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Thesen - Deutscher Juristentag

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<strong>Thesen</strong> zum ZivilrechtZivilrechtBrauchen Konsumenten und Unternehmen eine neue Architektur desVerbraucherrechts?<strong>Thesen</strong> zum Gutachten von Prof. Dr. Hans-W. Micklitz, Florenz/Bamberg1. Ausgliederung: Die Integration des Verbraucherrechts in das BGB ist nur formal gelungen.Die Dynamik des Verbraucherrechts lässt sich mit der Statik des BGB nicht in Einklangbringen. Das Verbraucherrecht präsentiert sich als ein unruhiges Rechtsgebiet, ständigenVeränderungen unterworfen, die zudem nicht aus der Mitte des deutschen Rechts oder derdeutschen Politik hervordringen, sondern die über die Europäische Union über Deutschland‚hereinbrechen‘. Deshalb ist eine Ausgliederung des Verbraucherrechts aus dem BGB gebotenund wünschenswert. Eine Reihe von Mitgliedstaaten haben sich für diese Kodifikationsformentschlossen, so Österreich mit dem Konsumentenschutzgesetz, die nordischen Länder Dänemark,Finnland und Schweden sowie die romanischen Länder Frankreich, Italien, Portugalund Spanien. Nur die Niederlande haben wie Deutschland das Verbraucherrecht in das übereinen langjährigen Prozess der demokratischen Diskussion grundlegend reformierte Wetboekintegriert. Soweit die Mitgliedstaaten über ein eigenes Verbraucherschutzgesetz verfügen,beschränken sie sich auf eine Kompilation von Regelungen. Dabei kann es nicht bleiben. DasPetitum für eine Ausgliederung des Verbraucherrechts aus dem BGB umschließt die Notwendigkeiteiner theoretischen Durchdringung der Materie des Verbraucherrechts und einer Verschränkungdes Verbraucherrechts mit dem BGB. Ein solches Unterfangen würde es erlauben,den Stellenwert des Verbraucherrechts besser zu bestimmen und eine pro-aktive Verbraucherpolitikzu formulieren, die in Europa Gehör findet.2. Eigenständigkeit: Der soziale Charakter des Verbraucherrechts lässt sich deutlicher sichtbarmachen und leichter erhalten, in das öffentliche Recht hineinragende Regeln lassen sich leichterintegrieren, moderne Formen des Dienstleistungsvertragsrecht, die auf vielfältige Gesetzeverteilt sind, lassen sich in einem Sondergesetz eher zusammenführen, prozedurale Regelnüber die Ausgestaltung des individuellen, des kollektiven, des judiziellen wie des administrativenRechtsschutzes mit materialen Vorschriften des Verbraucherrechts verbinden.3. Bewegliches System: Die verschwimmenden Konturen des Verbraucherbegriffs haben frühzeitigden Ruf laut werden lassen, dass das BGB besser geeignet sei, mit Hilfe von Treu und Glaubendiejenigen herauszufiltrieren, die ‚wirklich‘ des Schutzes bedürfen. Ernsthaft zu Ende gedachtwürde die Abschaffung des Verbraucherbegriffs zu einer Abschottung des BGB vor den sichverändernden ökonomischen Realitäten – Konsumgesellschaft, politischen Realitäten – Euro-5


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012päisierung und sozialen Realitäten – Transformation des Wohlfahrtstaates führen. Dies kämeeinem Verstoß gegen das EU-Recht als Verfassungsaufgabe gleich, Art. 3, 6, 12, 169 AEUV.Umgekehrt muss jede avisierte Konzeption auf die sich ständig verändernden Paradigmen desVerbraucherbegriffs und der Substanz des Verbraucherrechts reagieren können. Die Lösungkönnte in einem beweglichen System von Rechtsregeln und begrifflichen Beschreibungen liegen, mitHilfe dessen sich je spezifisch auf die unterschiedlichen Verbrauchertypen reagieren lässt.4. Der doppelte Verbraucherbegriff: Der jetzige Verbraucherbegriff ist in zweierlei Hinsicht zumodifizieren: er bedarf einer Erweiterung im Hinblick auf den Klein- bzw. Kleinstunternehmer(z. B. Existenzgründer), der sich von dem verantwortlichen Verbraucher nicht oder nurbedingt unterscheidet. Die vorsichtigen, aber noch unvollkommenen Versuche zur Definitiondes Kunden im Telekommunikations-, Energie- und Finanzdienstleistungsrecht bzw. des Passagiersim Transportrecht bieten erste Anhaltspunkte. Diese obere Schicht des Verbraucherbegriffsmuss unterfüttert werden. Die Rechtsfigur des verletzlichen Verbrauchers umschreibt dieAufgaben, um die es geht, ohne dass allerdings bislang deutlich ist, ob die besondere Verletzlichkeitaus ökonomischer oder sozialer Schwäche oder aus beidem besteht.5. Kauf- und Dienstleistungen: Der Rückzug auf den sicheren Hafen des Kaufvertrages wirdden ökonomischen Realitäten nicht gerecht. Notwendig ist eine Einbeziehung der Regeln zumInternet, zur Telekommunikation, zur Post, zu Finanzdienstleistungen und zum Transport.Aber auch Dienstleistungen aus dem sozialen Umfeld, die einer zunehmenden Ökonomisierungausgesetzt sind, wie Gesundheits- und Pflegeleistungen, weisen deutlich stärkereBindeglieder zum Verbraucherrecht vor. Das gesamte Dienstleistungsrecht zeichnet sich durcheine Gemengelage von öffentlich- und privatrechtlichen Regeln aus. Derzeit werden die privatrechtlichenRegeln den sektorenspezifischen Marktordnungsregeln zugeschlagen. Die Herausforderungbesteht darin, die privatrechtlichen Regeln in den einzelnen Sektoren zu ermittelnund anschließend miteinander zu verknüpfen. Nur so lassen sich die Bindeglieder zwischenden Sektoren erkennen und nur so lassen sich Prinzipien formulieren, die eine Art allgemeinerTeil eines modernen Verbraucher-Dienstleis tungs rechts werden könnten, so wie es der DCFRvorgeschlagen hatte. Das Konzept der Universaldienstleistungen bietet erste Anhaltspunktefür eine sektorenübergreifende Durchdringung der Materie.6. Rechtsschutz individuell/kollektiv bzw. judiziell/administrativ: Materialisierung und Prozeduralisierungdes materiellen und des prozessualen Verbraucherrechts gehen Hand in Hand,Art. 47 Charta der Grundrechte. Die bisherige Diskussion ist auf traditionelle Muster desindividuellen Schutzes durch die Gerichte fixiert. Die sich ständig vermehrenden Formen undForen der außergerichtlichen Streitbeilegung werden ebenso vernachlässigt wie die im Vordringenbegriffene administrative Durchsetzung des Verbraucherrechts, gerade auch in seinenprivatrechtlichen Bezügen, die allerdings bislang nicht als auch individualschützend angesehenwerden. Der Rückzug auf die ZPO als Dreh- und Angelpunkt des Rechtsschutzes wäre nur6


<strong>Thesen</strong> zum Zivilrechtum den Preis der Ausgrenzung all jener Felder des Verbraucherrechts zu haben, in denen dieDynamik des Rechts (und der Wirtschaft) am stärksten ausgeprägt sind. Die mehrfache Verspaltungin individuell/kollektiv, gerichtlich/außer gericht lich, gerichtlich/admi ni strativ istein getreues Spiegelbild des auseinanderdriftenden materiellen Verbraucherrechts. Die wachsendeBedeutung der grenzüberschreitenden Rechtsdurchsetzung erhöht noch die Komplexität.Individuelle und kollektive Rechtsbehelfe bleiben getrennt, wie die Unterlassungsklage imUWG und AGBR demonstriert. Staatliche Marktaufsichtsagenturen, die sich mehr und mehrin die Rechtsdurchsetzung einschalten, haben – anders als in common law Ländern, von denenhier durchaus zu lernen ist – keine Rechte, vor Zivilgerichten zugunsten der Verbraucher tätigzu werden oder entsprechende außergerichtliche drittbegünstigende Vergleiche abzuschließen.Private und administrative Rechtsdurchsetzung bleiben getrennte Welten. Verbände habenkeine Möglichkeit, eine behördliche Untersuchung, anders als es im Vereinigten Königreichder Fall ist, zu erzwingen. Der Zugang zu den in den Marktaufsichtsagenturen aggregiertenInformationen ist für die private individuelle und/oder kollektive Rechtsdurchsetzungnicht oder kaum zugänglich. Die datenschutzrechtlichen Barrieren sind zu überdenken. DieSchieds- und Schlichtungsstellen individualisieren die Rechtskonflikte und machen eineKlärung kollektiver Rechtsfragen auch dort unmöglich, wo sie der Rechtssicherheit im Sinnealler Beteiligten dringend erforderlich wäre. Notwendig ist es, die Bezüge zwischen diesenunterschiedlichen Feldern herzustellen und das eingespielte Kästchendenken aufzugeben.7. Struktur und Konzeption des beweglichen Systems: Die Idee eines beweglichen Schutzsystemsberuht auf der Vorstellung, dass sich den unterschiedlichen Verbrauchertypen unterschiedlicheRechte und Pflichten zuordnen lassen. Sie greift die Überlegungen von Th. Wilhelmssonauf, der sechs Typen von ‚welfarism in contract law‘ unterscheidet, denen sich je unterschiedlicheZiele und Instrumente zuordnen lassen. Auf die Konturierung des Verbraucherbegriffsübertragen ergibt sich eine Differenzierung zwischen der markt-rationalen bzw. markt-korrigierendenWohlfahrt auf der einen Seite und der intern/extern umverteilenden Wohlfahrt,die die Be dürftigkeits-Rationalität mit umfasst, auf der anderen Seite. Erstere korreliert mitdem Prototyp des verantwortlichen Kunden bzw. Verbrauchers, der sein Verhalten am Marktausrichtet und auf die korrigierenden Sicherungsmaßnahmen des Gesetzgebers vertraut.Die zweite korreliert mit dem verletzlichen Verbraucher, der auf eine soziale Umverteilungzu seinen Gunsten angewiesen ist, will er am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebenweiterhin teilhaben. Diese Typisierung versteht sich nicht als starr, sondern als durchlässig undsituationsabhängig.8. Differenzierte Wertesysteme: Die sich ausbildende Differenzierung des Verbrauchers in denverantwortlichen Verbraucher, der den Klein- und Kleinstunternehmer mit umschließt, undden verletzlichen Verbraucher, ruht auf der Vorstellung, dass sich der Typisierung unterschiedlicheWerteordnungen zurechnen lassen. Der verantwortliche Verbraucher, den Kunden/Klein unternehmer situationsbedingt eingeschlossen, verlangt ein Rechtsmodell, das nicht7


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012primär soziale Gerechtigkeit durch Umverteilung garantiert, sondern vor allem den Zugangzum Markt sicherstellt, um ihm die Vorteile des vervielfachten Produkt- und Dienstleistungsangebotsin einem erweiterten europäischen bzw. globalen Umfeld zukommen zu lassen, ebendas, was ich Zugangsgerechtigkeit nenne. Der verletzliche Verbraucher ist dagegen der Adressatsozialer Gerechtigkeit schlechthin, im EU-Kontext der sozialen Marktwirtschaft, Art. 3 Abs. 3EUV. Individuell bedarf er als der Schwächere am Markt des Schutzes durch das Rechtssystem,kollektiv gelingt dies um den Preis der Umverteilung zwischen den verschiedenen Verbrauchertypen,aber auch zwischen den Verbrauchern und den Unternehmen.9. Differenzierte Verantwortlichkeiten: Das differenzierte Wertesystem bildet den Ausgangspunktfür die Errichtung eines beweglichen Systems des Verbraucherschutzes. Die Autonomiedes verantwortlichen bzw. des vertrauenden Verbrauchers ist größer als die des verletzlichenVerbrauchers. Die Eigenverantwortung des Verbrauchers manifestiert sich in der Verpflichtung,die ihm zur Verfügung gestellte Information zu verarbeiten und gegebenenfalls erkennbareDefizite an den Unternehmer zurückzumelden. Je nach Verbrauchertypus reicht dieseVerantwortung unterschiedlich weit. Dem verantwortlichen Verbraucher kann ein höheresAusmaß an Eigenverantwortung abverlangt werden als dem verletzlichen Verbraucher.Eine solche Differenzierung erlaubt im Sinne von Messner eine flexible Handhabung derMissbrauchsproblematik von Schutzrechten. Die auf- und absteigende Verantwortung desVerbrauchers korreliert mit der auf- und absteigenden Verantwortung des Unternehmers.Wo die Eigenverantwortung des Verbrauchers höher ist, kann sich auch der Unternehmerzurückhalten. Anders sieht es dort aus, wo der Verbraucher nicht oder nur begrenzt in derLage ist, die ihm vom Rechtssystem idealtypisch übertragenen Aufgaben wahrzunehmen undauszufüllen. Die EU kann nur eine soziale und rechtliche Rahmenordnung bereitstellen, dievon den Mitgliedstaaten gemeinsam mit den Unternehmern ausgefüllt werden muss. Ganzim Sinne des Bürgschaftsurteils des BVerfG verweist der EuGH in Viking and Laval auf dieerhöhte integrationspolitische Verantwortung wirtschaftlich mächtiger Institutionen. So wiedie Gewerkschaften oder Sportverbände als Teil der Zivilgesellschaft verpflichtet sind, für dieökonomischen Auswirkungen ihrer Aktionen auf die Grundfreiheiten einzustehen, lassensich in Fortentwicklung dieser Rechtsprechung auch Unternehmen in die Pflicht nehmen,jedenfalls dann, wenn eine strukturelle Abhängigkeit existiert, wie es etwa bei den Anbieternvon Universaldienstleistungen der Fall ist. Die Reichweite der Drittwirkung nicht nur der Freiheits-,sondern auch der Grundrechte auf Unternehmen steht auf dem Prüfstand.10. Differenzierte Rechtsbehelfe: Für den verantwortlichen Verbraucher bildet eine sinnvollaufbereitete Information, die dem Gedanken von Qualität und nicht Quantität frönt, einenzentralen Baustein in der Entscheidungsfindung. Für den verletzlichen Verbraucher ist dieUmkehrung der Informationsbeschaffungslast kein wirksamer Schutzmechanismus. LangeZeit hat die Schriftform für diesen Personenkreis eine wichtige Schutzfunktion übernommen.Das Widerrufsrecht nützt dem cleveren Verbraucher, der sich noch nach einem Preisver-8


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012EU-Recht erheblichen Druck auf die Neuausrichtung staatlicher Behörden als Doppelagenturenausübt und auch wenn in den nordischen Ländern und im Vereinigten Königreich dieEntwicklung weitaus stärker voran geschritten ist.12. Neuausrichtung der Politik: Die Bundesregierung und ihre Ministerien, ebenso wie dieVerbände müssen sich weit stärker in die verschiedenen Stufen des EU-Gesetzgebungsverfahrenseinschalten. Stellungnahmen sollten auf Englisch erstellt und öffentlich zugänglich sein.Staatliche und private Träger des kollektiven Verbraucherschutzes sollten sich weit intensiverin den internationalen Prozess der Ausarbeitung von verbraucherrelevanten Fragestellungeneinschalten. Im internationalen Bereich sind mangels Einheitsrecht und unter Vermeidungkomplexer IPR-Fragen „soft-law“ Mechanismen, wie etwa eigenen Plattformen, unter Beteiligungder Verbände der Betroffenen zu erproben und zu evaluieren.<strong>Thesen</strong> zum Referat von Vors. Richter am BGH Wolfgang Ball, KarlsruheI. Verbraucherschutz durch Information1. Das vom Unionsgesetzgeber vorgegebene Konzept der möglichst umfassenden Informationdes Verbrauchers vor, bei und nach dem Vertragsabschluss kann die damit intendierteVerbraucherschutzfunktion nur erfüllen, wenn die Informationsadressaten imstande sind, dieInformationen zu verarbeiten. Dass eine entsprechende Kompetenz gerade bei den Verbrauchernvorhanden ist, die des besonderen Schutzes vor Übervorteilung bedürfen, ist zu bezweifeln.2. Die Überflutung des Verbrauchers mit Informationen ist unter Verbraucherschutzgesichtspunkteneher kontraproduktiv. Sie begründet die Gefahr, dass der Verbraucher dieInformationen wegen ihres Umfangs inhaltlich überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt oder dieBedeutung für ihn wesentlicher Informationen nicht erkennt.3. Die Bundesregierung sollte sich daher im Rat für eine Reduzierung der unionsrechtlichvorgeschriebenen Informationspflichten auf ein vernünftiges Maß einsetzen.II. Belehrung/Information des Verbrauchers über Widerrufs- und Rückgaberechte1. Die vom Gesetzgeber für die Belehrung des Verbrauchers über Widerrufs- und Rückgaberechtegeschaffenen Muster (Anlagen 1 und 2 zu Art. 246 EGBGB, Anlage 6 zu Art. 247EGBGB) sind für den juristisch nicht vorgebildeten Verbraucher in weiten Teilen unverständlich.2. Es ist weder notwendig noch sinnvoll, den Verbraucher bei einem Kauf im Internetshopdarüber zu belehren, dass die Widerrufsfrist „nicht vor Erfüllung (der) Informationspflichten(des Händlers) gemäß Artikel 246 § 2 in Verbindung mit § 1 Absatz 1 und 2 EGBGB und auch10


<strong>Thesen</strong> zum ZivilrechtDabei sollte sichergestellt werden, dass(i) das Stellen der sogenannten AGB-Falle ausgeschlossen wird,(ii) rechtliche Anreize geschaffen werden, dass jede Partei den Wunsch der anderen Partei,über den vorgelegten Klauseltext zu verhandeln, erfüllt bzw. der Fall der ungerechtfertigtenVerweigerung sanktioniert wird (z. B. durch die Annahme einer Individualabredeund damit den Ausschluss der Inhaltskontrolle),(iii) an den strengen Anforderungen der Rechtsprechung an das „zur Disposition zustellen“ nicht festgehalten wird,(iv) die sogenannten Paketlösungen möglich sind,(v) im Regelfall insbesondere keine Textänderungen für erforderlich gehalten werden,sondern Individualabreden auch ohne Textänderung in Betracht kommen, und(vi) zuvor ausgehandelte Vertragsbedingungen inhaltsgleich erneut verwendet werdenkönnen.11. Der Maßstab der Inhaltskontrolle sollte sich stärker– an den üblichen Gepflogenheiten des unternehmerischen Rechtsverkehrs einerBranche, eines Industriesektors bzw. eines Wirtschaftszweiges und– der erheblichen Abweichung von der diesbezüglichen vernünftigen unternehmerischenPraxis („good commercial practice“)orientieren.Dabei ist sicherzustellen, dass(i) nicht jede Abweichung von dispositiven Gesetzesbestimmungen bereits potentiell zurUnwirksamkeit der Klausel nach § 307 BGB führt,(ii) die §§ 308 f. BGB nicht länger Indizwirkung für die Unwirksamkeit einer Klauselentfalten,(iii) in § 310 Abs. 1 BGB auf die Existenz von „Handelsbräuchen“ verzichtet wird und(iv) die Umstände des betroffenen Rechtsgeschäfts und der Inhalt des Vertrags insgesamtangemessen berücksichtigt werden können.12. Keine geeigneten Kriterien für den Ausschluss bestimmter Geschäfte von der AGB-Kontrollesind(i) die – unterschiedliche – Größe der Parteien,(ii) ein bestimmter Wert des Geschäftes, für den ein Vertrag geschlossen wird,(iii) der grenzüberschreitende Charakter des Geschäftes oder(iv) der pauschale individualvertragliche Verzicht auf die Inhaltskontrolle.13. Es empfiehlt sich,– die derzeitigen Bestimmungen in § 305 Abs. 1 BGB unberührt zu lassen (sodass sieunverändert im B2C-Bereich weitergelten) und sie lediglich um eine Sonderregelungfür den B2B-Bereich zu ergänzen und– § 310 Abs. 1 BGB zu ändern.Dabei empfehlen sich eher „minimal invasive“ Regelungen als umfangreiche Detailbestimmungen;die verschiedenen relevanten Fallgestaltungen, die Anlass zu den (vorgeschlagenen)15


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012Gesetzesänderungen geben, sind besser in der Gesetzesbegründung – dort aber ausführlich –darzustellen.14. Insgesamt ist die (in der Rechtsprechung herausgebildete) Gleichbehandlung des unternehmerischenund privaten Geschäftsverkehrs zukünftig zu vermeiden.<strong>Thesen</strong> zum Referat von Prof. Dr. Eva-Maria Kieninger, WürzburgA. Die Omnipräsenz der Informationspflichten1. Die Pflichten zur Weitergabe standardisierter Informationen über Produktmerkmale undVertragsinhalte sind eine tragende Säule der gegenwärtigen Architektur des Verbrauchervertragsrechts.2. Die grenzüberschreitende Marktöffnung innerhalb der EU, die daraus folgende partielleZurück drängung aufsichtsbehördlicher Maßnahmen und zwingenden Rechts sowie dieOrien tierung am Leitbild des mündigen Verbrauchers haben der flächendeckenden Statu ie -rung von Informationspflichten Vorschub geleistet.3. Fast ebenso omnipräsent wie die Pflicht zur Konsumenteninformation ist die wissenschaftlicheKritik hieran. Sie entzündet sich am offensichtlichen Versagen der Informationspflichtenund stützt sich hierbei auf gesicherte Erkenntnisse der kognitiven Psychologie undder Verhaltensökonomie.B. Ursachen für das Versagen des InformationsparadigmasI. Gesetzgeber4. Vorschriften über den Inhalt von Informationen, insbesondere Musterbelehrungen, orientierensich am üblichen „Gesetzgebungsjargon“, sind im Hinblick auf ihre Justiziabilität undDurchsetzbarkeit gegenüber den verpflichteten Unternehmen formuliert und nehmen keineRücksicht auf den Verständnishorizont der Adressaten.5. Nach der derzeitigen Rechtslage gibt es keine Anreize, Verbraucher so zu informieren, dassder Inhalt sie tatsächlich erreicht. Der Gesetzgeber verhindert Abweichungen von unverständlichenMusterbelehrungen, indem er allein an die Verwendung des gesetzlich vorgeschriebenenMusters die Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit knüpft.6. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass Informationspflichten keine oder nur geringeKosten verursachen. Weiterhin wird jeder Vertragstyp im Gesetzgebungsprozess für sichbetrachtet. Eine Gesamtschau aller von den Konsumenten zu verarbeitenden Informationenvom Arzneimittelbeipackzettel bis zum Zahlungsdiensterahmenvertrag findet daher imGesetzgebungsprozess nicht statt.16


<strong>Thesen</strong> zum ZivilrechtII. Unternehmen7. Das Interesse der Unternehmen geht dahin, die gesetzlichen Vorgaben möglichst vollständigzu erfüllen, um keinen vertrags-, wettbewerbs- oder aufsichtsrechtlichen Sanktionenausgesetzt zu sein. Ein Interesse daran, Informationen adressatengerecht zu vermitteln, bestehtseitens der Unternehmen nur, wenn sie sich hiervon Absatzvorteile erhoffen. Insoweit bedarf esaber schon keiner gesetzlich statuierten Informationspflicht.8. Wesentliche Gründe dafür, dass Informationspflichten von Unternehmen nicht beachtetwerden, sind ihre Fülle, die Unübersichtlichkeit und Überlappung der Pflichtenkataloge beiVerträgen, die unter mehrere Kategorien verbraucherschützender Normen fallen, die mit derBefolgung der Pflichten verbundenen Kosten und die marginale Bedeutung der meisten Informationenfür die Verbraucherentscheidungen.III. Verbraucher9. „Information overload“ ist der wesentliche Grund dafür, dass Informationen ihre Adressatennicht erreichen: Selbst unter der realitätsfernen Annahme, dass jede einzelne Informationso gestaltet wäre, dass der Durchschnittsverbraucher sie verstehen könnte, und selbstwenn Verbraucher willens wären, diese Informationen auch aufzunehmen und bei ihrenEntscheidungen zu berücksichtigen, wären sie angesichts der Omnipräsenz von Informationenund Belehrungen bereits mit der Masse des zu lesenden Materials überfordert.10. Verbraucher handeln ganz überwiegend weder völlig irrational, noch treffen sie ihre Entscheidungenerst nach vollständiger Information über alle Entscheidungsfaktoren und derenrelatives Gewicht, sondern verhalten sich begrenzt rational und orientieren sich an einfachenSchlüsseldaten und Faustregeln („Heuristiken“).11. Standardisierte Informationen, die keine Rücksicht auf die Komplexität der Transaktionund auf den individuellen Verständnishorizont nehmen, können gerade bei Entscheidungen,die von Verbrauchern nur einmalig oder selten zu treffen sind, und deren Gegenstand komplexist (z. B. Darlehensvertrag, Kapitalanlage, Versicherungsvertrag), ihr Ziel, zu einer kompetenten,eigenverantwortlichen Entscheidung zu führen, von vornherein nicht erreichen.C. Die negativen Folgen des fehlgeleiteten Informationsparadigmas12. Informationspflichten verursachen bei den Unternehmen Transaktionskosten, die volkswirtschaftlichunsinnig sind, soweit sie keinen oder nur einen im Vergleich zu den Kostengeringeren Nutzen erzeugen.13. Soweit ein Nutzen vorhanden ist, ist er typischerweise ungleich verteilt, während dieKosten alle Verbraucher gleichmäßig treffen: Im Vergleich zu den bereits besser informiertenVerbrauchern („verantwortliche Verbraucher“) ziehen verletzliche Verbraucher einen deutlichgeringeren bis gar keinen Nutzen. Damit findet im Ergebnis eine Umverteilung gerade zuLasten derjenigen Verbraucher statt, denen die Verbraucherschutzgesetzgebung am meistenhelfen will.17


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 201214. Ein Problem des flächendeckenden Einsatzes von Informationspflichten („Gießkannenprinzip“)besteht darin, dass selbst nützliche und verständliche Informationen in der Masse zuversinken drohen.15. Weiterhin trägt das Informationsparadigma die Gefahr in sich, stärker regulierende Mitteldes Verbraucherschutzes, beispielsweise zwingendes Vertragsrecht und aufsichtsbehördlicheKontrolle, zu verdrängen oder zu konterkarieren.16. Soweit über Vertragsinhalte zu informieren ist, birgt die mangelnde Abstimmung dereinschlägigen Informationspflichtenregeln mit dem AGB-Recht die Gefahr widersprüchlicherInformationen.D. Folgerungen für eine Änderung der europäischen und deutschen Gesetzgebung17. Die gesetzlich statuierten Informationspflichten bedürfen dringend einer gründlichenDurchforstung. Das Gießkannenprinzip muss durch ein Prinzip strikter Selektion abgelöstwerden.18. Unternehmen sollten nur zur Bereitstellung solcher Informationen verpflichtet werden, die1. nicht ohnehin aus Eigeninteresse weitergegeben werden,2. nicht wegen parallel existierenden zwingenden Rechts, insbesondere wegen der gleichzeitigenAGB-Einbeziehungs- und Inhaltskontrolle überflüssig oder gar kontraproduktivsind, und3. für Verbraucherentscheidungen typischerweise eine zentrale Bedeutung haben.19. Legt man diese Kriterien an, so wären beispielsweise fast alle Informationspflichten derArt. 5 und 6 der Verbraucherrechterichtlinie zu streichen. Übrig blieben allenfalls die Informationenüber Kosten, die zum Produktpreis i. e. S. hinzutreten, wie Steuern, Abgaben undLieferkosten, bei Fernabsatzverträgen Informationen über die Regelung der Kostentragungbeim Widerruf und bei Dauerschuldverhältnissen Angaben zur Laufzeit.20. Wenn Informationspflichten nach diesen Kriterien tatsächlich am Platz sind, ist weiterhinauf sehr knappe und leicht verständliche Formulierungen sowie den richtigen Zeitpunkt fürdie Information zu achten.21. Eine Bestätigung des Verbrauchers, dass er die Informationen zur Kenntnis genommenhabe, darf nicht verlangt werden. Eine Obliegenheit zur Informationsrezeption ist abzulehnen.22. Die gegenwärtig festzustellende Nichteinhaltung von Informationspflichten sollte nichtsogleich zur Einführung schärferer Sanktionen führen. Zunächst ist abzuwarten, ob nichtschon die Reduktion der Pflichtenkataloge mehr Rechtstreue zur Folge hat. InstitutionelleSanktionen haben eine wesentlich stärkere Breitenwirkung als individuelle vertragsrechtlicheSanktionen (Schadensersatz, Rückabwicklung des Vertrags) und sollten daher durch besserefinanzielle Förderung von Verbraucherschutzverbänden und Verbraucherzentralen verstärktwerden.18


<strong>Thesen</strong> zum Zivilrecht23. Eine radikale Reduktion der spezifizierten Informationspflichten kann das Problem derInformationsasymmetrie im Verbrauchervertragsrecht nur zu einem kleinen Teil beheben,verhindert aber immerhin den Placebo-Effekt, den der gegenwärtige Rechtszustand bewirkt.24. Dekretierte Einheitsverträge sind mit einer auf Privatautonomie, Wettbewerb und offeneMärkte gegründeten Wirtschaftsordnung nicht zu vereinbaren. Unverbindliche Vertragsmuster,die unter Beteiligung von Unternehmens- und Verbraucherverbänden erarbeitet und miteinem Gütesiegel versehen werden („Vertrags-TÜV“), sind eine denkbare Teillösung, vor allemfür einfach strukturierte, alltägliche Kauf- und Dienstleistungsverträge.25. Das Informationsproblem beim Abschluss komplexer Transaktionen, wie z. B. Kapitalanlagen,Darlehen und Versicherungen, kann nur durch eingehende, individuelle Beratungdurch unabhängige Intermediäre gelöst werden. Hierfür die rechtlichen Rahmenbedingungenzu schaffen (z. B. Provisionstransparenz, Herstellung von Rollenklarheit, Standards für dieQualifikation der Berater) wäre eine wesentlich lohnendere Aufgabe für den Gesetzgeber alsdie Perpetuierung des Informationsmantras.19


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012SozialrechtWettbewerb im Gesundheitswesen –Welche gesetzlichen Regelungen empfehlen sich zur Verbesserung einesWettbewerbs der Versicherer und Leistungserbringer im Gesundheitswesen?<strong>Thesen</strong> zum Gutachten von Direktor des MPI Prof. Dr. Ulrich Becker, LL.M.,München, und Prof. Dr. Heike Schweitzer, LL.M., MannheimI. Ausgangsbedingungen1. Der Staat hat für die Gewährleistung eines Schutzes in Krankheitsfällen zu sorgen.Seine Gewährleistungsverantwortung schließt Wettbewerb zwischen den in die Aufgabenerfüllungeingebundenen Versicherungsträgern nicht aus. Wettbewerb kann unabhängig vonder Rechtsform dieser Träger und unabhängig von deren Gewinnerzielungsabsicht stattfinden.Er muss aber in einen regulativen Rahmen eingebettet sein, der eine flächendeckendeGesundheitsversorgung sicherstellt. Die wesentlichen Entscheidungen, die neben der Versicherungspflichtden Umfang des Leistungskatalogs, die Sicherstellung einer angemessenenVersorgungsdichte und einer Mindestqualität der Gesundheitsleistungen umfassen, hat derGesetzgeber selbst zu treffen.2. Der im deutschen Gesundheitswesen existierende Wettbewerb ist geprägt durch eineGesetzliche Krankenversicherung (GKV) mit einer Vielzahl von Krankenkassen als Trägern,die aufgrund der umfassenden Wahlrechte der Versicherten in einem Wettbewerb zueinanderstehen, durch das in der GKV geltende Sachleistungsprinzip, das zu direkten Vertragsbeziehungenzwischen Kran kenkassen und Leistungserbringern führt und die Möglichkeit einesVertragswettbewerbs eröffnet, sowie durch die Existenz einer grund ständigen (ersetzenden)Privaten Krankenversicherung (PKV).3. Dem im System der GKV angelegten und politisch gewollten Wettbewerb ist, damit erwirksam werden kann, eine umfassende und konzeptionell kohärente rechtliche Ordnung zugeben. Neben den Regeln des Vergaberechts umfasst sie das Kartellrecht und das Lauterkeitsrecht.Der Wettbewerb auf Vertrags- und Versicherungsmärkten ist interdependent. Auch derKrankenkassenwettbewerb auf Versicherungsmärkten muss deshalb geschützt werden.4. Soweit der Gesetzgeber die Träger der sog. gemeinsamen Selbstverwaltung zur Konkretisierungder gesetzlichen Vorgaben im Wege kollektiver Beschlüsse oder zur kollektivvertraglichenLeistungsbeschaffung verpflichtet, sind diese Maßnahmen von einer wettbewerbsrechtlichenKontrolle ausgenommen. Sie sind auch zur Stärkung des Wettbewerbs auf das notwendigeMaß zu begrenzen.20


<strong>Thesen</strong> zum SozialrechtII. Vorschläge für einen besseren rechtlichen Schutz des WettbewerbsVor dem Hintergrund der vorstehenden Ausgangspunkte empfehlen sich zur Verbesserung desWettbewerbs die folgenden Maßnahmen:1. Es ist zu empfehlen, die Vorschriften des GWB auf das Handeln der Krankenkassen entsprechendanzuwenden. Eine entsprechende Rechtsgrundlage ist in das SGB V einzufügen.Der Verweis auf das GWB erfasst neben dem Verhältnis der Krankenkassen zu den Leistungserbringernauch den Wettbewerb zwischen Krankenkassen auf dem Versicherungsmarkt. Vonder Anwendung des GWB auszunehmen sind die vom Gesetzgeber zwingend vorgegebenen,der Sicherung des Versorgungsauftrags dienenden kollektiven Maßnahmen der Kassen undderen Verbände sowie des GBA.2. Der Verweis auf das GWB umfasst auch die Vorschriften der Fusionskontrolle, die damitauf Kassenfusionen anwendbar wären. Dem Versorgungsauftrag der Krankenkassen kann imRahmen der Fusionskontrolle Rechnung getragen werden.3. Die Anwendung des Verbots wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen nach §§ 1,2 GWB schließt die Möglichkeit von Kooperationen zwischen Krankenkassen auch imZusammenhang mit wettbewerblichem Handeln nicht grundsätzlich aus. Weil insofern allerdingserhebliche Rechtsunsicherheit besteht, ist zu empfehlen, für Kooperationen zwischenKrankenkassen ein Notifizierungs- und Erlaubnisverfahren einzuführen. Ausnahmen von § 1GWB sind streng an den wettbewerblichen Kriterien des § 2 GWB zu orientieren.4. Um Konfliktfälle zwischen dem sozialrechtlichen Versorgungsauftrag der Krankenkassenund den Wettbewerbsregeln, die bei einer Erweiterung wettbewerblicher Handlungsspielräumedenkbar werden, einer klaren rechtlichen Regelung zuzuführen, ist eine neue Vorschriftin das SGB V einzufügen, die klarstellt, dass für Krankenkassen, die in Erfüllung des ihnengesetzlich aufgegebenen Versorgungsauftrags handeln, die Regeln der §§ 1 ff., 19 – 21 GWBnicht gelten, soweit die Anwendung dieser Vorschriften die Erfüllung des Versorgungsauftragsrechtlich oder tatsächlich verhindern würde.5. Auf Maßnahmen der Krankenkassen, die im Zusammenhang mit der Mitgliederwerbungstehen oder dem Erhalt des Versichertenbestands dienen, sollte das UWG Anwendung finden.Auch das ist im SGB V zu regeln.6. Hinsichtlich der Zuständigkeit für die Kontrolle der wettbewerbsrechtlichen Vorschriftenist zu differenzieren:a) Für das Vergaberecht ist die Zuständigkeit der Vergabekammern und der Zivilgerichtesachgerecht.b) Für das UWG sollte das Verhalten im Verhältnis zwischen Kran kenkassen und Versicherteneinheitlich ebenfalls durch die Zivilgerichte überprüft werden; die jetzt nochgespaltene Zuständigkeit ist aufzugeben. Das Verhalten der Kassen im Verhältnis zuden Leistungserbringern und evtl. der Leistungserbringer untereinander in Bezugauf die Berechtigung zur Teilnahme an der Versorgung sollte durch die Sozialgerichtekontrolliert werden.21


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012c) Für die Fusionskontrolle sollte die Zuständigkeit der Kartellämter und Zivilgerichtevorgesehen werden.d) Hinsichtlich der Anwendung des GWB im Übrigen existieren zwei Alternativen, diejeweils eigene Vor- und Nachteile besitzen und bei deren Bewertung die Gutachteruneins sind: die Zuständigkeit der Aufsichtsbehörden und Sozialgerichte einerseitsoder die Zuständigkeit der Kartellbehörden und Zivilgerichte andererseits.7. Dem Gesetzgeber ist zu empfehlen, beim Ausbau des Wettbewerbs zwischen Krankenkassennicht auf einen Wettbewerb durch Ausdifferenzierung des Leistungsspektrums, sondernauf einen Wettbewerb entlang der Wettbewerbsdimensionen von Preis und Qualität zu setzen.Mit einem Wettbewerb um zusätzliche Leistungsangebote sind vielfach Selektionseffekteverbunden. Aus Sicht der Versicherten kann ein Wettbewerb um unterschiedliche Leistungsangebotedie Vergleichbarkeit und Transparenz beeinträchtigen. Es ist deshalb zu empfehlen,die Wahltarife für die Nichtinanspruchnahme von Leistungen und die Ermächtigungen zumAngebot von Zusatzleistungen abzuschaffen.8. Ein funktionsfähiger Qualitätswettbewerb setzt voraus, dass den Versicherten klare,zuverlässige und vergleichbare Informationen über die Qualität der Leistungen der Krankenkassenzur Verfügung stehen. Dem Gesetzgeber ist zu empfehlen, entsprechende Verpflichtungender Krankenkassen vorzusehen.III. Sektorbezogene Vorschläge1. Auf dem derzeitigen Stand empfiehlt sich für das Vertragsarztrecht eine Weiterentwicklungder bestehenden wettbewerblichen Ansätze. Diese müssen deshalb in die kollektivvertraglichenVorgaben eingepasst werden. Die haus- oder insgesamt primärärztliche Versorgungsollte unter dem Primat möglichst weitgehender Wahlfreiheit der Patienten stehen. Für dasLeistungserbringungsrecht ist deshalb ein einheitlicher Rahmen sinnvoll. In jedem Fall ist diegegenwärtige Regelung über die hausarztzentrierte Versorgung abzuschaffen. Für die übrigevertragsärztliche Versorgung sollten die Selektivverträge nach Maßgabe der im Gutachtengenannten Bedingungen gestärkt werden.2. Im stationären Sektor ist neben der Umstellung der Finanzierung eine Veränderung desPlanungsrechts hin zu einem Regulierungsansatz mit Sicherung einer Mindestversorgungdenkbar. Das bedarf allerdings einer gemeinsamen politischen Entscheidung von Bund undLändern. Auch im Rahmen der sich ohnehin verändernden krankenhausrechtlichen Vorgabenist eine Verbesserung des Wettbewerbs durch die Zulassung selektivvertraglichen Handelnsder Kassen, eventuell zunächst in begrenztem Umfang, möglich. Der Wettbewerb würde danndurch das GWB geschützt. Auch in der derzeitigen Situation steht die Fusionskontrolle derLeistungsanbieter nicht in einem unauflösbaren Widerspruch zu den öffentlich-rechtlichenVorgaben.22


<strong>Thesen</strong> zum Sozialrecht3. Die sektorenübergreifende Versorgung wurde neu geregelt, bedarf aber der untergesetzlichenKonkretisierung. Aus wettbewerblicher Sicht ist die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungenfür die beteiligten Leistungsanbieter entscheidend. Verbesserungsvorschlä gesind dafür zur Zeit nicht angebracht.4. Im Arzneimittelsektor ist zwischen dem Wettbewerb auf Generikamärkten und demWettbewerb zwischen patentgeschützten Arzneimitteln zu differenzieren:a) Der Wettbewerb auf Generikamärkten verfügt im Grundsatz über einen angemessenenwettbewerblichen Ordnungsrahmen. Um einer Behinderung des schnellenMarktzutritts von Generikaherstellern vorzubeugen, ist aber in § 130 a SGB V eineRegelung einzufügen, der zufolge mit Ablauf des Patentschutzes alle bestehendenRabattvereinbarungen außer Kraft treten.b) Die frühe Nutzenbewertung – ein neues Preissetzungsverfahren für patentgeschützteArzneimittel – muss sich in der Praxis noch bewähren. Angesichts ihres Zwecksund ihrer potenziell patentrechtsbegrenzender Wirkung wird empfohlen, mit ihrerDurchführung nicht den GBA, sondern eine neutrale Institution („Bewertungsausschuss“)zu betrauen, der ein weiter Beurteilungsspielraum zugestanden werden muss.Deren Entscheidung sollte gerichtlich überprüfbar sein, wobei eine auf schie ben deWirkung der Rechtsbehelfe nur in besonders begründeten Fällen anzuordnen wäre.c) Der in § 130 c SGB V vorgesehene Selektivvertragswettbewerb kann nur dann breiteWirkung entfalten, wenn Kassen auf das Verordnungsverhalten von Ärzten Einflussnehmen. Für die Versicherten ist diese Einflussnahme intransparent. Zu befürchten istdaher ein reiner Preiswettbewerb, der auf Qualitätsparameter keine Rücksicht nimmt.§ 130 c SGB V ist daher in seiner gegenwärtigen Form abzuschaffen.d) Jedenfalls für Arzneimittel, deren Preis im Rahmen von Preisverhandlungen in derFolge einer frühen Nutzenbewertung festgelegt worden ist, sind darüber hinausreichendeArzneimittelherstellerrabatte gem. § 130 a Abs. 1, 1 a und 3 a SGB V nichtgerechtfertigt. Der Gesetzgeber hat dies im SGB V klarzustellen.IV. Zum Verhältnis zwischen GKV und PKVIm Verhältnis zwischen GKV und PKV findet derzeit kein wirksamer Systemwettbewerb statt.Jede denkbare Bereinigung der gegenwärtigen Lage wirft jedoch zwangsläufig tiefgreifendeverfassungsrechtliche, sozial- und wirtschaftspolitische Fragen auf. Diese reichen über denGutachtenauftrag hinaus.23


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012<strong>Thesen</strong> zum Referat von Rechtsanwalt Dr. Reimar Buchner, BerlinI. Ausgangssituation1. Wettbewerb im „Krankenversicherungsmarkt“ findet unter den derzeit geltenden gesetzlichenRahmenbedingungen zum einen als Wettbewerb der gesetzlichen Krankenkassen umVersicherte statt, die ihre Krankenkasse grundsätzlich frei wählen dürfen. Bisher wird dieserWettbewerb unter gesetzlichen Krankenkassen als Körperschaften des öffentlichen Rechts vomunternehmerisch-wirtschaftlichen Wettbewerb aufgrund seines ausschließlich dienenden Charaktersals Mittel zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit und wegen der gleichzeitigen Verpflichtungder Krankenkassen auf einen weitgehend einheitlichen Versorgungsauftrag und zurZusammenarbeit abgegrenzt. Eine veränderte Zielsetzung des Wettbewerbs unter den gesetzlichenKrankenkassen ist dem SGB auch nach den letzten Reformgesetzen nicht zu entnehmen.2. Zum anderen konkurrieren gesetzliche Krankenkassen faktisch um diejenigen Personen,die sich freiwillig gesetzlich oder privat versichern können. Für diesen Wettbewerb fehlt esbereits an vergleichbaren Ausgangsbedingungen im Sinne eines einheitlichen Krankenversicherungsmarktes.Jenseits des Kreises der potentiell freiwillig Versicherten ist ein Wettbewerbrechtlich durch die Pflichtversicherung oder faktisch durch Sondersysteme wie die Beihilfe fürBeamte ausgeschlossen. Der Wettbewerb der gesetzlichen Krankenkassen mit privaten Krankenversicherernist nicht Gegenstand dieser Untersuchung.II. Verfassungs- und europarechtliche Rahmenbedingungen des Wettbewerbs der gesetzlichenKrankenkassen1. Der Gesetzgeber hat bei der Gestaltung des Gesundheitssystems sowohl verfassungs- alsauch europarechtlich Gestaltungsfreiheit. Materiell muss unabhängig von den Systementscheidungendes Gesetzgebers die Versorgung im Krankheitsfall gewährleistet sein, um denstaatlichen Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip Rechnung zutragen. Unter Beachtung dieser Vorgaben ist eine Bandbreite von Lösungen vom staatlichenGesundheitsversorgungssystem bis hin zur privaten, wettbewerblich organisierten Krankenversicherungmit steuerfinanzierten staatlichen Prämienzuschüssen zur Gewährleistung desVersicherungsschutzes zulässig.2. Den Staat trifft die Funktionsgewährleistungsverantwortung für das gewählte System.Auch bei einer wettbewerblichen Organisation schließt diese Funktionsgewährleistungsverantwortunges aus, dass der Misserfolg im Wettbewerb zur Beeinträchtigung der materiellenVorgaben an den sicherzustellenden Gesundheitsschutz führt. Das gewählte System mussfunktionsfähig erhalten werden, solange es nicht unmittelbar durch ein anderes funktionierendesSystem ersetzt wird.3. Abhängig von den Systemwahlentscheidungen sind ergänzende europarechtliche Vorgabeninsbesondere des Vergabe-, Kartell- und Beihilferechts sowie des Verfassungsrechts vomGesetzgeber zu beachten, die auch den Spielraum für eine wettbewerbliche Gestaltung einengenkönnen.24


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012IV. Gestaltungsoptionen des Gesetzgebers zur Verbesserung des Wettbewerbs unter dengesetzlichen Krankenkassen im bestehenden Krankenversicherungssystem1. Zur Verstärkung des Wettbewerbs im Pflichtversicherungssystem steht dem Gesetzgeberim Wesentlichen die Verbesserung des Qualitätswettbewerbs bei gleichzeitiger Sicherstellungeines einheitlichen Mindeststandards zur Verfügung. Der Qualitätswettbewerb kann sich abernur entfalten, wenn und soweit zum einen ein funktionierendes System der Qualitätsmessungund des Qualitätsvergleichs etabliert und zum anderen eine transparente und einheitlicheInformation der Versicherten über die Qualität der Leistungen sichergestellt wird.2. Zur Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Preiswettbewerbs unter den gesetzlichenKrankenkassen als Mittel zur Wirtschaftlichkeitssteigerung empfiehlt sich angesichts derverfassungsrechtlich engen Grenzen von Beitrags- und Leistungsunterschieden im Wesentlicheneine Verbesserung des Risikostrukturausgleichs sowie die Prüfung einer Ergänzung desAusgleichs weiterer Nachteile aufgrund der Versichertenstruktur, sodass die Preisunterschiedetatsächlich für Effizienzunterschiede stehen und ein verstärkter Anreiz zu wirtschaftlichemHandeln für die Krankenkassen statt zur Optimierung der Versichertenstruktur durch Selektiongesetzt wird.3. Außerhalb des Bereichs der Pflichtversicherung kann der Gesetzgeber durch Wahlleis tungender gesetzlichen Krankenkassen auch einen Wettbewerb mit unterschiedlichen Leis tungenund Preisen eröffnen. Dies setzt jedoch voraus, dass der Bereich der Wahlleistungen finan ziellund haftungsrechtlich vollständig vom Bereich der Pflichtversicherung abgeschottet ist. EineQuerfinanzierung von Wahlleistungen aus dem allgemeinen Beitragsaufkommen ist unzulässig.V. Notwendigkeit eines stärkeren rechtlichen Schutzes des Wettbewerbs unter den gesetzlichenKrankenkassen1. Aufgrund der qualitativen Unterschiede zwischen allgemeinem unternehmerischenWettbewerb und dem Wettbewerb unter gesetzlichen Krankenkassen sowie dessen engen verfassungsrechtlichenGrenzen empfiehlt sich für Letzteren primär die spezifische Ausgestaltungdes Wettbewerbs und seines Schutzes.2. Aufgrund des funktional dienenden Charakters des Wettbewerbs unter den gesetzlichenKrankenkassen im Bereich der Pflichtversicherung ist den krankenversicherungsrechtlichenRegelungen generell der Vorrang vor wettbewerbsbezogenen Vorschriften einzuräumen.3. Die aktuellen Vorschläge zu einem stärkeren Schutze des Wettbewerbs unter den gesetzlichenKrankenkassen durch Anwendung der allgemeinen Wettbewerbsgesetze UWG undGWB tragen demgegenüber im Ausgangspunkt der besonderen Natur des Wettbewerbsunter gesetzlichen Krankenkassen nicht Rechnung, weil deren Regelungen auf den unternehmerisch-wirtschaftlichenWettbewerb zugeschnitten sind. Dies schließt die entsprechendeAnwendung von Regelungen des allgemeinen Wettbewerbsrechts nicht von vornherein aus,jedoch bedarf diese angesichts der qualitativen Unterschiede der Prüfung und Abwägung imEinzelfall.26


<strong>Thesen</strong> zum Sozialrechta) Für die Anwendung des GWB besteht angesichts des durch den funktionalen, mitdem Europarecht vollständig harmonisierten Unternehmensbegriff definiertenSchutzgegenstandes kein Bedarf. Denn die gesetzlichen Krankenkassen stellen geradekeine Unternehmen in diesem Sinne dar. Eine Schutzlücke besteht insoweit nicht,vielmehr ist die Unanwendbarkeit des Kartellrechts gerade Folge der qualitativenUnterschiede zwischen Unternehmen und gesetzlichen Krankenkassen. Dies giltsowohl für die Angebotsseite der Tätigkeit der gesetzlichen Krankenkassen auf demVersicherungsmarkt als auch auf dem Nachfragemarkt der Versorgungsverträge,zumal insoweit außerhalb des Bereichs der ohnehin gesetzlich zwingenden Regelungendie Bindung an das Vergaberecht besteht.b) Die entsprechende Anwendung der Regelungen über die kartellrechtliche Zusammenschlusskontrolleist eine Option, um die Fortexistenz einer hinreichenden Zahlgesetzlicher Krankenkassen im Interesse eines effektiven „Wettbewerbs“ unter diesenKrankenkassen zu gewährleisten. Jedoch ist nicht ersichtlich, dass dieses Ziel nichtauch durch eine gesetzliche Ergänzung der aufsichtsbehördlichen Genehmigungsvoraussetzungenfür die ohnehin genehmigungsbedürftigen Vereinigungen der Krankenkassenim SGB V und damit ohne die Einführung aufwendiger und kostenintensiverparalleler Prüfungs- und Genehmigungsverfahren erreicht werden könnte.c) Die Anwendung der Regelungen des UWG auf den Kassenwettbewerb im Verhältnisder gesetzlichen Krankenkassen untereinander ist möglich. Zur Sicherung desVorrangs der krankenversicherungsrechtlichen Regelungen und des sozialrechtlichenVersorgungsauftrages ist unter anderem zu empfehlen, den vorläufigen Rechtsschutznach Maßgabe des SGG und nicht des UWG i. V. m. der ZPO zu regeln.4. Außerhalb des Bereichs der gesetzlichen Pflichtversicherung hängt die Anwendbarkeit derallgemeinen Wettbewerbsvorschriften auf Wahlleistungen und -tarife der gesetzlichen Krankenkassenvon der Ausgestaltung durch den Gesetzgeber ab.a) Beschränkt der Gesetzgeber – wie im geltenden Recht – die Wahltarife auf den Randbereichder Ergänzung der Leistungen der Pflichtversicherung und ordnet an, dass dieWahltarife im Sinne einer freiwilligen Solidarität nicht risikoabhängig kalkuliert unddass mit den Wahltarifen keine Gewinne erzielt werden dürfen, ist die Anwendbarkeitdes allgemeinen Wettbewerbsrechts rechtlich nicht geboten.b) Im Bereich der Wahlleistungen und -tarife wäre auch zu erwägen, durch die Regelungeinheitlicher Rahmenbedingungen einen einheitlichen Markt der die gesetzliche Versicherungergänzenden Zusatzversicherungen zu etablieren, in dem sowohl gesetzlicheKrankenkassen als auch private Krankenversicherungsunternehmen tätig werden.Auf die Wettbewerbsbeziehungen in einem solchen einheitlichen Zusatzversicherungsmarktwäre dann das allgemeine Wettbewerbsrecht anzuwenden. Die Frage, obdie Regelung einheitlicher Wettbewerbsbedingungen auch in steuerlicher und sonstigerHinsicht möglich ist, bedarf der ergänzenden Prüfung.27


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012<strong>Thesen</strong> zum Referat von Prof. Dr. Thorsten Kingreen, RegensburgI. Befund: Phänomenologie der dualen Krankenversicherungsordnung(1) Das soziale Risiko Krankheit wird in Deutschland durch eine weltweit einmalige dualeKrankenversicherungsordnung abgesichert: Neben der gesetzlichen Krankenversicherung(GKV), die knapp 90 % der Einwohner versichert, gibt es mit der privaten Krankenversicherung(PKV) ein eigenständiges Vollversicherungssystem, das für Beamte teilweise durch dasBeihilfesystem substituiert wird.(2) Zwischen GKV und PKV bestehen nach wie vor grundlegende Divergenzen im Hinblickauf die Organisation, die Finanzierung, den Rechtsgrund und die Ausgestaltung desLeistungsanspruches sowie die Steuerung der Leistungserbringung.(3) Seit einigen Jahren gibt es aber einen „Wandel durch Annäherung“ zwischen GKV undPKV. Dieser Konvergenzprozess ist gekennzeichnet durch eine jeweils partielle materielle Privatisierungder GKV und Publifizierung der PKV:– Privatisierung der GKV: Wettbewerb um Versicherte; Wahltarife; Fusion und Insolvenzfähigkeitvon Krankenkassen; Bindung an das Kartellrecht; neue Gestaltungsmöglichkeitenim Leistungsrecht; Selektivvertragskompetenzen– Publifizierung der PKV: Basistarif, der finanzierungs-, leistungs- und organisationsrechtlichin das GKV-System integriert wird; Mitwirkung des Verbands der PrivatenKrankenversicherung bei der Qualitätssicherung in der Krankenhausversorgung undbei der Preissteuerung in der ArzneimittelversorgungII. Diagnose: Multimorbidität(4) Die Bezeichnung des Verhältnisses zwischen GKV und PKV als Systemwettbewerb isteine Camouflage. Mehr als 90 % der Bevölkerung sind nämlich aus rechtlichen oder faktischenGründen von der Systemwahl ausgeschlossen; der Systemwettbewerb findet nur um jungeMenschen statt, die am Beginn ihrer Berufslaufbahn stehen, über ein hohes Einkommen verfügenund keine relevanten Vorerkrankungen haben (→ These 6). In Umkehrung fundamentaler,ordnungspolitischer Prinzipien gibt es zudem zwar einen systeminternen Behördenwettbewerbder Krankenkassen, einen Wettbewerb der Privatversicherungsunternehmen hingegennur um Neu-, nicht aber um Bestandskunden, die den Versicherer wegen der nicht-portablenAlterungsrückstellungen faktisch nicht wechseln können.(5) Für die Zuordnung der Personenkreise zu GKV und PKV fehlt es an einem nachvollziehbarenAbgrenzungskriterium. Das meist angeführte Kriterium der sozialen Schutzbedürftigkeitist eine Schimäre, denn viele der in der PKV versicherten Personen (Beamte der unterenBesoldungsgruppen, Soloselbständige) sind nach den Maßstäben der GKV schutzbedürftigerals GKV-Pflichtversicherte mit einem Einkommen knapp unter der Pflichtversicherungsgrenze.Ohnehin ist die Abgrenzung nach sozialer Schutzbedürftigkeit angesichts der medizinischenBehandlungskosten insbesondere im Alter nicht weiterführend.28


<strong>Thesen</strong> zum Sozialrecht(6) Die duale Krankenversicherungsordnung setzt dysfunktionale Anreize für Versicherer undLeistungserbringer:– Versicherer: Da sich der Systemwettwerb auf junge und gesunde Personen mit hohemEinkommen beschränkt (→ These 4), konzentrieren sich die wettbewerblichen Aktivitätender Krankenkassen und der PKV-Unternehmen auf diesen attraktiven Personenkreis.Ein System, das gegen das soziale Risiko Krankheit versichert, sollte abernicht als Wettbewerb um Gesunde, sondern um die Qualität und Wirtschaftlichkeitder Versorgung Kranker ausgestaltet sein.– Leistungserbringer: Unterschiedliche Vergütungssätze setzen vor allem in der ambulantenund stationären Krankenversorgung Anreize zur bevorzugten Behandlung vonPKV-Versicherten. Sie motivieren zudem Ärzte zur Niederlassung in Gebieten miteinem hohen Anteil an Privatversicherten und sind damit ein Grund für die Ungleichheitenbei der ärztlichen Versorgungsdichte.(7) Die duale Krankenversicherungsordnung beinhaltet eine problematische Zweiteilung derleistungserbringungsrechtlichen Steuerung. Während in der GKV komplexe und entsprechendbürokratische Regulierungsmechanismen mit zum Teil zweifelhafter demokratischer Legitimationgreifen, findet in der PKV eine eigenständige systematische Qualitätssicherung undMengensteuerung praktisch nicht statt.III. Wege zu einer Therapie1. Rahmenbedingungen(8) Die duale Krankenversicherungsordnung ist verfassungsrechtlich nicht zwingend. DerGe setz geber könnte sie, gestützt je nach Ausgestaltung auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und/oderNr. 12 GG, in ein monistisches Versicherungssystem überführen, muss aber einen möglichstscho nen den Ausgleich mit den Grundrechten der Versicherten und der privaten Krankenversicherungs unternehmen herstellen.(9) Das größte Hindernis für eine Umformung der dualen Krankenversicherungsordnung istdas für wohlfahrtsstaatliche Reformprozesse typische Problem der Pfadabhängigkeit. Historischgewachsene Institutionen und hochkomplexe Regelungsstrukturen entfalten Vertrauensschutzund ein Beharrungspotenzial, das sich auch gegen politisch-ökonomische Rationalitätendurchzusetzen vermag. Ein nachhaltiges Reformkonzept– darf nicht nur eine Kopie der bisherigen GKV sein, sondern muss auch deren Strukturenund Prinzipien kritisch hinterfragen und die Systemlogik der PKV berücksichtigen,– muss die systemischen Auswirkungen einer Aufhebung der dualen Krankenversicherungsordnungüber das Versicherungsrecht hinaus berücksichtigen, und zwar na ment -lich auf das Leistungserbringungsrecht und andere Sozialversicherungszweige, und– muss sich den spezifischen Übergangsproblemen widmen und das verfassungsrechtlichgeschützte Vertrauen der Bestandsversicherten und ihrer Unternehmen berück-29


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012sichtigen. Von einer zwangsweisen Überführung der PKV-Bestandsversicherten in einmonistisches Versicherungssystem ist abzuraten.(10) Ein wichtiger Impuls für die Reformdiskussion in Deutschland ist die Krankenversicherungsreform in den Niederlanden, wo die nach dem deutschen Vorbild konzipierte duale Krankenversicherungsordnung im Jahre 2006 nach einem langen Konvergenzprozess in eine einheitlicheEinwohnerversicherung überführt wurde. Ihre wesentlichen Charakteristika sind:– Versicherungspflicht für alle Einwohner– Organisation durch private Krankenversicherungsunternehmen, die in einem durcheine neue Aufsichtsbehörde regulierten Wettbewerb stehen– Einheitlicher Leistungskatalog– Duale Finanzierung aus einkommensabhängigem Beitrag und nominaler Prämie2. Reformbausteine(11) Ziel einer Reform muss eine alle Einwohner erfassende Krankenversicherung sein, für diedas Prinzip der Gleichbehandlung beim Zugang zur Versicherung und zu medizinisch notwendigenLeistungen maßgebend sein sollte. Es ist daher zu empfehlen, sie als monistische Einwohnerversicherungauszugestalten. Monistisch ist sie, weil die Unterscheidungen der dualenKrankenversicherungsordnung zwischen GKV und PKV hinfällig werden. Sie ist Einwohnerversicherung,nicht Bürgerversicherung, weil sie am Wohnsitz/gewöhnlichen Aufenthalt(§ 30 SGB I), nicht aber am personalen Rechtsstatus des Bürgers anknüpft.(12) Maßgebliches Ordnungsprinzip der monistischen Einwohnerversicherung sollte einhoheitlich regulierter Wettbewerb privatrechtlich organisierter Anbieter sein. Geeignete Rechtsformder Anbieter ist der Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (VVaG), eine im privatenKrankenversicherungswesen verbreitete Rechtsform, die aufgrund ihrer konzeptionellen Nähezur Körperschaft des öffentlichen Rechts aber auch den traditionellen Selbstverwaltungspfadaufnehmen und weiterführen würde. Eine solche Rechtsformprivatisierung der gesetzlichenKrankenkassen ist mit Art. 87 Abs. 2 GG vereinbar.(13) In einem Wettbewerb privater Anbieter können die Vorteile privat- und marktförmigenHandelns auch für die Verwirklichung sozialstaatlicher Anliegen genutzt werden. Voraussetzungdafür ist aber ein passgenaues Gesundheitsregulierungsrecht. Dieses muss auf der einenSeite das öffentliche Anliegen an einer leistungsfähigen Krankenversicherung für alle Einwohnerdort sichern, wo entweder kein Wettbewerb stattfindet oder der Wettbewerb die sozialpolitischenZiele der Krankenversicherung nicht zu erreichen in der Lage ist oder gar konterkariert(Gemeinwohlsicherung) und auf der anderen Seite dem Wettbewerb dort, wo er als Regulierungsmechanismuserwünscht ist, auch zur Durchsetzung verhelfen (Wettbewerbsförderung).(14) Zentraler Bestandteil des Gesundheitsregulierungsrechts müssen Transformationsvorschriftensein. Nach dem Vorbild anderer Zweige der öffentlichen Daseinsvorsorge mussdas Nebeneinander von öffentlichem Mono-/Oligopol und privaten Wettbewerbern durchRegulierung des Übergangs in eine Wettbewerbsordnung überführt werden, in der die sozialenSchutzansprüche der Versicherten und faire Wettbewerbsbedingungen für Versicherer und30


<strong>Thesen</strong> zum SozialrechtLeistungserbringer gleichermaßen gewährleistet werden. Namentlich in folgenden Bereichenbesteht transformationsbedingter Regulierungsbedarf:– Freie Wahl der Leistungsanbieter für die Bestandsversicherten der PKV. Zu empfehlensind Bestimmungen, die den Wechsel in die monistische Einwohnerversicherung ermöglichen,aber nicht erzwingen. Dabei ist die Portabilität der Alterungsrückstellungensicherzustellen. Das verfassungsrechtlich geschützte Vertrauen der nicht wechselwilligenPrivatversicherten kann durch einen Risikoausgleich mit der Einwohnerversicherungberücksichtigt werden.– Finanzierung. Es ist zu empfehlen und mit Art. 33 Abs. 5 GG vereinbar, das leistungsrechtlicheSonderregime der Beihilfen für Beamte abzuschaffen und durch eine angemesseneBeteiligung des Dienstherrn an der Finanzierung der Beiträge zu ersetzen.– Der Leistungskatalog sollte vereinheitlicht werden. Eine Aufteilung in eine durch einesoziale Krankenversicherung sicherzustellende Grundversorgung und eine durchprivate Unternehmen anzubietende Zusatzversorgung ist nicht praktikabel und tendenziellsozial selektiv. Nicht zu empfehlen ist auch ein Wettbewerb der Anbieter überausdifferenzierte Leistungskataloge.– Leistungserbringung. Die Rechtsformprivatisierung der Krankenkassen (→ These 12)wird zu einer Privatisierung ihrer Verbände und damit auch des leistungserbringungsrechtlichenVertragsrechts führen, das durch öffentlich-rechtliche Vorgaben und Aufsicht(→ These 15) überformt werden muss. Eine der wesentlichen übergangsbedingtenAufgaben der Vertragsparteien wird darin bestehen, eine angemessene Angleichungder bislang unterschiedlichen Vergütungen von GKV und PKV zu vereinbaren. DerGemeinsame Bundesausschuss sollte zentrales Organ der Qualitätssicherung bleiben,aber sachverständiges Beratungsgremium, nicht „kleiner Gesetzgeber“ sein.(15) Es ist zu empfehlen, nach dem Vorbild der Niederlande eine Bundesagentur für das Ge sundheitswesenals eigenständige Bundesoberbehörde (Art. 87 Abs. 3 S. 1 GG) im Ge schäfts bereichdes Bundesministeriums für Gesundheit zu gründen, in der insbesondere die Zu ständig keitenfür die Regulierung des Übergangs von der dualen in die monistische Versiche rungs- und Leistungserbringungsordnung gebündelt werden.Die <strong>Thesen</strong> zum Referat von Prof. Dr. rer. pol. Eberhard Wille, Mannheim, werdenvor dem 69. Deutschen <strong>Juristentag</strong> in München nicht veröffentlicht.31


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012StrafrechtStraftaten und Strafverfolgung im Internet<strong>Thesen</strong> zum Gutachten vonDirektor des MPI Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Ulrich Sieber, Freiburg1. GrundlagenDie Anpassung des Rechts an die Herausforderungen der Informationsgesellschaft betriffteinen weiten Bereich unterschiedlicher Delikte sowie diverse Rechtsgebiete. Die einschlägigenRegelungen haben wegen der starken Abhängigkeit der modernen Gesellschaft von informationstechnischenSystemen und deren Verletzlichkeit eine große Bedeutung.Die Entwicklung des damit erforderlichen Informationsstrafrechts muss das Primat und dieoft höhere Effektivität von nichtstrafrechtlichen – d. h. technischen, organisatorischen undpersonellen – Lösungen beachten. Bei der rechtlichen Normierung zu berücksichtigen sindvor allem die immaterielle Eigenschaft von Daten, der globale Charakter des Cyberspace, dieAnonymität des Internets sowie der rasche informationstechnische Wandel, dem mit funktionalenund nicht mit technikspezifischen Normen Rechnung zu tragen ist. Die rechtlichenRegelungen zur Internetkriminalität sind durch internationale Instrumente stark vorgeprägt.Die Berücksichtigung dieser Vorgaben ist für das Funktionieren der internationalen Kooperationessentiell.Das deutsche Strafrecht wurde bereits mit zahlreichen Reformmaßnahmen an die neuenAnforderungen der Informationsgesellschaft und der Informationstechnik angepasst. Inweiten Bereichen werden die informationsrechtlichen Probleme jedoch noch immer mit denfür körperliche Gegenstände entwickelten Rechtsvorschriften angegangen. Hier besteht einerheblicher Reformbedarf. Mit speziell an die neuen Herausforderungen angepassten Normenfür immaterielle Rechtsobjekte im globalen Cyberspace können sowohl die Effektivität alsauch der Freiheits- und Persönlichkeitsrechtsschutz der Bürger erheblich optimiert werden.Angesichts der Vielzahl aktueller Reformbedürfnisse, der tech nischen Komplexität derMaterie, des raschen Wandels der Pro bleme und der starken internationalen Verflechtung derNormen sollte – ähnlich wie in den 1980er Jahren – eine interdisziplinär und internationalbesetzte Sachverständigenkommission zur Weiterentwicklung des deutschen Rechts eingesetztwerden. Für die zukünftige Reformarbeit werden – unabhängig von der Einsetzung einersolchen Kommission – die folgenden Leitlinien empfohlen.2. Materielles Strafrechta) Im materiellen Strafrecht müssen die einschlägigen deutschen Strafbestimmungen zumSchutz der Vertraulichkeit, der Integrität und der Verfügbarkeit von informationstechnischenSystemen (insbes. §§ 202 a, 202 b, 202 c, 303 a 303 b StGB) besser systematisiert werden.32


<strong>Thesen</strong> zum Strafrecht– Die Straftatbestände des Ausspähens und des Abfangens von Daten (§§ 202 a, 202 bStGB) sollten zusammengefasst und um eine Alternative des unbefugten Verwertensanvertrauter Daten ergänzt werden.– Die Tatbestandsalternativen der Datenveränderung und der Computersabotage(§§ 303 a, 303 b StGB) sind ebenfalls in einem Tatbestand zu erfassen und durch eineinheitliches Merkmal der Nachteilszufügung zu begrenzen.– Auch die Vorfeldtatbestände der §§ 202 c, 263 a Abs. 3, 303 b Abs. 3, 303 b Abs. 5 StGBmüssen in einem gemeinsamen Straftatbestand mit identischen Tatobjekten neu ge -regelt werden, jedoch aufgrund der unterschiedlichen dogmatischen Begründung derVorfeldstrafbarkeit zwei verschiedene „Werkzeugarten“ unterscheiden: zum einenComputerprogramme, die eine Dual-Use-Funktion haben und von daher nur im Falleiner deliktischen Absicht des Besitzers eine Strafbarkeit begründen können, zumanderen fremde Sicherungscodes, deren unrechtmäßiger Besitz eine Strafbarkeit auchohne ein derartiges Absichtsmerkmal rechtfertigen kann.Die damit entstehenden drei Deliktstatbestände des unbefugten Systemzugriffs, der unbefugtenSystemveränderung sowie des Besitzes und der Verbreitung gefährlicher Werkzeugeund Sicherungscodes sollten ähnliche Qualifikationstatbestände bekommen, die bei bandenodergewerbsmäßiger Tatbegehung, der Beeinträchtigung einer Vielzahl von Informationssystemensowie der Verursachung eines Schadens von erheblichem Ausmaß auch die Ermittlungsmaßnahmennach §§ 100 a, 100 g StPO ermöglichen sollten. Die einschlägigen Delikte,die derzeit in acht Paragrafen an drei verschiedenen Stellen des StGB geregelt sind, sollten aneiner Stelle des Gesetzes loziert werden.b) Die Strafbestimmungen des Datenschutzrechts bedürfen ebenfalls einer Systematisierungund Vereinheitlichung. Ein Kernbereich des Datenschutzstrafrechts sollte im Kernstrafrechtverankert werden. Die derzeit auf EU-Ebene diskutierten Verwaltungssanktionen sollten indas deutsche Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht integriert werden. Die rechtsstaatlichenSicherungen der Verwaltungssanktionen und insbesondere ihres Verfahrensrechts müssenjedoch in Abhängigkeit von ihrer Schwere und in Übereinstimmung mit dem deutschen Verfassungsrechtstrafrechtlichen Garantien entsprechen.c) Das Urheberstrafrecht ist in der Praxis auf organisierte und geschäftsmäßig handelndeStraftäter zu konzentrieren. Das zivilrechtliche Schutzsystem sollte zur Beseitigung seinesVollzugsdefizits im Bereich des Auskunftsanspruchs von § 101 UrhG verbessert werden. Dabeisind auch Verfahren zu prüfen, die den Rechteinhabern eine Zuordnung von IP-Adressenzu den jeweiligen Nutzeranschlüssen erleichtern, ohne dass eine echte Vorratsdatenspeicherungbenötigt wird. Das für Deutschland derzeit diskutierte Two-Strikes-Modell und die inEngland und Frankreich praktizierten Three-Strikes-Modelle sind zumindest in ihrer gegenwärtigenForm nicht zu empfehlen.d) Der für die Inhaltsdelikte maßgebliche traditionelle und an kör perlichen Datenträgernorientierte Schriftenbegriff des § 11 Abs. 3 StGB ist durch einen Medienbegriff zu ersetzen,der nicht auf den Datenträger, sondern auf die einschlägigen Daten abstellt. Dabei muss auch33


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012der Besitzbegriff geklärt werden. Das mit zahlreichen sich überschneidenden Tathandlungenüberaus komplexe Pornografiestrafrecht bedarf einer Zusammenfassung und Konzentration.Im Jugendschutzstrafrecht darf die Beurteilung von strafbaren Inhalten nicht – wie es derzeitder Fall ist – davon abhängen, ob sie auf körperlichen Datenträgern oder im Internet verbreitetwerden.3. StrafprozessrechtDas Strafprozessrecht erfordert Reformen vor allem im Bereich der Eingriffsermächtigungen,die noch in erheblichem Umfang an körperlichen Beweisgegenständen orientiert sind.Zu schaffen ist:a) eine spezielle Norm zur Quelldatenkommunikationsüberwachung, die durch technischeund rechtliche Vorgaben den Zugriff auf Nicht-Telekommunikationsdaten soweit wie möglich ausschließt und die gegenwärtig in verfassungswidriger Weise auf dervermeintlichen Grundlage des § 100 a StPO praktizierte Quellen-TKÜ ermöglicht,b) eine gesetzliche Klarstellung zur Durchsuchung, die diese als offene Maßnahme definiertund damit laufende oder heimliche Überwachungen insbesondere beim E-Mail-Provider nur unter den Voraussetzungen der Telekommunikationsüberwachungerlaubt,c) eine eigenständige Regelung der Herausgabepflichten für Daten, die die Besonderheitender Herausgabe von unkörperlichen Objekten im Vergleich zur Herausgabevon körperlichen Gegenständen berücksichtigt (z. B. mit Ausdruck-, Entschlüsselungs-und Mitwirkungspflichten),d) spezielle Herausgabepflichten für Verkehrsdaten und (erweiterte) Bestandsdaten,die auch die Identifikation der Nutzer von bestimmten IP-Nummern in einem raschdurchsetzbaren Abrufverfahren erfassen und die innerhalb der vom Bundesverfassungsgerichteingeräumten Übergangsfrist geschaffen werden müssen,e) spezielle Bestimmungen zur Entschlüsselung und Entsicherung von Computerdatenund digitalen Endgeräten (insbes. Offenbarungspflichten und decryption orders),f) ein Eilverfahren zur vorläufigen Sicherstellung von Daten (quick freezing).Darüber hinaus können für den Zugriff auf Daten und deren Beweisverwertung Empfehlungenentwickelt und in die Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren aufgenommenwerden. Die allgemeine Ausbildung und die Schaffung von spezialisierten Stellen der Ermittlungsbehördenund der Justiz sowie deren Vernetzung – auch mit ausländischen Stellen –sollten weiter intensiviert werden.4. Gefahrenvorsorge und Präventiona) Eine allgemeine Empfehlung zu der aktuell umstrittenen Vorratsdatenspeicherung istim Rahmen der Gutachtenfrage nicht möglich, da die Problematik weit über die vorliegendeThemenstellung hinausgeht. Für eine entsprechende allgemeine Empfehlung fehlt derzeit aucheine ausreichende Datengrundlage.34


<strong>Thesen</strong> zum StrafrechtKlar und sofort zu entscheiden ist jedoch der für die Internetaufklärung essentielle Bereich derDaten, welche die Zuordnung von dynamisch vergebenen IP-Nummern zu ihren jeweiligenNutzern festhalten. Eine entsprechende – wenig eingriffsintensive – Vorratsdatenspeicherungdieser Daten hat für die Aufklärung von Internetstraftaten eine große Bedeutung und sollteunabhängig von der Entscheidung über die „große Vorratsdatenspeicherung“ von VerkehrsundLokalisationsdaten so rasch wie möglich normiert werden.b) Eine Verpflichtung zur Sperrung bestimmter Internetdaten ist abzulehnen. Stattdessensind Verfahren zu entwickeln, die zur Löschung illegaler Daten an ihrer Quelle und zurEr mittlung ihrer Urheber führen. Gefördert werden sollten dabei auch international vernetzteMeldestellen im Internet, die entsprechende Meldungen über illegale Inhalte an die sie speicherndenHost-Provider weiterleiten und diese aufgrund der einschlägigen Verantwortlichkeitsregelungenunter Strafdrohung zur Löschung der Daten bringen.5. Internationale KooperationDie Strafverfolgung der Internetkriminalität ist in besonderem Maße auf eine internationaleKoordination der nationalen Strafverfolgungssysteme angewiesen. Zur Verbesserung dieserKooperation sollten insbesondere die folgenden Maßnahmen ergriffen werden:a) die Harmonisierung des materiellen und prozessualen nationalen Strafrechts imRahmen von regionalen und internationalen Organisationen,b) der Abschluss von internationalen Abkommen zur Amts- und Rechtshilfe sowie vonweiteren völkerrechtlichen Verträgen zur Gestattung von transnationalen Eigenermittlungenim Internet (die ohne einen solchen Vertrag fremde Souveränitätsrechteverletzen würden) sowiec) die Entwicklung eines computerspezifischen Kooperationsrechts mit der Schaffungvon internationalen und supranationalen Institutionen zur strafrechtlichen Zusammenarbeit,denen sukzessive auch exekutive Befugnisse im globalen Cyberspace verliehenwerden sollten.35


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012<strong>Thesen</strong> zum Referat von Dipl.-Inf. Constanze Kurz, Berlin1. Die Verwendung des Begriffes der „Internetkriminalität“ sollte grundsätzlich hinterfragtwerden. Da auch Begriffe wie Autokriminalität, Textkriminalität, Briefkriminalität oderTelefonkriminalität ungebräuchlich sind, erschließt sich kaum, wieso ein Massenmedium undkomplexes technisches System wie das Internet als Kategorie für Kriminalitätsformen herhaltensollte.Technische Überwachung2. Die Technologie, eine flächendeckende Überwachung, Filterung und Kontrolle jeglicherelektronischer Kommunikation einzuführen, ist vorhanden. Beispiele aus dem praktischenEinsatz, etwa in Syrien, Libyen, Saudi Arabien oder Weißrußland, zeigen den Funktionsumfangund die Effizienz heutiger Systeme.3. Die Entscheidung, ob wir auch hier in Zukunft in einem technischen Überwachungsstaatleben wollen oder nicht, wird auf politischer und juristischer Ebene getroffen.4. Die juristische und parlamentarische Kontrolle einmal gewährter Überwachungs- undFilterbefugnisse funktioniert nachweislich unzureichend. Der Richtervorbehalt erweist sichfür die tatsächliche Prüfung technischer Überwachungsmaßnahmen seit Jahren als Chimäre.5. Die Begehrlichkeiten seitens der Urheberrechtsindustrie in Hinsicht auf Filterung undKontrolle des Netzverkehrs sind nur ein Beispiel für die typische Ausweitung der Nutzungeinmal installierter technischer Infrastrukturen.6. Die Institutionen des Rechtsstaats sind für die Kontrolle derartiger technischer Machtmittelzwangsläufig ungeeignet, da Demokratie und politische Willensbildung als Grundlagedes Rechtsstaates mit ebenjenen technischen Systemen untergraben und sogar abgeschafftwerden können.Staatliche Spionagesoftware7. Die rechtlichen und technischen Probleme beim Einsatz des Staatstrojaners zeigen einegrundlegende Überforderung der Ermittlungsbehörden beim Umgang mit derartig invasivenMethoden.8. Grundsätzlich ist auf den Einsatz von Schadsoftware wie Trojaner zu verzichten. Nutztman diese Form der invasiven technischen Spionage dennoch, öffnet man die Büchse derPandora hinsichtlich der Beweiskraft der erlangten Daten, des absichtlichen Schaffens vonSicherheitslücken, auch der mittelbaren Unterstützung eines Schwarzmarktes für den Handelmit Sicherheitslücken. Die Gefahr, dass in den Kernbereich der privaten Lebensgestaltungimmer intensiver und alltäglicher eingegriffen wird, ist beim Einsatz solcher Spionagewerkzeugegroß.9. Sollte für einige wenige Ausnahmen schwerster Kriminalität eine solche Schadsoftwaredennoch eingesetzt werden, dann sollte auch bei der „Quellen-TKÜ“, analog zu den Rege-36


<strong>Thesen</strong> zum Strafrechtlungen zum „Großen Lauschangriff“, die Verfahrenszahl durch hohe rechtliche Schrankenbegrenzt werden.10. Die Benachrichtigung soll in jedem Einzelfall des Einsatzes solcher Spionagesoftware ausnahmslosnach spätestens drei Jahren erfolgen und dabei Zugang zu Quellcode und Binariesbeeinhalten.11. Wurde eine „Quellen-TKÜ“ durchgeführt, ist eine Verwendung der Dateien aus demSystem unzulässig, da eine Manipulation von Dateien auf dem infiltrierten Computer durchden Trojaner bzw. dadurch entstandene Sicherheitslücken darin nicht auszuschließen bzw.nicht forensisch nachzuweisen ist (Doppelverwendungsverbot). Das bedeutet, dass entwedereine „Quellen-TKÜ“ durchgeführt wird oder dass eine Verwendung von Dateien aus beschlagnahmtenSystemen geplant ist – eine Kombination beider Ermittlungsmethoden soll nichtzulässig sein.12. Die Programmierung und Implementierung der Trojaner soll grundsätzlich durch staatlicheStellen in Eigenverantwortung erfolgen. Ein Outsourcing ist angesichts der wenigendeutschen Anbieter mit teilweise fragwürdiger Vergangenheit und routinemäßigen Geschäftskontaktenin Diktaturen keine vertretbare Option.13. Verwendete Trojaner sollen einzeln von einer unabhängigen Stelle überprüft und zertifiziertwerden, um zumindest Funktionsumfangüberschreitungen durch Fehler oder Fahrlässigkeitzu minimieren.14. Nachladefunktionen für die Funktionalität des Trojaners sind grundsätzlich unzulässig.15. Die technisch komplexen Strafrechtsermittlungen im Bereich informationstechnischerSysteme und Internet erfordern klare, explizite Regelungen sowie eine Einführung der „fruit ofthe forbidden tree“-Doktrin, um nur Beweise aus erlaubten Ermittlungsmethoden zuzulassen.<strong>Thesen</strong> zum Referat von Vors. Richter am BGH Armin Nack, Karlsruhe1. Die derzeitigen strafprozessualen Eingriffsermächtigungen für den Zugriff auf informationstechnischeSysteme halten – weil technikorientiert – mit der rasanten Entwicklung derInformationstechnologie nicht mehr Schritt. Sie sollten deshalb nicht mehr an der jeweiligenTechnik des Eingriffs ausgerichtet sein.2. Technikunabhängige Regelungen sind vorzuziehen, die sich – kongruent mit den Prüfungsmaßstäbendes Bundesverfassungsgerichts – an Art und Schwere des Grundrechtseingriffsorientieren. Vor einem Besonderen Teil wird – als Allgemeiner Teil – ein vierstufigerSchutzbereich definiert: Kernbereich als stärkster Grundrechtseingriff, Kommunikationsinhaltals starker Grundrechtseingriff, Kommunikationsumstände als mittlerer Grundrechtseingriffund Schutz von Zeugnisverweigerungsrechten.3. Je gewichtiger der Schutzbereich ist, desto stärker ist der Richtervorbehalt auszugestalten:37


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012Kollegialgericht, soweit Eingriffe in den Kernbereich und in Zeugnisverweigerungsrechte imRaum stehen; ansonsten Zuständigkeit des Einzelrichters mit mindestens dreijähriger Berufserfahrung;Eilkompetenzen nur beim Eingriff in Kommunikationsumstände.4. Die ausdifferenzierten Subsidiaritätsklauseln könnten – nach dem bewährten Vorbilddes § 62 StGB – durch eine allgemeine Regelung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ersetztwerden. Es ist dann Aufgabe der Rechtsprechung, Kriterien zu entwickeln, die an den jeweiligenStand der Technik angepasst sind.5. Im Besonderen Teil ist auch der Rechtschutz differenziert nach der Eingriffsintensität zuregeln (vgl. demgegenüber § 101 StPO). Dazu gehören namentlich: Benachrichtigungspflicht,mindestens ein Rechtsbehelf, Verwendungsregelungen und Verwertungsverbote sowie revisionsrichterlicheKontrolle.6. Man mag auch überlegen, ob es sinnvoll ist, so detaillierte Begründungsanforderungenwie derzeit für die Anordnung des Eingriffs im Gesetz vorzuschreiben, da die Vorgaben desBundes verfassungsgerichts ohnehin beachtet werden müssen.<strong>Thesen</strong> zum Referat von Präsident des BKA Jörg Ziercke, Wiesbaden1. Phänomen Cybercrime– Die Tatbegehungsformen der „realen Welt“ finden zunehmend in gleicher oder vergleichbarerForm ihre Entsprechung in der „virtuellen Welt“. Auch hier muss die Polizei zum Zweckeder Staatsaufgaben Gefahrenabwehr und Strafverfolgung ebenso aktiv sein und ähnlichagieren können wie in der Realität.– Der Phänomenbereich „Cybercrime“ birgt, insbesondere soweit er durch eine gewerbsoderbandenmäßige Begehungsweise gekennzeichnet ist, erhebliches Gefahrenpotentialsowohl für jeden einzelnen Bürger als auch den Staat und seine Einrichtungen. Die Gefahrenund Schäden werden aufgrund der technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zukünftignoch weiter zunehmen.– Auch, wenn angesichts eines hohen Dunkelfeldes bzgl. des tatsächlichen Ausmaßes anCybercrime eine exakte Schadensbezifferung nicht möglich ist, so steht fest: Das Internet„versorgt“ Täter weltweit mit unzähligen potenziellen Opfern und Angriffspunkten, so dassCybercrime naturgemäß ein Kriminalitätsbereich mit hohem Schadenspotenzial ist und auchkünftig sein wird.– Um mit der Täterseite annähernd auf Augenhöhe zu bleiben bzw. zu kommen und Strafverfolgungslückenzu vermeiden, muss der Staat daher rechtlich, technisch und taktisch „nachrüsten“.Andernfalls stellt sich die – ggf. politische – Frage nach der Schutzpflicht des Staatesund der Ausübung der strafrechtlichen Verfolgungskompetenz.38


<strong>Thesen</strong> zum Strafrecht2. Materielles Strafrecht und § 100a StPO-Katalog– Der Handel mit „geklauten“ digitalen Identitäten erfüllt den Tatbestand der klassischenHehlerei nach geltendem Recht nicht. Insofern laufen reale und virtuelle Welt auch in derPönalisierung nicht hinreichend synchron. Eine entsprechende Initiative zur Regelung der„Datenhehlerei“, wie sie erst kürzlich von der Justizministerkonferenz befürwortet wurde,ist zur Schließung dieser Strafbarkeitslücke auch aus Sicht des Bundeskriminalamtes anzustreben.Bei gewerbs- und bandenmäßiger Begehungsweise sollte zudem die Möglichkeit derTelekommunikationsüberwachung eröffnet werden.– Für im virtuellen Raum begangene Straftaten ist mangels „realem Tatort“ die Telekommunikationsüberwachungoft das einzig mögliche Ermittlungsinstrument in „Echtzeit“. Mithinmuss insbesondere auch für alle schweren Straftaten, die sich gegen die Vertraulichkeit undIntegrität informationstechnischer Systeme richten (§§ 202a, b, c und §§ 303a, b StGB), dieMöglichkeit der Telekommunikationsüberwachung eröffnet werden.– Die darüber hinausgehenden Vorschläge zur Verbesserung der Straftatbestände und Strafandrohungenim Gutachten von Prof. Dr. Sieber erscheinen aus Sicht des Bundeskriminalamtesnachvollziehbar. Jedoch bleiben diese ohne Wirkung, solange den Strafverfolgungsbehördendie notwendigen und gebotenen, der Verfolgung von Straftaten im Phänomenbereichder Internetkriminalität angepassten Befugnisse fehlen.3. Kryptierung bei der Telekommunikation, Q-TKÜ– Damit durch zunehmend genutzte kryptierte Telekommunikationsmöglichkeiten keinstrafverfolgungsfreier Raum entsteht, benötigt die Polizei entsprechende Ausgleichs maßnahmenfür die herkömmliche Telekommunikationsüberwachung. Hier muss das erfolgversprechendsteErmittlungsinstrument, die Quellen-TKÜ, bei schweren Straftaten genutztwerden dürfen.– In § 20l Abs. 2 BKAG findet sich bereits eine explizite Befugnis für die Quellen-TKÜ imRahmen der Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus (§ 4a BKAG). Aufgrundvon richterlichen Anordnungen wurden bereits auch unter der Sachleitungsbefugnis der jeweiligenStaatsanwaltschaft der Länder in Ermittlungs verfahren auf Grundlage der §§ 100a, bStPO Quellen-TKÜ-Maßnahmen durchgeführt. Sofern gleichwohl eine explizite Befugnisnormspeziell für die Quellen-TKÜ für erforderlich erachtet wird, bedarf es aus Gründen dereinheitlichen Handlungs- und Rechtssicherheit auf Seiten des Bundes und der Länder einerentsprechenden raschen gesetzlichen Klarstellung in der StPO.4. Verschlüsselung von Daten, Online-Durchsuchung– Jenseits der Konstellation der Überwachung laufender kryptierter Telekommunikation(s. Quellen-TKÜ) stellt die Kryptierung bzw. Verschlüsselung von Daten seitens der Zielpersonen(z. B. bei Verschlüsselung eines Bereichs der Festplatte eines Computers) die Sicherheitsbehördenzunehmend vor technische Probleme. Um im Einzelfall verschlüsselte Daten alsSpurenansätze bzw. Beweismittel auswerten zu können wäre mangels anderer Möglichkeiten39


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012auch hier das Ermittlungsinstrument der Online-Durchsuchung erfolgversprechend. In o. g.Fallkonstellation könnte die Online-Durchsuchung (in § 20k BKAG bereits für die Gefahrenabwehrnach § 4a BKAG geregelt) im Vorfeld einer Beschlagnahme damit bereits der Erlangungvon Passwörtern, Zugangscodes etc. dienen, um später eine Datenauswertung überhauptzu ermöglichen. Im Lichte der Entscheidung des BVerfG zur Online-Durchsuchung (2008)sind hierbei jedoch bezüglich der Eingriffsschwelle und der Verfahrenssicherung besondershohe Anforderungen zu stellen.5. „Vorratsdatenspeicherung“ (Mindestspeicherfristen), Quick Freeze und Preservation Order– Um Täter, die sich bei ihren Taten des Internets oder anderen Telekommunikationsmittelnbedienen genauso effizient und effektiv verfolgen zu können, wie Täter in der „realenWelt“, ist eine umgehende Umsetzung der EU-RL zur „Vorratsdatenspeicherung“ (Mindestspeicherfristen)nach den Vorgaben des BVerfG erforderlich.– Aufgrund neuer Möglichkeiten der Internetnutzung über Hotspots, öffentliche IPs etc.müssen zudem Verpflichtungen geschaffen werden, sodass auch bei diesen Verfahren dieNutzer im Bedarfsfall rückverfolgbar bleiben.– Quick-Freeze kann kein Substitut für die „Vorratsdatenspeicherung“ darstellen, da nichteingefroren werden kann, was nicht (mehr) gespeichert ist.– Allein ergänzend zur „Vorratsdatenspeicherung“ kann ein Quick-Freeze-Verfahren fürpolizeiliche Maßnahmen hilfreich sein. Um einen Verkehrsdatenverlust insbesondere beieiner langen Rechtshilfedauer zu vermeiden, sollte die Regelung des Art. 16 der Convention onCybercrime des Europarates zur Preservation Order in nationales Recht umgesetzt werden.– Beispielhaft zeigt dies, dass international auch die Zusammenarbeit noch effizienterwerden sollte. Grundlage dafür ist auch immer eine Harmonisierung des materiellen und prozessualennationalen Strafrechts.6. Verwischung der Grenzen zwischen Telemedien- und Telekommunikations dienstleistern– Da die Grenzen mit den neuen technischen Entwicklungen immer weiter verwischen, isteine Privilegierung der Telemedien- gegenüber den Telekommunikationsdienstleistern nichtmehr gerechtfertigt. Kommunikation wird faktisch immer mehr über Telemediendienstegeführt (z. B. Soziale Netzwerke statt SMS). Daher ist eine Gleichstellung von TelemedienundTelekommunikationsdienstleistern im Hinblick auf die Verpflichtungen zur Speicherung,Herausgabe von Bestands-, Verkehrs- sowie Nutzungsdaten erforderlich.7. Ausblick– Abschließend stellt sich daher die Frage, ob der djt die geschilderten und real existierendenStrafbarkeits- und Strafverfolgungslücken unter angemessener Berücksichtigung der Interessenim Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit für hinnehmbar hält.40


<strong>Thesen</strong> zum Öffentlichen RechtÖffentliches RechtNeue Formen der Bürgerbeteiligung?Planung und Zulassung von Projekten in der parlamentarischen Demokratie<strong>Thesen</strong> zum Gutachten von Prof. Dr. Jan Ziekow, Speyer1. Es ist nicht sinnvoll, die Diskussion, ob geplante Projekte über den bisherigen Rechtsbestandhinaus Verfahren der Bürgerbeteiligung unterworfen werden sollen, auf öffentlicheInfrastrukturprojekte zu verengen und von Privaten getragene Projekte nicht einzubeziehen.2. Dass durch eine Erweiterung der Bürgerbeteiligung Friktionen mit den Grundgedankendes parlamentarisch-repräsentativen Systems entstehen können, steht einer Verbesserung derBürgerbeteiligung nicht entgegen. Entsprechenden Gefahren ist vielmehr durch die Ausgestaltungder Beteiligung zu begegnen.3. Wenngleich in der Vergangenheit vereinzelte Verfahren der Bürgerbeteiligung ohneexplizite gesetzliche Regelung durchgeführt wurden, bedarf die Etablierung einer erweitertenBürgerbeteiligung als Routine auch mit Blick auf die notwendigen Ausgestaltungen einer Normativierung.4. Auch in Eröffnungskontrollverfahren, die zum Erlass einer gebundenen Entscheidungführen, ist Bürgerbeteiligung – bei entsprechender Ausgestaltung – ein sinnvolles Instrument.5. Zwar ist es nicht von vornherein auszuschließen, dass es durch zusätzliche Instrumente derBürgerbeteiligung zu einer Verlängerung des für die Vorhabenzulassung benötigten Zeitraumskommt. Jedoch lässt sich dieses Risiko durch die Routinisierung von Beteiligungsverfahrensowie ein flankierendes Zeitmanagement für das Eröffnungskontrollverfahren beherrschen.6. Die Bürgerbeteiligung muss bereits frühzeitig, d. h. zu einem Zeitpunkt einsetzen, zu demdie wesentlichen Entscheidungen, insbesondere solche über die Auswahl zwischen mehrerenVerwirklichungsvarianten, noch nicht getroffen worden sind.7. Zur Verbesserung der Bürgerbeteiligung bei der Aufstellung von Raumordnungsplänensollten durch Änderung des ROG u. a. Mindestfristen für die Bekanntmachung der Auslegungvon zwei Wochen und für die Auslegung selbst von acht Wochen (incl. Stellungnahmefrist)vorgesehen, bestehende Beschränkungen der Befugnis zur Abgabe von Stellungnahmen aufPlanbetroffene beseitigt sowie obligatorisch eine mündliche Erörterung eingeführt werden.8. Eine höhere Konsistenz der Bürgerbeteiligung bei der Aufstellung von Bauleitplänenkönnte u. a. dadurch herbeigeführt werden, dass § 3 Abs. 2 BauGB um eine Pflicht zur mündlichenErörterung auch auf der zweiten Beteiligungsstufe ergänzt wird.41


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 20129. Zur Einführung einer projektbezogenen frühzeitigen Bürgerbeteiligung mit öffentlicherund mündlicher Erörterung sollte mit dem Scoping, dem Raumordnungsverfahren und demLinienbestimmungsverfahren als Trägerverfahren die obligatorische Durchführung einesBeteiligungsverfahrens verknüpft werden, wobei für ein Projekt nur eine frühzeitige Bürgerbeteiligungstattfindet.10. Mit einer in die Verwaltungsverfahrensgesetze einzufügenden allgemeinen Regelungsollen zum einen raumbedeutsame Vorhaben, in denen keines der in Nr. 9 genannten vorgelagertenVerfahren stattfindet und die sich auf eine größere Zahl von Betroffenen auswirkenkönnen, erfasst und zum anderen die Grundsätze und Strukturen der frühzeitigen Bürgerbeteiligungmit obligatorischer öffentlicher und mündlicher Erörterung geregelt werden.11. Zur Auslösung der von einem vorgelagerten Verfahren unabhängigen frühzeitigen Bürgerbeteiligungist eine Pflicht der für das Eröffnungskontrollverfahren zuständigen Behörde,bei dem Projektträger auf die Durchführung des Beteiligungsverfahrens hinzuwirken, zustatuieren. Für den Fall, dass gleichwohl eine frühzeitige Bürgerbeteiligung vor Antragstellungunterbleibt, ist zu normieren, dass der gestellte Antrag nur als vorläufiger Antrag bewertet undzunächst in einer Antragskonferenz der Öffentlichkeit vor- und zur Diskussion gestellt wirdsowie die Behörde dem Antragsteller aufgibt, auf der Grundlage der Ergebnisse der Antragskonferenzund der weiteren Prüfung der Unterlagen den endgültigen Antrag zu erstellen.12. Zuständig für die Durchführung der frühzeitigen Bürgerbeteiligung und das weitereBeteiligungsverfahren ist eine weisungsfrei gestellte Beteiligungsbehörde, die sowohl von denfür die vorgelagerten Verfahren als auch von den für weitere Schritte wie das Eröffnungskontrollverfahrenzuständigen Behörden verschieden ist. Sie ist auch dafür verantwortlich, dassallen an dem Beteiligungsverfahren Teilnehmenden alle Informationen zur Verfügung stehen,die für eine Erörterung aller mit dem Projekt zusammenhängenden Fragen erforderlich sind.Dies ist durch entsprechende gesetzliche Regelungen bzw. Änderungen sicherzustellen.13. Gesetzlich sollte vorgesehen werden, dass der mit der frühzeitigen Bürgerbeteiligungbegonnene Diskurs für die Dauer des Eröffnungskontrollverfahrens auf der Grundlage einesvon der Beteiligungsbehörde in der frühzeitigen Bürgerbeteiligung zusammen mit den Teilnehmendenerarbeiteten und später anzupassenden Verfahrensplans fortgeführt und auch zwischengesetzlich ausdrücklich vorgesehenen Beteiligungsschritten aufrecht erhalten werdensoll. Der Verfahrensplan soll sich des Weiteren dazu verhalten, ob und wenn ja in welcher Weisedie Ergebnisse des Beteiligungsverfahrens im Eröffnungskontrollverfahren berücksichtigtwerden. Der Verfahrensplan kann auch eine Einbeziehung von Verwirklichungs- und ggf.Betriebsphase des Projekts in das Beteiligungsverfahren vorsehen.14. Geregelt werden sollte, dass für ein und dasselbe Projekt die im eigentlichen Eröffnungskontrollverfahrenvorgeschriebene Öffentlichkeitsbeteiligung auch alle ggf. fachrechtlichvorgesehenen weiteren Beteiligungen umfasst.15. Projektträger und für das Eröffnungskontrollverfahren zuständige Behörde sind zur Teilnahmean Erörterungsterminen und zur Beantwortung von Fragen zu verpflichten.42


<strong>Thesen</strong> zum Öffentlichen Recht16. Soweit bestehende Beteiligungsregelungen Einschränkungen der Beteiligungsbefugnisinsgesamt oder in einzelnen Beteiligungsphasen auf die in ihren Belangen oder Rechtenberührten Personen enthalten oder die Fakultativstellung eines Erörterungstermins vorsehen,sind sie durch die Einführung einer allgemeinen Öffentlichkeitsbeteiligung mit obligatorischermündlicher Erörterung zu ändern.17. Für die Bekanntmachung von Beteiligungsschritten in projektbezogenen Verfahrensollten Mindestbekanntmachungsfristen von zwei Wochen, für die Auslegung von Unterlagenincl. Stellungnahme eine Frist von sechs bis acht Wochen statuiert werden.18. Während die Einführung von projektbezogenen Instrumenten direktdemokratischer Entscheidungauf Bundesebene nicht sinnvoll ist, sollte auf landesrechtlicher Ebene die Eröffnungvon Volksbegehren und -entscheid über die vollständige oder teilweise Finanzierung von raumbedeutsamenVorhaben, die sich auf eine größere Zahl von Betroffenen auswirken können, ausstaatlichen Mitteln erwogen werden. Das Zustimmungsquorum sollte ein Minimum von 20 %nicht unterschreiten. Eine entsprechende Regelung wird für Bürgerbegehren und -entscheidauf kommunaler Ebene hinsichtlich zumindest teilweise kommunal finanzierter Vorhabenempfohlen.19. Darüber hinaus wird die Streichung der Bauleitplanung aus dem Katalog der einemBürger entscheid entzogenen Gegenstände der Gemeindeordnungen vorgeschlagen, wobeiklargestellt werden sollte, dass weder ein bereits beschlossener Bauleitplan durch Bürgerentscheidaufgehoben noch ein Bauleitplan durch Bürgerentscheid beschlossen werden kann.20. Die notwendigen Änderungen des Verwaltungskostenrechts sollten hinsichtlich der demProjektträger zu Last fallenden Gebühren sowohl das Verhältnis zwischen dem politischenInteresse an einer Intensivierung der Bürgerbeteiligung und dem projektbezogenen Interessedes Projektträgers angemessen gewichten als auch zwischen unterschiedlichen Projektträgernund Projekten, auch mit Blick auf das Gesamtinvestitionsvolumen, differenzieren.<strong>Thesen</strong> zum Referat von Rechtsanwalt Prof. Dr. Klaus-Peter Dolde, StuttgartI. Aufgabe von Planungs- und Zulassungsverfahren1. Staatliche und kommunale Planung ist hoheitlich verantwortete originäre Raumnutzungsentscheidung,die ausschließlich dem öffentlichen Planungsträger obliegt. Demgegenüberhat das Zulassungsverfahren (Planfeststellung als „nachvollziehende Abwägung“,Genehmigung) primär die Aufgabe, eine sachgerechte und rechtmäßige Entscheidung überdas vom Antragsteller geplante Vorhaben herbeizuführen, und zwar in überschaubarer Zeitunter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte.43


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 20122. Bürgerbeteiligung in Planungs- und Zulassungsverfahren bedeutet Teilhabe am Planungsprozessund am Verwaltungsverfahren, nicht Mitentscheidung. Die Entscheidung obliegtnur der dafür zuständigen, demokratisch legitimierten Behörde, nicht Runden Tischen oderPartikularinteressen vertretenden Vereinigungen oder Beteiligten.3. Regelungen der Bürgerbeteiligung in Planungs- und Zulassungsverfahren haben – ebensowie das Verwaltungsverfahren – insoweit dienende Funktion, als sie die Aufgabe des Verfahrensfördern müssen, jedenfalls nicht gefährden dürfen.4. a) In Planungsverfahren obliegt die Kommunikation, insbesondere die Erläuterung derverfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Vorgaben, der erhobenen Fakten unddes geplanten Vorgehens, der Planungsbehörde.b) In Zulassungsverfahren ist es demgegenüber primär Aufgabe des Vorhabenträgers,der Öffentlichkeit Sinn und Zweck seines Projekts und dessen Standort zu erklären.Aufgabe der Behörde ist die Erläuterung der rechtlichen Vorgaben, der von ihr erhobenenFakten und des von ihr geplanten Vorgehens.II. Reformüberlegungen5. Reformüberlegungen für Zulassungsverfahren müssen sich an der Aufgabe des Verfahrensorientieren.6. Vor allem größere Projekte bedürfen der Vermittlung durch Kommunikation. Sie ist rechtlichnur begrenzt regelbar. Verbindliche Regelungen sollen sich auf das Notwendige beschränken,für darüber hinausgehende Kommunikation bleibt ausreichend Raum.7. Bei der Entscheidung über eine gesetzliche Regelung zusätzlicher Beteiligungsschritte undzusätzlicher Zuständigkeiten muss beachtet werden, dass diese zwangsläufig zur Verlängerungder Verfahrensdauer und zu Mehrkosten führen.8. Eine das gesamte Zulassungsverfahren begleitende integrierte und perpetuierte Bürgerbeteiligungund ein entsprechender Verfahrensplan widersprechen dem Zweck des Verwaltungsverfahrens,führen zu erheblichen Verfahrensverzögerungen und Mehrkosten und sinddeshalb abzulehnen.9. Zusätzliche Regelungen zur Bürgerbeteiligung in Zulassungsverfahren sollen nur fürUVP-pflichtige Vorhaben vorgesehen werden.a) In Zulassungsverfahren für UVP-pflichtige Vorhaben soll eine frühzeitige Bürgerbeteiligungim Rahmen des zwingend erforderlichen Scoping nach § 5 UVPGvorgesehen werden. Sie ist mit öffentlicher Auslegung der Scoping-Unterlagen undfakultativer Durchführung eines Erörterungstermins von der im Sinne von § 14UVPG federführenden Behörde durchzuführen. Dazu ist eine Änderung des UVPGerforderlich und ausreichend.b) Von einer frühzeitigen Bürgerbeteiligung im Scoping kann abgesehen werden, wennfür das Vorhaben bereits ein Raumordnungsverfahren durchgeführt wurde.10. Die Bürgerbeteiligung soll für alle UVP-pflichtigen Vorhaben gleich geregelt werden.44


<strong>Thesen</strong> zum Öffentlichen Recht11. Die Regelungen über die öffentliche Auslegung und den Erörterungstermin in Zulassungsverfahrensind reformbedürftig.a) Die Antragsunterlagen sollen zusätzlich mindestens für die Dauer der AuslegungsundEinwendungsfrist von der Zulassungsbehörde ins Internet gestellt werden.b) Die Frist zwischen Bekanntmachung der Auslegung und Beginn der Auslegung, dieAuslegungs- und die Einwendungsfrist sollen angemessen verlängert werden.c) An der Präklusion nach Ablauf der Einwendungsfrist soll auch für die anerkanntenUmweltverbände festgehalten werden. Die frühzeitige Beteiligung im Rahmen desScoping soll nicht mit einer Präklusion verbunden sein.d) Der Erörterungstermin soll fakultativ bleiben. Die Voraussetzungen für das Absehenvom Erörterungstermin sollen im Gesetz geregelt werden, verbunden mit einer Einschätzungsprärogativeder Behörde (analog § 3 c UVPG).e) Der Erörterungstermin soll öffentlich sein.f) Eine Übertragung der Erörterung über Rundfunk, Fernsehen, Internet soll nur imEinzelfall nach Entscheidung des Verhandlungsleiters und nur teilweise möglich sein.Jeder Einwender muss die Möglichkeit haben, sich ohne diese Übertragung zu äußern.g) Für Zeitpunkt und Fortsetzung des Erörterungstermins bedarf es im Hinblick aufdie dazu vorliegende Rechtsprechung und den großen Zeit- und Kostenaufwand einesErörterungstermins keiner Neuregelung.12. Die Trennung von Anhörungs- und Entscheidungsbehörde ist nicht zu empfehlen. Sieführt zur Doppelarbeit bei den Behörden, erheblicher Verlängerung der Verfahrensdauer undnicht zur Verbesserung der Bürgerbeteiligung, da die Anhörungsbehörde zur Bedeutung derEinwendungen für die Sachentscheidung keine ausreichende Erklärung abgeben kann.13. Eine weisungsunabhängige, für alle für das Projekt erforderlichen Planungs- und Zulassungsverfahrenzuständige Anhörungsbehörde ist abzulehnen. Sie würde zu erheblichemadministrativen Mehraufwand und erheblichen Verfahrensverzögerungen führen, die unterschiedlichenSachkompetenzen für die einzelnen Verfahren negieren und wäre kaum in derLage, alle betroffenen Sachfragen sachgerecht und ohne Eingriff in die Kompetenz der für diejeweilige Entscheidung zuständigen Behörde zu behandeln. Zudem begegnet sie unter demAspekt der demokratischen Legitimation verfassungsrechtlichen Bedenken.45


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012<strong>Thesen</strong> zum Referat von Prof. Dr. Oscar W. Gabriel, StuttgartA. Akzeptanz als Qualitätsmerkmal von Planungen und Entscheidungen in der Demokratie1. Öffentliche Planungen, insbesondere soweit sie sich auf große, wirtschaftsnahe Infrastrukturprojektebeziehen, waren in den letzten Jahren mit beträchtlichen Akzeptanzproblemenverbunden. Der empirisch breit belegte Wunsch eines großen Teils der Bevölkerung nach eineraktiven Mitgestaltung der Politik kollidiert mit einer als unzulänglich empfundenen Praxisder Bürgerbeteiligung an Planungs- und Entscheidungsprozessen. Aus dieser Diskrepanzresultieren Konflikte, die Planungsprozesse verzögern, verteuern und deren Akzeptanz gefährden.2. In Demokratien müssen öffentliche Aufgaben – und hierzu gehört die Planung dergesellschaftlichen Infrastruktur – sachgerecht sowie im Einklang mit rechtsstaatlichen unddemokratischen Prinzipien erfüllt werden. Dies gilt gleichermaßen für öffentliche Planungenwie für die Vorhaben privater Planungsträger, denen politische Entscheidungen vorausgehen.Eine an demokratischen Prinzipien orientierte Planungspraxis muss darauf zielen, eine breiteöffentliche Akzeptanz des Inhalts und des Verfahrens der Planung herzustellen. Dies entsprichtnicht allein dem Demokratiegebot, sondern auch dem Effizienzprinzip. Deshalb mussdas Kriterium der politischen Akzeptanz einen Eigenwert als Qualitätsstandard von Planungsprozessenerhalten und gleichberechtigt neben die Kriterien der Rechtsstaatlichkeit und derSachgerechtigkeit treten.3. Die derzeitigen Beteiligungsverfahren an Planungen sind in erster Linie darauf ausgelegt,rechtlich einwandfreie und sachgemäße Verfahrensabläufe sicherzustellen und die berechtigtenInteressen Einzelner zu schützen. Die mit der Planung von Infrastrukturprojektenverbundenen Konflikte resultieren aber häufig aus unterschiedlichen bzw. gegensätzlichenWertvorstellungen oder Kollektivinteressen. Die derzeitigen, primär auf die Mitwirkungunmittelbar Betroffener an der Lösung von Detailfragen angelegten Beteiligungsverfahrenbieten keinen Raum für das Austragen und die Regelung derartiger Konflikte. Auf Grunddessen manifestieren sich diese für pluralistische Demokratien keineswegs dysfunktionalen,sondern typischen, Konflikte vorzugsweise in Protestaktionen außerhalb der Verfahren vonrepräsentativer Demokratie und Rechtsstaat. Auf diese Weise erhalten sie eine von der Sacheher nicht notwendige antirepräsentative Komponente. Zudem treten sie auf Grund einerunzulänglichen Verfahrenspraxis häufig erst kurz vor der Realisierung von Vorhaben auf undführen zu Verzögerungen des Verfahrens, Kostensteigerungen und einem Vertrauensverlustder politischen Institutionen und Akteure.4. Eine Veränderung der gesetzlichen Regelungen trägt nur bedingt zur Verbesserung derPlanungspraxis bei. Sofern erforderlich, sind Veränderungen vorzunehmen, um neben denPrinzipien der Sachgerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit auch dem der DemokratiekonformitätGeltung zu verschaffen.46


<strong>Thesen</strong> zum Öffentlichen Recht5. Eine Änderung von Rechtsvorschriften läuft ins Leere, solange die am PlanungsprozessBeteiligten ihre Einstellungen und Verhaltensweisen nicht ändern. Die Akzeptanz vonPlanungsprozessen und -ergebnissen macht eine neue Planungskultur erforderlich, die dasZusammenwirken von Bürgern, Politik, Vorhabensträgern, Planungsbehörden und Expertenbei der Lösung von Planungsproblemen fördert. Dies schließt zunächst eine veränderte Wahrnehmungder Rollen der Beteiligten ein. Gegenwärtig ist die wechselseitige Rollenwahrnehmunghäufig von Gegensätzen zwischen Planern und Entscheidern auf der einen Seite und derBevölkerung auf der anderen Seite bestimmt. Die Planer sehen in den Mitwirkung beanspruchendenBürgern nicht zuletzt Störfaktoren. In dieser Perspektive reduziert sich Bürgerbeteiligungauf eine Mitwirkung sachfremder Laien, die die Kompetenzen von Experten undEntscheidungsträgern in Frage stellen sowie die Planungsverfahren komplizieren, verteuernund verzögern. Im Gegenzug sehen die Bürger in den Planern und Entscheidungsträgern Vertreterbzw. Unterstützer wirtschaftlicher Partikularinteressen, die diese in bürgerfernen undintransparenten Prozessen gegen die berechtigten Interessen der Bürger durchzusetzen versuchen.Diese Antagonismen und Fehlwahrnehmungen erschweren kooperative und rationaleBeteiligungsverfahren.6. Sofern eine Revision der Selbst- und Fremdbilder gelingt, steigen die Chancen für Dialogeund kooperative Problemlösungen. Zahlreiche Beispiele belegen den Erfolg einer auf Dialogund Kooperation basierenden Bürgerbeteiligung an Planungen. Die Wahrnehmung derBürgerbeteiligung als produktive Ressource in Planungsprozessen trägt dazu bei, frühzeitigauf Interessen- und Wertekonflikten basierende Probleme zu identifizieren, sie bearbeitbar zumachen und einer Lösung zuzuführen. Die in der Bürgerbeteiligung zum Tragen kommendeLaienperspektive ergänzt die Problemsichten von Planern und Entscheidern. Auf der Seite derPartizipanten vermittelt sie Verfahrenskompetenz und fördert Regelkonformität. Selbst dann,wenn sich ein Konsens in der Sache nicht erzielen lässt, wirkt die Akzeptanz von Verfahrenbefriedend, insbesondere auf Seiten derer, deren Präferenzen in den Beteiligungsverfahrennicht mit zum Zuge kamen. Eine sachgerecht durchgeführte Bürgerbeteiligung verlagert dasAustragen von Konflikten in die institutionell geregelten Verfahren der repräsentativen Demokratie.7. Partizipative Planung beinhaltet in erster Linie eine Verbesserung der Planungspraxis undder Kommunikation zwischen den Planungsträgern und der Öffentlichkeit. Insbesondereletztere darf nicht auf punktuelle PR-Aktivitäten reduziert werden. Es handelt sich vielmehrum eine im gesamten Planungs- und Entscheidungsprozess anfallende Daueraufgabe, die ineiner frühen Phase der Planung beginnt und mit der formalen Entscheidung nicht erledigt ist.Politische Kommunikation zielt darauf, vor einer endgültigen Entscheidung die Präferenzender Bevölkerung in den Planungsprozess einzubeziehen, der Öffentlichkeit die Gründe despolitischen Handelns zu verdeutlichen und um Unterstützung für die beschlossenen Projektezu werben.47


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 20128. Das Management von Beteiligungsprozessen wird künftig an Bedeutung gewinnen undeine Schlüsselrolle für die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Bürgern, Politik undVerwaltung spielen. Die öffentliche Verwaltung ist auf die effektive Erfüllung dieser Aufgabenicht angemessen vorbereitet. Um ihr gerecht zu werden, müssen entsprechende Kompetenzengezielt und systematisch in Aus- und Weiterbildungsprogrammen vermittelt werden.B. Institutionelle Anforderungen an eine demokratiekonforme Ausgestaltung von Planungsverfahren1. Die Rechtsvorschriften über die Durchführung von Beteiligungsverfahren sind auf eineVielzahl unterschiedlicher Gesetze und Verwaltungsvorschriften verteilt und demzufolgeunübersichtlich und uneinheitlich. Die Beteiligung an Planungsverfahren lässt sich effektivieren,wenn deren Grundsätze und tragenden Elemente einheitlich ausgestaltet und ineinem einheitlichen Rechtsdokument geregelt werden. Dies erleichtert der Verwaltung, derPolitik und den Bürgern den praktischen Umgang mit Beteiligungsverfahren.2. Effektive Beteiligung scheitert häufig an fehlender Transparenz und unsachgemäßerInformation. Transparenz ist nur dann gewährleistet, wenn die Öffentlichkeit umfassend,rechtzeitig, in knapper Form und verständlicher Sprache sowie unter Einsatz modernertechnischer Kommunikationsmittel über das Für und Wider von Vorhaben und deren Folgeninformiert wird. Transparente Informationspolitik schafft Vertrauen zwischen den beteiligtenAkteuren, erweitert den Handlungsspielraum der politischen Führung und fördert dieAkzeptanz der von ihr getroffenen Entscheidungen. Deshalb müssen die gesetzlichen Voraussetzungenfür eine umfassende, frühzeitige und sachgerechte Information der Öffentlichkeitgeschaffen werden.3. Zahlreiche Akzeptanzprobleme bei Planungen resultieren aus einer zu späten, punk tuellangelegten Bürgerbeteiligung. Diese erfolgt erst in einem fortgeschrittenen Stadium derPlanung, in welchem grundlegende Positionen bereits festgelegt sind und nur unter Inkaufnahmehoher budgetärer und politischer Kosten revidiert werden können. Die Bevölkerungempfindet die Bürgerbeteiligung aber nur dann als effektiv, wenn sie sich nicht ausschließlichauf die Festlegung von Details bereits im Grundsatz beschlossener Vorhaben, sondern aufdessen grundsätzliche Durchführung richtet. Diesem Anliegen kann Bürgerbeteiligung nurdann gerecht werden, wenn sie in einer sehr frühen Phase des Planungsprozesses, bei der Thematisierungeines Entscheidungsproblems, einsetzt. Sie muss sich in einer ersten Stufe daraufrichten, die Wünschbarkeit von Vorhaben auszuloten. Konflikte werden umso unwahrscheinlicherund sind umso leichter zu lösen, je weniger Festlegungen erfolgt sind. Detailkorrekturensind dagegen erst dann möglich, wenn Planungen einen gewissen Konkretisierungsgraderreicht haben. Um beiden Anliegen gerecht zu werden, bedarf es zweistufig angelegter Planungsverfahrenund entsprechender Regelungen im Planungsrecht.48


<strong>Thesen</strong> zum Öffentlichen Recht4. In der Demokratie können Beteiligungsverfahren nicht ausschließlich als Betroffenenpartizipationangelegt sein, zumal die Festlegung von Betroffenheit im konkreten Falle strittigsein kann. Planungen fließen in verbindliche politische Entscheidungen ein und nehmenöffentliche Mittel in Anspruch. Sie unterliegen damit dem demokratischen Grundsatz „Quodomnes tanget, ab omnibus approbetur“ und machen eine Öffnung für die Mitwirkung allerbeteiligungsbereiten Bürger erforderlich. Zudem lässt sich die Qualität von Planungen verbessern,wenn die Planenden und Entscheidenden frühzeitig und umfassend über die Präferenzender Öffentlichkeit informiert sind und Konflikte rechtzeitig antizipieren können. Dies erfordertdie Möglichkeit zu einer breiten öffentlichen Artikulation von Präferenzen, zur Kommunikationzwischen den beteiligten und interessierten Akteuren sowie zur Einflussnahme aufdie Planungsinhalte. Im Hinblick auf das Demokratiegebot muss das Planungsrecht neben derBetroffenenpartizipation im Vorfeld der verbindlichen Entscheidung eine allgemeine Öffentlichkeitspartizipationvorsehen. Formale Entscheidungskompetenzen und Verantwortlichkeitenwerden durch die Institutionalisierung derartiger Beteiligungsangebote nicht berührt.5. Da bisher nur wenige wissenschaftliche Erkenntnisse über optimale Beteiligungsverfahrenvorliegen, sollten sich die Rechtsvorschriften auf die Festlegung eines Minimalbestandes allgemeinerVerfahrensgrundsätze und -regelungen (z. B. Verfahrensträger, Zeitpunkt, Informationsbereitstellung,Behandlungsfristen, Auswirkung der Beteiligung auf die Ergebnisse derPlanung) beschränken. Diese Mindeststandards sollen für alle Beteiligungsverfahren verbindlichsein. Die darüber hinausgehende Ausgestaltung und Anwendung sowie die Entwicklungvon Verfahren zur Erfolgskontrolle bedürfen keiner detaillierten rechtlichen Normierung,sondern sollten sich in der Beteiligungspraxis entwickeln.<strong>Thesen</strong> zum Referat von Prof. Dr. Bernhard W. Wegener, Erlangen1. Im demokratischen Rechtsstaat ist Bürgerbeteiligung ein doppeltes Verfassungsgebot. Dasrechtsstaatliche und das demokratische Verfassungsgebot der Bürgerbeteiligung sind regelmäßiggleichgerichtet. Vor allem das demokratische Gebot der Bürgerbeteiligung erscheintderzeit noch nicht voll entfaltet. Seine Entfaltung kann einen Beitrag zu einer sich entwickelndenBeteiligungskultur leisten.2. Rechtsstaatliche Garantien können der Bürgerbeteiligung auch Grenzen setzen. Gleichesgilt in abgeschwächter Form auch für das Demokratieprinzip in seiner repräsentativen Teilausprägung.3. Die Regelungen über die Bürgerbeteiligung bei der Planung und Vorhabenzulassung sindderzeit über eine Vielzahl von Fachgesetzen verstreut. Sie sollten im Interesse der – geradefür die Bürgerbeteiligung – wichtigen Normenklarheit im allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechtzusammengeführt werden. Fachgesetze sollten auf die entsprechenden Regelungennur mehr verweisen. Einen ersten Schritt in diese Richtung unternimmt der von der Bundes-49


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012regierung vorgestellte Entwurf zu einem Gesetz zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligungund Vereinheitlichung von Planfeststellungsverfahren (PlVereinhG) insbesondere mitseinem Regelungsvorschlag zur „frühen Öffentlichkeitsbeteiligung“ im Verwaltungsverfahrensgesetz.4. Die Regelungen des Vorhabenzulassungsrechts sind auf allen Ebenen und Gebieten vonüberkommenen Beschränkungen zu befreien, die sich allein aus einer pauschalen Angstvor dem Bürger und seiner Beteiligung motivieren. Diese Beschränkungen haben sich alsun praktisch und verfahrenserschwerend erwiesen. Abgeschafft werden sollten insbesondereBeschränkungen des Kreises der Verfahrensbeteiligten und der zu diskutierenden Fragen. Soist die Beschränkung auf die „betroffene Öffentlichkeit“ ebenso zu streichen wie die Beschränkungauf die Geltendmachung nur „eigener Belange“.5. Die Regelungen des Vorhabenzulassungsrechts sind auf eine moderne, umfassende undkontinuierliche Transparenz aller Entscheidungsgrundlagen und Verfahrensschritte auszurichten.Insbesondere müssen die Vorhaben effektiv bekannt gemacht werden. Die allein lokaleoder regionale Bekanntmachung in örtlichen Tageszeitungen ist durch die Einrichtung einesbundesweiten, über das Internet zugänglichen Zentralregisters zu ergänzen. VorhabensbezogeneUnterlagen müssen auch außerhalb der für die Öffentlichkeitsbeteiligung vorgesehenenbesonderen Einsichtszeiträume über das Internet effektiv zugänglich gemacht und dort fortlaufendaktualisiert werden.6. Für Großvorhaben, die eine Vielzahl von Betroffenen und Interessierten berühren, isteine mediale Öffentlichkeit der Erörterungstermine – etwa über Internetlivestream – für dieFälle vorzusehen, in denen eine solche Berichterstattung einen kommunikativen und/oder verwaltungspraktischenMehrwert verspricht. Die Schlichtung zu Stuttgart 21 hat gezeigt, dasseine Bildberichterstattung heilsame Effekte hinsichtlich der Durchführung entsprechenderTermine haben kann.7. Eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung, wie sie der Gesetzentwurf der Bundesregierungzu dem Gesetz zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung vonPlanfeststellungsverfahren (PlVereinhG) in § 25 Abs. 3 VwVfG verankert wissen will, istgrundsätzlich zu begrüßen. Die Erfahrungen mit dieser weitgehend unverbindlichen frühenÖffentlichkeitsbeteiligung sind zu evaluieren. Ggfs. sollte die frühe Öffentlichkeitsbeteiligungin Verbindlichkeit erwachsen. Verfassungsrechtliche Bedenken dagegen bestehen nicht.8. Wie es das Gutachten Ziekow vorschlägt, sind die Regelungen über den Wegfall des Erörterungsterminseinzuschränken. Dabei muss der Erörterungstermin (anders als es das Gutachtenvorschlägt) nicht für alle Fälle obligatorisch sein. Sein Wegfall sollte von der Behördejedoch nicht mehr nach rechtlich unbestimmtem Ermessen angeordnet werden können. DerErörterungstermin sollte vielmehr nur dann entfallen können, wenn wegen der zu erwartendengeringen Zahl an Teilnehmern die Durchführung eines förmlichen Erörterungsterminszu aufwendig und eine andere Form des Dialogs vorzugswürdig erscheint.9. Die gesetzlich vorgesehenen Fristen zur Bürgerbeteiligung sind derzeit durchweg zu knappbemessen. Sie ermöglichen keine sachangemessene Beteiligung und führen insbesondere in50


<strong>Thesen</strong> zum Öffentlichen RechtVerbindung mit den Regelungen über die materielle Präklusion zu negativen Folgeerscheinungen.Beteiligte werden zu umfangreichen und pauschalen Einwendungen gegen das Vorhabenmotiviert. Die Fristen sind daher angemessen zu verlängern.10. Die materielle Präklusion ist in ihrer derzeitigen Ausgestaltung weder mit europa- nochmit verfassungsrechtlichen Vorgaben zu vereinbaren. Problematisch ist insbesondere die Verknüpfungvon Präklusionsregelungen mit der zu engen Fristsetzung.11. Auf die Präklusion sollte verzichtet werden. Sie kann bei Bedarf durch eine allgemeineMissbrauchsklausel ersetzt werden, nach der ein erkennbar missbräuchlich verspätetes Vorbringenvon den Entscheidungsbehörden bzw. von den Gerichten zurückgewiesen werdenkann. Die Abschaffung der materiellen Präklusion konkretisiert die staatliche Verantwortungfür die Rechtmäßigkeit hoheitlichen Handelns. Für die Abschaffung der Präklusion sprichtauch die zunehmende Vorverlagerung verbindlicher Entscheidungen auf vorgelagerte Planungsstufen.Diese sorgen in der Sache ohnehin schon für eine Abschichtung des im späterengerichtlichen Verfahren noch relevanten Prüfprogramms.12. Das allgemeine verwaltungsrechtliche Gebot der Problembewältigung und das demokratischeGebot einer effektiven Bürgerbeteiligung im Verwaltungsverfahren verbieten dieAuslagerung wesentlicher Entscheidungen in eigenständige Verfahren, die der zentralenabschließenden Vorhabenzulassung zeitlich nachgelagert sind und eine hinreichend wirksameBürgerbeteiligung unmöglich machen. Deshalb sind etwa die Planfeststellung von Flughäfenund die Entscheidung über die genaue Flugroutenbestimmung zusammenzuführen.13. Die Einrichtung einer eigenen, die Entscheidungsbehörden ergänzenden, unabhängigenVerfahrensbehörde, wie sie das Gutachten Ziekow vorschlägt, wird nicht befürwortet. Gegendie Schaffung einer solchen Behörde sprechen Gründe der Bürokratievermeidung und derSchonung staatlicher Ressourcen. Ihr Mehrwert wäre begrenzt. Ihre Einrichtung brächte vielmehrdie Gefahr einer weiteren Verantwortungsverschleierung. Zwar wird die den Entscheidungsbehördenzugewiesene Aufgabe einer unabhängigen Sachwalterschaft von Rechtsstaatlichkeitund Gemeinwohlinteressen von diesen nicht immer optimal wahrgenommen. IhrVerhalten mag in der Vergangenheit in der Bürgerschaft zu Vertrauensverlusten geführt haben.Der normative Anspruch auf Unparteilichkeit, Rechtmäßigkeit und Gemeinwohlorientierungder Entscheidungsbehörden kann jedoch ohnehin nicht preisgegeben und auch nicht aufzusätzliche Behörden delegiert werden. Schließlich wäre die notwendige Sachkompetenz derVerfahrensbehörde auch im Verhältnis zu den Entscheidungsbehörden nur schwer zu vermitteln.In einem pluralistischen, auf streitbaren Diskurs setzenden Modell ist zur Sicherung vonErgebnisoffenheit im Verfahren eher auf eine Stärkung von Gegenmacht zu setzen.14. Die Hochzonung von materiellen Entscheidungen in vorgelagerte Verfahren muss miteiner entsprechenden Hochzonung auch des Rechtsschutzes einhergehen. Dabei muss nichtnotwendigerweise jeder Planungsstufe auch eine entsprechende Rechtsschutzstufe zugeordnetwerden. Ein Rechtsschutz, der allein auf der letzten Entscheidungsstufe der Plan- oder Anlagengenehmigungansetzt, genügt vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung aber nichtmehr den verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen effektiven Rechtsschutz.51


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 201215. Die Kosten von Betroffenen und Umweltverbänden bei der Begleitung von Projektzulassungsverfahren,insbesondere die Kosten für die Beauftragung von juristischem und technischemSachverstand, sollten in einem angemessenen Rahmen übernommen werden können.Stuttgart 21 kann insoweit als ein Vorbild angesehen werden.16. Die gerichtlichen Kosten von Umweltverbandsklagen sind entsprechend den Vorgabender Aarhus-Konvention auf ein rechtsschutzfreundliches Maß zu beschränken.17. Eine direktdemokratische Beteiligung in Planungsentscheidungen kann – wie das BeispielStuttgart 21 gezeigt hat – eine entscheidende Rolle bei der Lösung von Konflikten insbesonderehinsichtlich der Verwirklichung von Großvorhaben spielen. Dazu sollten entsprechendeMöglichkeiten auf bundesrechtlicher Ebene geschaffen und auf landes- und kommunalrechtlicherEbene ausgebaut werden. Dabei sollten insbesondere direktdemokratische Finanzierungsentscheidungenin den Blick genommen werden.52


<strong>Thesen</strong> zum WirtschaftsrechtWirtschaftsrechtStaatliche und halbstaatliche Eingriffe in die Unternehmensführung<strong>Thesen</strong> zum Gutachten von Prof. Dr. Mathias Habersack, MünchenI. Konzeptionelle Grundlagen der Corporate-Governance-Regulierung1. Urheber und Adressat von Corporate-Governance-Regeln(1) Die sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene anzutreffende Unterscheidungzwischen der den Kapitalmarkt in Anspruch nehmenden Gesellschaft und der geschlossenenGesellschaft hat sich im Grundsatz bewährt und sollte beibehalten und ausgebaut werden. InFragen der Corporate Governance besteht in erster Linie für die kapitalmarktoffene GesellschaftReformbedarf. Regulatorische Maßnahmen der Union nehmen allerdings vielfach nichthinreichend Rücksicht auf die gewachsenen Strukturen der nationalen Rechte; insbesonderelässt sich die Kommission bei ihren Aktivitäten von der monistischen Organisationsverfassungleiten. Nachdem die Vorschriften über die Struktur der AG nicht harmonisiert sind und miteiner solchen Harmonisierung auch mittelfristig nicht zu rechnen ist, ist es nur folgerichtig,von den europäischen Regelsetzern Zurückhaltung und, soweit es zu unionsrechtlichen Regelnkommt, Rücksichtnahme auf die Gegebenheiten der dualistischen Organisationsverfassungeinzufordern. Von einer unionsrechtlichen Regulierung der Corporate Governance der ge -schlossenen AG ist gänzlich abzusehen.(2) Das deutsche Aktienrecht verfügt mit der Börsennotierung (§ 3 Abs. 2 AktG), der Kapitalmarktorientierung(§ 264 d HGB) und dem Mischmodell der §§ 161 AktG, 289 a HGBüber eine Reihe höchst unterschiedlicher Anknüpfungspunkte für Sonderregeln über dieCorporate Governance von Gesellschaften, die den organisierten Kapitalmarkt in Anspruchnehmen. Diese Vielfalt trägt zur Unübersichtlichkeit des geltenden Rechts bei und ist auchin der Sache fragwürdig. Der deutsche Gesetzgeber sollte in den Tatbestand der börsennotiertenGesellschaft auch solche Gesellschaften einbeziehen, deren Aktien auf ihren Antrag imFreiverkehr oder an einem nichtbörslichen multilateralen Handelssystem gehandelt werden.Hierdurch würden sich zwar an die Kapitalmarktorientierung anknüpfende und durch dieAbschlussprüferrichtlinie vorgegebenen Son der vorschriften nach Art derjenigen in §§ 100Abs. 5, 107 Abs. 4 AktG nicht erübrigen; im Übrigen aber wäre ein einheitlicher und auchsachlich überzeugender Anknüpfungspunkt für aktienrechtliche Sonderregeln gefunden. Voneiner Differenzierung nach der Größe der offenen Gesellschaft ist abzuraten.53


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 20122. Indienstnahme der AG für gesellschaftspolitische Anliegen – Zur Frage einer Frauenquote(3) Die Aktiengesellschaft sieht sich der Gefahr einer zunehmenden Indienstnahme fürgesellschaftspolitische Anliegen ausgesetzt. Neben der – immerhin einen Corporate-Governance-Bezugaufweisenden – unternehmerischen Mitbestimmung ist vor allem die Forderungnach stärkerer Repräsentanz von Frauen in den Gesellschaftsorganen zu nennen.(4) Eine gesetzliche Frauenquote wäre, auch wenn sie auf den Aufsichtsrat beschränkt würde,ein aktienrechtlicher Fremdkörper und würde die durch die mitbestimmungsrechtlichenGesetze und durch §§ 100 Abs. 5, 107 Abs. 4 AktG ohnehin schon erheblich eingeschränkteWahlfreiheit der Aktionäre in bedenklicher Weise weiter einengen. Der Kreis der in einegesetzliche Frauenquote einzube ziehenden Gesellschaften ließe sich nicht ohne Inkaufnahmevon Wertungswidersprüchen begrenzen; namentlich fehlt es an einem sachlichen Zusammenhangmit der Börsennotierung und der Mitbestimmung der Gesellschaft. Wollte man mitbestimmteGesellschaften einer gesetzlichen Frauenquote unterstellen, wäre die Quote auf denGesamtaufsichtsrat zu beziehen.II. <strong>Deutscher</strong> Corporate Governance Kodex1. Grundlagen(5) Der Deutsche Corporate Governance Kodex und der comply or explain-Mechanismusdes § 161 AktG haben sich im Grundsatz bewährt. Der Gesetzgeber sollte freilich akzeptieren,dass Kodexempfehlungen und Entsprechenserklärung Instrumente der Selbstregulierungsind, die Marktmechanismen in Gang setzen sollen und denen die Befugnis zur Nichtbefolgungimmanent ist; von einem die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung auslösendenScheitern einer Kodexempfehlung kann deshalb nicht schon dann die Rede sein, wenn sich einnicht unerheblicher Teil der betroffenen Gesellschaften für die Nichtbefolgung der Empfehlungentscheidet. Auch sollte der Gesetzgeber – ungeachtet der Verfassungskonformität des§ 161 AktG – die Zusammensetzung, die Amtsdauer und das Verfahren bei Kodexänderungenregeln und in diesem Zusammenhang insbesondere ein obligatorisches Konsultationsverfahrenvorsehen.(6) Ein europäischer Kodex ist schon in Ermangelung einer hinreichenden Harmonisierungder Vorschriften über die Corporate Governance der AG nicht zu empfehlen. Bindendeoder zumindest empfehlende Regelungen auf EU-Ebene, mit denen den Mitgliedstaatendie Schaffung eines Kodex, dessen Mindestinhalt, die An forderungen an die Entsprechenserklärungund die Überwachung dieser Erklärung vorgegeben werden, sind hingegen nichtausgeschlossen.(7) Die Entsprechenserklärung verschafft nicht nur gegenwärtigen und potentiellen Aktionärender erklärungspflichtigen Gesellschaft, sondern sämtlichen Anlegern und damit insbesondereauch Anleihegläubigern für ihre jeweilige Anlageentscheidung relevante Informationen.Es wäre deshalb konsequent, die Erklärungspflicht auf sämtliche kapitalmarktorientierteGesellschaften im Sinne des § 264 d HGB zu erstrecken, was freilich die Notwendigkeit mit54


<strong>Thesen</strong> zum Wirtschaftsrechtsich brächte, dass der Kodex auch auf Gesellschaften anderer Rechtsform zugeschnittene Empfehlungenenthält. Vorbehaltlich der unter (2) ausgesprochenen Empfehlung hat es deshalbeinstweilen bei der gegenwärtigen Regelung des Anwendungsbereichs zu bewenden.2. Kodexbezogene Vorschläge(8) Im Interesse einer Verschlankung des Kodex sollten die gesetzliche Regelung wiedergebendeKodexbestimmungen und bloße Anregungen gestrichen werden. Auch einige Empfehlungensind verzichtbar, darunter diejenigen in Ziffern 3.10, 5.4.3 S. 3, 5.4. 4. S. 2, 5.4.6Abs. 2 DCGK. Im Gegenzug sind auf die monistisch verfasste SE und auf die KGaA bezogeneEmpfehlungen aufzunehmen.Im Zusammenhang mit den aufsichtsratsbezogenen Empfehlungen sollte jeweils klargestelltwerden, ob sie sich nur auf die Anteilseignervertreter oder auf sämtliche Aufsichtsratsmitgliederbeziehen. Gesellschaften mit kleinem Aufsichtsrat sollten vom Anwendungsbereichvon Empfehlungen, die ersichtlich auf große Aufsichtsräte gemünzt sind, ausgenommenwerden, so dass sie trotz Nichtbefolgung dieser Empfehlungen eine uneingeschränkte Entsprechenserklärungabgeben können.3. Inhalt und Überprüfung der Entsprechenserklärung, Beseitigung der Aktualisierungspflicht(9) Die durch das BilMoG eingeführte Pflicht, die Nichtbefolgung von Empfehlungen zubegründen, ist zu begrüßen. Sie sollte um die Pflicht ergänzt werden, über die von der Gesellschafttatsächlich ergriffenen Maßnahmen zu informieren.(10) Die – unverzichtbare – Überprüfung der Entsprechenserklärung sollte auch künftig wederdurch die Börsen noch durch die BaFin erfolgen; der Einbeziehung der Entsprechenserklärungin die Abschlussprüfung sowie gegebenenfalls in das Enforcementverfahren nach §§ 342 b ff.HGB, §§ 37 n ff. WpHG steht Art. 26 a Abs. 2 S. 3 der Richtlinie 2006/46/EG entgegen. DieÜberprüfung der Entsprechenserklärung sollte vielmehr auch künftig im Rahmen von gegenEntlastungsbeschlüsse gerichteten Anfechtungsklagen erfolgen. Rich tiger Ansicht nachbegründet die Abgabe einer fehlerhaften Entsprechenserklärung zudem die Anfechtbarkeitvon Wahlbeschlüssen der Hauptversammlung. Eine publizitätssichernde Klage des einzelnenAktionärs gegen die verantwortlichen Organwalter kann de lege lata nicht anerkannt werdenund ist auch de lege ferenda nicht zu empfehlen. Allerdings belegt die Anfechtbarkeit vonHauptversammlungsbeschlüssen wegen Fehlerhaftigkeit der Entsprechenserklärung auf dasBeste, dass das Beschlussmängelrecht in hohem Maße reformbedürftig ist.(11) Das Nebeneinander von § 161 AktG und § 289 a HGB ist zu beseitigen, und zwar durchAufhebung des § 161 AktG und Präzisierung der Erklärungspflicht gem. § 289 a Abs. 2 Nr. 1HGB. In der Folge entfiele zwar die Pflicht zur unterjährigen Korrektur der Entsprechenserklärung;der damit verbundene Transparenzverlust wäre jedoch, auch gemessen an internationalenStandards, akzeptabel, zumal bei kursrelevanten unterjährigen Abweichungen die55


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012Pflicht zur ad hoc-Publizität unberührt bliebe. Ersatzlos gestrichen werden sollten Ziffer 3.10DCGK und die zahlreichen Bezugnahmen auf diese Empfehlung in weiteren Kodexbestimmungen.III. Ausgewählte Felder der Corporate-Governance-Regulierung1. Wahl zwischen dualistischer und monistischer Verfassung(12) Die Erfahrungen mit der SE lehren, dass namentlich kleine und mittlere Unternehmen inder Rechtsform der AG in der monistischen Verfassung eine gute Alternative zur herkömmlichenAG einerseits und zur GmbH andererseits erblicken. Jedenfalls für der quasi-paritätischenMitbestimmung unterliegende Gesellschaften dürfte die monistische Verfassung zwarnicht ernsthaft zur Wahl stehen. Auch unabhängig von der gebotenen Reform des Mitbestimmungsrechtssollte dies den Gesetzgeber indes nicht daran hindern, deutschen Gesellschaftenein entsprechendes Wahlrecht einzuräumen. Der djt sollte seine ablehnende Haltung aus demJahr 2008 noch einmal überdenken.2. Aufsichtsrat(13) Das deutsche Recht sollte – vorbehaltlich der §§ 100 Abs. 5, 107 Abs. 4 AktG – daranfesthalten, dass die Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds durch das mitgliedschaftlicheRechtsverhältnis nicht in Frage gestellt wird, Aktionäre und deren Repräsentanten mithin alsunabhängig anzusehen sind und der Schutz der Gläubiger und Minderheitsaktionäre durchkonzernrechtliche Regelungen besorgt wird. Dem Mehrheits-/Minderheitskonflikt solltedurch eine spezifisch minderheitsschützende Kodexempfehlung Rechnung getragen werden,der zufolge dem Aufsichtsrat einer abhängigen Gesellschaft eine angemessene Anzahl vonnicht dem Lager des herrschenden Unternehmens zuzurechnenden Anteilseignervertreternangehören soll. Zu empfehlen sind darüber hinaus eine Pflicht zur Offenlegung des Abhängigkeitsberichtssowie gegebenenfalls des Prüfberichts des Abschlussprüfers gemäß § 313 AktGund ein auf die besonderen Verhältnisse der abhängigen AG zugeschnittener gesetzlicherKatalog von Zustimmungsvorbehalten im Sinne von § 111 Abs. 4 S. 2 AktG.(14) Auch der den Arbeitnehmervertretern immanente Interessenkonflikt ist in den Mitbestimmungsgesetzenangelegt und damit nachgerade Programm. Obgleich er sich – ebensowie der den Repräsentanten von Großaktionären immanente „Konzernkonflikt“ – nicht indie internationale Corporate-Governance-Debatte einzufügen vermag, ist de lege ferendaeine grundsätzliche Abkehr von dem deutschen Mitbestimmungsmodell nicht zu erwarten.Systemimmanente Reformen wie namentlich die Einführung eines Verhandlungsmodells, dieAnerkennung von Wahlrechten ausländischer Arbeitnehmer und die Herabsetzung der in § 7MitbestG geregelten Aufsichtsratsgrößen sind freilich längst überfällig und, was die Teilhaberechteausländischer Arbeitnehmer anbelangt, sogar unionsrechtlich geboten.(15) Im Übrigen sollte nicht nur an der Unabhängigkeitsdefinition in Ziffer 5.4.2 S. 2 DCGK,sondern auch an den Empfehlungen in Ziffer 5.4.2 S. 1, 3 und 4 DCGK festgehalten werden.56


<strong>Thesen</strong> zum WirtschaftsrechtInsbesondere der flexible, ganz auf die Verhältnisse der Gesellschaft und die Einschätzung desAufsichtsrats abstellende Ansatz der Ziffer 5.4.2 S. 1 DCGK, der in ähnlicher Form in derKommissionsempfehlung vom 15. Februar 2005 begegnet, ist starren Quoten schon deshalbüberlegen, weil nur über einen flexiblen Ansatz dem Charakter der jeweiligen GesellschaftRechnung getragen werden kann. Zu erwägen ist die Aufnahme einer „de minimis“-Klauselin Ziffer 5.4.2 S. 1 DCGK, der zufolge nicht „signifikante“ Interessenkonflikte die Unabhängigkeitnicht berühren. Dringend geboten ist zudem die Ergänzung der Ziffer 5.4.2 DCGKum eine Empfehlung, wonach der Aufsichtsrat seine Einschätzung zur Unabhängigkeit seinerMitglieder offenlegen soll.(16) Mit der Vorschrift des § 100 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AktG hat der Gesetzgeber den Zielkonfliktzwischen Unabhängigkeit auf der einen und Sachverstand und Erfahrung auf der anderen Seiteeinseitig zugunsten des Unabhängigkeitspostulats aufgelöst. Als sachgerecht erscheint einegesetzliche Regelung, die sich an dem erwähnten Fraktionsentwurf zum VorstAG orientiertund frühere Vorstandsmitglieder für die Dauer von zwei oder drei Jahren zwar vom Prüfungsausschusssowie gegebenenfalls vom Vorsitz des Aufsichtsrats ausschließt, vom Aufsichtsrat alssolchen hingegen allenfalls dann, wenn die Gesellschaft nicht über einen Prüfungsausschussverfügt.(17) Auch unter Berücksichtigung von Fällen, in denen Aufsichtsratsmandate hauptberuflichwahrgenommen werden, erscheint es geboten, die Höchstzahl an Aufsichtsratsmandaten aufsechs herabzusetzen und sowohl den Aufsichtsratsvorsitz als auch den Vorsitz im Prüfungsausschussdoppelt in Anrechnung zu bringen.(17a) Die zunehmend wichtiger werdende Beratungsaufgabe des Aufsichtsrats und die Einbindunginsbesondere des Aufsichtsratsvorsitzenden in strategische Fragen sprechen dafür, dieBestellungshindernisse des § 76 Abs. 3 S. 2, 3 AktG auf den Aufsichtsrat zu erstrecken.(18) Von über § 27 Abs. 3 MitbestG hinausgehenden gesetzlichen Pflichten zur Bildung vonAufsichtsratsausschüssen sollte auch künftig abgesehen werden. Zu empfehlen ist allerdings,dem Satzungsgeber die Befugnis einzuräumen, die Bildung – nicht dagegen: die Zusammensetzung– von Ausschüssen vorzuschreiben.(19) Die regelmäßige Evaluation durch externe Dritte sollte dem Aufsichtsrat nicht gesetzlichvorgeschrieben werden. Auch eine entsprechende Kodexempfehlung ist nicht zu befürworten;auch abgesehen davon, dass sie zumindest für die DAX-Gesellschaften de facto bindendenCharakter hätte, wiegen der bürokratische Aufwand, die Kosten und die Folgeprobleme(Unabhängigkeit, Sachkunde) durchaus schwer, so dass es künftig dem jeweiligen Aufsichtsratüberlassen werden sollte, ob und wie oft er eine Evaluation durchführt und ob er externenSachverstand hinzuzieht.57


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 20123. Aktionäre(20) Namentlich institutionelle Investoren üben ihren Einfluss zwar vielfach auf eher informelleWeise aus. Eine begrüßenswerte Alternative zur Geltendmachung mitgliedschaftlicherStimm- und Auskunftsrechte kann hierin allerdings nicht gesehen werden; für das deutscheAktienrecht muss Forderungen nach Erlass eines „Stewardship Code“ eine klare Absage erteiltwerden.(21) Wenn auch an dem Grundsatz festzuhalten ist, dass ein jeder Aktionär ein Recht aufPassivität hat, so erscheint es doch geboten, Maßnahmen zu ergreifen, um Aktionäre zurAusübung ihrer Rechte, darunter insbesondere des Teilnahme- und Stimmrechts, zu motivieren.Neben einer über die Empfehlung in Ziffer 2.3.3 DCGK hinausgehenden Forcierungdes „proxy-voting“ und der Zuordnung des Aktionärsforums zur homepage des Emittentenbieten sich Anreize in Form eines Dividendenaufschlags oder eines erweiterten Stimmrechtsfür langfristig engagierte Aktionäre an. In Anlehnung an das französische Treuestimmrechtkönnte es den Gesellschaften zunächst gestattet werden, für Aktien, die über einen Zeitraumvon mindestens zwei Jahren gehalten werden, ein doppeltes Stimmrecht oder einen Dividendenvorzugeinzuführen; der Kodex könnte es zudem Vorstand und Aufsichtsrat empfehlen,der Hauptversammlung entsprechende Satzungsänderungen vorzuschlagen.(22) Institutionelle Investoren sollten zur Offenlegung ihrer Abstimmungspolitik und – aufVerlangen des Anlegers – ihres konkreten Abstimmungsverhaltens verpflichtet werden. GuteGründe sprechen für die Verknüpfung des – insbesondere um weitergehende Empfehlungenzur Offenlegung auch des tatsächlichen Abstimmverhaltens zu ergänzenden – CorporateGovernance Kodex für Asset Management-Gesellschaften vom 27. April 2005 mit einemcomply-or-explain-Mechanismus nach Art desjenigen in § 161 AktG.(23) Schadensersatzansprüche gegen amtierende Organwalter werden nach wie vor so gut wienie verfolgt. Die Geltendmachung der Ansprüche durch das hierzu berufene Organ ist ungeachtetder „ARAG/Garmenbeck“-Grundsätze nicht zu erwarten. Auch das in § 148 AktGgeregelte Verfolgungsrecht der Aktionäre hat die mit ihm verbundenen Erwartungen nichteinzulösen vermocht; jedenfalls im Nachhinein betrachtet müssen die fast prohibitiv wirkendenVoraussetzungen und Tücken des Verfolgungsrechts schon deshalb überraschen,weil das AktG in seinen §§ 309 Abs. 4, 310 Abs. 4, 317 Abs. 4 für Konzernlagen seit jeher einKlagerecht eines jeden einzelnen Aktionärs der abhängigen Gesellschaft kennt und auch diesesKlagerecht bislang nur vereinzelt wahrgenommen worden ist.(24) De lege ferenda empfiehlt es sich, auf das Quorum des § 148 Abs. 1 S. 1 AktG ganz zu verzichtenund jedem Aktionär die Verfolgung des Anspruchs zu ermöglichen, und zwar unterVerzicht auf ein Klagezulassungsverfahren. Das Bekanntmachungserfordernis des § 149 AktGsollte um eine Regelung ergänzt werden, die die Wirksamkeit eines Vergleichs an die Zustimmungdes Prozessgerichts bindet. Für das Sonderprüfungsverlangen sollte einstweilen an demQuorum festgehalten werden. Von einer unmittelbaren Beteiligung des Aktionärs am wirtschaftlichenErfolg der Klage ist abzuraten. Geboten erscheint hingegen eine Reduzierung des58


<strong>Thesen</strong> zum WirtschaftsrechtKostenrisikos durch Einführung einer dem § 247 Abs. 2 AktG entsprechenden Möglichkeitder Streitwertspaltung.(25) Auch für börsennotierte Gesellschaften sollte von der Einführung von Verfolgungsrechtender BaFin einstweilen abgesehen werden. Die Einbeziehung der Prüfstelle fürRechnungslegung in ein – wie auch immer geartetes – Vorverfahren erübrigt sich nach demhier unterbreiteten Vorschlag schon deshalb, weil die Aktionäre auch unabhängig von einerKlagezulassung klagebefugt sein sollten. Wollte man indes an einem Klagezulassungsverfahrenfesthalten, so erscheint der Vorschlag, die Vorprüfung in die Hände der Prüfstelle fürRechnungslegung zu legen, durchaus beifallswürdig.(26) Für Stimmrechtsberater sind Offenlegungspflichten zu schaffen. Diese sollten zumindestdie allgemeine Stimmrechtspolitik nebst Analysemethoden und Interessenkonflikte nebstKonfliktvermeidungs- und Konfliktbewältigungsstrategien umfassen. Sofern es nicht zu einerunionsrechtlichen Regelung kommt, sollte der deutsche Gesetzgeber aktiv werden; er könntean die Vorschriften des § 135 Abs. 2, 6 AktG über Stimmrechtsvertreter anknüpfen.<strong>Thesen</strong> zum Referat von Chefsyndikus Dr. Peter Hemeling, MünchenI. Allgemeines; Gesellschaftsrechtliche Grundsätze der Unternehmensführung1. In den letzten Jahren wurden viele gesetzliche und halbstaatliche Regelungen zur Unternehmensführungerlassen. Die damit bewirkte Appellfunktion und Transparenz hat in positiverWeise das Bewusstsein der Normadressaten und anderer beteiligter Interessengruppengeschärft. Diesbezüglich besteht jedoch kein großes Verbesserungspotential mehr.2. Vor diesem Hintergrund sind die anhaltenden staatlichen und halbstaatlichen Eingriffe indie Unternehmensführung kritisch zu hinterfragen.a) Eingriffe in die unternehmerische Freiheit benötigen eine hinreichende gesetzlicheGrundlage, die den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeitentsprechen. Dies gilt auch für die Rahmenbedingungen der Unternehmensleitung,nicht zuletzt im Interesse der Vielfalt und des Wettbewerbs unterschiedlicherFührungskulturen. Einem schleichenden Eindringen staatlichen und halbstaatlichenEinflusses auf die Führung privatwirtschaftlicher Unternehmen ist Einhalt zugebieten.b) Bei der Regelsetzung sind Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit und der Umsetzbarkeitzu berücksichtigen. Bereits die jährliche Überprüfung der Einhaltung voninzwischen mehr als 80 Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodexverursacht in den Unternehmen nicht unerheblichen Aufwand. Es empfiehlt sichdaher, den Deutschen Corporate Governance Kodex inhaltlich zu straffen. Die Wiedergabegesetzlicher Bestimmungen sollte auf das Allernötigste beschränkt werden.59


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012Das Nebeneinander der unterschiedlichen Kategorien von Empfehlungen und Anregungensollte grundsätzlich überdacht werden.3. Es sollte verstärkt auf eine bessere verfahrensmäßige und inhaltliche Qualität der Normsetzunggeachtet werden.a) Die Vielzahl an Rechts- und Standardsetzungen, die Harmonisierung unterschiedlicherRechtskulturen bzw. Rechtsordnungen und eine zunehmend zu beobachtendeInstrumentalisierung der Corporate-Governance-Diskussion für gesellschaftspolitischeZwecke führen zu einer Erosion der Systematik und Konsistenz von Organisations-und Verhaltensregeln. Künftig sollte z. B. wieder deutlicher zwischenunverbindlichen Empfehlungen und zwingendem Recht sowie zwischen allein imUnternehmensinteresse liegenden Regeln der Binnenorganisation und der Pflichtigkeitgegenüber Dritten oder der Allgemeinheit unterschieden werden.b) Die unterschiedlichen Quellen und Verfahren der Rechtssetzung bedürfen selbst einerkritischen Überprüfung. Dies schließt die Zuständigkeitsgrenzen der europäischenInstanzen in Fragen der Corporate Governance ebenso ein wie die Legitimationsfragefür normbegründende Standards durch Sachverständigengremien. Im Aufsichtsrechtverstärkt die Verlagerung der Rechtssetzung auf die Exekutive den Trend zur Überregulierung.Damit einhergehend lässt die Normqualität nach; zunehmend erschwerengewährleistungsähnliche und abstrakte Anforderungen ohne hinreichendeBestimmtheit und begriffliche Klarheit die Rechtsanwendung und -erfüllung.4. In der weiteren Meinungsbildung sollten weniger Äußerlichkeiten und Formalitäten,sondern ausgewählte inhaltliche Fragestellungen der Unternehmensführung im Vordergrundstehen.So wurde in der bisherigen Diskussion das konkrete Zusammenwirken von Vorstand undAufsichtsrat zurückhaltend behandelt, obgleich eine ausreichende Interaktion für das Funktionierender zweistufigen Führungsstruktur entscheidend ist. Der Regierungskommission<strong>Deutscher</strong> Corporate Governance Kodex ist daher eine stärkere Durchdringung und Reflexionder hiermit im Zusammenhang stehenden Fragen zu empfehlen, wie etwa zur Pflichtenverteilungfür eine auf Relevanz fokussierte Berichterstattung, einer „Gebrauchsanweisung“für die Zustimmungs- und Prüfungsrechte des Aufsichtsrats sowie zur Rolle des Aufsichtsratsvorsitzenden.5. Wichtiger als neue Regeln oder Standards erscheint die Realisierung von Verantwortlichkeitund die Rechtsdurchsetzung.Zur Beseitigung der allseits wahrgenommenen Unzulänglichkeiten sollte das bestehendeSystem der Organhaftung grundsätzlich mit der Zielsetzung überprüft werden, das Missverhältniszwischen materiellem Haftungsmaßstab und der verfahrensmäßigen Durchsetzungzu beseitigen. Der Haftungsumfang des § 93 Abs. 3 AktG mit einer unbeschränkten Haftungauch für leichte Fahrlässigkeit bei weitgehender Beweislastumkehr wird der Lebenswirklichkeitund einer angemessenen Risikoverteilung zwischen dem einzelnen Organmitglied unddem Unternehmen nicht gerecht. Insoweit ist die Verdoppelung der Verjährungsfrist von60


<strong>Thesen</strong> zum Wirtschaftsrechtfünf Jahre auf zehn Jahre ein Schritt in die falsche Richtung. Notwendig erscheint vielmehrein Korrektiv in Hinblick auf die besondere Schadensgeneigtheit der Organtätigkeit, d. h. derWahrscheinlichkeit eines hohen Schadenseintritts auch bei leichten Fehlern. Zugleich solltenach einer auch verfassungsrechtlich wünschenswerten klareren Abgrenzung der zivilrechtlichenVerantwortung von der deliktischen Untreue gesucht werden.Für Verbesserungen bei der Prüfung und Durchsetzung von Ersatzansprüchen bieten die vomBGH in der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung aufgestellten Grundsätze eine gute Grundlage.Mit einer Inkorporation in das Aktiengesetz nach dem erfolgreichen Beispiel der BusinessJudgement Rule könnte diesen Grundsätzen stärkere Geltung verschafft werden. Dabei solltejedoch – abgestimmt auf den Haftungsrahmen für leichte oder grobe Fahrlässigkeit – einErmessensspielraum des Aufsichtsrats bei der Geltendmachung von Ersatzansprüchen klarerdefiniert werden, als dies der BGH getan hat.Eine Abschaffung des Minderheitsquorums für das Klagezulassungsverfahren nach § 148AktG sollte mit Rücksicht auf das Missbrauchspotential nicht erfolgen. In Hinblick auf dieKontrolle der Vorstandstätigkeit besteht für Erleichterungen der Aktionärsklage auch keinAnlass, sofern die entsprechende Verantwortung des Aufsichtsrats im Sinne des Vorstehendenzufriedenstellend geregelt ist. Ein Prüfungsbedarf könnte nach der Arithmetik des Zuständigkeitsgefügeseher in Hinblick auf die Kontrolle der Aufsichtsratstätigkeit gesehen werden.Wird eine Anpassung des § 148 AktG für notwendig erachtet, könnte mit großer Vorsicht dieBegrenzung der Klagezulassung auf Fälle der „Unerträglichkeit einer Nichtverfolgung“ überdachtwerden.II. Einfluss des Aufsichtsrechts auf die aktienrechtlichen Regeln zur Unternehmensführung1. Bei der viel diskutierten Ausstrahlungswirkung des Aufsichtsrechts auf die CorporateGovernance des Aktienrechts muss unterschieden werden, ob es eine Grundlage für eine rechtlicheBindungswirkung dieser Ausstrahlung gibt oder ob das Aufsichtsrecht lediglich eineErkenntnisquelle für die Weiterentwicklung eines Best Practise Standards sein kann. Hierzuist auf den jeweiligen Schutzzweck der Regelwerke abzustellen. Die deutlich konkreterenVerhaltensanforderungen des Wirtschaftsaufsichtsrechts an die Unternehmensführung habeneinen gewerbepolizeilichen Ursprung und dienen der speziellen Zielsetzung des Funktionsschutzesder Märkte sowie des Kundenschutzes. In Ermangelung der Vergleichbarkeit scheideteine Ableitung mit rechtlicher Bindungswirkung daher aus.2. Ungeachtet der Unterschiede im Hinblick auf den Schutzzweck und die Regelungstiefekann das Aufsichtsrecht mit Rücksicht auf den Gleichlauf bestandssichernder Grundsätze alsErkenntnisquelle für bestimmte Fragestellungen der Unternehmensführung dienen.a) Dies gilt insbesondere für die Fragen der Geschäftsorganisation, die im Aktiengesetznur rudimentär angesprochen sind. So wächst aufgrund der steigenden Unsicherheitüber das Bestehen von Organisationspflichten im Bereich des Risikomanagementsund der Compliance und aufgrund der diesbezüglichen Inkonsistenzen in den Regelwerken(z. B. zwischen § 91 Abs. 2 AktG und § 107 Abs. 3 S. 2 AktG) der Bedarf einer61


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012Überarbeitung des § 91 AktG. Dabei können Teile der entsprechenden aufsichtsrechtlichenBestimmungen der §§ 64 VAG, 25 KWG durchaus als Vorbild dienen.b) Im Hinblick auf die Qualifikation der Geschäftsleitung gibt es ebenfalls gleichlaufendeInteressen im Aufsichtsrecht und im Aktienrecht. Die aufsichtsrechtlichenKategorien der Eignung und Zuverlässigkeit sind generell vom Aufsichtsrat bei derBestellung von Vorstandsmitgliedern zu berücksichtigen. Die entsprechenden Kriteriender Eignung und Zuverlässigkeit können daher bei der Beurteilung der Qualifikationherangezogen werden. Andererseits werden mit der Fortschreibung der „Fitand Proper“-Anforderungen im Aufsichtsrecht die Unterschiede zwischen reguliertenund nicht regulierten Bereichen immer deutlicher. So lassen sich eine Ausdehnung der„Fit and Proper“-Anforderungen auf Schlüsselfunktionen der 2. Ebene und die demNachweis gegenüber der Aufsicht dienenden Verfahrens- und Dokumentationsvorgabennicht verallgemeinern.c) Das Verständnis von “Unabhängigkeit“ im Aufsichtsrecht und in der allgemeinengesellschaftsrechtlichen Governance ist nicht einheitlich. Während im reguliertenBereich die Auslegung durch den staatlichen Aufsichtszweck mit einer teilweise vomUnternehmensinteresse gelösten Ausrichtung geprägt wird, hat sich das Verständnisvon Unabhängigkeit in der nicht regulierten Aktiengesellschaft ausschließlich amUnternehmensinteresse auszurichten. Die Diskussion sollte sich daher wieder stärkervon den aktienrechtlichen Grundsätzen, etwa zu den persönlichen Voraussetzungender Aufsichtsratsmitglieder und den Entscheidungskompetenzen der Hauptversammlungleiten lassen.d) Aufsichtsgesetze verpflichten den Vorstand des herrschenden Unternehmens zu nehmendund vorbehaltlos zur konzernweiten Umsetzung bestimmter Geschäftsorganisationsstandards,unbeschadet der Tatsache, dass der Vorstand gesellschaftsrechtlichkeine entsprechenden Durchgriffsbefugnisse bei in- und ausländischen Tochtergesellschaftenhat. Zusätzlich wird durch die Diskussion zur Unabhängigkeit derAufsichtsrats- bzw. Verwaltungsratsmitglieder die Konzernsteuerung erschwert.Diese Widersprüche sind mit der Einheit der Rechtsordnung nicht zu vereinbarenund daher aufzulösen, etwa durch Schaffung korrespondierender KonzernleitungsundInformationsrechte im Gesellschaftsrecht entsprechend der handelsrechtlichenPflichtigkeit bei der Mitwirkung des Konzernabschlusses (§ 294 Abs. 3 HGB).3. Das Verhältnis von Aufsichtsrecht und Aktienrecht ist keine Einbahnstraße. Vielmehr hatdas Aktienrecht auch eine Abschirmfunktion gegenüber nicht ausschließlich dem Unternehmensinteressedienende externe Einflüsse. Die eigenverantwortliche Unternehmensleitungdurch den Vorstand, die weitgehende Organisationsautonomie des Aufsichtsrats im Hinblickauf seine innere Ordnung und Arbeitsweise und die Entscheidungsrechte der Anteilseignersind Eckpfeiler der Aktiengesellschaft, die vor einer Aufweichung durch halbstaatliche Regelnoder Kodizes zu schützen sind.62


<strong>Thesen</strong> zum Wirtschaftsrecht<strong>Thesen</strong> zum Referat von Jun.-Prof. Dr. Patrick C. Leyens, LL.M., HamburgKonzeptionelle Grundlagen1. Eingriffe in die Unternehmensführung müssen mögliche Wechselwirkungen für dieCorporate Governance als Ganzes berücksichtigen und sollten neben der verbandsrechtlichenWirkungsebene auch den Markt für Unternehmenskontrolle nutzbar machen.2. Insbesondere: Vor Einführung eines Treuestimmrechts sollten Beeinträchti gungen derDisziplinierungskraft des Markts für Unternehmenskontrolle besser erforscht werden.3. Ausgangspunkt der Regelsetzungsdebatte sollte die Überlegung sein, dass deutsche Ak -tien gesellschaften bei der Kapitalwerbung heute denselben Zwängen der Best Practice ausgesetztsind wie ihre Konkurrenten im Ausland.4. Auf Internationalisierung und Anpassungsdruck ist nicht zwingend mit mehr staatlichenEingriffen zu reagieren. Vielmehr sollten Unter nehmen ihre Positionierung im Wettbewerbum die beste Corporate Governance selbst bestimmen können.<strong>Deutscher</strong> Corporate Governance Kodex5. Der Deutsche Corporate Governance Kodex ist keine zweite Gesetzgebungs ebene, sonderndient der Aufnahme und Fortentwicklung von Best Practice.6. Die Entsprechenserklärung (§ 161 AktG) schafft einen sinnvollen Kanal geordne ter Information,durch den die Corporate Governance zum Wettbewerbsfaktor wird.7. Der Regelungsansatz des Befolge oder Begründe (Comply or Explain) verlangt die Auseinandersetzungmit den Kodexregeln, ohne deren Befolgung einzufordern. Hierin liegt eineangemessene Verhaltenssteuerung, die sich positiv auf die Pro fessio nali sie rung der Unternehmensführung auswirkt.Ausgestaltung von Entsprechenserklärung und Durchsetzung8. Zukunftsbezug und Aktualisierungspflicht schöpfen den Signalwert der Ent spre chenserklärunggegenüber dem Anlegerpublikum aus und sollten im Zeichen des professionellenZusammenwirkens von Vorstand und Aufsichtsrat beibehalten werden.9. Eine einheitlich gefasste Erklärungspflicht ist angezeigt, weil sich dadurch die Vergleichbarkeitder Informationen und infolgedessen auch der Signalwert gegenüber dem Kapitalmarkterhöht.10. Als Sanktion für unrichtige Erklärungen eignet sich die Beschluss an fechtung, wenn dasErfordernis des wesentlichen Informations man gels (§ 243 Abs. 4 Satz 1 AktG) ernst genommenwird.11. Die Vorschrift des § 243 Abs. 4 AktG sollte dahingehend ergänzt werden, dass die Anfechtungvon Beschlüssen zur Aufsichtsratswahl oder zur Abschluss prüfer bestellung nicht aufFehler der Entsprechenserklärung gestützt werden kann.63


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012Fortentwicklung in Deutschland und Europäischer Union12. Auf Ebene der Europäischen Union ist es sinnvoll, den Weg fortzusetzen, der mit der Empfehlungder Europäischen Kommission von 2005 zu den Aufgaben von Aufsichtsratsmitgliedernbeschritten ist.13. Die international übliche Besetzung mit mehrheitlich unabhängigen Mitgliedern ist (beisonst unverändert beibehaltener Arbeitnehmer beteili gung) zumindest auf Ausschussebenemöglich und sollte für Nominie rungs-, Vergütungs- und Prü fungs ausschuss des Aufsichtsratsempfohlen werden.14. Die Präambel des DCGK weist nunmehr zu recht auf die Möglichkeit der „Ab wei chungvon Kodexempfehlungen im Interesse einer guten Unternehmens füh rung“ hin.15. Aktiengesellschaften sollte die Wahl der monistischen Verfassung eröffnet werden.<strong>Thesen</strong> zum Referat von Rechtsanwältin Daniela Weber-Rey, LL.M.,Frankfurt/MainEinführung1. Die Qualifikation der Mitglieder des Aufsichtsrats ist nicht an einen allgemein gültigenKriterienkatalog zu knüpfen. Diesbezügliche Anforderungen hängen von den Bedürfnissendes einzelnen Unternehmens ab und müssen in jedem konkreten Fall unter Berücksichtigungder Interessen des jeweiligen Unternehmens einerseits und der allgemein gültigen gesellschaftsrechtlichenVorgaben der Sicherstellung des Machtgleichgewichts zwischen Vorstand undAuf sichtsrat andererseits definiert werden.Materielle <strong>Thesen</strong>2. Der Aufsichtsrat als Ganzes hat sicherzustellen, dass er als Gremium in der Lage ist, an -stehende Themen offen und kritisch zu diskutieren (Diskussionskultur). Der Diversität imAufsichtsrat kommt dabei eine besondere Rolle zu. Jedes Mitglied sollte sich an der Diskussionbeteiligen und von dem Aufsichtsratsvorsitzenden hierzu aufgefordert werden.3. Es sollte für eine Empfehlung erwogen werden, dass der Nominierungsausschuss oder,wenn kein Nominierungsausschuss vorhanden ist, der Aufsichtsratsvorsitzende, die Zuverlässigkeitder gegenwärtigen und künftigen Aufsichtsratsmitglieder überprüft. Eine solchePrüfung soll dokumentiert werden und bei der jährlichen Evaluierung des Aufsichtsrats explizitbestätigt werden.4. Aufsichtsratsmitglieder müssen ausreichende Kenntnisse auch in der Branche des Unternehmensund dessen Umfeld besitzen oder erwerben. Wenn Personen zur Wahl stehen, dieüber eine solche Kenntnis nicht verfügen, kann der Nominierungsausschuss bzw. der AufsichtsratsvorsitzendeMaßnahmen zur Aus- und Fortbildung festlegen, die die erforderlichen64


<strong>Thesen</strong> zum WirtschaftsrechtKenntnisse verschaffen. Die (künftigen) Aufsichtsratsmitglieder sind verpflichtet, diesen Maßnahmennachzukommen. Das Unternehmen hat sie dabei in vertretbarem Umfang finanziellzu unterstützen. Eine Zertifizierung sollte nicht verlangt werden. Sie kann den Bedürfnissendes Einzelfalls nicht gerecht werden und verkennt, dass es nicht nur auf technische Kompetenzenankommt.5. Aufsichtsratsmitglieder müssen in der Lage sein, ausreichend Zeit in die Wahrnehmungihrer Funktion zu investieren. Eine Begrenzung der Anzahl der parallelen Verpflichtungensollte nicht über das vorhandene Maß hinaus gesetzlich geregelt werden. Es sollte erwogenwerden, Ziff. 5.4.5 Abs. 1 DCGK um die Empfehlung zu ergänzen, dass von den Kandidatenzusätzlich eine Bestätigung der erforderlichen zeitlichen Verfügbarkeit explizit eingefordertwerden soll.6. Eine angemessene Berücksichtigung der Unabhängigkeit der Aufsichtsratsmitglieder istwichtig. Fachliche Kompetenz ist allerdings unverzichtbar. Den Risiken aus fehlender Un abhängigkeitkann entgegen gewirkt werden. Die heute geltende generelle Karenzzeit für ehemaligeVorstandsmitglieder nach § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AktG ist im Interesse der Sicherstellungder Kompetenz abzulehnen.7. Eine gesetzliche Karenzzeit für den Wechsel von Vorstandsmitgliedern in den Aufsichtsratist auf den Vorsitz des Aufsichtsrats und den Vorsitz des Prüfungsausschusses sowie auf denWechsel des Vorstandsvorsitzenden in den Aufsichtsrat zu begrenzen. Die Hauptversammlungkann im Einzelfall mit 25 % der Stimmen der an der Abstimmung teilnehmenden Aktionäreauf die Einhaltung der Karenzzeit verzichten.8. Es sollte eine Empfehlung erwogen werden, nach der ein Vorschlag des Aufsichtsrats zurWiederwahl eines Aufsichtsratsmitglieds ab der dritten Wiederwahl einer gesonderten Be -grün dung der besonderen Eignung und Unabhängigkeit des Aufsichtsratsmitglieds bedarf.9. Bei der Zusammensetzung des Aufsichtsrats ist das Kriterium der Diversität (beruflicherHintergrund, Internationalität, Geschlechterverhältnis, Altersstruktur etc.) im Interesse desUnternehmens zu berücksichtigen. Quotenregelungen berücksichtigen nicht das individuelleUnternehmensinteresse und sind daher für alle Facetten der Diversität abzulehnen. Der Erhaltder Handlungsfähigkeit des Aufsichtsrats und die Vermeidung zu großer Aufsichtsräte sind indie Überlegungen mit einzubeziehen.10. Der Aufsichtsratsvorsitzende ist primus inter pares und soll nicht mehr sein. Dem Aufsichtsratsvorsitzendenkommt eine Sonderfunktion im prozeduralen Bereich zu. Ihm sollteaber im Übrigen in der Regel keine Sonderrolle – gekennzeichnet durch gesonderte materielleZuständigkeiten – zustehen.11. Es besteht ein Bedarf an verstärktem Austausch zwischen Aktionären und Aufsichtsrat.Vor dem Hintergrund des größeren Pflichtenkatalogs institutioneller Investoren ist dem Rechnungzu tragen. Verpflichtende Vorgaben zur Etablierung eines Senior Independent Directorssind abzulehnen. Eine solche Position ist im dualistischen System nicht erforderlich und würdedas Gefüge der checks und balances stören.12. Der für Versorgungszusagen während des Geschäftsjahres aufgewandte oder zurückge-65


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012stellte Betrag ist Bestandteil der Gesamtbezüge. Er ist zusätzlich separat unter Nennung desdarin enthaltenen Zinseffektes offenzulegen. Darüber hinaus ist der Barwert der Versorgungszusageals selbständige Angabe offenzulegen.Prozedurale <strong>Thesen</strong>13. Eine Pflicht zur Erstellung von konkreten Zielprofilen für die einzelnen Mitglieder durchden Aufsichtsrat und die fortlaufende Überwachung der Zusammensetzung des Aufsichtsratsdurch eine Aufsichtsbehörde sind weder praktikabel noch sinnvoll und daher abzulehnen.14. Es sollte eine Empfehlung erwogen werden, in den Wahlvorschlägen zu erläutern, wiedurch den vorgeschlagenen Kandidaten die Erreichung der selbst benannten Ziele zur Zusammensetzunggefördert werden soll und aufgrund welcher Merkmale der Kandidat geeigneterscheint, die Zusammensetzung des Aufsichtsrats sinnvoll zu ergänzen.15. Neben einer jährlichen Selbstevaluierung des Aufsichtsrats soll die Aufsichtsratstätigkeitim Drei-Jahres-Turnus auch einer externen Evaluierung unterzogen werden. Dabei soll sichdie Evaluierung auf die Zusammensetzung des Plenums, die gelebte Diskussionskultur unddie Organisations- und Informationsabläufe innerhalb des Aufsichtsrats beschränken. DieVertraulichkeit der Evaluierungsergebnisse soll gewährleistet werden.16. Eine Ausweitung der behördlichen Aufsicht über die Zuverlässigkeit und Eignung von(potentiellen) Aufsichtsratsmitgliedern auch außerhalb des Finanzsektors ist abzulehnen.Eine Ausübung präventiver Kontrolle durch die Aktionäre ist bei ausreichender Transparenzmöglich.17. Die Pflichtangaben nach § 124 Abs. 3 Satz 4 AktG sind zur Herstellung der erforderlichenTransparenz für die Aktionäre zu erweitern. Der Wahlvorschlag hat folgende Angaben zuenthalten:a) bisheriger Werdegang des Kandidaten (Kurzlebenslauf)b) Einschätzung der Eignung des Kandidatenc) Auswahlverfahren18. Das Aufsichtsratsmitglied, das als unabhängiger Finanzexperte agiert, sollte im Rahmender Erklärung zur Unternehmensführung nach § 289a Abs. 2 Nr. 3 HGB benannt werden undUnabhängigkeit und Qualifikation des Aufsichtsratsmitglieds erläutert werden.19. Die Anfechtbarkeit der Entlastungsbeschlüsse durch die Aktionäre bei unrichtigen Entsprechenserklärungenermöglicht eine wirksame Kontrolle der Richtigkeit der Angaben in derEntsprechenserklärung. Eine aufsichtsrechtliche Kontrolle oder eine weitergehende Sanktionierungunrichtiger Entsprechenserklärungen ist nicht geboten.20. Die Möglichkeit der Abweichung von Empfehlungen wird im Gesetz (§ 161 AktG) undim Kodex (Präambel) hinreichend deutlich. Weitere Hinweise im Gesetz oder im Kodex aufdie Abweichmöglichkeit oder die Unverbindlichkeit von Kodex-Empfehlungen sind daherentbehrlich.66


<strong>Thesen</strong> zum IT- und KommunikationsrechtIT- und KommunikationsrechtPersönlichkeits- und Datenschutz im Internet – Anforderungen und Grenzen einerRegulierung<strong>Thesen</strong> zum Gutachten von Prof. Dr. Gerald Spindler, Göttingen1. Grundsätzlich ist auch für das Persönlichkeitsrecht und das Da tenschutzrecht von derPrivat autonomie der Individuen aus zugehen. Im Prinzip ist daher nach wie vor die Möglichkeiteinzuräumen, unentgeltliche Dienste für die – kontrollierte – Preisgabe von eigenen Informationenzu nutzen. Die Einwilligung bleibt daher ein zentrales Instrument.2. Selbstregulierungen sind zu begrüßen und zu fördern, können aber angesichts der berührtenGrundrechte nicht gesetzliche Vorgaben ersetzen, sondern sie nur flankieren.3. Für das Internet als neues Medium, das zwischen Individual- und Massenkommunikationsteht, ist ein „Internet-Grundrecht“ im Sinne eines der Presse und dem Rundfunk ähnlichesInstitutsgrundrechts anzuerkennen. Datenschutz und Meinungsfreiheit sind in Balance zubringen.4. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Zivilrecht ist aufgrund seines offenen Tatbestandesflexibel genug, um auch den neuen Phänomenen der Internetkommunikation Rechnungzu tragen.5. Die Einwilligung sollte grundsätzlich rechtsgeschäftlichen Anforderungen unterworfenund nur bei entsprechend klar verständlichen und transparenten Informationen angenommenwerden – mit entsprechenden Folgen im Minderjährigenschutz.6. Die zeitliche Gültigkeit einer Einwilligung sollte periodisch erneuert werden, in allerRegel alle zwei bis vier Jahre.7. Das Recht am eigenen Bild sollte in § 23 KUG um eine Interessenabwägungsklauselergänzt werden, die die sozialadäquate Veröffentlichung von Bildern erlaubt.8. Gegendarstellungsansprüche sollten auf meinungsbildende Telemedien bzw. Angebotebeschränkt bleiben, wobei bei entsprechender meinungsbildender Kraft auch Blogs etc. einzubeziehensind.9. Grundsätzlich ist ein Auskunftsanspruch des Betroffenen gegenüber Providern analog zu§ 101 UrhG zu verankern.10. Einer Neuregelung der Verantwortlichkeit nach Art. 12 ff. ECRL bedarf es nicht. Grundsätzlichsollten auch im Rahmen der Störerhaftung (neutrale) Diensteanbieter nur subsidiärhaften, wenn Urheber rechtswidriger Äußerungen oder Aktivitäten nicht feststellbar sind.11. Grenzüberschreitende onlinespezifische Schiedsverfahren über die Mediation hinaus sindzu entwickeln.12. Das derzeitige Datenschutzrecht ist für moderne Kommunikationsanwendungen, insbe-67


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012sondere das Internet, nur noch bedingt tauglich, da es primär die Welt der Großrechner etc. vorAugen hat. Eine Anpassung ist dringend erforderlich.13. Angesichts der Globalität des Internets ist mindestens auf europäische Regelungen zudringen; nationale Alleingänge bergen das Risiko der Insellösungen und nachteiliger Wirkungenfür heimische Anbieter.14. Hinsichtlich der internationalen Anwendbarkeit des europäischen (wie deutschen) Datenschutzrechtssollte für Drittstaatenanbieter deutlich das Marktortprinzip verankert werden.15. Bei der Frage, ob personenbezogene Daten vorliegen, ist gesetzgeberisch klarzustellen, dassder erforderliche Aufwand für eine verarbeitende Stelle maßgeblich ist, der nötig ist, um denPersonenbezug herzustellen.16. Um spätere Rekombinationen und die Herstellung von Personenbezügen zu erfassen,müssen verarbeitende Stellen verpflichtet werden (im Rahmen ihrer datensichernden und-schützenden Organisation), regelmäßige Prüfungen darauf hin durchzuführen.17. Das bisherige Konzept des Verbots mit Erlaubnisvorbehalt sollte beibehalten werden, allerdingsmit einem wesentlich erweiterten Erlaubnistatbestand für Internetveröffentlichungenund -kom munikationsbeziehungen.18. Die Einwilligung sollte als Erlaubnistatbestand beibehalten werden, aber stärker als bisherrechtsgeschäftlichen Regelungen unterworfen werden.19. Die Einwilligung bedarf einer zeitlichen Beschränkung.20. Ein absolutes Koppelungsverbot von angebotenen Diensten und Einwilligung in dieVerwendung von personenbezogenen Daten für sämtliche Dienste ohne Rücksicht auf derenMarktmacht ist abzulehnen.21. Für Dienste, bei denen eine vorherige Einwilligung nicht erreicht werden kann, etwa beiGeodaten-Diensten, muss an die Stelle der Einwilligung eine leicht zugängliche Widerspruchsmöglichkeittreten.22. Die elektronische Einwilligung, wie in § 13 Abs. 2 TMG geregelt, sollte verallgemeinertwerden.23. Das Medienprivileg des § 41 BDSG ist auf Internetportale und -dienste mit meinungsbildenderWirkung zu erweitern.24. Die Ausnahmen für familiäre und private Inhalte sollten auf Internetsachverhalte angepasstwerden, indem der enge Begriff der Nichtöffentlichkeit auf virtuelle Kreise, die nichtallen zugänglich sind, erstreckt wird.25. Für Kommunikationsinhalte sollte im Rahmen der gesetzlichen Erlaubnistatbeständestatt der auf Datenübermittlung abstellenden Tatbestände eine auf Internetveröffentlichungen(Telemedien) als neue Verarbeitungsform bezogene Generalklausel eingeführt werden, dieRaum für eine Interessenabwägung unter gewichtiger Einbeziehung der Meinungs- und Kommunikationsfreiheitlässt.26. Profilbildungen sollten nur innerhalb eines Dienstes und nur bei Pseudonymisierung –wie in § 15 Abs. 3 TMG vorgesehen – zugelassen werden, eine Weitergabe an Dritte nur aufgrundausdrücklicher, freiwilliger Einwilligung möglich sein. Profilbildungen über Dienste68


<strong>Thesen</strong> zum IT- und Kommunikationsrechtaußerhalb einer Plattform („third-party“) sollten nur für gruppenbezogene Profile zugelassenwerden.27. Eine Veröffentlichung von Profilen sollte grundsätzlich nur mit einer ausdrücklichen,freiwillig erteilten Einwilligung möglich sein. Ausgenommen von der Veröffentlichung vonProfilen sind besonders sensible Daten im Sinne von § 3 Abs. 9 BDSG.28. Abgesehen von den Anforderungen an eine wirksame Einwilligung sollte ein Verbot desöffentlichen Zugänglichmachens sowie der Indexierung durch Suchmaschinen von Informationen,die Jugendliche zur Verfügung stellen, eingeführt und die Betreiber von relevantenDiensten verpflichtet werden, das Alter der Nutzer zu verifizieren und Vorkehrungen zu derenSchutz zu treffen. Derartige Pflichten können jedoch dem Vorbild des Jugendmedienschutzesund den Kategorisierungsmöglichkeiten auf Dienste beschränkt werden, die für Jugendlichebesonders relevant sind.29. Für die datenschutzrechtliche Verantwortlichkeit sollte auf die tatsächliche und/oderrechtliche Beherrschbarkeit der Datenverarbeitungsprozesse abgestellt werden, auch für komplexeNetzwerke (Cloud Computing).30. Auch bei sozialen Netzwerken kann eine verteilte Verantwortlichkeit angenommenwerden zwischen Betreibern von öffentlichen Inhalten (Fanpages z. B.) und den Betreiberndes Netzwerks selbst. Einer eigenständigen Regelung bedarf es nicht.31. Die Regelungen über die Auftragsdatenverarbeitung sollten im Hinblick auf die EU-Standardvertragsklauseln im Rahmen von § 3 Abs. 8 BDSG ergänzt werden, indem auch dieEinhaltung dieser Standardverträge den Anforderungen des deutschen Rechts genügt.32. Das Recht auf Pseudonymität des § 13 Abs. 6 TMG sollte verallgemeinert und als nichtabdingbar ausgestaltet werden.33. Dagegen ist ein Recht auf Anonymität im Hinblick auf die Rechte Dritter nicht anzuerkennen;§ 13 Abs. 6 TMG ist im Hinblick auf die Anonymität einzuschränken.34. Das Recht auf Widerruf der Einwilligung und der Anspruch auf Löschung sämtlicherDaten bei einem Anbieter sollte in einer europäischen Lösung verankert werden. Die Informationspflichtendes Betreibers sollten um einen Hinweis auf das Recht zur Löschung ergänztwerden, ebenso sollte ein Recht implementiert werden, die Löschung ohne Medienbruch verlangenzu können („Lösch“-Button).35. Im Rahmen der Entwicklung, Herstellung und Auswahl von Hard- und Software sind vergleichbardem Produktsicherheitsrecht, Verfahren zu implementieren, die eine Zertifizierungvon Produkten ermöglichen. Zertifizierte Betreiber sollten in den Genuss einer (im Einzelfallaber widerlegbaren) Vermutung kommen, dass sie datenschutzrechtliche Vorgaben einhalten.Alternative Konzepte müssen vom Betreiber dargelegt und bewiesen werden. „Privacy EnhancingTechnologies“ sind auf der Ebene von technischen Standards im Verfahren der reguliertenSelbstregulierung zu entwickeln.36. Ähnlich dem Produkthaftungs- und -sicherheitsrecht sind Entwickler und Dienstebetreiberzur kontinuierlichen Beobachtung der Produkte im Hinblick auf Datensicherheit und-schutz zu verpflichten.69


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 201237. Für automatisierte Datensammeldienste (Suchmaschinen, Cookies etc.) müssen Widerspruchsregistereingeführt werden.38. Über § 9 BDSG hinaus sind Pflichten für ein Datenschutzmanagementsystem einzuführen,die auch im Rahmen von Auditierungen geprüft und zertifiziert werden können.39. Für zivilrechtliche Ansprüche ist ein Verbandsklagerecht einzuführen, das auch Gewinnabschöpfungsansprüchedurchsetzen kann.40. Eine pauschalierte Haftung für immaterielle Schäden ist abzulehnen; vielmehr sollte esder Rechtsprechung überlassen bleiben, geeignete Fallgruppen unter Einbeziehung von Präventiveffektenund Leitlinien für die Schmerzensgeldbemessung zu entwickeln.<strong>Thesen</strong> zum Referat von BlnBDI Dr. Alexander Dix, LL.M., Berlin1. Datenverarbeitung im Internet findet zwar grenzüberschreitend, aber nicht „ortlos“oder nur virtuell statt. Sie wird von Unternehmen, öffentlichen Stellen und Personen unterNutzung von Servern in der realen Welt durchgeführt. Datenverarbeitung im Internet kanndeshalb reguliert werden. Die Durchsetzung entsprechender Regeln ist grenzüberschreitendsicherzustellen.2. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Grundrecht auf Datenschutz) schütztdie Handlungs-, Wahl- und Verhaltensfreiheit des Einzelnen auch im Internet. Es beschränktsich nicht auf den Schutz der Privat- oder Intimsphäre oder auf sensitive Daten.3. Die informationelle Selbstbestimmung als wesentliche Funktionsbedingung für freiheitlicheKommunikation ist Voraussetzung für die Wahrnehmung anderer Grundrechte unddeshalb selbst konstitutive Voraussetzung für eine demokratische Gesellschaft. Das gilt nichtnur im Verhältnis zu staatlicher Gewalt, sondern auch zu privater Informationsmacht, wie siesich gerade im Internet zunehmend konzentriert.4. Die Grundrechte der Internet-Nutzer auf informationelle Selbstbestimmung und aufIntegrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme sind zuvörderst durch dasDatenschutzrecht zu konkretisieren. Verbraucherschutz-, AGB-, allgemeines Zivilrecht, Wettbewerbs-und Kartellrecht sollten den Schutz der Nutzer vor Beeinträchtigungen der informationellenAutonomie ergänzen. Allein durch zivilrechtliche Regelungen oder durch Rückgriffauf das AGB-Recht kann informationelle Selbstbestimmung nicht sichergestellt werden. DasDatenschutzrecht als Technikgestaltungsrecht hat eine wichtige, präventive Funktion, dieüber das Zivilrecht hinausgeht. Zudem wachen unabhängige Datenschutzbeauftragte überseine Einhaltung, die von Verfassungs wegen die Aufgabe des vorbeugenden Grundrechtsschutzeshaben.5. Angesichts einer zunehmenden Oligopolisierung im Internet kann die Sicherung desinformationellen Selbstbestimmungsrechts der Nutzer weder allein der Privatautonomie70


<strong>Thesen</strong> zum IT- und Kommunikationsrechtnoch der Selbstregulierung durch die „unsichtbare Hand“ des Marktes noch der Netiquetteder Internet-Community überlassen werden. Das grundsätzliche Verbot mit Erlaubnisvorbehaltist deshalb beizubehalten. Der Staat und die Europäische Union haben gegenüber denInternet-Nutzern eine Schutzpflicht, in einem zeitgemäßen Datenschutzgesetz praktischeKonkordanz zwischen den betroffenen Grundrechten herzustellen und für eine Infrastrukturzu sorgen, in der Nutzer die Chance haben, den Umgang mit ihren Daten zu kontrollieren.6. Der Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Datenschutz-Grundverordnungenthält eine gute, wenngleich noch verbesserungsbedürftige Grundlage für einen Grundrechtsausgleichauf europäischer Ebene. Zu unterstützen sind insbesondere die Vorschläge zubesserem Selbstdatenschutz (z. B. Recht auf Vergessenwerden und Datenportabilität), Systemdatenschutzund Datenschutz durch Voreinstellung (privacy by default) sowie zum anwendbarenRecht (Marktortpinzip).7. Jede Kommunikation im Internet setzt nach dem gegenwärtigen Stand der Technik einepersonenbezogene Adressierung voraus und hinterlässt auf der Ebene der Nutzungsdatenpersonenbezogene Spuren. Unverkürzte IP-Adressen sind entweder selbst personenbeziehbaroder werden mit solchen Daten gemeinsam verarbeitet und unterliegen deshalb dem Datenschutzrecht.Da der Personalisierungsgrad der Informationstechnik ständig zunimmt, sindkünftig auch reine Maschinen- oder Chipadressen in den Schutzbereich des Datenschutzrechtseinzubeziehen.8. Der Grundansatz des Informations- und Kommunikationsdienstegesetzes von 1997(Teledienstedatenschutzgesetz, heute Telemediengesetz), wonach die Nutzung des Internetsprinzipiell unbeobachtet (anonym oder unter Pseudonym) ermöglicht werden muss, ist nachwie vor richtig. Allerdings sollte er insofern modifiziert werden, als ein Recht auf anonymeNutzung nur derjenige Nutzer hat, der das Internet passiv als Informationsquelle nutzt. Fürihn sollte ein explizites Mediennutzungsgeheimnis geschaffen werden. Wer dagegen aktivInformationen im Netz veröffentlicht, sollte dies in pseudonymer Form (oder unter Klarnamen)tun müssen. Nur so können Datenschutz- und andere Rechtsverstöße verfolgt werden.Ein generelle Pflicht der Zugangs- oder Diensteanbieter zur Überwachung der Netznutzungim Hinblick auf mögliche Rechtsverstöße ist abzulehnen.9. Das Recht auf Pseudonymisierung als Mittel zu Datenminimierung wird in einem internettauglichenDatenschutzrecht noch größere Bedeutung erhalten als bisher. Dem trägt derEntwurf der Datenschutz-Grundverordnung bisher nicht ausreichend Rechnung. Profilbildungfür Werbe- und andere Zwecke sowie Reichweitenmessung ist nur unter Pseudonymzulässig, wobei den Betroffenen wie bisher schon (§ 15 Abs. 3 TMG) ein Widerspruchsrechtzusteht. Anbieterübergreifende Profile dürfen dagegen nur mit Einwilligung des betroffenenNutzers erstellt werden.10. Sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene sollten die Normen über den datenschutzgerechtenUmgang mit Verbindungs-, Nutzungs- und Inhaltsdaten in einem Rechtsaktzusammengefasst werden. Der gegenwärtige Entwurf der EU-Datenschutzgrundverordnungklärt das Verhältnis zur E-Privacy-Richtlinie nicht hinreichend.71


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 201211. Die Meinungsfreiheit findet im Internet wie in der realen Welt ihre Schranken in denVorschriften der allgemeinen Gesetze. Dazu zählen auch die Datenschutzgesetze. Zwar iststets eine Abwägung zwischen diesen allgemeinen Gesetzen und der Meinungsfreiheit nötig,die Meinungsfreiheit hat aber keineswegs prinzipiellen Vorrang. Insbesondere rechtfertigt sieweder eine Bloßstellung oder Anprangerung von Personen im virtuellen Raum noch den Verzichtauf bestimmte Transparenzpflichten.12. Transparenz ist nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Datenschutzim Netz. Zusätzlich müssen Betroffene effektive Möglichkeiten erhalten, die Verarbeitungihrer Daten zu kontrollieren und zu beeinflussen.13. Es sollte eine Befugnis zur Veröffentlichung personenbezogener Daten im Internet indas Datenschutzrecht aufgenommen werden, die dem informationellen Selbstbestimmungsrechtangemessen Rechnung trägt. Dagegen besteht für eine Erweiterung des Medienprivilegszugunsten nicht-kommerzieller Nutzer im Sinne eines „Internet-Grundrechts“ kein Anlass.Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs des Datenschutzrechts durch die behutsameErweiterung der Ausnahme für die Datenverarbeitung zur Ausübung ausschließlich persönlicheroder familiärer Tätigkeiten kommt angesichts der weitreichenden Auswirkungen vonRechtsverletzungen im Internet für die Betroffenen erst dann in Betracht, wenn der zivilrechtlichePersönlichkeitsschutz wesentlich verbessert worden ist. Dazu gehört z. B. die Einführungeines pauschalierten Schadensersatzanspruchs, der auch im Datenschutzrecht vorgesehenwerden sollte.14. Der Schutz des Rechts am eigenen Bild im Internet darf vor dem Hintergrund der umsich greifenden Gesichtserkennung nicht relativiert, sondern er muss im Gegenteil effektiviertwerden.15. Die gegenwärtig vorherrschenden Geschäftsmodelle, wonach Internet-Nutzer faktischgezwungen sind, ihre durch systematische Beobachtung gewonnenen Daten zur unbegrenztenKommerzialisierung freizugeben, um als Gegenleistung für die erhobenen PersönlichkeitsprofileInternet-Dienste in Anspruch nehmen zu können, führen häufig zu informationellerFremdbestimmung. Es sind alternative datenschutzgerechte Geschäftsmodelle zu entwickelnund zu zertifizieren, die auf dem Prinzip des opt-in (permission marketing) beruhen.16. Auch Netzabstinenz ist eine legitime Form der informationellen Selbstbestimmung.„Nonliner“, die freiwillig oder unfreiwillig auf einen Netzzugang verzichten, müssen deshalbgegen Diskriminierung geschützt werden. Ein faktischer oder gar rechtlicher „Anschluss- undBenutzungszwang“ für das Internet oder bestimmte Internet-Dienste wie soziale Netzwerkewäre nicht mit der informationellen Selbstbestimmung vereinbar.17. Der Schutz minderjähriger Internet-Nutzer ist weniger ein rechtliches als vielmehr eintechnisches und pädagogisches Problem, solange es keine effektiven Mittel der Altersverifikationgibt. Bestandteil der Schutzpflicht des Staates ist es, den Datenschutz gerade im Internetzum Bestandteil der Lehr- und Unterrichtspläne zu machen. Zur Medien- und Internetkompetenz,die dabei vermittelt werden sollte, gehören Werte wie Respekt vor der Würde andererNutzer ebenso wie Methoden des Selbstschutzes, z. B. der Verteidigung gegen Cybermobbing.72


<strong>Thesen</strong> zum IT- und Kommunikationsrecht18. Ein etwaiges Interesse der Anbieter von „Cloud-Diensten“, den Ort der Datenverarbeitung(die Serverstandorte) vor Auftraggebern und Betroffenen geheimzuhalten, ist nicht schutzwürdig.19. Deutschland und die Europäische Union müssen sich dafür einsetzen, dass mittelfristigder Persönlichkeits- und Datenschutz auch im Internet in einer Konvention der VereintenNationen geregelt wird.20. Schon jetzt ist eine Verbesserung der grenzüberschreitenden Rechtsdurchsetzung nötig,um dem eklatanten Vollzugsdefizit im Internet zu begegnen. Das im Entwurf der Kommissionvorgesehene Kohärenzverfahren ist prinzipiell richtig, die letzte Entscheidung über den Datenschutzstandardin der Europäischen Union sollte aber der künftige Europäische Datenschutzausschusshaben. Das vorgesehene Letztentscheidungsrecht der Kommission widerspricht demVertrag von Lissabon und der Europäischen Grundrechte-Charta. Zentralistische Aufsichtsstrukturensind weder bürgernah noch effektiv.<strong>Thesen</strong> zum Referat von Bereichsleiter Rechtsanwalt Dr. Wolf Osthaus, BerlinA. Grundsätzliches und Grundrechtliches1. Die Verarbeitung von Daten ist Grundlage und damit unverzichtbare Realität in derInformationsgesellschaft. Die Erhebung und Verarbeitung von Daten ist Ausfluss der sozialenTeilhabe von Menschen durch Nutzung der neuen Medien. Sie ist damit zugleich immer auchAusübung von Freiheitsrechten wie Meinungs-, Informations- und Kommunikationsfreiheitwie auch der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit.2. Daten und die darin transportierten Informationen sind auch nicht vor dem Hintergrundeiner „informationellen Selbstbestimmung“ eigentumsgleiches Verfügungsgut eines Einzelnen.Nicht die Daten selbst sind insoweit Schutzgut des grundrechtlichen Persönlichkeitsschutzes,sondern die Auswirkung von deren Speicherung und möglicher Verwendung auf dasPersönlichkeitsrecht des Betroffenen.3. Der Datenschutz hat seinen Ursprung als Abwehrrecht gegenüber dem Staat; in dieserAusprägung gegenüber öffentlichen Stellen müssen auch heute noch spezielle, höhere Anforderungengelten. In der Ausprägung gegenüber nicht-öffentlichen Stellen sind die Freiheitsrechteder anderen Beteiligten, ist ihre Meinungs-, Informations- und Kommunikationsfreiheit wieauch die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit zu berücksichtigen und in eine Abwägung mit dermöglichen Betroffenheit von Persönlichkeitsrechten zum Ausgleich zu bringen. Eine Schutzpflichtdes Staates im Rahmen dieser Drittwirkung von Grundrechten besteht nur hinsichtlichgravierender Bedrohungen des Persönlichkeitsrechts.73


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012B. Begriff der personenbezogenen Daten4. Datenschutz-Regelungen zur Datenverarbeitung sollten immer erst beim Vorliegen einesPersonenbezugs dieser Daten greifen. Wenn kein Personenbezug besteht, also Anonymitätgegeben ist, ist die Datenverarbeitung grundsätzlich ohne Einschränkung zulässig.5. Der Begriff der personenbezogenen Daten ist damit die entscheidende Stellgröße für dieReichweite datenschutzrechtlicher Regelungen. Er darf nicht so weit gehen, dass jede auch nurtheoretische Möglichkeit, insbesondere eines Dritten, den Personenbezug herzustellen, bereitsden Personenbezug und damit die volle Anwendbarkeit datenschutzrechtlicher Regeln nachsich zieht. Personenbezug durch Personenbeziehbarkeit liegt nur vor, wenn die datenverarbeitendeStelle selbst oder eine von ihr abhängige Organisationseinheit den Personenbezug ohneunverhältnismäßigen Aufwand herstellen kann (subjektiv-relative Theorie).6. Kennungen im Rahmen der Online-Nutzung wie IP-Nummern, Gerätenummern oderauch Cookie-IDs, die von der datenverarbeitenden Stelle selbst nicht unmittelbar einer Personzugeordnet werden können, stellen damit für sich keine personenbezogenen Daten dar.C. Verbot mit Erlaubnisvorbehalt und Einwilligung7. Ein Regelungssystem mit einem grundsätzlichen Verbot mit explizitem Erlaubnisvorbehaltals Basis für jede Datenverarbeitung ist in der durchgehend von Datenverarbeitunggeprägten Informationsgesellschaft nur zukunftsfähig, wenn vom Gesetzgeber weitreichendegesetzliche Erlaubnistatbestände für Datenverarbeitungsvorgänge geschaffen werden, dienicht oder nur wenig in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen eingreifen.8. Das Erfordernis expliziter, rechtsgeschäftlich ausgestalteter Einwilligungen sollte auf Fällemit hoher Eingriffsintensität beschränkt bleiben, da sich andernfalls die intendierte WarnundEntscheidungswirkung der Einwilligung bei den Betroffenen innerhalb kürzester Zeitverliert und damit bei erheblichen Entscheidungen mit hoher Eingriffsintensität gerade nichtmehr die wünschenswerte individuelle Auseinandersetzung mit den Konsequenzen erfolgt.9. Eine Überbetonung der Einwilligung als zentralem Element für die Ermöglichung vonDatenverarbeitung bevorzugt einseitig große geschlossene Ökosysteme, wie sie insbesonderevon globalen Playern mit einer breiten Dienstebreite angeboten werden und bei denen Nutzerfaktisch keine tatsächliche Wahlmöglichkeit haben, während kleine und neu in den Markttretende Anbieter, Nischen-Angebote und vor allem Dienste ohne die Notwendigkeit einesLogins, insbesondere viele gesellschaftlich wichtige Mediendienste, benachteiligt sind.10. Insbesondere setzt ein undifferenziertes Einwilligungssystem falsche ökonomische An -reize, da sich durch die Erlangung der Einwilligung die Pforte zu jedweder Datensammlungund -verarbeitung öffnet, während datenschutzfreundliche Modelle, die freiwillig auf eineexten sive Datenerhebung oder die Herstellung eines umfassenden Personenbezugs verzichten,keinen Vorteil mehr bieten. Der Gesetzgeber sollte daher durch Privilegierungen in Formgesetzlicher Erlaubnistatbestände Anreize für Datenverarbeiter setzen, die datenschutzfreundlicheGestaltungen mit einer möglichst geringen Eingriffsintensität wählen.11. Insbesondere sollte auch die geplante europäische Datenschutz-Grundverordnung einen74


<strong>Thesen</strong> zum IT- und Kommunikationsrechtgrundsätzlichen Erlaubnistatbestand nach dem Vorbild des § 15 Abs. 3 TMG beinhalten fürdie Verarbeitung pseudonymisierter Daten, deren Rückführung auf eine Person durch diedatenverarbeitende Stelle zumindest wesentlich erschwert ist.12. Bei der notwendigen Abwägung zwischen dem Datenschutzinteresse von Betroffenen unddem Datenverarbeitungsinteresse der datenverarbeitenden Stelle ist zu berücksichtigen, dassdie Verarbeitung von Daten oftmals grundlegende Voraussetzung für die Wirtschaftlichkeitder Bereitstellung wesentlicher Dienste der Informationsgesellschaft ist, die nur ganz oderteilweise über Werbung refinanziert werden können.13. Online-Werbung setzt, stärker als bei Werbung in traditionellen Medien wie Print oderTV, Relevanz für den Adressaten voraus, weil ihre Werbewirkung wie auch ihr Refinanzierungseffektin der Regel erst einsetzen, wenn sich der Kunde aktiv für eine Beschäftigung mitdem Werbeinhalt durch Anklicken der Werbeinformation entscheidet. Eine interessenorientierteAusspielung von Werbeinhalten ist daher grundsätzlich zu ermöglichen. Die Selbstbestimmungder Nutzer sollte durch möglichst weitgehende Transparenz über die dahinterstehendeDatenverarbeitung und eine Wahlmöglichkeit hinsichtlich des Einsatzes solcherTechnologien gewahrt bleiben.D. Internationale Aspekte14. Innerhalb Europas sollte eine vollständige Harmonisierung des Datenschutzrechts er folgen.Die konsistente Anwendung europaweit harmonisierter Datenschutzregeln durch dienationalen bzw. föderalen Aufsichtsbehörden ist durch zentralisierte Konsultations- und Entscheidungsmechanismensicherzustellen.15. Auch über die Europäische Union hinaus ist international eine möglichst weitgehendeAn gleichung der Datenschutzstandards anzustreben. Durch die Anwendung der europäischenRegeln auf die Nutzung aller Angebote durch Anwender in Europa, unabhängig vom Sitzlanddes Anbieters, ist ein einheitliches Wettbewerbsniveau zu schaffen (Marktortprinzip). BestehendeSafe-Harbor-Abkommen sind einer kritischen Prüfung zu unterziehen, ob sie tatsächlichein vergleichbares Schutzniveau für europäische Bürger ermöglichen.E. Durchsetzung16. Eine effektive Durchsetzung geltender Datenschutzregeln ist im nicht-öffentlichen Be reichin erster Linie durch die wichtige Funktion des unabhängigen betrieblichen Datenschutzbeauftragtenin Verbindung mit den zuständigen öffentlichen Aufsichtsstellen zu ge währ leis ten.Daneben sind Modelle der Selbstkontrolle und Selbstregulierung insbesondere dort valideAlternativen, wo aufgrund eines funktionierenden Wettbewerbs vieler Anbieter eine effektiveSanktionierung von Verstößen zu erwarten ist.17. Formen kollektiver Rechtsdurchsetzung dürfen keine Anreize zum Einsatz aus vorrangigökonomischen Motiven bieten. Schadensersatzansprüche sollten weiterhin nur individuell imFalle einer tatsächlich nachweisbaren Schädigung geltend gemacht werden können.75


69. <strong>Deutscher</strong> <strong>Juristentag</strong> München 2012F. Persönlichkeitsschutz18. Die Möglichkeit zur anonymen Meinungsäußerung ist eine berechtigte Form der Kommunikations-und Meinungsfreiheit im Internet und von unverzichtbarer Bedeutung speziell,aber nicht nur in nicht vollständig freien Gesellschaften. Allerdings verdienen anonyme Äußerungeneinen geringeren Schutz als solche unter (auflösbarem) Pseudonym oder dem tatsächlichenNamen.19. Das etablierte Verantwortlichkeitsregime für Intermediäre in E-Commerce-Richtlinieund TMG hat sich bewährt und sollte aufrecht erhalten bleiben; dies schließt ausdrücklichPlattformen zur Kommunikation und Meinungsäußerung ein.20. Notice-and-Takedown-Verfahren, die eine wichtige Rolle im Bereich der Verletzung geistigenund gewerblichen Eigentums spielen können, eignen sich wegen drohender Missbräuchezur Unterdrückung von Meinungs- und Informationsfreiheit nur eingeschränkt im Bereichder Meinungsäußerung. Ihr Einsatz ist allerdings dort denkbar, wo Äußerungen im Schutzeder Anonymität getätigt werden und der Äußernde damit selbst nicht zur Rechenschaftgezogen werden kann.<strong>Thesen</strong> zum Referat von Prof. Paul M. Schwartz, J.D., Berkeley1. Das „Privacy White Paper“ (Weißbuch zum Datenschutz) der Obama-Administrationsetzt auf „Anschlussfähigkeit“ (Interoperabilität) als maßgebliche Zielsetzung für den internationalenDatenschutz. Dieses Ziel ist nicht neu: Die Europäische Union und die USAengagieren sich seit mehreren Jahrzehnten dafür, ihre jeweiligen Datenschutzregimes funktionsfähigaufeinander abzustimmen. Daraus folgt, dass Reformvorschläge auf nationalerEbene danach zu beurteilen sind, inwieweit sie Konflikte zwischen den nationalen Regelungenvergrößern oder vermindern.2. Das derzeitige Datenschutzrecht in Deutschland fußt auf starken verfassungsrechtlichenStandards sowie umfassenden und sektorspezifischen Einzelgesetzen. Die Rechtsdurchsetzungerfolgt über unabhängige Datenschutzbeauftragte des Bundes und der Länder, behördlicheDatenschutzbeauftragte sowie individuelle Verletzungsklagen. Im Gegensatz hierzuordnet das Recht der Vereinigten Staaten von Amerika den Datenschutz über ein Flickwerkvon Regeln, die große Bereiche frei von jeder formellen Regulierung lassen.3. Die US-amerikanische Regulierung ist allerdings auch gekennzeichnet durch das Risikomillionenschwerer Bußgelder der Federal Trade Commission (FTC) und Sammelklagen, dieden Unternehmen starke Anreize vermitteln, in Compliance-Mechanismen zu investieren.4. Vorschläge zur Einführung einer starken Einwilligungs- und Widerspruchslösung sindvereinbar mit dem US-Recht. Die FTC versucht nämlich, sowohl die Transparenz der Datenverarbeitungzu erhöhen als auch einen Schutz gegen „gebrochene Versprechen“ der Unternehmenzu gewähren.76


<strong>Thesen</strong> zum IT- und Kommunikationsrecht5. Untersuchungen in den USA haben allerdings gezeigt, dass der effektive Schutz der Selbstbestimmung– so begrüßenswert er sein mag – ein sehr komplexes Unterfangen sein kann. DieVerhaltensökonomie geht davon aus, dass die Ausübung von Wahlfreiheit starken Beschränkungenunterliegt und dass die Bereitstellung von leicht verständlichen Informationen überDatenverarbeitungsprozesse eine echte Herausforderung bedeutet.6. Die Einführung eines „Lösch“-Buttons würde in den USA erhebliche Probleme verursachen.Obgleich viele moderne Browser eine solche Einstellung für die Löschung lokal gespeicherterDaten vorsehen, würde der Vorschlag von Spindler weitergehend Diensteanbieterbetreffen. Ein derartiger Lösch-Button würde staatliche Interessen an effektiver Rechtsdurchsetzungund Sicherheitsgewährleistung gefährden.7. Begrenzungen für die Profilerstellung werden auch in den USA diskutiert. Das Hauptproblemliegt freilich darin, zu definieren, wann eine „Profilbildung“ vorliegt. Solange nicht klarist, was eine Profilbildung ist und welche Verhaltensweisen zu ihr führen, fällt jede wirksameRegulierung des Problems schwer. Wie die Debatte um die Einführung von „Do not track“-Verzeichnissen zeigt, muss die Diskussion in den USA eine konsistente Definition von „Profil“oder „Profilbildung“ erst noch entwickeln.8. Die Erfahrungen in den USA haben die hohe Bedeutung gesetzlich festgelegter Schadensersatzsummenfür den wirksamen Schutz der Privatsphäre bestätigt. Diese Einschätzungerfolgt vor dem Hintergrund, dass der Nachweis konkreter Schäden bei Datenschutzverletzungsklagenin den USA außerordentlich schwierig ist.77

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