12<strong>Science</strong><strong>Fiction</strong> <strong>Times</strong> <strong>10</strong>/19<strong>84</strong>Jedenfalls kein Deutsch. Ober denSatz könnte man sich fast vergessenoder den Autor als Papierkorb zwangsverpflichten.Auf seinem Weg zur U-Bahn verhältder Held "gegenüber des Magna-CummKaufhauses", um anschließend "dieWände des absteigenden (U-Bahn) Treppenhauses"zu besichtigen. Auch hierwaltet eigenständige deutsche SF. Erstmalswird ein dynamisches, dabei abernur in eine Richtung begehbares Treppenhausentworfen. Aufsteigender Zornbeim Leser wäre also völlig unbegründet.Das erstaunliche Treppenhaus steigtalso hinab auf einen leeren Bahnsteig:"Der Bahnsteig war leer - menschenleer,denn ansonsten war von Sauberkeitnichts zu merken . . ." Ein tiefer,ein bedeutender Satz, obwohl in ihmdoch mehr Deutsches als Eigenständigesschwingt.Dieser unsaubere Bahnsteig wird binnenkurzem noch dreckiger, da ihn zweijunge Männer in Lederjacken betreten.Michelin reagiert so: "... seine Gesichtszügelegten sich in gestrafften, abwehrendenBlick ..." Hier ist dann wenigerder sprachliche Aspekt als vielmehrdie besondere physiognomischeLeistung des Helden aller Achtung wert.Nach den Gesichtszügen kommt auchin den Tunnel Bewegung: Ein U-BahnZug fahrt ein, und Michelin trifft seinenVerderber. Auch eine Frau ist im Zug,vom Autor des längeren und breiterenaus der Sicht des Helden geschildert, umdessen spießbürgerlich-beschränkten Horizontzu erhellen. Schließlich verläßtsie den Zug: "Der Kelch ging vorüber,verließ das Abteil ...". Ach, könntendoch auch wir den Kelch ..., aber nein,bis zur bitteren Neige ...Bevor also Michelin seinen Verderberaus den Händen der Jugendlichen errettet,widmet er sich der Zeitung: "Erwidmete sich also wieder der Zeitung,warf einen Blick in die Sterbeanzeigeder vergangeneo Woche, fand aber niemanden,den er kannte, überdauerthatte, faltete sie zusammen und ließ siewieder in der Manteltasche verschwinden."Welch Satz! Welch syntaktischeEigenständigkeit! Und welche Stadt!Das muß die Zukunft sein: Nur nocheine Sterbeanzeige pro Woche; auchannonciert man nicht mehr den Tod,sondern das Sterben selbst.Nun aber schreitet Michelin zur RettungstatNachdem diese vollbracht ist,verlassen Michelin und Angloff denZug, um <strong>10</strong> Zeilen später sensationelldoch an der Endstation anzukommen.Genauer gesagt: "Die Endstation kam."Ein dynamisches Treppenhaus und nuneine sexualisierte Endstation. Kein Wunder,daß unseres Protagonisten "Launeum ein Übermaß gestiegen" ist.Aber auch Michelins Hochstimmungwird sogleich gedämpft, als er draußen"die ohnehin schon wenige Luft" durchAutos zusätzlich verpestet sieht.Nun keimt aber auch Hoffnung aufein baldiges Ende auf, denn: Unserezwei nähern sich dem luxuriösen Anwesen,"erklommen die kleine Anhöhe undendeten vor dem Portal ... ". Oh Gott,es könnte so manches enden, u. a. dieses"Kunstwerk", doch diese beidensollen eigentlich nur ankommen, underst jetzt beginnt der Akt der Betäubung,,der beim Leser schon längst vollbrachtist.Nur kurzzeitig wird letzterer nocheinmal aufgerüttelt durch die Bekanntschaftmit einem Diener, der "ungefragtder Wünsche seines Herrn seine Dienste"anbietet; da aber auch wir ungefragtunserer Wünsche dieses "Kunstwerk"zu Ende genießen müsseA, entschlummernwir wieder. Nur noch schemenhaftzieht der Akt der Heldenvergiftungan uns vorüber, wenn auch dieser"die Fäuste nachdrücklich durch dieLuft schwingend" sich seines Schicksalserwehren will. Es nützt nun garnichts, das Schicksal ereilt Michelin, derzwischenzeitlich einmal das Geschlechtgewechselt hatte ("Michelines Nackenhaare"),und es ereilt den Leser in Gestaltder doppelten Pointe.Oberflüssig zu erwähnen, daß der Autorauf 11 Seiten ca. siebzehnmal diekonventionellen Zeichensetzungsregelnauf höchst eigenständige Art korrigiert,interessante Variationen der Konjunktivbenutzungeinfuhrt, seine Kenntnissein der englischen Sprache nachweist("erkannte, daß Gentleman Geheimnisse... nicht preisgaben") und deutlichüber den üblichen Geschlechtszuweisungensteht ("Das Plastikhäuschen derBushaltestelle erkannte er als tückischeFalle, da sie zwar vor den ... Regenmassen... schützte ... ").Darüber hinaus sind folgendschwereund geradezu ins Philosophische IappeodeMetasätze en masse zu konstatieren,denen im Zuge der inhaltlichen Analyseunmöglich hinreichend Genüge getanwerden konnte. Zwei davon seien hierstellvertretend und sozusagen als Generalentschuldigungzitiert:"Das Spiel wiederholte sich in reget-mäßigen Zyklen, in denselben, in denenPassanten, Käufer vor der Bühne stehenblieben,weitermarschierten, die Farbenstachen oder nicht.""Michelin wardermaßen beeindruckt,daß er es vonog, es sich nicht anmerkenzu lassen."Auch wir sind beeindruckt vom"Kunstwerk", doch dürfen wir es unsimmerhin anmerken lassen, anders wärees auch gar nicht auszuhalten.Doch damit genug! Seinen Ruf alseigenständiger deutscher SF-Autor festigtunser Unbekannter auch in den beidenanderen Kurzgeschichten, die demVerfasser bekannt sind , wenn auchnicht in ebenso überzeugender unddurchschlagender Form. Zwar ist die inhaltlicheGestaltung der beiden Storiesdem "Kunstwerk" durchaus kongenial,jedoch übt der Autor eine unverständlicheRück- oder Vorsicht bei sprachlichenInnovationen. Nur an einigenStellen schimmert das ihm eigeneDeu tsch-Eigenständliche durch; nurmanchmal gelingen ihm Sätze von dieserEindringlichkeit und Gedankenschwere,die wir am "Kunstwerk" schätzen lernten:"Der 22. August hatte noch vierStunden vor sich." Und der Leser noch8 1/ 2 Seiten bis zum Schluß. Bis es jedochso weit ist, muß er noch erfahren,daß eine gewisse Margo "den übriggebliebenenRest ihres Geldes" zählt.Wohl ob dieser überraschenden Redundanzverfallt die Frau in Schweigen:"Ihr stummer Blick verfolgte das jungePaar, riß sich los und richtete sich wiederauf den Boden." Dort befindet sichinzwischen - überwältigt - der Leser,den beredten Blick anklagend gen Himmelerhoben. Doch was muß er nachwieder aufgenommener Lektüre zurKenntnis nehmen?: "Ruckartig faßteder Mann an seinen Kopf, riß seine Haareherunter, holte einen kleinen Beutelhervor und knotete ihn auf" Bei demVersuch, dieses nachzuvollziehen, fugtsich der Leser dermaßen schwere Schädenan Hirn und Haaren zu, daß nunendgültig Schluß ist mit der Lektüre.Der Beweis ist also erbracht, das Problemgelöst. Oder ist etwa ein Autorvorstellbar, der eindeutiger als unserMann ganz "nach eigenen Grundsätzenlebt" und schreibt. Solange also nochGeschichten dieser Qualität erscheinen- und sie erscheinen - , solange alsokönnen wir die Diskussion der Frage,ob es eine eigenständige deutsche SFgibt, einstellen. Die Sache ist geklärt.
<strong>Science</strong><strong>Fiction</strong> <strong>Times</strong> <strong>10</strong>/19<strong>84</strong>13Neue Wege- aber keine AvantgardeDie Autoren der hardcore-sf legten beiihren Büchern ihr Augenmerk bisher aufdie Technik und die "harten" Wissenschaften,wie Physik, Chemie, Geo- oderKosmologie, mit deren Hilfe ihr Helddie Menschheit vor einer Katastropherettete oder einem geheimnisvollenArtefakt sein Rätsel entlockte. DieCharaktere blieben dabei unterentwikkelt,der Stil holprig. Gregory Benfordhilft diesem Subgenre jetzt auf dieSprünge. In seinem Roman ZEITSCHAFT vollzieht er, was schon längstgang und gäbe sein sollte, er widmet seinenCharakteren ebensoviel Platz wieder wissenschaftlichen Idee.Die Handlung des vielfach ausgezeichnetenRomans (Nebula-, John W.Campbell Memorial-, Ditmar Award) istschnell erzählt. Im Jahre 1998 herrschenkatastrophale ökologische Verhältnisse:Hungersnöte in Afrika, Energierationierungund horrende Fleischpreise in denIndustrieländern und eine giftige, durchein Düngemittel ausgelöste Kieselalgenblüteim Südatlantik, die mit exponentiellemWachstum die Ozeane zu überwucherndroht. Eines der Projekte zurWiederherstellung der Umwelt ist, miteinem Tachyonenstrahl eine Botschaftin die Vergangenheit zu senden und sievor den Gefahren eines bestimmtenDüngemittels zu warnen.Zwei SpannungselementeAllein wenn man diese simple Handlungmit den stattlichen 430 Seiten des Buchesvergleictrt, ahnt man, wieviel RaumBenford auf die Charakterisierung seinerPersonen verwendet hat. Und tatsächlich,dieses Buch lebt davon, daß seineCharaktere leben. Benford schildert sowohldas everyday-life der Protagonisten,ihre Probleme mit den (Ehe-)Frauen, mit ihren Eltern und Kindern,Probleme, die jeder einmal hatte, nochhat oder erst haben wird, als auch - undhier hat der Durchschnittsmensch wenigerEinblick - ihre Arbeit als Wissenschaftler.Da ist z. B. John Renfrew, einbiederer, fast uninteressanter Typ, aberLeiter des Tachyonenexperiments, dereinen listigen und nicht ganz uneigennützigenCasanova von der Wichtigkeitdes Projekts überzeugen muß, damit dieserbeim Rat etwas von den ohnehinknappen Geldmitteln locker macht,oder Gordon Bernstein, der Physikeran der University of California, der mitjedermann Schwierigkeiten bekommt,mit seinem blasierten Vorgesetzten, weilGregory BenfordZEITSCHAFT(<strong>Times</strong>cape)Rastatt 19<strong>84</strong>, Moewig 3652, 432 S.,DM 9 ,80Deutsch von Bemd Holzrichterer Botschaften aus der Zukunft empfangt,mit seiner Freundin, weil er zuvielZeit bei seiner Arbeit verbringt, mitseiner jüdischen Mutter, weil er mit einemnicht-jüdischen Mädchen zusammenlebt,noch dazu ohne Trauschein.Benfords Verdienst ist , daß er das Klischeedes mad scientist oder das verklärteBild des Wissenschaftler-TechnikerKrieger-in-einem-Helden beiseite fegt zugunsteneiner vorurteilsfreien und :mthentischenSicht. (Benford ist o:dentlicherProfessor an der University o1 Californiaund müßte daher eigentlich wissen,wovon er schreibt.)Aber ZEITSCHAFT kann nicht nurmit hervorragenden Charakteren aufwarten,sondern auch, wie es sich ftir einenhardscience-Roman gehört, mit einemausgefeilten physikalischen Problem, daseiniges zur Faszinationskraft des Buchesbeiträgt. Hier ist es wieder einmal dasPhänomen der Zeit. Ein Tachyon (zugrch. tachys "schnell") ist ein hypothetischesTeilchen, das sich nur schnellerals das Licht, und, um mit der Relativitätstheoriein Einklang zu bleiben, rückwärtsdurch die Zeit bewegt. Dies machtTachyonen zu einem Vehikel ftir eineZeitreise, bei der zwar keine Materie,wohl aber Informationen transportiertwerden können. Benford geht ausfuhrliehauf den physikalischen Hintergrundein - ohne daß die Zeit flir den Leserdadurch weniger rätselhaft wird -, wobeier Fakt (das Wheeler-FeynmannscheModell von zugleich in Zukunft undVergangenheit gerichteten elektromagnetischenWellen; die Theorie vonzwei entgegengesetzten Zeitsträngen)und Fiktion (Aufspürung der Tachyonendurch Nuklearresonanz) zu einemftir einen Laien wie den Rezensenten untrennbarenGanzen verquickt. Die Technik,Wahres oder Mögliches mit Erlogenemzu mischen, wendet Benford auchan anderen Stellen dieses Buches an. Esist durchsetzt von vertrauten Szenen ausdem Alltag, die sich hier und heute genausogutabspielen (könnten), was denRoman sehr glaubwürdig erscheinenläßt. Auch die ziemlich eindrucksvollenEpisoden, die in den Jahren 1962/63spielen, wohin (wannhin?) die Botschaftgesandt wird, streifen Ereignisse, diedem Leser bekannt sind, den Vietnamkriegoder die Ermordung Kennedy'szum Beispiel. Benford zeichnet hier einsubtiles Portrait dieser Jahre: die raschexpandierende Wirtschaft, die aufblühendenWissenschaften mit dem Mondprogrammals Zugpferd und das ersteAufkeimen der 68er-Bewegung.MainstreamZEITSCHAFT ist einer der besten SFRomane der letzten Jahre, besonders,weil er so wirklichkeitsnah wirkt, daßman ihm über lange Passagen gar nichtoder nur kaum anmerkt, daß er überhauptzur SF, noch dazu zur harten SFmit ihren Hau-Ruck-Methoden gehört.Was dem Buch noch fehlt, ist eine ansprechendeAusgabe außerhalb der gettoisiertenSF-Taschenbuchverlage. Damithätte es aufgrund seiner Nähe zumMainstream erstens gute Chancen zumBestseller zu werden und könnte zweitensder SF ein paar neue Leser gewinnen.Rainer Kuchler