C. Bechstein – der Mythos lebt
C. Bechstein – der Mythos lebt
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1988 verlässt <strong>Bechstein</strong> die alte Produktionsstätte<br />
in <strong>der</strong> Reichenberger<br />
Straße und zieht in die Prinzenstraße<br />
an den Moritzplatz, in die Nähe des<br />
Checkpoint Charlie. Die neuen Gebäude<br />
sind hochmo<strong>der</strong>n; die Konjunktur<br />
nicht schlecht. „Perestroika“ und „Glasnost“<br />
deuten auf künftige neue Märkte<br />
innerhalb eines sich verän<strong>der</strong>nden<br />
Ostblocks hin. Der Ostblock verän<strong>der</strong>t<br />
sich allerdings weit gründlicher, als<br />
man noch 1988 hatte erwarten können.<br />
Der Fall <strong>der</strong> Berliner Mauer im Spätherbst<br />
1989 läutet ein neues Zeitalter<br />
mit unerwartet harten wirtschaftlichen<br />
Bedingungen ein.<br />
Zunächst herrscht freilich Optimismus.<br />
1990 übernimmt <strong>Bechstein</strong> die ehemals<br />
Berliner Firma „Euterpe“, ein mittelständisches<br />
Klavierbauunternehmen,<br />
das sich nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
im fränkischen Langlau angesiedelt hatte.<br />
Zu „Euterpe“ gehört seit 1977 auch<br />
Hoffmann, ebenfalls eine ehemals Berliner<br />
Klavierfabrik, die sich in Langlau<br />
nie<strong>der</strong>gelassen hatte. Im gleichen Jahr<br />
1990 aber geht weltweit die Klavierproduktion<br />
um rund 40 Prozent zurück.<br />
Dennoch greift Karl Schulze knapp<br />
zwei Jahre nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung<br />
Deutschlands erneut entschlossen zu.<br />
Diesmal erwirbt er die „Sächsische<br />
Pianofortefabrik“ in Seifhennersdorf,<br />
ehemals unter dem Namen Zimmermann<br />
einer <strong>der</strong> größten Hersteller in<br />
Deutschland. Seifhennersdorf liegt in ei-<br />
<strong>Bechstein</strong>-Manufaktur <strong>–</strong> seit 1992 nach Seifhennersdorf verlagert.<br />
ner Region mit bedeuten<strong>der</strong> Instrumentenbau-Tradition.<br />
Die Lohnkosten sind<br />
noch deutlich niedriger als in Berlin.<br />
Damit sind Weichen gestellt. Nur <strong>der</strong><br />
Konjunktur fehlt es an Dampf. Die<br />
Märkte im Osten Europas sind zusammengebrochen.<br />
Die öffentlichen Mittel<br />
in <strong>der</strong> größer gewordenen Bundesrepublik<br />
müssen für die dringendsten Verbesserungen<br />
<strong>der</strong> Infrastruktur in den neuen<br />
Bundeslän<strong>der</strong>n aufgewendet werden.<br />
Im Juni 1993 muss Langlau schließen.<br />
Der Sozialplan belastet das gerade erst<br />
reorganisierte Unternehmen, und im<br />
gleichen Jahr stellt <strong>Bechstein</strong> Konkursantrag.<br />
Das Echo ist weltweit und außerordentlich.<br />
Überall herrscht Sorge,<br />
die große Tradition <strong>der</strong> <strong>Bechstein</strong>-Instrumente<br />
könne beendet sein. Nur <strong>der</strong><br />
Berliner Senat bleibt unbeeindruckt.<br />
Die politische Führung gilt nicht unbedingt<br />
als kulturinteressiert. Man plant<br />
lieber einen gigantischen Potsdamer<br />
Platz, träumt von neuen Hochhäusern<br />
und noch höheren Spekulationsgewinnen.<br />
<strong>Bechstein</strong> möchte einfach nur das<br />
Grundstück am Moritzplatz veräußern,<br />
findet sogar finanzkräftige Käufer. Das<br />
Land Berlin aber hat ein vertraglich gesichertes<br />
Vorkaufsrecht und entscheidet<br />
zunächst einmal <strong>–</strong> nicht. Erst spät,<br />
fast zu spät, entschließt sich Berlin,<br />
tatsächlich von seinem Vorkaufsrecht<br />
Gebrauch zu machen und das Grundstück<br />
zu übernehmen, zum niedrigen<br />
Vor-Wende-Preis natürlich.<br />
Es gibt Aktionen pro <strong>Bechstein</strong>. Ein<br />
Konzertflügel wird zum Gesamtkunst-<br />
Noch immer weckt „<strong>der</strong> <strong>Bechstein</strong>“ Emotionen, jetzt<br />
vielleicht noch mehr als nur wenige Jahre zuvor. Er ist<br />
noch ein Stück von jenem „Spree-Athen“, das sich in <strong>der</strong><br />
Vorstellung <strong>der</strong> politischen Führung längst in eine Boom-<br />
Town verwandelt hat.<br />
werk, bemalt von Künstlern aus zwölf<br />
verschiedenen Län<strong>der</strong>n. Noch immer<br />
weckt „<strong>der</strong> <strong>Bechstein</strong>“ Emotionen, jetzt<br />
vielleicht noch mehr als nur wenige<br />
Jahre zuvor. Er ist noch ein Stück von<br />
jenem „Spree-Athen“, das sich in <strong>der</strong><br />
Vorstellung <strong>der</strong> politischen Führung<br />
längst in eine Boom-Town verwandelt<br />
hat.<br />
Das benötigte Geld bringt <strong>der</strong> zähe Karl<br />
Schulze auf an<strong>der</strong>e Art auf. <strong>Bechstein</strong><br />
wird wie<strong>der</strong> Aktiengesellschaft. 1996<br />
glückt die Umwandlung. 40 Prozent<br />
des Kapitals werden über die Börse<br />
bei privaten Anlegern platziert. Bis<br />
Ende des Jahrtausends investiert man<br />
15 Millionen Euro in mo<strong>der</strong>ne Produktionsanlagen<br />
in Seifhennersdorf.<br />
1999 zieht <strong>Bechstein</strong> in Berlin wie<strong>der</strong><br />
um, diesmal in die Charlottenburger<br />
Kantstraße. Dort ist ein neues, hochmo<strong>der</strong>nes<br />
Center für bekannte Marken,<br />
ein Institut für guten Geschmack<br />
entstanden, das „stilwerk“: Glas, Stahl,<br />
Beton und Lifestyle. Von den Verkaufsräumen<br />
aus ist man in wenigen<br />
Schritten in den paar Büros, wo das<br />
Herz des Unternehmens schlägt. Die<br />
Flügel und Klaviere befinden sich nun<br />
in jener Nachbarschaft, die sie auch<br />
bei den potentiellen Käufern vorfinden<br />
könnten: Designer-Möbel, mo<strong>der</strong>ne<br />
Stoffe, Espresso-Maschinen. Wie ein<br />
Museum of Mo<strong>der</strong>n Art zum Anfassen<br />
wirkt das „stilwerk“, das es in Hamburg<br />
und bald auch in Düsseldorf gibt.<br />
Es ist mindestens so sehr Kommunikationszentrum<br />
wie Konsumtempel; hier<br />
Ars Nova <strong>–</strong> mit internationalen Designpreisen gekrönt.<br />
kann man sich treffen, sich anregen<br />
lassen, sogar Konzerte besuchen. So ist<br />
es konsequent, dass <strong>Bechstein</strong> mit <strong>der</strong><br />
rheinischen Nie<strong>der</strong>lassung in Düsseldorf<br />
in das dortige „stilwerk“ zieht.<br />
Sehr bald gab es auch an beiden Orten<br />
freudig frequentierte Konzertreihen.<br />
Die Künstler wurden nun freilich nicht<br />
mehr in einem hochherrschaftlichen<br />
„Tusculum“ bewirtet, son<strong>der</strong>n beim<br />
Italiener um die Ecke.<br />
Die gesamte Palette entsteht zunächst<br />
in Seifhennersdorf, unterschiedliche<br />
Produktreihen für unterschiedliche<br />
Käuferinteressen. Der neue große Konzertflügel<br />
Modell D wird hier ebenso<br />
gebaut wie die im Vergleich preiswerten<br />
Hoffmann-Klaviere und die Linie<br />
<strong>der</strong> edleren Zimmermann-Pianos, die<br />
im mittleren Preissegment angesiedelt<br />
sind. Und wer seine Nachbarn<br />
schonen will, kann ein „VARIO Piano“<br />
bestellen, das zwei Klaviere in einem<br />
birgt: ein akustisches Instrument und<br />
ein E-Piano mit mechanischer Tastatur<br />
<strong>–</strong> Neo-<strong>Bechstein</strong>, zweite Auflage.<br />
Der Jahresumsatz <strong>der</strong> C. <strong>Bechstein</strong> AG<br />
beträgt zur Jahrtausendwende rund 40<br />
Millionen Mark.<br />
Erneut schreibt <strong>Bechstein</strong> auch Kulturgeschichte:<br />
Die „Pro<strong>Bechstein</strong>“-Klaviere<br />
definieren die Form des aufrechten<br />
Pianos, mit dem Carl <strong>Bechstein</strong> vor<br />
150 Jahren sein Unternehmen begann,<br />
auf eine Weise neu, dass man fast von<br />
einer zweiten Erschaffung reden kann:<br />
zeitgemäße Eleganz <strong>der</strong> Konstruktion,<br />
Proportionen nach den uralten Regeln<br />
des Goldenen Schnitts <strong>–</strong> das Piano als<br />
Denkmodell hoch differenzierten und<br />
doch klaren Designs. Ein Instrument,<br />
das die Welt eines Norman Foster o<strong>der</strong><br />
eines Jean Nouvel reflektierte. Das<br />
einst so ungefüge, klingende Vertiko<br />
hatte sich zur Skulptur gewandelt.<br />
Eines <strong>der</strong> drei Modelle erhält als Namen<br />
die lateinische Bezeichnung „Ars Nova“.<br />
Die lässt einerseits die Zeit des „Art<br />
Nouveau“ anklingen, die Epoche des<br />
Jugendstils, in <strong>der</strong> gegen Ende des 19.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts bedeutende Architekten<br />
und Designer gerade auch für Industrie-<br />
und Manufakturprodukte eine werk-<br />
und materialgerechte neue Ästhetik<br />
entwickelten; zum an<strong>der</strong>n wird hier die<br />
„Ars Nova“ beim Wort genommen, jene<br />
musikalische Revolution des beginnenden<br />
14. Jahrhun<strong>der</strong>ts, die in <strong>der</strong> französischen<br />
isorhythmischen Motette ihren<br />
unmittelbaren Ausdruck fand. Dass<br />
die „Ars Nova“-Klaviere aus dem Hause<br />
<strong>Bechstein</strong> in <strong>der</strong> internationalen Design-<br />
Welt zugleich sehr wohl als „brand new“<br />
empfunden wurden, spiegelte sich in<br />
<strong>der</strong> Tatsache, dass die Instrumente mit<br />
dem angesehenen „Good Design Award“<br />
ausgezeichnet wurden.<br />
So musste nicht verwun<strong>der</strong>n, dass<br />
beim Jubiläum des Jahres 2003 nicht<br />
nur die große Vergangenheit gefeiert<br />
wurde, son<strong>der</strong>n eher schon <strong>der</strong><br />
Ausblick auf die Zukunft dominierte.<br />
Gewiss: Es gab Festakt und Konzerte,<br />
wie sich das gehört. <strong>Bechstein</strong> <strong>–</strong> eine<br />
Adresse in <strong>der</strong> Hauptstadt <strong>der</strong> Bundes-<br />
republik Deutschland. In einer Hauptstadt,<br />
in <strong>der</strong> ein neu gestalteter Postdamer<br />
Platz, die Kuppel des Sir Norman<br />
Foster über dem Reichstag, das groß<br />
dimensionierte Kanzleramt durchaus<br />
Aufsehen erregen sollen. Für Aufsehen<br />
sorgte natürlich auch das <strong>Bechstein</strong>-Jubiläum;<br />
im 21.Jahrhun<strong>der</strong>t spricht man<br />
in solchen Fällen von Medien-Echo.<br />
Piano Global<br />
<strong>Bechstein</strong> macht sich fit für den<br />
globalen Wettbewerb<br />
Das Jahr 2003 stand freilich auch im<br />
Zeichen einer verän<strong>der</strong>ten Eigentümer-<br />
Struktur. Bereits im September 2002<br />
hatte ein bedeuten<strong>der</strong> koreanischer<br />
Instrumentenhersteller Interesse an einer<br />
Kooperation mit <strong>Bechstein</strong> gezeigt:<br />
Samick in Seoul. Samick war kein<br />
gänzlich unbekannter Partner: Schon<br />
1983 hatten die Koreaner mit dem damaligen<br />
<strong>Bechstein</strong>-Hauptgesellschafter<br />
Baldwin die Korean American Musical<br />
Instruments Corporation gegründet,<br />
die es nur ein Jahr später auf eine<br />
gesamte Jahresproduktion von 66.000<br />
Instrumenten brachte. Samick war nun<br />
2002 restrukturiert worden, fertigte<br />
jährlich etwa 50.000 Flügel und Pianos,<br />
daneben Digitalpianos und rund eine<br />
halbe Million Gitarren. Dementsprechend<br />
betrug die Zahl <strong>der</strong> Mitarbeiter<br />
etwa dreitausend. Produziert wurde<br />
nicht nur am Hauptsitz Seoul, son<strong>der</strong>n<br />
auch im indonesischen Djakarta und<br />
später im chinesischen Shanghai. Mit<br />
Samick America stand in den Vereinigten<br />
Staaten eine durchsetzungsfähige<br />
Vertriebsorganisation zur Verfügung.<br />
Die Verhandlungen verliefen positiv.<br />
Im Dezember 2002 war <strong>der</strong> Vertrag<br />
unterschriftsreif. Im Januar 2003<br />
wurde Samick Aktionär und Kooperationspartner;<br />
im Gegenzug gab es<br />
für das Ehepaar Küpper/Schulze eine<br />
Beteiligung an dem koreanischen<br />
Seniorpartner. Für das Berliner Traditionsunternehmen<br />
eröffneten sich<br />
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