C. Bechstein – der Mythos lebt
C. Bechstein – der Mythos lebt
C. Bechstein – der Mythos lebt
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Ein gastliches Haus<br />
17<br />
1938 das Rathaus von Erkner. Am 8.<br />
März 1944 wurde es durch Bombentreffer<br />
völlig zerstört. Der Wie<strong>der</strong>aufbau<br />
blieb unvollständig. Immerhin gibt es<br />
heute wie<strong>der</strong> einen „Carl-<strong>Bechstein</strong>-<br />
Weg“.<br />
Zur Vollendung seines Rufs des „preußischen<br />
Érards“ fehlte <strong>Bechstein</strong> nur<br />
noch eines. Am 4. Oktober 1892 wurde<br />
zum größten Stolz des Geheimen Kommerzienrats<br />
Carl <strong>Bechstein</strong>, wie er sich<br />
inzwischen nennen durfte, in <strong>der</strong> Linkstraße<br />
<strong>der</strong> „<strong>Bechstein</strong>-Saal“ eröffnet.<br />
Auftraggeber war die Konzertdirektion<br />
von Hermann Wolff. Als Architekten<br />
hatte man den Baurat Schwechten<br />
gewonnen, <strong>der</strong> auch die Philharmonie<br />
umgebaut hatte. In <strong>der</strong> „Allgemeinen<br />
Musikzeitung“ erschien <strong>der</strong> Vorbericht:<br />
„Die Eröffnung des Saales <strong>Bechstein</strong><br />
wird sich zu einem dreitägigen Musikfest<br />
gestalten. Am 4. Oktober wird als<br />
Erster Herr Dr. von Bülow als Pianist<br />
sich hören lassen (C-Moll-Fantasie<br />
von Mozart, Les Adieux von Beethoven,<br />
neue ungedruckte Klavierstücke<br />
von Brahms, Faschingsschwank von<br />
Schumann, C-Dur-Fantasie op.12 von<br />
Kiel u.a.); am 5. Oktober wird das<br />
Joachim’sche Streichquartett unter<br />
Mitwirkung von Johannes Brahms<br />
ein Streichquartett, das Klarinettenquintett<br />
und eine Violin-Klaviersonate<br />
des Wiener Meisters zur Aufführung<br />
bringen, und am 6. Oktober wird Anton<br />
Rubinstein spielen und sein Sextett für<br />
Blasinstrumente, eines seiner besten<br />
Werke, zur Aufführung bringen.“<br />
Bülow war zu diesem Zeitpunkt schon<br />
seit sechs Jahren Chefdirigent eines<br />
phänomenalen neuen Orchesters, <strong>der</strong><br />
späteren Berliner Philharmoniker.<br />
Seiner rhetorischen Intermezzi wegen<br />
nannte man ihn den „Konzertredner“.<br />
Dass er das Musikleben <strong>der</strong> Reichshauptstadt<br />
nachhaltig prägte, daran<br />
bestand kein Zweifel. Was we<strong>der</strong> Carl<br />
<strong>Bechstein</strong> noch die vielen Freunde<br />
ahnen konnten: Der Eröffnungsabend<br />
sollte auch <strong>der</strong> Abschiedsabend werden.<br />
Es war das letzte Mal, dass Hans von<br />
Bülow vor seinem Tod 1894 eine Klaviersoirée<br />
gab. Seine Witwe Marie von<br />
Bülow notierte später in ihrer Ausgabe<br />
<strong>der</strong> Briefe des verstorbenen Gatten:<br />
„Die zunehmenden Schmerzen veranlaßten<br />
Bülow, in Berlin den ihm<br />
seit den Bismarcktagen persönlich<br />
bekannten Professor Schweninger zu<br />
consultiren. Nachdem sich aber heraus-<br />
gestellt, daß die Behandlung (heiße<br />
Kopfbä<strong>der</strong>) mit den unabweisbaren<br />
Vorbereitungen für den Klavierabend<br />
nicht vereinbar war, da sie die Schmerzen<br />
noch mehr aufpeitschte, wurde<br />
<strong>der</strong> Versuch am Tage vor dem Concerte<br />
aufgegeben; die quälende Sorge, ob bei<br />
<strong>der</strong> Pein das Gedächtniß auch Stand<br />
halten würde, verließ Bülow keinen Augenblick.<br />
Um sie zu betäuben, spielte<br />
er stundenlang. Es war ein Tag wie in<br />
Agonie. Beim Verlassen des Zimmers<br />
vor dem Concert rief er: ‚Wer mir jetzt<br />
eine Kugel durch den Kopf schösse,<br />
wäre mein Freund.‘<br />
Das glänzendste Publikum Berlins,<br />
das <strong>der</strong> Einladung H. Wolff’s zu <strong>der</strong><br />
Einweihung seines neuen Saales<br />
gefolgt war, wußte nicht, daß das, was<br />
dort an jenem 4. October 92 erklang,<br />
ein Schwanengesang, ein Abschied war<br />
für immer: nie wie<strong>der</strong> sollten Hans von<br />
Bülow’s Hände die Tasten berühren<br />
inmitten einer andachtsvollen Menge;<br />
<strong>der</strong> große Lehrmeister am Flügel, <strong>der</strong><br />
zuerst ihr offenbart, was sie besaß an<br />
höchsten Geistesschätzen <strong>–</strong> nach jenem<br />
Abende verstummte er auf ewig.“<br />
Über den Saal selbst berichtete die<br />
„Neue Zeitschrift für Musik“: „Es ist<br />
kein Riesensaal; er umfaßt nur 500<br />
und einige Plätze, und soll <strong>–</strong> wie <strong>der</strong><br />
Prophet besagt <strong>–</strong> hauptsächlich für<br />
Concerte intimen Charakters, das<br />
ist Clavier-, Kammermusik<strong>–</strong>, Lie<strong>der</strong>-<br />
Concerte, dann auch für Vorträge<br />
dienen. Daß er damit einem Bedürfniß<br />
des Berliner Musiklebens entgegenkommt,<br />
ist nicht zu bezweifeln (…)<br />
Der äußerst geschmackvolle und, wie<br />
uns die nachher zu erwähnenden 3<br />
Einweihungsconcerte überzeugt haben,<br />
akustisch vortrefflich gelungene Bau<br />
ist von dem Königl. Baurath Schwechten<br />
ausgeführt worden. Letzterem<br />
scheint unser Singacademie-Saal als<br />
Muster vorgeschwebt zu haben, man<br />
hat beim Betreten des Saales <strong>Bechstein</strong><br />
zunächst den Eindruck, als sähe man<br />
die Singacademie in verjüngtem Maßstabe<br />
vor sich.“<br />
Der Saal im Stil <strong>der</strong> italienischen<br />
Renaissance war in Weiß und Gold gehalten.<br />
An den glatten Wänden ragten<br />
„Säulenprospekte von korinthischer<br />
Form“ empor. Die Decke präsentierte<br />
sich in reichem Stuck, und hinter<br />
dem Podium sah man in einer Nische<br />
die Statue <strong>der</strong> Polyhymnia, „von Prof.<br />
Calandrelli nach griechischem Vorbilde<br />
gefertigt“. Carl <strong>Bechstein</strong> war endgültig<br />
in Spree-Athen angekommen.<br />
Übrigens gab es elektrisches Licht, nur<br />
lei<strong>der</strong> noch kein passendes Treppenhaus;<br />
das wurde erst im darauffolgenden<br />
Jahr gebaut. Der Saal wurde 1944<br />
durch einen Bombentreffer vollständig<br />
zerstört.<br />
Noch einmal errichtete Carl <strong>Bechstein</strong>,<br />
dessen Vermögen Mitte <strong>der</strong> 90er Jahre<br />
auf etwa 4,75 Millionen Mark geschätzt<br />
wurde bei einem Jahreseinkommen von<br />
über 300.000 Mark, eine Fabrik. 1897<br />
entstanden die Produktionsstätten in<br />
<strong>der</strong> Reichenberger Straße in Kreuzberg.<br />
Knapp drei Jahre später, am 6. März<br />
1900, starb Carl <strong>Bechstein</strong>, drei Monate<br />
nach seiner Frau. Bestattet wurde er im<br />
Familiengrab auf dem Sophienfriedhof.<br />
Er hatte einen beispiellosen Weg<br />
hinter sich gebracht, einen Weg, <strong>der</strong><br />
paradigmatisch für die zweite Hälfte<br />
des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts stehen könnte. Er<br />
hatte an sich selbst geglaubt und an<br />
die Tüchtigkeit, an die so genannten<br />
preußischen Tugenden und an die<br />
abendländischen Werte. Zu seinen<br />
Arbeitern hatte er ein hilfsbereitpatriarchalisches<br />
Verhältnis gepflegt,<br />
nicht unbedingt ein mo<strong>der</strong>n-soziales<br />
<strong>–</strong> Rentenkassen, Krankenkassen<br />
und <strong>der</strong>gleichen waren ihm ebenso<br />
suspekt wie Streiks. Er hatte am Ende<br />
<strong>Bechstein</strong> (heute Wigmore) Hall in London: Nie<strong>der</strong>lassung und Konzertsaal in <strong>der</strong> Blütezeit des Klaviers.<br />
seines „goldenen Zeitalters“ auch ein<br />
beachtliches Vermögen angesammelt.<br />
Zu seinem Tod edierte die Königliche<br />
Porzellan-Manufaktur KPM Mokkatassen<br />
mit seinem Porträt und mit <strong>der</strong><br />
lorbeerumkränzten Inschrift „Carl<br />
<strong>Bechstein</strong> 1826-1900“ in <strong>der</strong> Untertasse.<br />
Mit seinem Tod war freilich auch<br />
die Alleinherrschaft beendet. Das 20.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t begann für die Firma<br />
C. <strong>Bechstein</strong> mit <strong>der</strong> Herrschaft einer<br />
Familie, eines Clans.<br />
Der Clan<br />
Im Frühling 1900 wurden die<br />
Söhne Edwin (*1859), Carl (*1860)<br />
und Johannes („Hans“, *1863) die<br />
neuen Herren über das Weltunternehmen<br />
mit fast 800 Beschäftigten.<br />
Zur Geschäftsleitung gehörten sie seit<br />
1894. Die Produktion lag im Jahr 1900<br />
bei über 3.500 Instrumenten. Carl<br />
<strong>Bechstein</strong> junior kümmerte sich um<br />
den Klavierbau; Edwin <strong>Bechstein</strong> war<br />
für die kaufmännische Leitung zuständig.<br />
1906, nach dem Tod des jüngsten<br />
Bru<strong>der</strong>s Hans, wandelten sie das<br />
Familienunternehmen in eine Offene<br />
Handelsgesellschaft um.<br />
Ganz Deutschland war in Hochstimmung.<br />
Man baute Schlachtschiffe,<br />
gründete Konzerne und Kolonien<br />
und verfügte über einen Kaiser mit<br />
markantem Schnurrbart. Der formte<br />
gelegentlich Sätze wie: „Das Klavier ist<br />
ein gesundheitsschädlicher Turnapparat“;<br />
es gab allerdings Schlimmeres<br />
aus dieser Quelle. Irgendwie waren<br />
die Zeiten ganz an<strong>der</strong>s als 1853; die<br />
Spree floss weiterhin havelwärts, nur<br />
mit „Athen“ war es nicht mehr weit her.<br />
Das 20. Jahrhun<strong>der</strong>t sollte auch dem<br />
Unternehmen C. <strong>Bechstein</strong> eine höchst<br />
wechselvolle Geschichte bescheren.<br />
Zunächst feierte man das 50-jährige<br />
Bestehen. 1903 besaß <strong>Bechstein</strong> vier<br />
Fabriken, in denen 800 Mitarbeiter<br />
beschäftigt waren, die jährlich über<br />
4.500 Instrumente herstellten. Seit<br />
1853 waren insgesamt 65.200 Klaviere<br />
und Flügel gefertigt worden.<br />
Zugleich expandierte man. Und zwar<br />
ausgerechnet in <strong>der</strong> Höhle des Löwen,<br />
in London. 1901 war in <strong>der</strong> Wigmore<br />
Street eine „<strong>Bechstein</strong> Hall“ eröffnet<br />
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