Medizin in Auschwitz: Der „schöne Satan“ Josef Mengele und der ...
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wie <strong>der</strong> umfangreichen persönlichen Aufzeichnungen <strong>Mengele</strong>s, die nach se<strong>in</strong>em Tod sicherge-<br />
stellt werden konnten, lassen sich <strong>der</strong> Täter <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Taten zuverlässig beschreiben. Erst zwanzig<br />
Jahre nach se<strong>in</strong>em Tod war es möglich, Herkunft <strong>und</strong> Persönlichkeit, Verhalten, Reflexionen <strong>und</strong><br />
Selbstbespiegelungen dieses Menschen nachzuzeichnen. 3<br />
Me<strong>in</strong>e <strong>Mengele</strong>-Biographie ist die Lebensgeschichte e<strong>in</strong>es Täters <strong>und</strong> gleichzeitig e<strong>in</strong>es Produktes<br />
se<strong>in</strong>er Zeit. <strong>Der</strong> e<strong>in</strong>e lässt sich ohne das an<strong>der</strong>e nicht verstehen. Dieses Buch ist das Protokoll un-<br />
vorstellbarer Gräuel <strong>und</strong> grässlichster Verbrechen an e<strong>in</strong>em Ort, den selbst die SS-Ärzte als „Anus<br />
M<strong>und</strong>i“, als Hort <strong>der</strong> F<strong>in</strong>sternis, fürchteten. Damit ist es dem Gedächtnis <strong>der</strong> Opfer gewidmet, die<br />
diesen Tätern ausgeliefert waren – Tätern, die sich durchweg nicht als Verbrecher empfanden,<br />
son<strong>der</strong>n als ganz gewöhnliche Deutsche, die auch im Vernichtungslager nichts an<strong>der</strong>es als ihre<br />
Pflicht zu tun me<strong>in</strong>ten.<br />
Diese Persönlichkeitsstudie ist also die Geschichte e<strong>in</strong>es Mannes <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er sittlichen B<strong>in</strong>dungslo-<br />
sigkeit, die ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>zigartig ist <strong>und</strong> daher zeigt, wozu Menschen unter bestimmten Bed<strong>in</strong>-<br />
gungen fähig waren <strong>und</strong> fähig s<strong>in</strong>d. Am Ende bleibt <strong>der</strong> Blick <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Abgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> menschlichen<br />
Seele. Es bleibt das Entsetzen, welche Kraft des Bösen <strong>in</strong> <strong>Josef</strong> <strong>Mengele</strong> zum Ausbruch kam <strong>und</strong><br />
vielleicht <strong>in</strong> jedem Menschen steckt, <strong>der</strong> sich von Maß <strong>und</strong> Moral befreit.<br />
Ke<strong>in</strong>er <strong>der</strong> mehreren h<strong>und</strong>ert SS-Ärzte <strong>in</strong> den Konzentrationslagern hat die Überlebenden so sehr<br />
verfolgt <strong>und</strong> auch die Nachgeborenen so beschäftigt wie <strong>Josef</strong> <strong>Mengele</strong>. In den Schreckensberich-<br />
ten se<strong>in</strong>er Opfer bleibt er für immer lebendig: se<strong>in</strong>e Maßlosigkeit, se<strong>in</strong> Zynismus, se<strong>in</strong>e Kälte, se<strong>in</strong>e<br />
Besessenheit, se<strong>in</strong>e Brutalität. Aber eben auch: se<strong>in</strong>e Eitelkeit, se<strong>in</strong>e Kultiviertheit, se<strong>in</strong> gepflegtes<br />
Auftreten – Eigenheiten <strong>und</strong> Eigenarten, die <strong>in</strong> <strong>Auschwitz</strong> so unwirklich schienen <strong>und</strong> sich des-<br />
halb um so tiefer <strong>in</strong> das Gedächtnis <strong>der</strong> Gefangenen e<strong>in</strong>brannten, so wie <strong>Mengele</strong>s gelegentliche<br />
Fürsorge <strong>und</strong> die seltenen Fälle e<strong>in</strong>er schreckhaften Wahrnehmung se<strong>in</strong>er eigenen Person im Ver-<br />
nichtungslager.<br />
Aus den vielen Aussagen, die über e<strong>in</strong> Vierteljahrh<strong>und</strong>ert von den Frankfurter Ermittlern gegen<br />
<strong>Josef</strong> <strong>Mengele</strong> zusammengetragen wurden <strong>und</strong> für me<strong>in</strong>e Untersuchung ausgewertet werden konn-<br />
ten, fügt sich nur auf den ersten Blick das flache Porträt e<strong>in</strong>er Bestie. Sehr schnell gew<strong>in</strong>nt das Bild<br />
bei genauerem Zusehen an Schattierungen, Kontrasten <strong>und</strong> Tiefe. Es entsteht aus den mitunter<br />
wi<strong>der</strong>sprüchlichen Zeugnissen das Mosaik e<strong>in</strong>es zerrissenen Menschen. Was den Betrachter anwi-<br />
<strong>der</strong>t, se<strong>in</strong>en Ekel erregt, ihm so gänzlich unbegreifbar ersche<strong>in</strong>t, erschließt sich nur langsam.<br />
Nichts davon ist banal. Das meiste ist böse. Aber alles wohnt zutiefst dem Menschen, fast möchte<br />
man sagen: jedem Menschen, <strong>in</strong>ne. Und dies ist <strong>der</strong> Schrecken, <strong>der</strong> bleibt.<br />
Auf die Wiener Ärzt<strong>in</strong> Ella L<strong>in</strong>gens (1908 – 2002), die zwischen Februar 1942 <strong>und</strong> Dezember<br />
1944 <strong>in</strong> <strong>Auschwitz</strong> gefangengehalten wurde, machte <strong>Mengele</strong> zunächst e<strong>in</strong>en eher gew<strong>in</strong>nenden<br />
3 Ulrich Völkle<strong>in</strong>: <strong>Josef</strong> <strong>Mengele</strong>. <strong>Der</strong> Arzt von <strong>Auschwitz</strong>, Gött<strong>in</strong>gen 1999<br />
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