasse, der<br />
k<strong>ein</strong>en „bürgerlichen“ Beruf erlernt. Da s<strong>ein</strong> Vater früh stirbt, verzichtet<br />
er auf das Studium der Medizin. Er wird Viehhändler, bleibt<br />
vorerst Junggeselle und lebt mit s<strong>ein</strong>er Mutter in <strong>ein</strong>em Hausstand.<br />
Eine Beschreibung von Philipp Kreis gibt uns <strong>ein</strong> Bild von ihm:<br />
4
JOSEF HECHT<br />
JG. 1873<br />
FLUCHT IN DEN TOD<br />
1.1.1941<br />
Josef Hecht als Schuljunge<br />
„Langsam, in sehr gemächlichen, aber sehr langen Schritten geht<br />
durch die Stadt der jüdische Handelsmann Josef Hecht, der „Hechte<br />
Josef“. Er ist von großer Statur, geht etwas nach vorn gebückt,<br />
denn der obere Teil s<strong>ein</strong>es Rückens ist etwas zu stark ausgefallen,<br />
man kann es jedoch nicht als Buckel bezeichnen, s<strong>ein</strong> Gesicht ziert<br />
<strong>ein</strong>e altmodische Brille.“ (P. Kreis, in „Alte Gelnhäuser erzählen“,<br />
<strong>Gelnhausen</strong> 1980)<br />
Erst mit über 40 Jahren heiratet er Josefine (Jettchl) Plant. Josefine<br />
ist am 21. Dezember 1897 in Rauschenberg geboren, sie ist sehr<br />
viel jünger als ihr Ehemann. Im April 1938 zieht sie mit ihm in<br />
die verm<strong>ein</strong>tlich sichere Großstadt Frankfurt am Main. Josef ist<br />
68 Jahre alt, als er sich am 1. Januar 1941 durch Selbsttötung das<br />
Leben nimmt, um der drohenden Deportation und Ermordung<br />
zuvorzukommen.<br />
S<strong>ein</strong>e Frau Josefine wird am 11. Juni des gleichen Jahres deportiert<br />
und in Majdanek/Lublin ermordet. Beate Geßner<br />
5
Lotte Sondheimer<br />
ALTER GRABEN 4-6<br />
„Nicht groß und nicht ganz schlank – ganz anders als ihre elegante, hochgewachsene<br />
Mutter Gertrud“, so beschreibt die 95-jährige Zeitzeugin, was sie<br />
von Lotte, der Tochter des Rechtsanwaltes Dr. Elkan Sondheimer in Erinnerung<br />
hat. Dennoch, Lotte ist taff. Auch ihr Stern wird glänzen, wenn auch nur<br />
für kurze Zeit. Lotte wird als jüngstes Kind und <strong>ein</strong>ziges Mädchen der drei<br />
Geschwister am 8. Mai 1907 als Nachzüglerin in <strong>Gelnhausen</strong> geboren. Schon<br />
bald darauf zieht die jüdische Familie in die stadtbildprägende neu errichtete<br />
Villa oberhalb des „Alten Grabens“. Es ist <strong>ein</strong> offenes Haus. Die Sondheimers<br />
haben oft Besuch und reisen selbst gern und viel. Nicht selten werden Gemälde<br />
mitgebracht, denn die ganze Familie ist kunstbegeistert. Mutter Gertrud,<br />
geborene Rapp, unterhält, außer <strong>ein</strong>er f<strong>ein</strong>en Kaffeegesellschaft, <strong>ein</strong>en illustren<br />
Literaturkreis à la salon, und für den technisch begabten Bruder Hans steht bereits<br />
fest – er geht als Beleuchter zum Theater. Vater Elkan wird sich dem nicht<br />
in den Weg stellen. Auch Lotte lässt man ihren Willen: Schauspielerin möchte<br />
sie werden! Im April 1933 verlässt sie ihre Heimatstadt und verwirklicht ihren<br />
Traum in Zürich. Ein Engagement führt sie nach Frankreich. Sie verlebt den<br />
Rest der 1930er Jahre in Paris und arbeitet am 1925 gegründeten Institut<br />
de Phonétique. Sie hat besondere Zukunftspläne: Gem<strong>ein</strong>sam mit ihrem<br />
ägyptischen Verlobten will sie nach Kairo emigrieren. Leider wird sie Kairo nie<br />
kennenlernen. Nach dem Überfall der Deutschen auf Polen, erklärt Frank-<br />
6
LOTTE SONDHEIMER<br />
JG. 1907<br />
VERZOGEN NACH FRANKREICH<br />
INHAFTIERUNG GURS MAI 1940<br />
DEPORTIERT 10.8.1942<br />
VON DRANCY<br />
AUSCHWITZ<br />
ERMORDET<br />
Portrait wahrsch<strong>ein</strong>lich Lotte Sondheimers<br />
aus den 1930er Jahren.<br />
Sammlung Karin und Christian Frick<br />
reich am 3. September 1939 Deutschland den Krieg. Die deutsche Jüdin Lotte<br />
Sondheimer ist in Frankreich nun zur „f<strong>ein</strong>dlichen Ausländerin“ geworden.<br />
Wie auch Hannah Arendt wird sie ab Mai 1940 im Lager Gurs an der südfranzösischen<br />
Grenze inhaftiert. Hanna Arendt gelingt nach wenigen Wochen die<br />
Flucht, Lotte Sondheimer nicht. Dennoch, sie lässt sich nicht unterkriegen, tritt<br />
zur Unterhaltung der Lagerinsassen in <strong>ein</strong>er One-woman-show auf und ist in<br />
der Kulturbaracke aktiv, wo sie auch den Bibliotheksservice leitet. Einmal noch<br />
soll sie <strong>ein</strong>e stolze Titania im „Sommernachtstraum“ abgegeben haben, und im<br />
Stück „Die Grenze“ die Rolle der Frau Kommerzienrat Fehlinger gespielt haben,<br />
wie die überlebende Berufskollegin Else Schönberg berichtete. Derweil werden<br />
die Bedingungen im Lager Gurs immer grauenhafter. Täglich sterben Hunderte<br />
von Insassen an Hunger, mangelnder Hygiene, Krankheit und Erschöpfung. Lotte<br />
hält lange durch und kehrt <strong>ein</strong> letztes Mal nach Paris zurück – in das große<br />
Lager Drancy. Am 10. August.1942 – ihre Eltern und Brüder leben lange schon<br />
im Exil in den USA – wird Lotte Sondheimer zusammen mit vielen anderen<br />
Jüdinnen und Juden, darunter Alte wie Junge, mit dem 17. Konvoi von Drancy/<br />
Paris nach Auschwitz deportiert und ermordet. Vor der Sondheimerschen<br />
Villa im Alten Graben wird im November 2010 <strong>ein</strong> Stolperst<strong>ein</strong> verlegt, der die<br />
Erinnerung an sie wachhält.<br />
Christine Raedler<br />
7
Gustav Rennert<br />
OBERMARKT 7 (RATHAUS)<br />
„Ich bin nie zu Kreuze gekrochen“, so schildert Gustav Rennert s<strong>ein</strong><br />
Leben. Der großgewachsene, drahtige Mann ersch<strong>ein</strong>t schon äußerlich<br />
unbeugsam. Am 22. März 1888 in Pressen bei Leipzig geboren,<br />
schließt er sich schon in früher Jugend der Gewerkschaftsbewegung<br />
an und wird von 1907-1917 Vorsitzender des Gewerkschaftskartells<br />
für den Kreis Delitzsch nahe Leipzig. Er siedelt 1917 nach<br />
Rückingen um und betreibt in den Jahren 1917/1918 <strong>ein</strong>e Zigarrenfabrik.<br />
Mit dem Ende des 1. Weltkrieges zieht er nach <strong>Gelnhausen</strong><br />
und führt bis 1933 den Konsumver<strong>ein</strong> in der Langgasse 23. Von<br />
1922-1926 ist er gewählter Beigeordneter der Stadt <strong>Gelnhausen</strong>,<br />
von 1927-1933 Stadtverordneter, außerdem gehört er dem Kreistag<br />
an. Als KPD-Mitglied wird er ab 1933 immer wieder verhaftet.<br />
1933-1934 und später nochmals 1944 in das Konzentrationslager<br />
Dachau verschleppt, erfährt Gustav Rennert die Schikanen und die<br />
Prügel des Nazi-Regimes. Vorbereitung zum Hochverrat lautet der<br />
Vorwurf, insgesamt wird er 11 Monate inhaftiert. Nach dem Strafverfahren,<br />
wegen Mangel an Beweisen freigesprochen, bestimmt<br />
nun ständige Überwachung der Gestapo s<strong>ein</strong> Leben. Mit s<strong>ein</strong>er Frau<br />
8
HIER WIRKTE<br />
GUSTAV RENNERT<br />
JG. 1888<br />
’SCHUTZHAFT’ 1933-1934<br />
POLIZEIGEFÄNGNIS HANAU<br />
ZUCHTHAUS PREUNGESHEIM<br />
KZ BREITENAU<br />
1944 DACHAU<br />
ÜBERLEBT<br />
Alwine, geb. Katzenberg, und s<strong>ein</strong>em Sohn Hermann wohnt er in<br />
der Brentanostraße 5, Am Ringwolf und später im Mühlbachweg.<br />
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wird Gustav Rennert sofort wieder<br />
politisch tätig. In s<strong>ein</strong>er Wahlheimat <strong>Gelnhausen</strong> wird er vom<br />
25. April 1948 bis 28. Oktober 1956 (2 Legislaturperioden) als<br />
Stadtverordneter und 1948-1952 auch in den Kreistag gewählt.<br />
Neben s<strong>ein</strong>em Wirken in den öffentlichen Körperschaften arbeitet<br />
er über 50 Jahre ehrenamtlich für die Sozialversicherung. 1969 erhält<br />
er in Anerkennung s<strong>ein</strong>er Verdienste um die Stadt <strong>Gelnhausen</strong><br />
durch <strong>ein</strong>stimmigen Beschluss der Stadtverordnetenversammlung<br />
s<strong>ein</strong>e Ernennung zum Ehrenstadtrat. Gustav Rennert stirbt im<br />
Alter von 82 Jahren am 27. Mai 1970 in <strong>Gelnhausen</strong>. Magistrat und<br />
Stadtverordnetenvorsteher sowie die Allgem<strong>ein</strong>e Ortskrankenkasse<br />
loben in den Nachrufen s<strong>ein</strong> Engagement und s<strong>ein</strong> selbstloses Handeln.<br />
Wir, die „Interessengem<strong>ein</strong>schaft Stolperst<strong>ein</strong>e für <strong>Gelnhausen</strong>“,<br />
wollen s<strong>ein</strong> Wirken und s<strong>ein</strong>e Dienste für die Bürger der Stadt<br />
<strong>Gelnhausen</strong> ehren und s<strong>ein</strong>er mit <strong>ein</strong>em Stolperst<strong>ein</strong> gedenken.<br />
Rosemarie Bartel<br />
9
Wilhelm Engels<br />
HOLZGASSE 17<br />
Wilhelm Engels, geboren am 10. Juli 1876 in Herford/Westfalen, ist von<br />
1920 bis 1938 katholischer Pfarrer in <strong>Gelnhausen</strong>. In <strong>ein</strong>er sehr schwierigen<br />
Zeit setzt er sich für den Rückkauf der verfallenen Peterskirche <strong>ein</strong>,<br />
die im Juli 1938 <strong>ein</strong>geweiht wird. Seit Beginn der Nazi-Herrschaft hat<br />
Pfarrer Engels als Vertreter der Kirche unter gezielten und beleidigenden<br />
Unterstellungen und Schikanen der Behörden zu leiden. Am 2. Mai 1938<br />
belegt ihn der Bürgermeister Robert mit <strong>ein</strong>er Ordnungsstrafe von 30,- RM,<br />
weil am 1. Mai, <strong>ein</strong>em „laut Reichsgesetz nationalsozialistischem Feiertag“,<br />
die Glocken läuteten, was die Ansprache des Kreisleiters erheblich gestört<br />
habe. Das ist nur der Anfang <strong>ein</strong>es organisierten Ausbruchs von Hass und<br />
Hetze, auch und vor allem in der örtlichen Presse. Im November 1938<br />
wird ihm vorgeworfen, Akten des jüdischen Rechtsanwalts Sondheimer<br />
bei dessen erzwungenem Wegzug aus <strong>Gelnhausen</strong> in das pfarramtliche<br />
Archiv aufgenommen zu haben. Darauf wird er als „Judenknecht“ an den<br />
Pranger gestellt und beschimpft. Am 26. November 1938 ersch<strong>ein</strong>t in der<br />
Zeitung „Kinzig-Wacht“ <strong>ein</strong> längerer Artikel unter der Schlagzeile: „Mehr als<br />
<strong>ein</strong>e bedauerliche Entgleisung: Judenakten im Pfarrhaus“. Man unterstellt<br />
Pfarrer Engels, er habe sich „diese merkwürdige Tat christlicher Nächstenliebe“<br />
mit <strong>ein</strong> paar Möbelstücken bezahlen lassen. (Pfarrer Engels hatte<br />
der Familie unter anderem <strong>ein</strong> Einmachgestell, <strong>ein</strong> Obst- und <strong>ein</strong> Bücherregal<br />
abgekauft.) „Alles zusammen sicherlich <strong>ein</strong> gutes Geschäft.“ Weiter<br />
10
HIER WIRKTE<br />
PFARRER<br />
WILHELM ENGELS<br />
JG. 1876<br />
MISSHANDELT<br />
’SCHUTZHAFT’ 1938<br />
ÜBERLEBT<br />
heißt es: „Schon immer hat das Volk jeden als Verräter angesehen, der mit<br />
dem Judentum paktierte …Herr Pfarrer Engels, Sie haben Verrat geübt<br />
am deutschen Volk …“ Schließlich wird das Urteil darüber dem „gesunden<br />
Volksempfinden“ überlassen. Das „gesunde Volksempfinden“ äußert sich<br />
noch am selben Abend. Eine Bande meist jugendlicher Randalierer wirft<br />
St<strong>ein</strong>e gegen Fenster und Türen des Pfarrhauses, grölt: „Heraus mit den<br />
Judenknechten!“ und stürmt schließlich das Pfarrhaus. Auf dem Höhepunkt<br />
der Angriffe auf den Pfarrer und s<strong>ein</strong>en Kaplan ersch<strong>ein</strong>t endlich die<br />
Polizei, geht aber nicht gegen die Randalierer vor, sondern nimmt Pfarrer<br />
Engels und Kaplan Demme in „Schutzhaft“. Auf dem Weg in das Gefängnis<br />
werden beide wüst beschimpft, mit St<strong>ein</strong>en beworfen und mit Fußtritten<br />
traktiert. Wegen s<strong>ein</strong>es schweren Herzleidens verschimmert sich der Gesundheitszustand<br />
des Pfarrers so sehr, dass – allerdings erst am Nachmittag<br />
des folgenden Tages – der Kreisarzt gerufen wird. Nach s<strong>ein</strong>er Entlassung<br />
aus dem Gefängnis wird Pfarrer Engels strengstens verboten, sich weiterhin<br />
in <strong>Gelnhausen</strong> aufzuhalten. Für s<strong>ein</strong>e persönliche Sicherheit könne die<br />
Polizei nicht aufkommen. Infolge der Misshandlungen und Kränkungen<br />
ist er körperlich und seelisch so verletzt, dass er sich auch nach dem Ende<br />
des Krieges nicht in der Lage sieht, <strong>Gelnhausen</strong> noch <strong>ein</strong>mal zu betreten.<br />
Er zieht sich nach Alsberg bei Bad Soden Salmünster zurück, wo er am<br />
19. Oktober 1949 stirbt. Christel Schmitz-Bonfigt<br />
11
Paul Linick<br />
BRENTANOSTRASSE 1<br />
Am 4. Juli 1909 wird Paul Linick in <strong>Gelnhausen</strong> als jüngster Sohn von Markus und<br />
Recha Linick geboren. Fünf Kinder werden im Haus in der „Judengasse“ (später<br />
Brentanostraße) großgezogen: Erich, geb. 1902, Fritz (1904), Paul, Lucie (1911)<br />
und Else (1914). Vater Markus, gelernter Buchdrucker, war 1900 aus Frankfurt<br />
gekommen und heiratete in das Haus Glauberg <strong>ein</strong>. Baruch und Sofie Glauberg,<br />
selbst 1877 aus Langenselbold zugezogen, hatten fünf Kinder: Johanna, Isidor,<br />
Siegfried und die Zwillinge Selma und Recha; letztere wird Markus Ehefrau. Als<br />
Paul geboren wird, sind Linicks bereits wohlsituierte Gelnhäuser. Man betreibt<br />
seit 1901 <strong>ein</strong>e Papierwarenfabrik und Buchdruckerei sowie <strong>ein</strong>en Verlag, in dem<br />
ab 1927 auch die Tageszeitung „Gelnhäuser Nachrichten“ ersch<strong>ein</strong>t. Auf Familienbildern<br />
ist Paul der <strong>ein</strong>zige Brillenträger. Mit runder Nickelbrille und offenem<br />
Lachen schaut er in die Kamera. Wie schon s<strong>ein</strong>e älteren Brüder wird auch Paul<br />
so ausgebildet, dass er im väterlichen Betrieb mitarbeiten kann. S<strong>ein</strong> Bruder<br />
Erich schließt 1921 s<strong>ein</strong>e Lehre als Buchdrucker mit dem Gesellenbrief ab; Paul<br />
macht <strong>ein</strong>e kaufmännische Ausbildung, und s<strong>ein</strong>e Schwester Lucie wird als<br />
Kassiererin <strong>ein</strong>gesetzt. Am 31. Mai 1933 wird Vater Markus von den Nationalsozialisten<br />
gezwungen, den Zeitungsbetrieb <strong>ein</strong>zustellen. Bis zum Jahresende verlassen<br />
die Linicks wegen persönlicher Angriffe und Drohungen ihre Heimatstadt:<br />
Paul zieht ohne polizeiliche Abmeldung in die Hauptstadt. Auch Bruder Fritz geht<br />
nach Berlin, Schwester Lucie und Ehemann H<strong>ein</strong>z Gottlieb leben fortan in Leipzig<br />
in der Brandvorwerkstraße 80, Bruder Erich wandert mit s<strong>ein</strong>er Frau Franziska,<br />
12
PAUL LINICK<br />
JG. 1909<br />
VERHAFTET 1938<br />
ZUCHTHAUS FUHLSBÜTTEL<br />
FLUCHT IN DEN TOD<br />
8.5.1939<br />
geb. Kneip, nach Frankreich aus, Markus und Recha versuchen in Berlin-Pankow<br />
in der Kavalierstraße 21 Fuß zu fassen. In Berlin wohnt der ledige Paul in der<br />
Solinger Straße 8. Er übernimmt <strong>ein</strong> Wäschegeschäft in der Frankfurter Straße<br />
121; das Geld dafür ermöglichen Darlehen der Eltern und des Schwagers H<strong>ein</strong>z.<br />
Laut Devisenakte des Brandenburgischen Landesarchivs geht das Geschäft am<br />
11. Juli 1938 in „arische“ Hände über. Der erhaltene Kaufvertrag sch<strong>ein</strong>t angemessen.<br />
Ab da werden die Informationen über Paul dürftig. Es ist unklar, wann<br />
genau und weshalb Paul Linick im Gestapogefängnis Fuhlsbüttel inhaftiert wird,<br />
wahrsch<strong>ein</strong>lich als sogenannter „Aktionsjude“ nach den Pogromen im November<br />
1938? Bislang gibt es k<strong>ein</strong>e Antwort darauf. Kurz vor s<strong>ein</strong>em dreißigsten Geburtstag<br />
steht der junge Mann mit dem Rücken an der Wand: Er entzieht sich am<br />
8. Mai 1939 Folter und Schikanen durch Selbsttötung. Laut Devisenakte werden<br />
noch am 17. März 1942 653,60 Reichsmark aus s<strong>ein</strong>em Besitz bei der Zollverhandlung<br />
Hamburg aufbewahrt. Es ist dieselbe Akte, in der Pauls Schicksal zynisch<br />
zusammengefasst wird: „Paul Linick ist ebenfalls Jude und hat sich im Jahre<br />
1939 im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel das Leben genommen.“ Wie Paul überleben<br />
viele Familienmitglieder den Holocaust nicht: s<strong>ein</strong>e Eltern, die nach Holland<br />
emigriert waren, werden in Sobibor getötet, s<strong>ein</strong>e Schwester Lucie in Auschwitz,<br />
deren Ehemann H<strong>ein</strong>z in Theresienstadt; Tante Selma wird ebenfalls in Sobibor<br />
ermordet. Vor der Brentanostraße 1 halten sechs Stolperst<strong>ein</strong>e die Erinnerung<br />
an sie wach. Christine Raedler<br />
13
1: Lotte Sondheimer, Alter Graben 4-6<br />
2: Pfarrer Wilhelm Engels, Holzgasse 17<br />
3: Gustav Rennert, Obermarkt 7 (Rathaus)<br />
4: Paul Linick, Brentanostraße 1<br />
5: Josef Hecht, Berlinerstraße 20<br />
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Impressum:<br />
Interessengem<strong>ein</strong>schaft Stolperst<strong>ein</strong>e <strong>Gelnhausen</strong><br />
Florian Dinges<br />
Beate Geßner<br />
Gail Lupton<br />
Stefan Mädler,<br />
Peter Musall<br />
Christine Raedler<br />
Christel Schmitz-Bonfigt<br />
Dr. Stefan Wüsten<br />
Kontakt IG Stolperst<strong>ein</strong>e <strong>Gelnhausen</strong><br />
E-Mail: info@stolperst<strong>ein</strong>e-gelnhausen.de<br />
Internet: www. stolperst<strong>ein</strong>e-gelnhausen.de<br />
Rosemarie Bartel (Sprecherin)<br />
Telefon 06051/18239<br />
E-Mail: bartel.gn@arcor.de<br />
David Lupton (Sprecher)<br />
Telefon 06051/13729<br />
E-Mail: lupton@t-online.de<br />
Spendenkonto:<br />
Konto der Stadt <strong>Gelnhausen</strong>, Kontonummer: 1016<br />
Kreissparkasse <strong>Gelnhausen</strong> (BLZ 507 500 94)<br />
Ein Stolperst<strong>ein</strong>: 95€, Vermerk „Spende Stolperst<strong>ein</strong>“<br />
bzw. „Spende Stolperst<strong>ein</strong>-Buch“<br />
Spendenbesch<strong>ein</strong>igung wird von der Stadt <strong>Gelnhausen</strong> ausgestellt. Druck: Werbung&Druck M.Kroeber GmbH, Linsengericht · Layout: brandesmedia