vorhang auf! AAn diesem Morgen kommt mir die Stadt vor wie ein großes Theater. Es ist noch nicht sieben, und die Darsteller eilen mit erschrockenen Gesichtern über die Bühne, als sei der Vorhang zu früh hochgegangen. Manche haben fiebrig rote Wangen, andere die Augen weit aufgerissen. Sie finden sich nicht zurecht in der Kulisse, die sich langsam aus der Dunkelheit schält. Jeder kommt aus der Einsamkeit seiner Nacht. Jeder stellt zu dieser Stunde nur sich selber dar. Wer sagt, dass die Gesichter grau sind am Morgen? Nie sind sie weniger grau als jetzt, wenn sie in die Zukunft schauen und versuchen, den anbrechenden Tag zu entziffern. In den Stunden die folgen, werden wir uns ineinander verschlingen. Unsere Wege werden sich verweben zu einem dichten Stoff, und der Tag wird zu Geschichte werden. Wenn es Abend ist, wird die Stadt eins geworden sein. Dann gleichen sich unsere Gesichter, sie haben sich aneinander abgeschliffen, und unsere Müdigkeit ist eine andere, eine sanftere ohne den Schrecken des Erwachens. Wenn der Vorhang fällt, sind wir alle gleich. Wir stehen nebeneinander, Hand in Hand, und verbeugen uns vor uns selbst. Das Spiel könnte heißen: „Blutiges Attentat in Tel Aviv”, „Zinsen fallen ins Bodenlose”, „Wieder kein Lottomillionär”. Die Schlagzeilen, die Themen des Tages, an denen wir uns entlanggehangelt haben durch Kaffeeund Mittagspausen. Es ist ein Tag wie gestern, ein Tag wie morgen, nur die Schlagzeilen ändern sich. Aber auf die Schlagzeilen kommt es nicht an, der Text ist nicht mehr und nicht weniger als die Armierung, er hält alles zusammen und ist doch im Grunde nicht von Bedeutung. Wir müssen reden, was wir sagen, spielt keine Rolle. Heute abend wird im Schauspielhaus gegeben: „Der gute Mensch von Sezuan”. Das Stück ist ein Vorwand. Die Geschichte ist bekannt, sie ist schal geworden oder immer gewesen, es gibt keinen Grund, sie noch einmal zu erzählen. Wir wollen nicht Brecht sehen, wir wollen sehen, wie eine Schauspielerin eine Treppe hochsteigt, wie ein Schauspieler hustet oder ein Bierglas über die Bühne trägt. Wenn das Glas zerbricht, wissen wir, dass es seine Richtigkeit hat, weil wir im Theater sind, wo geschieht, was geschehen muss, wo es eine Regie gibt und keinen Zufall. Ein Stück ist nichts. Es kann alles sein. Im Wort steckt die Frage: Ein Stück wovon? Und was ist das Ganze, wovon das Stück ein Stück ist? Ein Theaterstück ist kein Stück Theater sondern ein Stück Leben. Der Autor wählt aus dem Ganzen einen Teil, der Regisseur macht aus dem Teil wieder ein Ganzes. Autor und Regisseur stehen nebeneinander wie die Spulen eines Transformators. Strom fließt durch die Primärspule und erzeugt ein Das Theater der Lebenden elektromagnetisches Feld, das durch Induktion in der Sekundärspule einen Strom erzeugt. Die Spannung, die den Transformator verlässt, hängt von der Spannung ab, die in ihn eintritt und vom Verhältnis der Wicklungen von Primär- und Sekundärspule. Theater entsteht durch Beziehungen zwischen Menschen, zwischen Autoren und Dramaturgen, Dramaturgen und Regisseuren, Regisseuren und Schauspielern, Schauspielern und Publikum. Theater ist die Beziehung zwischen Menschen. Würde immer dasselbe Stück gespielt, durch alle Zeiten, in allen Städten, die Menschen gingen trotzdem ins Theater. Aus dem selben Grund, aus dem sie in die Kirche gehen, wo immer dasselbe Stück gespielt wird: um sich zu versichern. Und jedesmal, wenn ein Mensch oder ein Gott stirbt, weinen sie, und wissen doch, dass er auferstehen, dass er, wenn der Vorhang gefallen ist, zum Himmel fahren oder sich verneigen wird. Gott ist alt geworden, aber das macht nichts. Ein junger Gott ist gar nicht vorstellbar, die Kirche lebt von der Wiederholung. Sie kann es sich leisten, immer dasselbe Stück zu spielen. Auch der gute Mensch von Sezuan, Hamlet, die drei Schwestern sind alt geworden. Ihre Worte mögen so schön und so zeitlos sein wie jene der Bergpredigt, der Strom, aus dem sie entstanden sind, fließt nicht mehr. Und ohne Strom ist der Transformator aus Autor und Regisseur nur ein Stück totes Metall. (Ich frage mich, ob Shakespeares Truppe jemals auf die Idee gekommen ist, einen Klassiker zu spielen.) Natürlich sollen die Klassiker gespielt werden, aber sie sollen und können das Theater nicht ausmachen. Sie sind das Bezugssystem, in das sich die neuen Stücke einfügen. Sie sollen auch gespielt werden. Theater kann versichern oder verunsichern, es kann zurückschauen in die goldene Vergangenheit oder vorwärts in die Zukunft, die immer dunkel ist. Das Publikum wird für die Versicherung zweifellos dankbarer sein als für die Verunsicherung. Deshalb besuchen die großen und die kleinen Bürger so gern das Musical, das Kino, die Oper und die Operette, die großen Versicherungsanstalten des Kulturbetriebs. Aber Versicherungen sind immer eine Täuschung. Die Zeit verläuft nur in eine Richtung, und am Schluss sind wir alle tot. Das Neue, das Unbekannte kann man sich nicht wünschen, weil man es nicht kennt. Also muss das Theater den Zuschauern die Augen dafür öffnen. Nicht für politische Missstände, für psychologische und soziologische Zusammenhänge, für Wahr- oder Weisheiten, sondern für sich, das Theater selbst. Theater muss schockieren im Wortsinn, es muss anstoßen, bewegen. Nur die Bewegung zählt, nicht die Art oder die Richtung Impressum vorspiel. Das Magazin des Wiener <strong>Burgtheater</strong>s erscheint fünfmal jährlich als Sonderbeilage der Tageszeitung DER STANDARD. Medieninhaber: DER STANDARD Verlagsgesellschaft mbH. 3430 Tulln, Königstetter Strasse 132. Herausgeber: Direktion <strong>Burgtheater</strong> GesmbH, 1010 Wien, Dr. Karl Lueger-Ring 2. Redaktion: Dramaturgie <strong>Burgtheater</strong>. Gestaltung: richy oberriedmüller, section.d. Hersteller: Goldmann-Zeitungsdruck GesmbH, 3430 Tulln, Königstetter Strasse 132 von Peter Stamm dieser Bewegung. Dass auch das Tote, das Unbewegte, das Unbewegliche und Nicht- Bewegende ihren Reiz und ihren Platz haben, sei nicht bestritten. Aber dafür ist das Theater nicht zuständig. Theater ist immer Gegenwart, ist immer Bewegung. Das muss es sich zunutze machen. Die Mittel, die das Theater einsetzt, um sein Publikum zu bewegen, ändern sich mit der Zeit. Der Schock kann daraus bestehen, dass es keinen Schock gibt, dass in einer Gegenwart, die im Sekundentakt geschnitten ist, die Szenen verlangsamt werden wie bei Christoph Marthaler. Der Schock kann - und wird immer - unerwartete Schönheit sein. Das Publikum muss überrascht werden, mit welchen Mitteln auch immer. Dann wird es bewegendes Theater erleben, Theater, das es nicht vergisst. Denn die Bewegung erzeugt das Gefühl. Vielleicht mögen wir das zeitgenössische Theater manchmal nicht, aber es ist unser Theater, das Theater der Lebenden. Wir haben kein anderes, und wir verdienen kein anderes. Es sollte für das Theater gelten, was Christoph Meckel über das Gedicht sagt: es ist „nicht der Ort, wo die Schönheit gepflegt wird”, „nicht der Ort, wo die Wahrheit verziert wird”, „nicht der Ort, wo der Schmerz verheilt wird”, „nicht der Ort, wo das Sterben begütigt, wo der Hunger gestillt, wo die Hoffnung verklärt wird”. Wir können die Vorhänge schließen, dann ist alles gut. Die Feinde reichen sich die Hand, und die Toten auferstehen. Aber wir können die Nacht nicht zum Tag machen. Theater findet nicht hinter geschlossenen Vorhängen statt, es beginnt, wenn der Vorhang sich öffnet. Dann fließt der Strom, dann blendet uns das Licht, dann stellt jeder sich selber dar. Ihr habt die Wahl, sagt Ingeborg Bachmann: „Fürchtet euch, oder fürchtet euch nicht!” PETER STAMM Geb. 1963 in Weinfelden (Schweiz). Nach einer kaufmännischen Lehre kurze Anstellung als Buchhalter in Paris und Studium der Anglistik, Psychologie, Wirtschaftsinformatik und Psychopathologie. Seit 1991 freier Journalist und Schriftsteller und seit 1997 Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift „Entwürfe für Literatur“. Veröffentlichungen: Zahlreiche Hörspiele für DRS, SWR und WDR (Hörspielpreise für „Der letzte Autofahrer“ und „Warum wir vor der Stadt wohnen“). Prosa: u.a. „Agnes“ (Roman) 1998, „Blitzeis“ (Erzählungen) 1999, „Ungefähre Landschaft“ (Roman) 2001. Theaterstücke: u.a. „Die Planung des Planes“, „How to create your own perfect Billy“, „Après soleil oder wen der Wind zur Insel trägt” (Uraufführung: Schauspielhaus Zürich, Februar 2003).
vorgarten Das Feuerwerk Musikalische Komödie von Erik Charell/Jürg Amstein Musik: Paul Burkhard Zum sechzigsten Geburtstag von Albert Oberholzer erwarten er, seine Frau Karoline und ihre gemeinsame Tochter Anna ihre zahlreiche Verwandtschaft zu Besuch. Es soll ein schönes Fest werden, alle werden sich bemühen, die kleineren und größeren Konflikte, die es in jeder Familie gibt, für einen Abend vergessen zu machen. Alles sieht also nach einer heillos gemütlichen Feier aus. Da erscheint plötzlich Alex, der „verlorene“ Bruder Oberholzers, der vor Jahren mit der Familie gebrochen und in der weiten Welt sein Glück gesucht hat, sich jetzt Obolski nennt und als Zirkusdirektor reüssiert. Er ist in Begleitung seiner schönen Frau, der Trapezkünstlerin Iduna. Der Traum von einer anderen, einer größeren, glamouröseren Welt bricht plötzlich in die beschauliche Feier ein und sorgt unter den Festgästen für Turbulenzen. Vor allem in Anna weckt die Vorstellung vom Zirkusleben ungeahnte Sehnsüchte nach einem reicheren, bedeutenderen, abenteuerlicheren Leben, demgegenüber die kleingärtnerische Zukunft mit ihrem bisherigen Geliebten Robert plötzlich ausgesprochen unattraktiv wirkt. Sie beschließt, alle Brücken hinter sich abzubrechen und schon morgen mit dem Zirkus ihres Onkels auf Wanderschaft zu gehen. DAS FEUERWERK Musikalische Komödie von Erik Charell/Jürg Amstein Gesangstexte: Jürg Amstein/Robert Gilbert Musik: Paul Burkhard REGIE Michael Wallner MUSIKALISCHE EINRICHTUNG Marc Schubring BÜHNE László Varvasovszky KOSTÜME Birgit Hutter MUSIKALISCHE LEITUNG Toni Gisler MIT Elisabeth Augustin, Ulli Fessl, Sabine Haupt, Maresa Hörbiger, Gertraud Jesserer, Sylvia Lukan, Mareike Sedl; Bernd Birkhahn, Florentin Groll, Peter Matić, Robert Meyer, Denis Petković, Hermann Scheidleder Premiere am 2. März im <strong>Burgtheater</strong> Weitere Vorstellungen am 5., 7., 19. und 25. März