<strong>Neu</strong> <strong>aufgetauchte</strong> Briefe Čajkovskijs an Raïssa Boulanger, Adèle Bohomoletz und Eugène d’Eichthalbruar 1888 einem ihm gewidmeten Musikabend <strong>de</strong>r Kammermusikgesellschaft „LaTrompette“ beiwohnte: „Quartett, Sonate, Gesang (ein Bassist von <strong>de</strong>r Oper undBoulanger), <strong>de</strong>r Pianist Chansarel usw.“ 12Čajkovskij pflegte im Allgemeinen <strong>de</strong>n zahlreichen Bitten nach Orchesterfassungenseiner Romanzen wohlwollend entgegenzukommen – es ließen sich noch mehrereBeispiele anführen – doch im „erstaunlich eifrigen und hochachtungsvollen“ Ton seinesBriefes an Raïssa Boulanger will Spycket einen weiteren Beweis für <strong>de</strong>ren edle Abstammungsehen, von <strong>de</strong>r Čajkovskij angeblich gewusst haben soll! 13 Dass das Fürstengeschlecht<strong>de</strong>r Myščetskijs eine <strong>de</strong>r ehrwürdigsten Familien Russlands war (in MusorgskijsOper Chovanščina ist so Dosifej ein geborener Fürst Myščetskij – eine Tatsache, die <strong>de</strong>nE<strong>de</strong>lmut seiner freiwilligen Ablegung all seiner Stan<strong>de</strong>sprivilegien noch weiter unterstreicht),steht außer Zweifel. Ob aber die geheimnisumwitterte schöne junge Frau ErnestBoulangers und, wie wir nun wissen, Korrespon<strong>de</strong>ntin Čajkovskijs tatsächlich diesemGeschlecht entstammte, bleibt dahingestellt...2. Čajkovskijs zwei Briefe an Adèle Bohomoletz, Tiflis, 28. März / 9. April 1888, undParis, 6. / 18. Januar 1893, sowie sein Brief an <strong>de</strong>ren Schwiegersohn Eugène d’Eichthal,Paris, 12. / 24. Juni 1886In <strong>de</strong>n Mitteilungen 13 (2006) veröffentlichte Thomas Kohlhase längere Passagen auseinem Brief Čajkovskijs vom 28. März / 9. April 1888 an eine nicht genannte Dame inParis, <strong>de</strong>r vom Musikantiquariat Hans Schnei<strong>de</strong>r verkauft wor<strong>de</strong>n war. In diesem in Tiflisgeschriebenen Brief drückte Čajkovskij sein Bedauern aus, er habe vor seiner Abfahrt nachLondon, <strong>de</strong>r letzten Etappe seiner ersten großen Konzerttournee, seine Korrespon<strong>de</strong>ntinnicht persönlich aufsuchen können, um sich dafür zu entschuldigen, dass er ihre Einladungzu einem Diner nicht hatte annehmen können. Der herzliche Brief von ihr, <strong>de</strong>n er in Tiflisgera<strong>de</strong> erhalten habe, gebe ihm aber die Zuversicht, dass sie es ihm nicht übel genommenhabe, und somit hoffe er ihr bei seinen künftigen Besuchen in Paris erneut seine Aufwartungmachen zu dürfen. In seinem Kommentar zu diesem Brief brachte Kohlhasemehrere fundierte Argumente vor, die die Vermutung nahe legten, es könne sich bei jenerPariser Dame um keine Geringere als Pauline Viardot han<strong>de</strong>ln. 14Bei <strong>de</strong>r Beschäftigung mit Čajkovskijs französischer Korrespon<strong>de</strong>nz stieß Lucin<strong>de</strong>Braun im Archiv <strong>de</strong>s Staatlichen Čajkovskij-Haus-Museums in Klin auf <strong>de</strong>njenigen Brief,auf <strong>de</strong>n Čajkovskij im oben erwähnten Brief geantwortet hat. Es stellte sich dabei heraus,dass die Pariser Adressatin doch nicht Madame Viardot war, son<strong>de</strong>rn eine in <strong>de</strong>rČajkovskij-Forschung wenig bekannte Gestalt, – Adèle Bohomoletz. Durch das Einbeziehenverschie<strong>de</strong>ner Quellen, die teils aus Forschungen über die Schriftsteller Ivan Turgenevund Aleksandr Gercen [Alexan<strong>de</strong>r Herzen] sowie über Sergej Taneev und seinen Bekanntenkreis,teils aufgrund <strong>de</strong>r im Internet zunehmend verfügbaren genealogischen Datenübernommen wer<strong>de</strong>n konnten, sind zahlreiche „Puzzle-Stücke“ zusammengekommen, dieuns nun erlauben, ein vollständigeres Bild von dieser in vielfacher Hinsicht bemerkenswertenGestalt und ihrer Familie zu vermitteln. Das soll die Aufgabe <strong>de</strong>s ersten Teils12 Tagebücher, S. 251.13 Jérôme Spycket, À la recherche <strong>de</strong> Lili Boulanger, Paris 2004, S. 72.14Vgl. Thomas Kohlhase, Vier bisher nicht bekannte Čajkovskij-Dokumente von 1888–1891, in:Mitteilungen 13 (2006), S. 9–10.134
<strong>Neu</strong> <strong>aufgetauchte</strong> Briefe Čajkovskijs an Raïssa Boulanger, Adèle Bohomoletz und Eugène d’Eichthaldieses Beitrags sein; ein zweiter Teil gilt neu aufgefun<strong>de</strong>nen Briefen Čajkovskijs an FrauBohomoletz und an <strong>de</strong>ren Schwiegersohn, Eugène d’Eichthal.***Adèle Bohomoletz kam um 1832 in Moskau zur Welt als die Tochter <strong>de</strong>s in <strong>de</strong>r altenrussischen Hauptstadt ansässigen belgischen Weinhändlers Philippe-Joseph Depret (1789Tournai – 1858 Paris) und <strong>de</strong>ssen zweiter Ehefrau, <strong>de</strong>r ebenfalls aus Belgien stammen<strong>de</strong>nCaroline Mo<strong>de</strong>ste Rougé (1808 Antwerpen – 1885). Von Adèles fünf Geschwistern seienhier ihr älterer Bru<strong>de</strong>r, François Camille (1829 Moskau – 1892 Paris), sowie ihre jüngereSchwester, Marie Eugènie (1840 Dres<strong>de</strong>n – 1915 Paris) ausdrücklich erwähnt, <strong>de</strong>nn vonihnen wird unten mehrfach die Re<strong>de</strong> sein. 15Das Wein- und Zigarrengeschäft, das Philippe Depret auf <strong>de</strong>r Petrovka-Straße inMoskau grün<strong>de</strong>te, erlangte bald einen legendären Ruf. In diesem Geschäft konnte man diebesten ausländischen Weine beziehen, und bei <strong>de</strong>m stets einem guten Trunk zusprechen<strong>de</strong>nrussischen A<strong>de</strong>l <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Name Depret zum Inbegriff von Qualitätswein.So ist es nicht zu verwun<strong>de</strong>rn, dass er mehrmals in <strong>de</strong>n Werken <strong>de</strong>r russischenKlassiker, von Turgenev und Tolstoj bis hin zu Čechov, sowie in <strong>de</strong>n Briefen und <strong>de</strong>n MemoirenAleksandr Gercens genannt wird. 16Das Depretsche Weingeschäft wur<strong>de</strong> von Philippes Sohn Camille weitergeführt, <strong>de</strong>rzugleich als belgischer Vize-Konsul in Moskau diente und sich durch seine Wohltätigkeit<strong>de</strong>n ärmeren Mitbewohnern Moskaus gegenüber auszeichnete. 17 Es war auch über Depret,dass <strong>de</strong>r namhafte Pariser Verleger Pierre-Jules Hetzel (1814 –1886) im Sommer 1862Kontakt zu Turgenev aufnahm: Depret, <strong>de</strong>r regelmäßig zwischen Russland und Frankreichpen<strong>de</strong>lte, überbrachte <strong>de</strong>m Schriftsteller, <strong>de</strong>r sich damals zum Jagen in seiner Heimataufhielt, einen Brief von Hetzel, <strong>de</strong>r Turgenev <strong>de</strong>n Vorschlag machte, Charles PerraultsMärchen ins Russische zu übersetzen. 18 Hetzel hatte schon in Frankreich eine Luxusausgabe<strong>de</strong>r Contes mit Gustave Dorés prächtigen Illustrationen herausgegeben, und nunhoffte er, in Russland ebenfalls einen Verlagserfolg damit zu erzielen. Obwohl dierussische Ausgabe <strong>de</strong>r Contes erst 1866 zustan<strong>de</strong> kam, wobei Turgenev nur zwei <strong>de</strong>rMärchen – Die Feen und Der Blaubart – selbst übersetzte, dafür aber ein einfühlsamesVorwort zum gesamten Band lieferte, 19 sollte diese Bekanntschaft sich als sehr ersprießlich15 Weitere genealogische Hinweise sind auf folgen<strong>de</strong>r Webseite zu fin<strong>de</strong>n:http://a.<strong>de</strong>carne.free.fr/gencar/dat644.htm#10 (zuletzt am 17. September 2011 abgerufen). FreundlicheMitteilung von Lucin<strong>de</strong> Braun.16 Vgl. z. B. das 14. Kapitel von Turgenevs Roman Ein A<strong>de</strong>lsnest (1859), in <strong>de</strong>m erzählt wird, wie <strong>de</strong>r jungeLavreckij die Bekanntschaft <strong>de</strong>r Familie seiner künftigen Frau machte: „Die Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Mittagessens rückteheran. Lavreckij wollte sich entfernen, doch man hielt ihn zurück. Bei Tisch bewirtete ihn <strong>de</strong>r General miteinem guten Lafitte, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Lakai <strong>de</strong>s Generals mit einer Droschke schnell von Depret hatte holen müssen.“(Zitiert nach <strong>de</strong>r Ausgabe Iwan Turgenjew, Rudin / Ein A<strong>de</strong>lsnest, <strong>de</strong>utsch von Herbert Wotte, Berlin /Weimar 1994, S. 204). An<strong>de</strong>re Beispiele fin<strong>de</strong>t man in Lev Kolodnyj, Moskva v ulicach i licach, Moskau2005.17 Viktor Sorokin, Po Moskve istoričeskoj, Moskau 2006, S. 87.18 Vgl. Turgenevs Brief an Hetzel vom 9. / 21. Juli 1862 in I. S. Turgenev, Polnoe sobranie sočinenij i pisem,30 Bän<strong>de</strong>, Moskau 1978– [= Turgenev, 2. Gesamtausgabe], Pis’ma, Bd. V, S. 86–87. Für die Angaben <strong>de</strong>rBän<strong>de</strong>- und Seitenzahlen beim Zitieren aus dieser Ausgabe sei Frau Dr. Natal’ja Generalova, <strong>de</strong>r Leiterin <strong>de</strong>rTurgenev-Forschungsgruppe am Institut für russische Literatur (Puškinskij dom) in Sankt Petersburg, sehrherzlich gedankt.19 Es wäre interessant festzustellen, ob Ivan Vsevoložskij womöglich von dieser russischen Perrault-Ausgabeangeregt wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n Dornröschen-Stoff in ein Ballett zu verwan<strong>de</strong>ln, zu <strong>de</strong>m Čajkovskij seine Musik liefernsollte.135