Mythologie Titelblatt - Gymnasium Interlaken
Mythologie Titelblatt - Gymnasium Interlaken
Mythologie Titelblatt - Gymnasium Interlaken
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>Mythologie</strong><br />
Mythen und Mythendeutung<br />
<strong>Gymnasium</strong> <strong>Interlaken</strong> (Kr)
Mythen und Mythendeutung<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Sage, Mythos, Legende: Begriffsbestimmung<br />
Sage: Geschichten aus dem Oberhasli .......................................................................................................... 5<br />
Mythos: Prometheus........................................................................................................................................ 5<br />
Goethe: Prometheus............................................................................................................................ 6<br />
Legende: Der heilige Christophorus ............................................................................................................. 8<br />
Theorien der Mythendeutung<br />
Ueberblick: Mythen und Mythendeutung ................................................................................................. 10<br />
Die Entstehung der Welt<br />
Ovid, Metamorphosen: Die Entstehung der Welt .................................................................................... 11<br />
1. Buch Moses: Die Schöpfung (Genesis) ................................................................................................... 12<br />
Das Goldene Zeitalter<br />
Oedipus<br />
Die biblische Tradition: Paradiesesmythos................................................................................................ 14<br />
Die klassische Form: Ovid, Metamorphosen............................................................................................. 14<br />
Ubiquität der Vorstellung vom Goldenen Zeitalter: China..................................................................... 16<br />
Rilke: Duineser Elegien: Die achte Elegie................................................................................................... 16<br />
Sigmund Freud: Der Oedipuskomplex ...................................................................................................... 18<br />
Erich Fromm: Der Oedipusmythos ............................................................................................................. 19<br />
Orpheus und Eurydike<br />
Ovid, Metamorphosen: Orpheus und Eurydike ....................................................................................... 21<br />
ORPHEUS. EURYDIKE. HERMES.............................................................................................................. 23<br />
Narziss und Echo<br />
Ovid: Narziss und Echo ................................................................................................................................ 25<br />
Narzissmus als psychoanalytischer Befund und seine gesellschaftlichen Auswirkungen ................ 28<br />
Daedalus und Ikarus<br />
E. Fromm, Aggression und Narzissmus........................................................................................ 28<br />
Narziss - Symbolfigur einer Kultur ohne Unterdrückung? ........................................................ 31<br />
Herbert Marcuse: Orpheus und Narziss, zwei Urbilder ............................................................. 31<br />
Gisela Dischner: Ein Gegenbild zum “eindimensionalen Menschen”...................................... 33<br />
Peter Passett: Gedanken zur Narzissmuskritik ............................................................................ 34<br />
Ovid: Metamorphosen .................................................................................................................................. 35<br />
Pieter Breughel: Der Sturz des Ikarus......................................................................................................... 36<br />
Auden: Musée des Beaux Arts..................................................................................................................... 36<br />
Bischoff: Der Sturz des Ikarus...................................................................................................................... 37<br />
Bartels: Hybris wider die Natur................................................................................................................... 38<br />
Albert Camus: Le mythe de Sisyphe<br />
Le mythe de Sisyphe (1937-41)..................................................................................................................... 40<br />
3
Andere Mythendeutungen<br />
Quintus Ennius: EUHEMERUS sive SACRA HISTORIA........................................................................ 42<br />
Weitere Themen<br />
Anhang<br />
Verbotene Liebe.............................................................................................................................................. 44<br />
Begegnung fremder Kulturen ...................................................................................................................... 44<br />
Anfänge in Mesopotamien: Gilgamesch .................................................................................................... 44<br />
Verzeichnis der verwendeten Texte
Mythen und Mythendeutung<br />
Sage, Mythos, Legende: Begriffsbestimmung 5<br />
Sage, Mythos, Legende: Begriffsbestimmung<br />
1) Sage: Geschichten aus dem Oberhasli<br />
Da wo die Aare noch ein geringes, aber wildes Flusskind ist, wohnen die Haslitaler. Das sind magere Leutchen<br />
mit knochigen Backen und sehnigen Händen. Ihre schwarzbraunen Kühlein werden der wilden Natur wegen nur<br />
tischhoch. Sie haben es schwer, diese Gemsjäger, Holzer und Wildheuer, aber was wissen sie nicht alles zu berichten<br />
von sonderbarem geschehen dort im Gebirge und am berühmten Alpenpass, der Grimsel.<br />
Der unsichtbare Säumer<br />
Wer von euch kennt die Geschichte vom unsichtbaren Säumer? — Niemand? — So hört:<br />
Sie spielt neben der Schlucht, durch die sich die Aare zwischen Meiringen und Guttannen hindurchzwängt.<br />
Graus, tausendmal Graus dem Wanderer, die die unglückliche Stunde hier zur Rast wählt! Da hört er am Wege ein<br />
Bimmeln von Glocken, ein Keuchen von Tieren und Peitschenknall. Von weitem schon kommt der Ton immer nä-<br />
her, man hört ihn sogar ganz deutlich durch das wilde Tosen des Wassers im fürchterlichen Abgrunde der Schlucht.<br />
Der Weg ist schmal, ein Pfad nur. Der Wanderer schaut nach vorn – nach rückwärts – nirgends Mensch noch Getier,<br />
und doch kommt das Geheimnis immer näher. Klopfenden Herzens zwängt er sich in eine Felsritze neben dem<br />
Fusspfade und lässt den Geisterzug an sich vorüberziehen, und kalter Schauer durchrieselt ihm den Rücken. Es ist,<br />
als ob ein Tiertreiber mit schwerbeladenen Mauleseln vorbeizöge.<br />
So ist es auch; denn vor Zeiten, als es noch keine Eisenbahnen gab, die mitten unter dem Gebirge durchfahren<br />
konnten, führten Säumer die Handelswaren auf Mauleseln über die Bergpässe zu uns. Da kam auch einer aus ita-<br />
lienischen Landen mit Wein, Reis und andern Dingen über den Grimselpass. Er hatte aber die Waren gefälscht und<br />
dadurch den Zorn einiger Talgeister auf sich geladen. Ueber die Schlucht liess ihn der Geisterkönig einfangen und<br />
verbannte ihn. Nun muss er jährlich einmal als unsichtbarer Schatten, am Tage seiner trugvollen Fahrt, den Pass-<br />
weg durchziehen.<br />
Und wer heute noch den unsichtbaren Säumer begegnet, der trete zur Seite und rufe den Allmächtigen an, dass<br />
ihm kein Leid geschehe!<br />
[Hans Schraner: Bergsagen.<br />
Schweizer Jugendschriften Nr. 53. Bern, 1925.]<br />
2) Mythos: Prometheus<br />
Iapetos — Klymene<br />
Prometheus Epimetheus — Pandora Atlas Menoitios<br />
Deukalion — Pyrrha<br />
P. ist Sohn des Titanen Iapetos und der<br />
Okeanide Klymene oder der Themis, Bruder des<br />
Atlas, Menoitios und Epimetheus, Vater des Deu-<br />
kalion. Während die übrigen Titanen mit rein<br />
physischer Kraftentfaltung die Herrschaft des<br />
Zeus zu stürzen versuchen, kämpft P. mit geistigen Waffen, List und Schlauheit, gegen den Göttervater. Anlässlich<br />
eines Opfers in Mekone versucht er, Zeus zu überlisten, indem er ihm das gute Fleisch und die Eingeweide in einem<br />
Rindermagen versteckt und die Knochen in glänzender Fetthaut verhüllt zur Wahl vorsetzt. Zeus durchschaut den<br />
Betrug, wählt aber trotzdem die Knochen. Seither ist es üblich, bei Opfern nur die Knochen und unbedeutende Teile<br />
des Tieres zu verbrennen, das beste Fleisch aber für menschlichen Bedarf zurückzubehalten. Als Zeus daraufhin<br />
zur Strafe den Menschen das Feuer entzieht, entwendet es ihm P. und bringt es wieder auf die Erde. Zeus lässt von<br />
Hephaistos Pandora erschaffen und sendet mit ihr viel Unheil über die Menschen. P. wird an einen Felsen im Kau-<br />
kasus, geschmiedet, wo ihm ein Adler die Leber zerhackt, die Nachts immer wieder nachwächst. In seinem unbeug-<br />
samen Trotz gegen den Gewaltherrscher Zeus bestärkt ihn dabei das Wissen um ein Geheimnis, das ihm seine<br />
Mutter Themis anvertraut hat: Wer immer von den Göttern oder Menschen sich mit Thetis zur Zeugung von Nach-
6 Sage, Mythos, Legende: Begriffsbestimmung<br />
Mythen und Mythendeutung<br />
kommen verbinde, dessen Sohn werde den Vater an Kraft weit übertreffen. Da Zeus dieser Gefahr ausweicht,<br />
kommt es allerdings nicht zum Sturze seiner Herrschaft (Thetis).—Nach schier endloser Qual wird P. durch einen<br />
Pfeilschuss des Herakles von seinem Peiniger, dem Adler, befreit. Die endgültige Erlösung ist aber daran gebun-<br />
den, dass sich ein Unsterblicher findet, der bereit ist, P. sein Leiden abzunehmen (Cheiron).<br />
P. (von den Griechen verstanden als “der Vorausdenkende”) besitzt wie sein Bruder Epimetheus (= “der nach-<br />
träglich Erkennende”) einen durchsichtigen Namen. Im Pandoramythos schimmert bei beiden das Märchenmotiv<br />
von den ungleichen Brüdern durch; vielleicht sind sie als ein göttliches Ahnenpaar der Menschheit zu verstehen. P.<br />
galt vielfach als Schöpfer des Menschengeschlechtes, der aus Lehm und Wasser Männer und Frauen formte. Immer<br />
aber sah man in ihm einen Wohltäter der Menschheit. Der Sohn eines Titanen und Freund einer mächtigen Göttin<br />
nahm derart eine Mittelstellung zwischen Göttern und Menschen ein. So versteht K. Kerényi das Opfer in Mekone<br />
als ein “Gründungsopfer”, mit dem P. eine Grundlage für das neue Zusammenlebend von Göttern und Menschen,<br />
ihre gleichzeitige Trennung und Verbindung, schuf. Zugleich stellt die Erzählung von diesem Opfer aber auch ein<br />
Kult-Aition dar. Man wollte damit den Brauch erklären, dass die Götter bei manchen Opfern gegenüber den Men-<br />
schen, die sich die besten Bissen behielten, stark benachteiligt wurden. Als Wohltäter der Menschen erweist sich P.,<br />
indem er ihnen nicht nur das Feuer, sondern alle Künste, geistige und körperliche Fertigkeiten, kurz die ganze Kul-<br />
tur, bringt. Der P.-Mythos ist wie der Pandora-Mythos von tiefem Pessimismus, auch in der Auffassung der Götter,<br />
erfüllt. Das schwere, so lange dauernde Leiden des P. ist ja durch die neue Rechtsordnung unter der Herrschaft des<br />
Zeus bedingt. Der göttliche Freund der Menschen wird für eben diese Freundschaft vom Herrn der Welt hart be-<br />
straft. Dafür ist es wieder ein Sohn des Zeus, Herakles, der P. von dem gierigen Adler befreit.<br />
[Herbert Hunger: Lexikon der griechischen und römischen <strong>Mythologie</strong>. Reinbek 1974. sub voce Prometheus]<br />
Goethe: Prometheus<br />
Bedecke deinen Himmel, Zeus,<br />
Mit Wolkendunst<br />
Und übe, dem Knaben gleich,<br />
Der Disteln köpft<br />
An Eichen dich und Bergeshöhn;<br />
Musst mir meine Erde.<br />
Doch lassen stehn<br />
Und meine Hütte, die du nicht gebaut,<br />
Und meinen Herd,<br />
Um dessen Glut<br />
Du mich beneidest.<br />
Ich kenne nichts Ärmeres<br />
Unter der Sonn als euch, Götter!<br />
Ihr nähret kümmerlich<br />
Von Opfersteuern<br />
Und Gebetshauch<br />
Eure Majestät<br />
Und darbtet, wären<br />
Nicht Kinder und Bettler<br />
Hoffnungsvolle Toren.<br />
Da ich ein Kind war,<br />
Nicht wusste, wo aus noch ein,<br />
Kehre ich mein verirrtes Auge<br />
Zur Sonne, als wenn drüber wär
Mythen und Mythendeutung<br />
Ein Ohr, zu hören meine Klage,<br />
Ein Herz wie meins,<br />
Sich des Bedrängten zu erbarmen<br />
Wer half mir<br />
Wider der Titanen Übermut?<br />
Wer rettete vom Tode mich,<br />
Von Sklaverei?<br />
Hast du nicht alles selbst vollendet, -<br />
Heilig glühend Herz!<br />
Und glühtest, jung und gut,<br />
Betrogen, Rettungsdank<br />
Dem Schlafenden da droben?<br />
Ich dich ehren? Wofür?<br />
Hast du die Schmerzen gelindert<br />
Je des Beladenen?<br />
Hast du die Tränen gestillt<br />
Je des Geängsteten?<br />
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet<br />
Die allmächtige Zeit<br />
Und das ewige Schicksal,<br />
Meine Herrn und deine?<br />
Wähntest du etwa,<br />
Ich sollte das Leben hassen,<br />
In Wüsten fliehen,<br />
Weil nicht alle<br />
Sage, Mythos, Legende: Begriffsbestimmung 7<br />
Blütenträume reiften? :<br />
Hier sitz ich, forme Menschen<br />
Nach meinem Bilde,<br />
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,<br />
Zu leiden, zu weinen,<br />
Zu geniessen und zu freuen sich,<br />
Und dein nicht zu achten,<br />
Wie ich!<br />
[Goethe]
8 Sage, Mythos, Legende: Begriffsbestimmung<br />
3)<br />
Legende: Der heilige Christophorus<br />
Der Sänger<br />
Mythen und Mythendeutung<br />
Christophorus war Kananäer Er war riesengross und hatte ein furchterregendes Gesicht. Seine Grösse betrug<br />
zwölf Ellen. Wie in einigen Geschichten über ihn zu lesen ist, stand er einmal vor einem König der Kananäer, und<br />
da kam es ihm in den Sinn, den grössten König der Welt zu suchen, zu ihm zu gehen und bei ihm zu bleiben. Er<br />
kam also zu einem sehr grossen König, von dem es allgemein hiess, es gebe keinen grösseren König als ihn auf der<br />
Welt. Als dieser ihn sah, nahm er ihn gern auf und liess ihn an seinem Hofe bleiben. Eines Tages jedoch sang der<br />
Spielmann in Gegenwart des Königs sein Lied, in dem er häufig den Teufel erwähnte. Da der König aber an Chri-<br />
stus glaubte, schlug er jedesmal, wenn er den Namen des Teufels hörte, das Zeichen des Kreuzes vor seinem Ge-<br />
sicht. Als Christophorus dies sah, wunderte er sich sehr, warum der König dies tue und was ihm dieses Zeichen<br />
bedeute. Als er aber den König danach fragte und jener ihm dies nicht erklären wollte, entgegnete ihm Christopho-<br />
rus: “Wenn du mir dies nicht sagst, werde ich nicht länger bei dir bleiben.”<br />
Deshalb sprach der König gezwungenermassen zu ihm: “Jedesmal, wenn ich den Namen des Teufels nennen<br />
höre, schütze ich mich mit diesem Zeichen, weil ich fürchte, dass er Gewalt über mich bekommt und mir Schaden<br />
zufügt.”Ihm antwortete Christophorus: “Wenn du fürchtest, der Teufel könne dir Schaden zufügen, dann steht fest,<br />
dass er grösser und mächtiger ist als du, da du offensichtlich so grosse Angst vor ihm hast. Also habe ich mich ge-<br />
täuscht, als ich glaubte, den grössten und mächtigsten Herrn der Welt gefunden zu haben. Lebe nun wohl. Denn<br />
ich will den Teufel selbst suchen, um ihn mir zum Herrn zu wählen und sein Diener zu werden.”<br />
Im Dienste des Teufels<br />
Er verliess also jenen König und beeilte sich, den Teufel zu suchen. Als er aber durch eine einsame Gegend ging,<br />
sah er eine grosse Schar Soldaten. Einer von ihnen allerdings war ein wild und schrecklich aussehender Krieger. Er<br />
kam zu ihm und fragte ihn, wohin er denn wolle. Christophorus antwortete ihm: “Ich bin auf der Suche nach dem<br />
Herrn, dem Teufel, um in seine Dienste zu treten.” Jener antwortete ihm: “Ich bin es, den du suchst.” Christophorus<br />
freute sich, verpflichtete sich dazu, auf ewig dessen Diener zu sein, und nahm ihn als seinen Herrn an.<br />
Als sie nun zusammen weitergingen und auf ein an einer öffentlichen Strasse aufrecht stehendes Kreuz gestos-<br />
sen waren, erschrak der Teufel heftig, als er das Kreuz sah, und floh. Er verliess die Strasse und führte Christopho-<br />
rus über einen unwegsamen Pfad und liess ihn erst später wieder auf die Strasse zurückgehen. Als Christophorus<br />
das sah, wunderte er sich und fragte ihn, warum er sich so gefürchtet und die ebene Strasse verlassen habe und<br />
dann über den unwegsamen Pfad gegangen sei. Der Teufel wolle ihm dies auf keinen Fall erklären Da sprach Chris-<br />
tophorus: “Wenn du mir dies nicht erklärst, werde ich dich sofort verlassen. ” Da musste der Teufel nachgeben und<br />
sagte zu ihm: “Es wurde einmal ein Mensch, der heisst Christus, an ein Kreuz geschlagen. Wenn ich das Zeichen<br />
seines Kreuzes sehe, bekomme ich einen furchtbaren Schrecken und laufe voll Angst davon.” Christophorus “Ist<br />
also jener Christus grösser und mächtiger als du, dessen Zeichen du so sehr fürchtest? Vergeblich habe ich mich<br />
also bemüht und den grössten König der Welt noch nicht gefunden. Nun lebe wohl, denn ich will dich verlassen<br />
und Christus suchen.”<br />
Auf der Suche nach Christus<br />
Er war nun schon lange auf der Suche nach jemandem, der ihm über Christus etwas mitteilen könnte. Schliess-<br />
lich kam er zu einem Eremiten, der ihm von Christus predigte und ihn gewissenhaft im Glauben an den Herrn un-<br />
terwies. Der Einsiedler sagte zu Christophorus: “Der König, dem du dienen willst, verlangt als Beweis deines<br />
Gehorsams, dass du häufig fasten musst.” Darauf erwiderte Christophorus: “Er möge einen anderen Beweis meines<br />
Gehorsams fordern, denn das kann ich auf keinen Fall tun.” Darauf wieder der Einsiedler: “Du wirst auch oft zu<br />
ihm beten müssen.” Christophorus: “Ich weiss nicht, was das ist, ich kann ihm meinen Gehorsam auch hiermit nicht
Mythen und Mythendeutung<br />
Sage, Mythos, Legende: Begriffsbestimmung 9<br />
beweisen.” Der Einsiedler: “Kennst du den Fluss, bei dessen Ueberquerung viele in Gefahr geraten und verunglük-<br />
ken?” Christophorus: “Ja.” Der Einsiedler: “Da du sehr gross und stark bist, wäre es Christus, dem König, dem du<br />
zu dienen wünschst, sehr recht, wenn du dich an diesem Flusse niederliessest und alle hinüberbrächtest, und ich<br />
hoffe, dass er sich dir dort offenbart.” Christophorus: “Diesen Beweis meines Gehorsams kann ich erbringen, und<br />
ich verspreche, dass ich ihm diesen Dienst erweisen werde.” Er ging also zu dem genannten Fluss, baute sich dort<br />
eine Hütte und nahm anstelle eines Stockes eine lange Stange in die Hand, mit der er sich im Wasser abstützte und<br />
alle ohne Unterbrechung hinübertrug.<br />
Der Christusträger<br />
Es vergingen viele Tage. Als er einmal in seiner Hütte ausruhte, hörte er die Stimme eines Knaben, der ihn rief<br />
und sprach: “Christophorus, komm heraus und bring mich hinüber.” Christophorus sprang auf und lief hinaus,<br />
konnte aber niemanden sehen. Er kehrte in seine Hütte zurück und hörte erneut die Stimme des Knaben, der ihn<br />
rief. Wieder lief er nach draussen und fand niemanden. Als er dann zum dritten Mal wie zuvor gerufen wurde, ging<br />
er hinaus und fand einen Knaben am Ufer sitzen, der ihn inständig bat, dass er ihn hinüberbringe. Christophorus<br />
hob also den Jungen auf seine Schultern, nahm seinen Stab und ging in den Fluss, um ihn zu überqueren. Und siehe<br />
da, das Wasser des Flusses stieg allmählich an, und der Junge wurde so schwer wie Blei. Je weiter er ging, desto<br />
höher wurde die Flut, und der Knabe drückte mit seinem Gewicht immer mehr auf Christophorus' Schultern, so<br />
dass er ihn kaum mehr tragen konnte. Er bekam grosse Angst und fürchtete, ertrinken zu müssen. Aber als er es<br />
mit knapper Not geschafft und den Fluss durchwatet hatte, setzte er den Knaben am Ufer ab und sagte zu ihm: “Du<br />
hast mich in grosse Gefahr gebracht, Junge, und warst mir eine so grosse Last, dass ich mir kaum eine grössere Last<br />
hätte vorstellen können, auch wenn ich die ganze Welt auf den Schultern gehabt hätte.” Der Knabe erwiderte:<br />
“Wundere dich nicht Christophorus, denn du hattest nicht nur die ganze Welt auf deinen Schultern, sondern du<br />
trugst auch den, der die Welt geschaffen hat. Ich bin nämlich Christus, dein König, dem du mit deiner Arbeit dienst.<br />
Und damit du erkennst, dass ich die Wahrheit sage, stecke deinen Stab, sobald du hinübergegangen bist, neben dei-<br />
ner Hütte in die Erde und du wirst sehen dass er am nächsten Morgen blüht und Früchte trägt.” Und sofort ver-<br />
schwand er aus seinen Augen. Christophorus ging also zurück und steckte seinen Stab in die Erde. Am nächsten<br />
Morgen stand er auf und sah, dass der Stab Blätter und Früchte trug wie eine Palme. […]<br />
[Jacobus de Voragine: Legenda Aurea: De sancto Christophoro]
10 Theorien der Mythendeutung<br />
Theorien der Mythendeutung<br />
4) Ueberblick: Mythen und Mythendeutung<br />
Mythen und Mythendeutung<br />
1. Mythen lassen sich, genau wie Märchen, im naiven Sinn erzählen und lesen: als unterhaltsame, spannende,<br />
manchmal auch seltsame Geschichten. [Das Märchen vom „Froschkönig” als Geschichte von der Prinzessin mit<br />
dem goldenen Ball, dem Frosch, der Einladung ins Schloss und wie sie ihn angeekelt an die Wand schmeisst, mit<br />
der überraschenden Verwandlung des Frosches in einen Prinzen.]<br />
2. Oft aber haben sich die Menschen mit der naiven Lesart der Mythen nicht zufrieden gegeben, sondern nach<br />
ihrer tieferen Bedeutung gefragt. Ein Axiom der Mythendeutung ist der allegorische Ansatz: Allegorie bedeutet<br />
„bildhafte Darstellung abstrakter Begriffe oder Sachverhalte”. Dabei geht man stets davon aus, dass es neben der<br />
Ebene des Gesagten eine Ebene des Gemeinten gibt. Die Mythen wären also nicht als Beschreibungen historischer<br />
Geschehnisse zu lesen, sondern daraufhin zu interpretieren, was sie meinen, worauf sie verweisen. [Das Märchen<br />
vom „Froschkönig” als bildhafte Darstellung pubertärer Konflikte in einem Mädchen: Die Prinzessin = jedes Mäd-<br />
chen / goldene Kugel = Symbol der verspielten Kinderwelt, in die der Ernst des Erwachsenwerdens einbricht /<br />
Frosch = Symbol männlicher Sexualität, die als ‘eklig’, fremd und bedrängend empfunden wird / an-die-Wand-<br />
werfen und Verwandlung = Ueberwindung der Angst als Weg zum natürlichen Umgang mit dem andern Ge-<br />
schlecht.]<br />
3. In verschiedenen historischen Epochen wurden unterschiedliche Methoden der allegorischen Deutung an-<br />
gewandt:<br />
- Schon den Zeitgenossen Platons missfielen die allzu menschlichen Züge der homerischen Götter (Diebstahl,<br />
Seitensprünge, Ehebruch, Lüge usw.) Man versuchte, die Götter als Metaphern für Kräfte der Natur oder in der<br />
menschlichen Seele zu interpretieren.<br />
- Die christlichen Theologen hätten die Mythen am liebsten ganz verworfen; da sie immer noch populär und<br />
produktiv (zB. in der Kunst) waren, versuchte man sie durch Interpretation zu domestizieren: Die christliche My-<br />
thendeutung, zB. jene des Bischofs Fulgentius, versteht die Mythen als umgesetzte Moral; die Figuren werden mit<br />
Tugenden und Lastern, himmlischen, irdischen und teuflischen Wesen gleichgesetzt.<br />
- Im l9. Jahrhundert, dem Jahrhundert des Historismus, wollte man in den Mythen Relikte untergegangener<br />
Kulturen und Epochen sehen. Man hatte durch die Sprachwissenschaft die Verwandtschaft der indoeuropäischen<br />
Sprachfamilie entdeckt und wollte mehr über Ursprache und Urheimat der Indogermanen herausfinden. Der alter-<br />
tümliche Charakter vieler Mythen schien grosse Resultate zu zeitigen.<br />
- Die neuen Erkenntnisse der Psychologie und Psychoanalyse lassen uns viele Mythen als bildhafte Auseinan-<br />
dersetzung mit psychischen Entwicklungen oder Problemen verstehen.
Mythen und Mythendeutung<br />
Die Entstehung der Welt<br />
5) Ovid,<br />
Die Entstehung der Welt 11<br />
Metamorphosen:<br />
Die Entstehung der Welt<br />
Singen heisst mich das Herz von Gestalten, verwandelt in neue Leiber. Ihr Götter, gebt, habt ihr doch auch sie<br />
einst verwandelt, Gunst dem Beginnen und leitet mein stetig fliessendes Lied vom ersten Ursprung der Welt bis<br />
herab zu unseren Tagen.<br />
Vor dem Meere, dem Land und dem alles deckenden Himmel zeigte Natur in der ganzen Welt ein einziges Ant-<br />
litz. Chaos ward es benannt: eine rohe, gestaltlose Masse; nichts als träges Gewicht und, uneins untereinander, Kei-<br />
me der Dinge, zusammengehäuft in wirrem Gemenge. Damals spendete noch ihr Licht keine Sonne dem Weltall,<br />
liess kein neuer Mond im Wachsen erstehn seine Hörner, schwebte noch nicht, ringsum von Luft umflossen, die<br />
Erde, ausgewogen im gleichen Gewicht, und hatte den langen Rand der Länder noch nicht umreckt mit den Armen<br />
das Weltmeer. Und, wenn Erde darin auch enthalten und Wasser und Luft, so war doch die Erde nicht fest und war<br />
das Wasser nicht flüssig, fehlte der Luft das Licht. Seine Form blieb keinem erhalten; Eines stand dem Andern im<br />
Weg, denn in ein und demselben Körper lagen das Warme und Kalte, das Trockne und Feuchte, Weiches und Har-<br />
tes im Zwist und Schwereloses mit Schwerem.<br />
Diesen Streit hat ein Gott und die bessre Natur dann geschlichtet. Denn er schied vom Himmel die Erde, von<br />
dieser die Wasser, teilte den lauteren Himmel darauf von den dunstigen Lüften. Ihnen, sobald sie entwirrt und<br />
entrückt der finsteren Häufung, wies er verschiedene Räume und band sie zu Frieden und Eintracht. Mächtig<br />
leuchtete da des gewichtlos feurigen Himmels Wölbung auf und schuf sich Platz in dem höchsten Bereiche. Ihm am<br />
nächsten die Luft an Platz zugleich wie an Leichte: dichter als diese, zog die Erde den gröberen Stoff an, ward von<br />
der eigenen Schwere gedrückt; die umflutenden Wasser nahmen das Aeusserste ein und umschlossen die Feste des<br />
Erdrunds.<br />
Als nun, wer es auch war von den Göttern, das wirre Gemenge so zerteilt und geschieden und dann zu Glie-<br />
dern geordnet, ballte zunächst, damit ihr Gleichmass fehle an keiner Stelle, die Erde er fest zur Gestalt einer mäch-<br />
tigen Kugel, liess auseinander dann strömen die Meere, hiess sie von wilden Winden schwellen und rings die<br />
Küsten der Erde umfassen, gab die Quellen dazu, die grossen Seen und die Teiche, schloss in gewundene Ufer die<br />
abwärtsstrebenden Flüsse, die an verschiedenen Orten zum Teil, von der Erde gesogen, schwinden, zum Teil errei-<br />
chen das Meer und, vom Felde der freien Wasser empfangen, an Ufers statt sein Gestade bespülen. Auch die Felder<br />
hiess er sich dehnen, sich senken die Täler, Wälder sich decken mit Laub, sich erheben die steinigen Berge.<br />
Und, wie der Zonen zwei den Himmel scheiden zur Rechten, gleichviel zur Linken, und wie die mittlere heisser<br />
als sie ist, so unterteilte die Sorge des Gottes auch mit der gleichen Zahl die umschlossene Last, so liegen die Gürtel<br />
auf Erden. Nicht zu bewohnen ist der in der Mitte vor glühender Hitze; tiefer Schnee deckt zwei, gleichviel auch<br />
stellt’ er dazwischen, gab ihnen richtiges Mass, gemischt aus Kälte und Flammen.<br />
Ueber diesen die Luft, die so viel schwerer als Feuer, als sie an eignem Gewicht ist leichter als Wasser und Erde.<br />
Dort liess Platz er finden die Nebel und dort das Gewölk, auch die der Menschen Gemüt zu erschüttern berufenen<br />
Donner und die Winde, die Blitz und Wetterleuchten bewirken. Doch auch diesen gab der Meister der Welt nicht<br />
zu freiem Spiele den Luftraum preis; kaum jetzt, da ein jeder sein Wehen lenkt in eigenem Reich, kaum jetzt ist ih-<br />
nen zu wehren, nicht zu zerreissen die Welt: so gross die Zwietracht der Brüder. Eurus nach Osten wich, in Arabi-<br />
ens Reiche, nach Persis und zu den Bergen, die fern unter Morgens Strahlen gelegen: Abend und Küsten jedoch, die<br />
an sinkender Sonne erwarmen, sind dem Zephyr zunächst; in Skythien und weiter im Norden brach der grimmige<br />
Boreas ein; gegenüber die Erde trieft von dem steten Gewölk und den Regengüssen des Auster. Ueber diese setzte<br />
er dann den lauteren schwerefreien, mit keinerlei irdischen Hefe behafteten Aether.
12 Die Entstehung der Welt<br />
Mythen und Mythendeutung<br />
Kaum war alles dies begrenzt in bestimmten Bezirken, als die Gestirne, bisher erstickt und verhüllt unter jener<br />
Masse, begannen frei am ganzen Himmel zu strahlen. Und, dass keinem Bereich an eigenen Wesen es fehle, halten<br />
den himmlischen Grund die Sterne und Göttergestalten, gaben die Wellen als Wohnraum den glänzenden Fischen<br />
sich hin, empfing die Erde Getier, die bewegliche Luft ihre Vögel.<br />
Aber ein reineres Wesen, Gefäss eines höheren Geistes, über die andern zu herrschen befähigt, es fehlte noch<br />
immer. Und es entstand der Mensch, sei's, dass ihn aus göttlichem Samen jener Meister erschuf, der Gestalter der<br />
besseren Weltform, sei's dass die Erde, die jugendfrische, erst kürzlich vom hohen Aether geschieden, die Samen,<br />
die himmelsverwandten, bewahrte. Denn sie mischte des Iapetos Sohn mit dem Wasser des Regens, formte sie dann<br />
nach dem Bild der alles regierenden Götter. Während die anderen Wesen gebückt zur Erde sich neigen, liess er den<br />
Menschen das Haupt hochtragen: er sollte den Himmel sehen und aufgerichtet den Blick nach den Sternen erheben.<br />
Also war nun die Erde verwandelt: soeben noch formlos roh, ward sie jetzo geschmückt mit den Menschengestal-<br />
ten, den neuen.<br />
[Ovid: Metamorphosen,<br />
1,1-88]<br />
6) 1. Buch Moses: Die Schöpfung (Genesis)<br />
2<br />
1 Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe,<br />
3<br />
4<br />
und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott<br />
5<br />
sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finster-<br />
nis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.<br />
6<br />
7<br />
Und Gott sprach: Es werde eine Feste zwischen den Wassern, die da scheide zwischen den Wassern. Da<br />
machte Gott die Feste und schied das Wasser unter dar Feste von dem Wasser über der Feste. Und es geschah so.<br />
8<br />
Und Gott nannte die Feste Himmel. Da ward aus Abend und Morgen der zweite Tag.<br />
9<br />
Und Gott sprach: Es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an besondere Orte, dass man das Trockene<br />
10<br />
sehe. Und es geschah so. Und Gott nannte das Trockene Erde, und die Sammlung der Wasser nannte er Meer.<br />
11<br />
Und Gott sah, dass es gut war. Und Gott sprach: Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringe,<br />
und fruchtbare Bäume auf Erden, die ein jeder nach seiner Art Früchte tragen, in denen ihr Same ist. Und es geschah<br />
12<br />
so Und die Erde liess aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringt, ein jedes nach seiner Art, und Bäume, die da<br />
13<br />
Früchte tragen, in denen ihr Same ist, ein jeder nach seiner Art. Und Gott sah, dass es gut war. Da ward aus Abend<br />
und Morgen der dritte Tag.<br />
14<br />
Und Gott sprach: Es werden Lichter an der Feste des Himmels, die da scheiden Tag und Nacht und geben<br />
15<br />
Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre und seien Lichter an der Feste des Himmels, dass sie scheinen auf die Erde. Und<br />
16<br />
es geschah so. Und Gott machte zwei grosse Lichter: ein grosses Licht, das den Tag regiere, und ein kleines Licht,<br />
17<br />
das die Nacht regiere, dazu auch die Sterne. Und Gott setzte sie an die Feste des Himmels, dass sie schienen auf<br />
18<br />
die Erde und den Tag und die Nacht regierten und schieden Licht und Finsternis. Und Gott sah, dass es gut war.<br />
19<br />
Da ward aus Abend und Morgen der vierte Tag.<br />
20<br />
Und Gott sprach: Es wimmle das Wasser von lebendigem Getier, und Vögel sollen fliegen auf Erden unter<br />
21<br />
der Feste des Himmels. Und Gott schuf grosse Walfische und alles Getier, das da lebt und webt, davon das Wasser<br />
wimmelt, ein jedes nach seiner Art, und alle gefiederten Vögel, einen jeden nach seiner Art. Und Gott sah, dass es<br />
22<br />
gut war. Und Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet das Wasser im Meer, und<br />
23<br />
die Vögel sollen sich mehren auf Erden. Da ward aus Abend und Morgen der fünfte Tag.
Mythen und Mythendeutung<br />
Die Entstehung der Welt 13<br />
24<br />
Und Gott sprach: Die Erde bringe hervor lebendiges Getier, ein jedes nach seiner Art: Vieh, Gewürm und Tie-<br />
25<br />
re des Feldes, ein jedes nach seiner Art. Und es geschah so. Und Gott machte die Tiere des Feldes, ein jedes nach<br />
seiner Art, und das Vieh nach seiner Art und alles Gewürm des Erdbodens nach seiner Art. Und Gott sah, dass es<br />
26<br />
gut war. Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die<br />
Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über<br />
27<br />
alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er<br />
28<br />
ihn; und schuf sie als Mann und Weib,. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch<br />
und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter<br />
29<br />
dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht. Und Gott sprach: Sehet da, ich habe<br />
euch gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen brin-<br />
30<br />
gen, zu eurer Speise. Aber allen Tieren auf Erden und allen Vögeln unter dem Himmel und allem Gewürm, das<br />
31<br />
auf Erden lebt, habe ich alles grüne Kraut zur Nahrung gegeben. Und es geschah so. Und Gott sah an alles, was<br />
er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. Da ward aus Abend und Morgen der sechste Tag.<br />
2<br />
2 So wurden vollendet Himmel und Erde mit ihrem ganzen Heer. Und so vollendete Gott am siebenten Tage<br />
3<br />
seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. Und Gott<br />
segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und<br />
4<br />
gemacht hatte. So sind Himmel und Erde geworden, als sie geschaffen wurden.<br />
5<br />
Es war zu der Zeit, da Gott der HERR Erde und Himmel machte. Und alle die Sträucher auf dem Felde waren<br />
noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen, denn Gott der HERR hatte noch<br />
6<br />
nicht regnen lassen auf Erden, und kein Mensch war da, der das Land bebaute; aber ein Nebel stieg auf von der<br />
7<br />
Erde und feuchtete alles Land. Da machte Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den<br />
Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.<br />
8Und<br />
Gott der HERR pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er<br />
9<br />
gemacht hatte. Und Gott der HERR ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut<br />
10<br />
zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Und<br />
es ging aus von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern, und teilte sich von da in vier Hauptarme.<br />
11Der<br />
erste<br />
12<br />
heißt Pischon, der fließt um das ganze Land Hawila, und dort findet man Gold; und das Gold des Landes ist kost-<br />
13<br />
bar. Auch findet man da Bedolachharz und den Edelstein Schoham. Der zweite Strom heißt Gihon, der fließt um<br />
14<br />
das ganze Land Kusch. Der dritte Strom heißt Tigris, der fließt östlich von Assyrien. Der vierte Strom ist der Eu-<br />
phrat.<br />
15Und<br />
Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, daß er ihn bebaute und bewahr-<br />
16<br />
17<br />
te. Und Gott der HERR gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, aber von<br />
dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage, da du von ihm issest, mußt<br />
du des Todes sterben.<br />
18Und<br />
Gott der HERR sprach: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die<br />
19<br />
um ihn sei. Und Gott der HERR machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Him-<br />
mel und brachte sie zu dem Menschen, daß er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen wür-<br />
de, so sollte es heißen.<br />
20Und<br />
der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem<br />
Felde seinen Namen; aber für den Menschen ward keine Gehilfin gefunden, die um ihn wäre.<br />
21Da<br />
ließ Gott der<br />
HERR einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloß<br />
die Stelle mit Fleisch.<br />
22Und<br />
Gott der HERR baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und<br />
23<br />
brachte sie zu ihm. Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch;<br />
24<br />
man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist. Darum wird ein Mann seinen Vater und seine<br />
Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, und sie werden sein ein Fleisch.<br />
Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht.<br />
[ Genesis,<br />
cap. 1-2]<br />
25Und<br />
sie waren beide nackt, der
14 Das Goldene Zeitalter<br />
Das Goldene Zeitalter<br />
7) Die biblische Tradition: Paradiesesmythos<br />
Mythen und Mythendeutung<br />
8<br />
Und Gott der HERR pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er<br />
9<br />
gemacht hatte. Und Gott der HERR liess aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut<br />
10<br />
zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Und<br />
11<br />
es ging aus von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern, und teilte sich von da in vier Hauptarme. Der erste<br />
12<br />
heisst Pischon, der fliesst um das ganze Land Hawila, und dort findet man Gold; und das Gold des Landes ist<br />
13<br />
kostbar. Auch findet man da Bedolachharz und den Edelstein Schoham. Der zweite Strom heisst Gihon, der fliesst<br />
14<br />
um das ganze Land Kusch. Der dritte Strom heisst Tigris, der fliesst östlich von Assyrien. Der vierte Strom ist der<br />
Euphrat.<br />
15<br />
Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahr-<br />
te.<br />
16<br />
Und Gott der HERR gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen im Garten,<br />
17<br />
aber<br />
von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage, da du von ihm issest,<br />
musst du des Todes sterben.<br />
s18<br />
Und Gott der HERR sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen,<br />
19<br />
die um ihn sei. Und Gott der HERR machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem<br />
Himmel und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nannte, denn wie der Mensch jedes Tier nennen<br />
20<br />
würde, so sollte es heissen. Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf<br />
21<br />
dem Felde seinen Namen, aber für den Menschen ward keine Gehilfin gefunden, die um ihn wäre. Da liess Gott<br />
der HERR einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und<br />
schloss die Stelle mit Fleisch.<br />
22<br />
Und Gott der HERR baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm,<br />
23<br />
und brachte sie zu ihm. Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem<br />
24<br />
Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist. Darum wird ein Mann seinen Vater<br />
25<br />
und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, und sie werden sein ein Fleisch. Und sie waren beide<br />
nackt, der Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht.<br />
[Genesis, cap. 2]<br />
8) Die klassische Form: Ovid, Metamorphosen<br />
Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo,<br />
sponte sua, sine lege fidem rectumque colebat. 90<br />
poena metusque aberant, nec verba minantia fixo<br />
aere legebantur, nec supplex turba timebat<br />
iudicis ora sui, sed erant sine vindice tuti.<br />
nondum caesa suis, peregrinum ut viseret orbem,<br />
montibus in liquidas pinus descenderat undas, 95<br />
nullaque mortales praeter sua litora norant;<br />
nondum praecipites cingebant oppida fossae;<br />
non tuba derecti, non aeris cornua flexi,<br />
non galeae, non ensis erat: sine militis usu<br />
mollia securae peragebant otia gentes. 100<br />
ipsa quoque inmunis rastroque intacta nec ullis<br />
saucia vomeribus per se dabat omnia tellus,<br />
contentique cibis nullo cogente creatis
Mythen und Mythendeutung<br />
arbuteos fetus montanaque fraga legebant<br />
Das Goldene Zeitalter 15<br />
cornaque et in duris haerentia mora rubetis 105<br />
et quae deciderant patula Iovis arbore glandes.<br />
ver erat aeternum, placidique tepentibus auris<br />
mulcebant zephyri natos sine semine flores;<br />
mox etiam fruges tellus inarata ferebat,<br />
nec renovatus ager gravidis canebat aristis; 110<br />
flumina iam lactis, iam flumina nectaris ibant,<br />
flavaque de viridi stillabant ilice mella.<br />
Postquam Saturno tenebrosa in Tartara misso<br />
sub Iove mundus erat, subiit argentea proles,<br />
auro deterior, fulvo pretiosior aere. 115<br />
Iuppiter antiqui contraxit tempora veris<br />
perque hiemes aestusque et inaequalis autumnos<br />
et breve ver spatiis exegit quattuor annum.<br />
tum primum siccis aer fervoribus ustus<br />
canduit, et ventis glacies adstricta pependit; 120<br />
tum primum subiere domos; domus antra fuerunt<br />
et densi frutices et vinctae cortice virgae.<br />
semina tum primum longis Cerealia sulcis<br />
obruta sunt, pressique iugo gemuere iuvenci.<br />
Tertia post illam successit aenea proles, 125<br />
saevior ingeniis et ad horrida promptior arma,<br />
non scelerata tamen; de duro est ultima ferro.<br />
protinus inrupit venae peioris in aevum<br />
omne nefas: fugere pudor verumque fidesque;<br />
in quorum subiere locum fraudesque dolusque 130<br />
insidiaeque et vis et amor sceleratus habendi.<br />
vela dabat ventis nec adhuc bene noverat illos<br />
navita, quaeque prius steterant in montibus altis,<br />
fluctibus ignotis insultavere carinae,<br />
communemque prius ceu lumina solis et auras 135<br />
cautus humum longo signavit limite mensor.<br />
nec tantum segetes alimentaque debita dives<br />
poscebatur humus, sed itum est in viscera terrae,<br />
quasque recondiderat Stygiisque admoverat umbris,<br />
effodiuntur opes, inritamenta malorum. 140<br />
iamque nocens ferrum ferroque nocentius aurum<br />
prodierat, prodit bellum, quod pugnat utroque,<br />
sanguineaque manu crepitantia concutit arma.<br />
vivitur ex rapto: non hospes ab hospite tutus,<br />
non socer a genero, fratrum quoque gratia rara est; 145<br />
inminet exitio vir coniugis, illa mariti,<br />
lurida terribiles miscent aconita novercae,<br />
filius ante diem patrios inquirit in annos:<br />
victa iacet pietas, et virgo caede madentis<br />
ultima caelestum terras Astraea reliquit. 150<br />
[Ovid: Metamorphosen,<br />
1. Buch, 89-150]
16 Das Goldene Zeitalter<br />
9) Ubiquität der Vorstellung vom Goldenen Zeitalter: China<br />
Mythen und Mythendeutung<br />
Die Leute waren beständig in ihrer Natur. Sie webten und hatten Kleidung; sie pflügten und hatten Nahrung;<br />
sie stimmten überein in ihrem Leben; sie waren einig und kannten keine Parteiungen: es war ein Zustand, den man<br />
als natürliche Zufriedenheit bezeichnen kann. Darum war es ein Zeitalter höchsten LEBENS. Sie wanderten ruhig<br />
und gelassen und blickten gesammelt vor sich hin. In jener Zeit gab's auf den Bergen noch keine Pfade und Steige<br />
und in den Seen noch keine Schiffe und Dämme. Alle Wesen waren friedlich vereinigt, und alle sammelten sich in<br />
ihrer Heimat. Tiere und Vögel lebten in Herden beieinander; Kräuter und Bäume wuchsen in ungestörter Ueppig-<br />
keit. So konnte man die Tiere am Halsband spazierenführen und konnte ungehindert auf die Bäume klettern und<br />
in die Vogelnester hineinsehen. Zu jener Zeit höchsten LEBENS wohnten die Menschen zusammen mit den Tieren<br />
und bildeten eine Familie mit allen Wesen. Niemand kannte den Unterschied von Gut und Böse: sie waren alle frei<br />
von Erkenntnis. Darum verliess sie das LEBEN nicht. Sie waren alle frei von Begierden in unschuldsvoller Einfalt.<br />
In dieser unschuldsvollen Einfalt hatten die Leute alles, was sie brauchten.<br />
[Dschuang Dsi; vgl. auch Laotse, Taoteking,<br />
Nr. 80]<br />
10) Rilke: Duineser Elegien: Die achte Elegie<br />
Mit allen Augen sieht die Kreatur<br />
das Offene. Nur unsre Augen sind<br />
wie umgekehrt und ganz um sie gestellt<br />
als Fallen, rings um ihren freien Ausgang.<br />
Was draussen ist,<br />
wir wissens aus des Tiers 5<br />
Antlitz allein; denn schon das frühe Kind<br />
wenden wir um und zwingens, dass es rückwärts<br />
Gestaltung sehe, nicht das Offne, das<br />
im Tiergesicht so tief ist. Frei von Tod.<br />
Ihn sehen wir allein; das freie Tier 10<br />
hat seinen Untergang stets hinter sich<br />
und vor sich Gott, und wenn es geht, so gehts<br />
in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen.<br />
Wir haben nie, nicht einen einzigen Tag,<br />
den reinen Raum vor uns, in den die Blumen 15<br />
unendlich aufgehn. Immer ist es Welt<br />
und niemals Nirgends ohne Nicht: das Reine,<br />
Unüberwachte, das man atmet und<br />
unendlich weiss und nicht begehrt. Als Kind<br />
verliert sich eins im Stilln an dies und wird 20<br />
gerüttelt. Oder jener stirbt und ists.<br />
Der Schöpfung immer zugewendet, sehn<br />
wir nur auf ihr die Spiegelung des Frein,<br />
von uns verdunkelt. Oder dass ein Tier<br />
ein stummes, aufschaut ruhig durch uns durch. 25<br />
Dieses heisst Schicksal: gegenüber sein<br />
und nichts als das und immer gegenüber.<br />
Wäre Bewusstheit unsrer Art in dem
Mythen und Mythendeutung<br />
sicheren Tier das uns entgegenzieht<br />
Das Goldene Zeitalter 17<br />
in anderer Richtung, riss es uns herum 30<br />
mit seinem Wandel, doch sein Sein ist ihm<br />
unendlich, ungefasst und ohne Blick<br />
auf seinen Zustand, rein, so wie sein Ausblick.<br />
Und wo wir Zukunft sehn, dort sieht es Alles<br />
und sich in Allem und geheilt für immer. 35<br />
Und doch ist in dem wachsam warmen Tier<br />
Gewicht und Sorge einer grossen Schwermut.<br />
Denn ihm auch haftet immer an, was uns<br />
oft überwältigt, - die Erinnerung,<br />
als sei schon einmal das, wonach man dränget, 40<br />
näher gewesen, treuer und sein Anschluss<br />
unendlich zärtlich. Hier ist alles Abstand,<br />
und dort wars Atem. Nach der ersten Heimat<br />
ist ihm die zweite zwitterig und windig.<br />
Und wir: Zuschauer, immer, überall, 45<br />
dem allen zugewandt und nie hinaus!<br />
Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.<br />
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.<br />
[Rilke: Duineser Elegien. Die achte Elegie. ]
18 Oedipus Mythen und Mythendeutung<br />
Oedipus<br />
11) Sigmund Freud: Der Oedipuskomplex<br />
Nach meinen bereits zahlreichen Erfahrungen spielen die Eltern im Kinderseelenleben aller späteren Psycho-<br />
neurotiker die Hauptrolle, und Verliebtheit gegen den einen, Hass gegen den andern Teil des Elternpaares gehören<br />
zum eisernen Bestand des in jener Zeit gebildeten und für die Symptomatik der späteren Neurose so bedeutsamen<br />
Materials an psychischen Regungen. Ich glaube aber nicht, dass die Psychoneurotiker sich hierin von anderen nor-<br />
mal verbleibenden Menschenkindern scharf sondern, indem sie absolut Neues und ihnen Eigentümliches zu schaf-<br />
fen vermögen. Es ist bei weitem wahrscheinlicher und wird durch gelegentliche Beobachtungen an normalen<br />
Kindern unterstützt, dass sie auch mit diesen verliebten und feindseligen Wünschen gegen ihre Eltern uns nur<br />
durch die Vergrösserung kenntlich machen, was minder deutlich und weniger intensiv in der Seele der meisten<br />
Kinder vorgeht. Das Altertum hat uns zur Unterstützung dieser Erkenntnis einen Sagenstoff überliefert, dessen<br />
durchgreifende und allgemeingültige Wirksamkeit nur durch eine ähnliche Allgemeingültigkeit der besprochenen<br />
Voraussetzung aus der Kinderpsychologie verständlich wird. Ich meine die Sage vom König Oedipus und das<br />
gleichnamige Drama des Sophokles. [Inhaltsangabe] Die Handlung des Stückes besteht nun in nichts anderem als<br />
in der schrittweise gesteigerten und kunstvoll verzögerten Enthüllung - der Arbeit einer Psychoanalyse vergleich-<br />
bar -, dass Oedipus selbst der Mörder des Laios, aber auch der Sohn des Ermordeten und der Iokaste ist. Durch sei-<br />
ne unwissentlich verübten Greuel erschüttert, blendet sich Oedipus und verlässt die Heimat. Der Orakelspruch ist<br />
erfüllt. (...) Wenn der König Oedipus den modernen Menschen nicht minder zu erschüttern weiss als den zeitge-<br />
nössischen Griechen, so kann die Lösung wohl nur darin liegen, dass die Wirkung der griechischen Tragödie nicht<br />
auf dem Gegensatz zwischen Schicksal und Menschenwillen ruht, sondern in der Besonderheit des Stoffes zu su-<br />
chen ist, an welchem dieser Gegensatz erwiesen wird. Es muss eine Stimme in unserem Innern geben, welche die<br />
zwingende Gewalt des Schicksals im Oedipus anzuerkennen bereit ist, während wir Verfügungen wie in der Ahn-<br />
frau [von Grillparzer] oder in anderen Schicksalstragödien als willkürliche zurückzuweisen vermögen. Und ein sol-<br />
ches Moment ist in der Tat in der Geschichte des Königs Oedipus enthalten. Sein Schicksal ergreift uns nur darum,<br />
weil es auch das unsrige hätte werden können, weil das Orakel vor unserer Geburt denselben Fluch über uns ver-<br />
hängt hat wie über ihn. Uns allen vielleicht war es beschieden, die erste sexuelle Regung auf die Mutter, den ersten<br />
Hass und gewalttätigen Wunsch gegen den Vater zu richten; unsere Träume überzeugen uns davon. König Oed-<br />
ipus, der seinen Vater Laios erschlagen und seine Mutter Iokaste geheiratet hat, ist nur die Wunscherfüllung unse-<br />
rer Kindheit. Aber glücklicher als er, ist es uns seitdem, insofern wir nicht Psychoneurotiker geworden sind,<br />
gelungen, unsere sexuellen Regungen von unseren Müttern abzulösen, unsere Eifersucht gegen unsere Väter zu<br />
vergessen. Vor der Person, an welcher sich jener urzeitliche Kindheitswunsch erfüllt hat, schaudern wir zurück mit<br />
dem ganzen Betrag der Verdrängung, welche diese Wünsche in unserem Innern seither erlitten haben. Während<br />
der Dichter in jener Untersuchung die Schuld des Oedipus ans Licht bringt, nötigt er uns zur Erkenntnis unseres<br />
eigenen Innern, in dem jene Impulse, wenn auch unterdrückt, noch immer vorhanden sind.<br />
Dass die Sage von Oedipus einem uralten Traumstoff entsprossen ist, welcher jene peinliche Störung des Ver-<br />
hältnisses zu den Eltern durch die ersten Regungen der Sexualität zum Inhalte hat, dafür findet sich im Texte der<br />
Sophokleischen Tragödie selbst ein nicht misszuverstehender Hinweis. Iokaste tröstet den noch nicht aufgeklärten,<br />
aber durch die Erinnerung der Orakelsprüche besorgt gemachten Oedipus durch die Erwähnung eines Traums,<br />
den ja so viele Menschen träumen, ohne dass er, meint sie, etwas bedeute:<br />
Denn viele Menschen sahen auch in Träumen schon<br />
sich zugesellt der Mutter: doch wer alles dies<br />
für nichtig achtet, trägt die Last des Lebens leicht. [Verse. 981 ff.]<br />
Der Traum, mit der Mutter sexuell zu verkehren, wird ebenso wie damals auch heute vielen Menschen zuteil,<br />
die ihn empört und verwundert erzählen. Er ist, wie begreiflich, der Schlüssel der Tragödie und das Ergänzungs-
Mythen und Mythendeutung Oedipus 19<br />
stück zum Traum vom Tod des Vaters. Die Oedipus-Fabel ist die Reaktion der Phantasie auf diese beiden typischen<br />
Träume, und wie die Träume von Erwachsenen mit Ablehnungsgefühlen erlebt werden, so muss die Sage Schreck<br />
und Selbstbestrafung in ihren Inhalt mit aufnehmen.<br />
[Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1900) II,63ff]<br />
12) Erich Fromm: Der Oedipusmythos<br />
Es sieht tatsächlich so aus, als ob der Mythos Freuds Theorie bestätigt, dass der Oedipuskomplex seinen Namen<br />
zu Recht trägt. Wenn wir den Mythos jedoch genauer untersuchen, stellen sich Fragen, die Zweifel an der Richtig-<br />
keit dieser Auffassung aufkommen lassen. Zunächst fällt uns folgendes auf: Wenn Freuds Interpretation richtig wä-<br />
re, so sollten wir erwarten, dass der Mythos uns berichtete dass Oedipus Iokaste begegnete, ohne zu wissen, dass<br />
sie seine Mutter war, dass er sich in sie verliebte und dann - wiederum unwissentlich seinen Vater tötete. Aber im<br />
Mythos weist nichts darauf hin, dass Oedipus sich zu Iokaste hingezogen fühlt oder dass er sich in sie verliebt Der<br />
einzige Grund, der uns für die Heirat von Oedipus und Iokaste angegeben wird, ist der, dass sie sozusagen mit zum<br />
Thron gehört. Sollten wir tatsächlich glauben, ein Mythos, dessen zentrales Thema eine inzestuöse Beziehung zwi-<br />
schen Mutter und Sohn ist, würde das Element der Zuneigung zwischen beiden völlig auslassen? Gewiss ist eine<br />
definitive Antwort unmöglich. Aber wir sind wenigstens in der Lage, eine Hypothese zu formulieren, nämlich, dass<br />
der Mythos nicht als Symbol der inzestuösen Liebe zwischen Mutter und Sohn, sondern als Rebellion des Sohnes<br />
gegen die Autorität des Vaters in der patriarchalischen Familie zu verstehen ist; dass die Heirat von Oedipus und<br />
Iokaste nur ein sekundäres Element, nur eines der Symbole für den Sieg des Sohnes ist, der den Platz des Vaters mit<br />
allen seinen Privilegien einnimmt. Das die drei Tragödien durchziehende Thema ist der Konflikt zwischen Vater<br />
und Sohn. In König Oedipus tötet Oedipus seinen Vater Laios, der ihn als kleines Kind hatte umbringen wollen. In<br />
Oedipus auf Kolonus lässt Oedipus seinem wilden Hass auf seine Söhne freien Lauf, und in Antigone treffen wir<br />
auf den gleichen Hass zwischen Kreon und Haimon. Das Inzestproblem existiert weder in der Beziehung zwischen<br />
Oedipus Söhnen und ihrer Mutter, noch in der Beziehung zwischen Haimon und seiner Mutter Eurydike. Wenn<br />
wir König Oedipus im Hinblick auf die gesamte Trilogie interpretieren, so scheint die Annahme einleuchtend, dass<br />
das wahre Problem, um das es auch in König Oedipus geht, der Konflikt zwischen Vater und Sohn und nicht das<br />
Inzestproblem ist.<br />
In Antigone finden wir einen weiteren Vater-Sohn-Konflikt als eines der Hauptthemen der Tragödie. Hier steht<br />
Kreon, der Vertreter des autoritären Prinzips in Staat und Familie, seinem Sohn Haimon gegenüber, der ihm seinen<br />
erbarmungslosen Despotismus und seine Grausamkeit gegen Antigone vorwirft. Haimon versucht seinen Vater zu<br />
töten und begeht Selbstmord, als ihm dies misslingt. Eine Analyse der gesamten Oedipus-Trilogie wird zeigen, dass<br />
der Kampf gegen die väterliche Autorität das Hauptthema ist, und dass die Ursprünge dieses Kampfes weit zu-<br />
rückreichen, bis in die uralten Kämpfe zwischen dem patriarchalischen und dem matriarchalischen Gesellschafts-<br />
system. Oedipus repräsentiert ebenso wie Haimon und Antigone das matriarchalische Prinzip; sie greifen alle eine<br />
gesellschaftliche und religiöse Ordnung an, die sich auf die Macht und die Privilegien des Vaters gründet, welche<br />
durch Laios und Kreon repräsentiert wird. Nach matriarchalischer Auffassung sind alle Menschen gleich, da sie alle<br />
die Kinder von Müttern sind und jedermann ein Kind der Mutter Erde ist. Eine Mutter hat alle ihre Kinder gleich<br />
lieb und zwar bedingungslos, weil sich ihre Liebe darauf gründet, dass sie eben ihre Kinder sind, und nicht auf ein<br />
besonderes Verdienst oder eine besondere Leistung. Das Ziel des Lebens ist das Glück der Menschen, und es gibt<br />
nichts, was wichtiger oder würdiger wäre als die menschliche Existenz und das Leben. Das patriarchalische System<br />
dagegen sieht im Gehorsam gegenüber der Autorität die Haupttugend. Anstelle des Gleichheitsprinzips finden wir<br />
den Begriff des Lieblingssohnes und eine hierarchische Ordnung in der Gesellschaft. Nur eine Gestalt im Mythos<br />
und in Sophokles' König Oedipus scheint unserer Hypothese zu widersprechen - nämlich Iokaste. Nehmen wir an,<br />
dass sie das mütterliche Prinzip repräsentiert, so erhebt sich die Frage, weshalb die Mutter zugrunde geht, anstatt<br />
den Sieg davonzutragen, falls die hier gegebene Deutung stimmt. Die Beantwortung dieser Frage wird zeigen, dass<br />
die Rolle der Iokaste nicht nur unserer Hypothese nicht widerspricht, sondern sie im Gegenteil bestätigt. Iokastes<br />
Vergehen besteht darin, dass sie ihre Pflicht als Mutter nicht erfüllt hat, dass sie ihr Kind umbringen wollte, um den
20 Oedipus Mythen und Mythendeutung<br />
Gatten zu retten. Es war dies vom Standpunkt der patriarchalischen Gesellschaft aus eine legitime Entscheidung,<br />
aber vom Standpunkt der matriarchalischen Gesellschaft und der matriarchalischen Ethik aus ist es ein unverzeih-<br />
liches Verbrechen. Sie ist es, die durch dieses Verbrechen die Kette von Ereignissen auslöst, die schliesslich zu ihrem<br />
eigenen Untergang wie auch zu dem ihres Gatten und ihres Sohnes führt. Um das zu verstehen, dürfen wir die Tat-<br />
sache nicht aus den Augen verlieren, dass der Mythos, so wie Sophokles ihn kannte, bereits dem patriarchalischen<br />
System entsprechend geändert war, dass der manifeste und bewusste Bezugsrahmen das Patriarchat ist und dass<br />
die latente, ältere Bedeutung nur in verhüllter und oft entstellter Form noch in Erscheinung tritt. Das patriarchali-<br />
sche System hatte gesiegt, und der Mythos erklärt die Gründe für den Niedergang des Matriarchats. Er will uns<br />
klarmachen, dass die Mutter, dadurch dass sie ihre oberste Pflicht verletzte, ihren eigenen Untergang herbeiführte.<br />
[Erich Fromm: Märchen, Mythen, Träume. dt. Ausg. rororo. Reinbek 1957.]
Mythen und Mythendeutung Orpheus und Eurydike 21<br />
Orpheus und Eurydike<br />
13) Ovid, Metamorphosen: Orpheus und Eurydike<br />
Doch Hymenaeus enteilte von dort im Safrangewande<br />
Durch die unendliche Luft: er strebt nach dem Land der Kikonen.<br />
Denn es lädt ihn die Bitte des Orpheus: vergebliches Mühen!<br />
Zwar, er ist da; doch bringt er nicht festliche Worte, nicht heitre<br />
Mienen, kein günstiges Omen als Zeichen des künftigen Glückes. 5<br />
Auch die vom Gott getragene Fackel, so sehr er sie schwenkte,<br />
Wollte nicht leuchten: sie zischte beständig und beizte die Augen.<br />
Doch was geschah, übertraf noch das Zeichen. Denn während die junge<br />
Frau sich im Grase ergeht, von der Schar der Najaden begleitet,<br />
Stürzt sie und stirbt, in die Ferse vom Zahn einer Schlange gebissen. 10<br />
Lange beweint sie der Sänger vom Rhodopeberge auf dieser<br />
Erde. Dann steige er – er will's auch im Reiche der Schatten versuchen –<br />
Mutig hinab durch das Taenarontor zum stygischen Strome.<br />
Durch die Gebilde der Toten, der oben begrabenen, leichte<br />
Scharen, strebt er hindurch zu Persephone und zu dem Fürsten, 15<br />
Welcher die düsteren Reiche der Schatten beherrscht. Zu dem Liede<br />
Schlägt er die Saiten und singt: “Ihr Götter der Welt in der Tiefe,<br />
Wo wir alle versinken, die sterblich auf Erden geboren!<br />
Wenn ihr's vergönnt, dass die Wahrheit ich sage und täuschender Rede<br />
Winkelzüge vermeide: ich bin nicht herniedergestiegen, 20<br />
Um des Tartarus Dunkel zu schauen, nicht will ich die schlangen-<br />
Wimmelnden Hälse, die drei, des medusischen Untiers umschnüren:<br />
Meiner Gemahlin gilt mein Gang: eine Viper, auf die sie<br />
Trat, vergiftete sie und nahm ihr die Jahre der Jugend.<br />
Tragen wollt' ich das Leid, und ich hab es versucht, ich gesteh es: 25<br />
Amor war stärker. Der Gott ist bekannt in den himmlischen Sphären.<br />
Ob er's auch hier ist, bezweifl'ich; und dennoch, ich glaube, man kennt ihn:<br />
Wenn sie nicht lügt, die Sage vom eigenen Raube: auch euch hat<br />
Amor verbunden. Bei diesen Gefilden, in denen die Angst wohnt,<br />
Bei dem gewaltigen Chaos, beim Schweigen des riesigen Reiches 30<br />
Fleh ich euch an: oh löst Eurydices schnelles Verhängnis!<br />
Gänzlich sind wir euch eigen: wir säumen nur kurz, dann enteilen<br />
Später wir oder auch früher zur einen und einzigen Stätte.<br />
Hierhin streben wir alle, hier ist die letzte Behausung;<br />
Über das Menschengeschlecht habt ihr am längsten zu herrschen. 35<br />
Hat sie die richtigen Jahre vollbracht bis zur Reife, so ist auch<br />
Sie euch pflichtig: als Gabe begehr ich nur kurzes Besitztum.<br />
Wehrt das Geschick für die Frau mir die Gnade, so kehr ich entschlossen<br />
Nimmer zurück: ihr mögt euch am Tod von beiden erfreuen!”<br />
Und es weinten die Seelen, die bleichen, um ihn, wie er solches 40<br />
Sang, und die Saiten erklangen: nicht hascht nach der flüchtigen Welle<br />
Tantalus mehr, Ixions Rad steht starr, und die Vögel<br />
Hacken die Leber nicht mehr; es ruhn der Beliden Gefässe,<br />
Und du, Sisyphus, setzest auf deinem Steine dich nieder.
22 Orpheus und Eurydike Mythen und Mythendeutung<br />
Tränen benetzten die Augen der Eumeniden zum ersten 45<br />
Mal, so erzählt man: es rührt sie das Lied. Die fürstliche Gattin<br />
Und der Beherrscher der Tiefe vermögen es nicht, ihm die Bitte<br />
Abzuschlagen, und rufen Eurydice. Unter den neuen<br />
Schatten ist jene und schreitet mit schleppendem Fuss, die Verletzte.<br />
Sie empfängt er, der Held vom Rhodopeberg, und die Weisung, 50<br />
Dass er die Augen nicht rückwärts wende, bevor des Avernus<br />
Tal er verlassen, sonst werde die Gabe die Geltung verlieren.<br />
Aufwärts führt sie der Pfad durch schweigende Stille. Sie steigen<br />
Steil in finsterer Nacht, von dichtestem Nebel umschattet.<br />
Nicht mehr fern ist die Grenze der oberen Welt: da befürchtets 55<br />
Er, der Liebende, dass sie ermatte; er sehnt sich nach ihrem<br />
Anblick und schaut sich um: schon ist die Geliebte entglitten<br />
Und sie breitet die Arme: sie will ihn halten, sich halten<br />
Lassen und greift, die Unselige, nichts als entweichende Lüfte.<br />
Mag sie sterben zum zweiten Mal: sie hat für den Gatten 60<br />
Keinerlei Tadel; was soll sie denn tadeln, als dass er sie liebe?<br />
Nur ein letztes “Lebewohl”, das kaum seine Ohren vernehmen,<br />
Spricht sie, dann trägt es sie wieder davon nach dem nämlichen Orte.<br />
[…]<br />
Orpheus steht wie betäubt ob dem doppelten Mord an der Gattin: 71<br />
Flehen will er, ein zweites Mal gehen – vergeblich! Der Fährmann<br />
Weist ihn zurück. Und dennoch, er sitze am Ufer noch sieben<br />
Tage, beschmutzt und trauernd, die Gabe der Ceres verschmähend:<br />
Tränen sind ihm die Nahrung und Kummer und Schmerzen der Seele. 75<br />
Grausam seien die Erebusgötter, so klagt er; zur hohen<br />
Rhodope flieht er sodann und zum Haemus, dem nordwindgepeitschten.<br />
[Ovid: Metamorphosen, 10,1ff]
Mythen und Mythendeutung Orpheus und Eurydike 23<br />
14) ORPHEUS. EURYDIKE. HERMES<br />
Das war der Seelen wunderliches Bergwerk.<br />
Wie stille Silbererze gingen sie<br />
als Adern durch sein Dunkel. Zwischen Wurzeln<br />
entsprang das Blut, das fortgeht zu den Menschen,<br />
und schwer wie Porphyr sah es aus im Dunkel.<br />
Sonst war nichts Rotes.<br />
Felsen waren da<br />
und wesenlose Wälder. Brücken über Leeres<br />
und jener grosse graue blinde Teich,<br />
der über seinem fernen Grunde hing<br />
wie Regenhimmel über einer Landschaft.<br />
Und zwischen Wiesen, sanft und voller Langmut,<br />
erschien des einen Weges blasser Streifen,<br />
wie eine lange Bleiche hingelegt.<br />
Und dieses einen Weges kamen sie.<br />
Voran der schlanke Mann im blauen Mantel,<br />
der stumm und ungeduldig vor sich aussah.<br />
Ohne zu kauen frass sein Schritt den Weg<br />
in grossen Bissen; seine Hände hingen<br />
schwer und verschlossen aus dem Fall der Falten
24 Orpheus und Eurydike Mythen und Mythendeutung<br />
und wussten nicht mehr von der leichten Leier,<br />
die in die Linke eingewachsen war<br />
wie Rosenranken in den Ast des Ölbaums.<br />
Und seine Sinne waren wie entzweit:<br />
indes der Blick ihm wie ein Hund vorauslief,<br />
umkehrte, kam und immer wieder weit<br />
und wartend an der nächsten Wendung stand, -<br />
blieb sein Gehör wie ein Geruch zurück.<br />
Manchmal erschien es ihm als reichte es<br />
bis an das Gehen jener beiden andern,<br />
die folgen sollten diesen ganzen Aufstieg.<br />
Dann wieder wars nur seines Steigens Nachklang<br />
und seines Mantels Wind was hinter ihm war.<br />
Er aber sagte sich, sie kämen doch;<br />
sagte es laut und hörte sich verhallen.<br />
Sie kämen doch, nur wärens zwei<br />
die furchtbar leise gingen. Dürfte er<br />
sich einmal wenden (wäre das Zurückschaun<br />
nicht die Zersetzung dieses ganzen Werkes,<br />
das erst vollbracht wird), müsste er sie sehen,<br />
die beiden Leisen, die ihm schweigend nachgehn:<br />
Den Gott des Ganges und der weiten Botschaft,<br />
die Reisehaube über hellen Augen,<br />
den schlanken Stab hertragend vor dem Leibe<br />
und flügelschlagend an den Fussgelenken;<br />
und seiner linken Hand gegeben: sie.<br />
Die So-geliebte, dass aus einer Leier<br />
mehr Klage kam als je aus Klagefrauen;<br />
dass eine Welt aus Klage ward, in der<br />
alles noch einmal da war: Wald und Tal<br />
und Weg und Ortschaft, Feld und Fluss und Tier;<br />
und dass um diese Klage- Welt, ganz so<br />
wie um die andre Erde, eine Sonne<br />
und ein gestirnter stiller Himmel ging,<br />
ein Klage-Himmel mit entstellten Sternen -:<br />
Diese So-geliebte.<br />
Sie aber ging an jenes Gottes Hand,<br />
den Schritt beschränkt von langen Leichenbändern,<br />
unsicher, sanft und ohne Ungeduld.<br />
Sie war in sich, wie Eine hoher Hoffnung,<br />
und dachte nicht des Mannes, der voranging,<br />
und nicht des Weges, der ins Leben aufstieg.<br />
Sie war in sich. Und ihr Gestorbensein<br />
erfüllte sie wie Fülle.<br />
Wie eine Frucht von Süssigkeit und Dunkel,<br />
so war sie voll von ihrem grossen Tode,<br />
der also neu war, dass sie nichts begriff.<br />
Sie war in einem neuen Mädchentum<br />
und unberührbar; ihr Geschlecht war zu<br />
wie eine junge Blume gegen Abend,<br />
und ihre Hände waren der Vermählung<br />
so sehr entwöhnt, dass selbst des leichten Gottes<br />
unendlich leise, leitende Berührung<br />
sie kränkte wie zu sehr Vertraulichkeit.<br />
Sie war schon nicht mehr diese blonde Frau,<br />
die in des Dichters Liedern manchmal anklang,<br />
nicht mehr des breiten Bettes Duft und Eiland<br />
und jenes Mannes Eigentum nicht mehr.<br />
Sie war schon aufgelöst wie langes Haar<br />
und hingegeben wie gefallner Regen<br />
und ausgeteilt wie hundertfacher Vorrat.<br />
Sie war schon Wurzel.<br />
Und als plötzlich jäh<br />
der Gott sie anhielt und mit Schmerz im Ausruf<br />
die Worte sprach: Er hat sich umgewendet -,<br />
begriff sie nichts und sagte leise: Wer?<br />
Fern aber, dunkel vor dem klaren Ausgang,<br />
stand irgend jemand, dessen Angesicht<br />
nicht zu erkennen war. Er stand und sah,<br />
wie auf dem Streifen eines Wiesenpfades<br />
mit trauervollem Blick der Gott der Botschaft<br />
sich schweigend wandte, der Gestalt zu folgen,<br />
die schon zurückging dieses selben Weges,<br />
den Schritt beschränkt von langen Leichenbändern,<br />
unsicher, sanft und ohne Ungeduld.<br />
[Rilke: ORPHEUS. EURYDIKE. HERMES]
Mythen und Mythendeutung Narziss und Echo 25<br />
Narziss und Echo<br />
15) Ovid: Narziss und Echo<br />
Schwanger geworden, gebar sie ein Kindlein, welches schon damals 345<br />
Liebe verdiente, und nannt' es Narcissus; und als man den<br />
Schicksal-Seher [Teiresias] befragte, ob je dieser Knabe zu hohem<br />
Alter gelange, da gab er zur Antwort: “Ja, wenn er sich fremd bleibt!”<br />
Lang schien nichtig das Wort des Propheten, doch bracht' es der Ausgang<br />
Endlich zu Ehren: ein seltsames Rasen, ein sonderbar Sterben! 350<br />
Sechzehnjährig war er geworden, der Sohn des Cephisus,<br />
Und bald schien er ein Knabe zu sein, bald wieder ein Jüngling.<br />
Liebende Sehnsucht erregt' er bei vielen, bei Jünglingen, Mädchen;<br />
Doch es beseelte den zärtlichen Körper die sprödeste Härte:<br />
Niemand vermochte den Schönen zu rühren, kein Jüngling, kein Mädchen. 355<br />
Jetzt, als er flüchtige Hirsche in Netze zu jagen versuchte,<br />
Sah ihn die klangreiche Nymphe, die niemals schwieg, wenn ein andrer<br />
Sprach, doch niemals begann, die wiederertönende Echo.<br />
Damals war Echo ein körperlich Wesen und nicht eine Stimme<br />
Doch die Geschwätzige sprach nicht anders als heute: von vielen 360<br />
Worten vermochte sie nur die letzten wiederzugeben.<br />
Das war Junos Verhängnis: sie hätte gar manche der Nymphen,<br />
Denen ihr Jupiter sich in den Bergen gesellte, ertappen<br />
Können; doch sie hielt klüglich die Göttin in langem Geplauder<br />
Fest, bis die Nymphen entwichen. Als dies Saturnia merkte, 365<br />
Sprach sie: “Die Zunge, die so mich getäuscht hat, du darfst sie von jetzt an<br />
Wenig gebrauchen; es soll dir nur kürzeste Rede gewährt sein.”<br />
Und sie erfüllt ihre Drohung; doch jene vermag zu verdoppeln<br />
Was man am Ende gesprochen: zurück ertönt das Gehörte.<br />
Diese erblickte Narcissus – er schweifte durch weglose Fluren. 370<br />
Heiss überfällt sie die Liebe: sie folgt seinen Spuren verstohlen,<br />
Und je mehr sie ihm folgt, je heisser erglüht sie in Flammen<br />
Ebenso reisst der lebendige Schwefel – man hat ihn um Fackel-<br />
Spitzen gestrichen – die Flamme an sich, die ihm nahe gebracht ward.<br />
Ach, sie wollte so oft mit schmeichelnden Reden ihm nahen, 375<br />
Weich liebkosend ihn bitten! Ihr Wesen verweigert's: beginnen<br />
Ist ihr verwehrt; doch ist sie gerüstet zu dem, was ihr zusteht:<br />
Tönen zu lauschen, um dann ihre Worte zurückzuentsenden!<br />
Einmal verlor der Knabe durch Zufall sein treues Gefolge<br />
Und so rief er: “Ist jemand zugegen?” “Zugegen!” sagt Echo. 380<br />
Staunend steht er und schaut nach allen Seiten; dann ruft er<br />
Laut und deutlich: “So komm!” – den Rufenden ruft sie desgleichen.<br />
Um sich blickt er; doch niemand erscheint. “Warum denn”, so spricht er,<br />
“Meidest du mich?” und gleichviel Worte ertönen ihm wider.<br />
Nicht ablassend, getäuscht durch den Widerhall, ruft er: “Wir wollen 385<br />
Hier uns vereinigen!” Gab's einen Laut, dem Echo so freudig<br />
Jemals erwiderte? “Hier uns vereinigen!” rief sie zur Antwort;<br />
Und sie trat aus dem Wald, getreu ihren Worten, und wollte
26 Narziss und Echo Mythen und Mythendeutung<br />
Gehn und sogleich mit den Armen den Hals des Ersehnten umschlingen.<br />
Aber er flieht und schreit: “Fort! Fort mit den Händen und Armen! 390<br />
Eher würde ich sterben! Du meinst, dir würd' ich mich schenken?”<br />
Jene erwiderte nichts als die Worte: “Dir würd' ich mich schenken! ”<br />
Und die Verschmähte verbirgt sich im Walde: das Antlitz versteckt sie<br />
Schamübergossen im Laub und haust nun in einsamen Grotten.<br />
Aber es haftet die Liebe; die Kränkung lässt sie noch wachsen; 395<br />
Jämmerlich zehren am Leib die quälenden Leiden: er magert<br />
Ab und die Haut wird schlaff; in die Luft verflüchtigt sich jeder<br />
Saft des Leibes. Die Stimme allein und die Knochen sind übrig;<br />
Jene hat Dauer; die Knochen, sie wurden zu Stein, so erzählt man.<br />
Und jetzt ist sie verborgen in Wäldern; man sieht sie auf keinem 400<br />
Berg, doch jedermann hört sie: ihr Ton ist lebendig geblieben.<br />
Also hatte er diese und andere Nymphen der Wasser<br />
Oder der Berge getäuscht, so früher die Männer verachtet.<br />
Aber da hob ein Verschmähter die Hände zum Himmel und flehte:<br />
“Möge er selbst so lieben und nie das Geliebte besitzen!.” 405<br />
Sprach's; die berechtigte Bitte erhörte die Göttin von Rhamnus.<br />
Sieh den lauteren Quell mit silberglänzendem Wasser!<br />
Niemals hatten ihn Hirten berührt, niemals im Gebirge<br />
Weidende Ziegen noch anderes Vieh, nie hatte ein Vogel<br />
Oder ein Wild ihn getrübt noch ein Ast, vom Baume gefallen. 410<br />
Gras stand rings um ihn her, das die Nähe des Wassers ernährt<br />
Und ein Wald, der der Sonne verwehrte, den Ort zu erhitzen.<br />
Hier sank nieder der Knabe, ermüdet von eifrigem Jagen<br />
Und von der Hitze, gelockt von dem Quell und der Anmut des Ortes.<br />
Doch wie den Durst er zu stillen begehre, erwächst ihm ein andrer 415<br />
Durst: beim Trinken erblickt er herrliche Schönheit; ergriffen<br />
Liebt er ein körperlos Schemen: was Wasser ist, hält er für Körper.<br />
Reglos staunt er sich an, mit unbeweglichem Antlitz,<br />
Starr, einer Statue gleich, die aus parischem Marmor geformt ist,<br />
Liegend am Boden erschaut er das Doppelgestirn seiner Augen, 420<br />
Sieht seine Haare: sie hätten Apollo geziert oder Bacchus !<br />
Sieht die Wangen der Jugend, den Hals, der wie Elfenbein schimmert,<br />
Seinen so zierlichen Mund und die Farbe von Schnee und von Rosen.<br />
Alles bewundert er jetzt, weshalb ihn die andern bewundern:<br />
Sich begehrt er, der Tor, der Liebende ist der Geliebte, 425<br />
Und der Ersehnte der Sehnende, Zunder zugleich und Entflammter.<br />
Oh, wie küsst' er so oft – vergeblich – die trügende Quelle,<br />
Tauchte die Arme so oft in das Wasser, den Hals zu umschlingen,<br />
Den er erschaut, und kann sich doch selbst im Gewässer nicht fassen.<br />
Was er ersieht, nicht weiss er's; er sieht's, und es setzt ihn in Flammen, 430<br />
Und seine Augen betrügt und entzündet der nämliche Irrtum.<br />
Gläubiger Knabe, du haschest vergeblich nach flüchtigen Bildern!<br />
Nirgends ist, was du ersehnst; was du liebst, du wirst es vernichten,<br />
Wenn du dich wendest; du siehst nur ein nichtiges Spiegelgebilde;<br />
Eigenes Wesen gebricht ihm: mit dir erscheint es und dauert, 435<br />
Mit dir geht es hinweg –wofern du zu gehen vermöchtest!<br />
Weder der Hunger noch Ruhebedürfnis vermag von der Stelle<br />
Ihn zu vertreiben: er schaut, im beschatteten Grase gelagert,
Mythen und Mythendeutung Narziss und Echo 27<br />
Hin nach der Lügengestalt mit niemals gesättigtem Blicke,<br />
Ganz durch die eigenen Augen vernichtet. Dann ruft er, ein wenig 440<br />
Aufgerichtet, die Arme zu den rings stehenden Bäumen<br />
Breitend: “Hat je ein Mensch so grausam geliebt, o ihr Wälder?<br />
Ihr ja wisst es, denn vielen habt freundlich Versteck ihr geboten!<br />
Während so viele Jahrhunderte eueres Lebens verstrichen,<br />
Könnt ihr euch eines erinnern, der je sich so jämmerlich quälte 445<br />
Lieben– ich muss es und schauen; doch was ich erschaue und liebe,<br />
Kann ich nicht greifen: den Liebenden hemmt eine mächtige Täuschung.<br />
Und dass wachse mein Leid: nicht das Meer, das gewaltige, trennt uns,<br />
Nicht eine Strasse, kein Berg, keine Wand mit verschlossener Pforte,<br />
Nur ein winziges Wasser! Er selbst wünscht meine Umarmung! 450<br />
Denn so oft ich zum Kuss nach dem klaren Gewässer mich neige,<br />
Gleich oft strebt er mir zu mit empor sich wendendem Munde.<br />
Möglich scheint die Berührung: die Liebenden trennt nur ein Kleines.<br />
Wer du auch seist, komm heraus! Was täuschst du mich, einziger Knabe?<br />
Wenn ich dich fasse, wo schwindest du hin? Du kannst doch meiner 455<br />
Jugendschönheit nicht fliehn? Selbst Nymphen ersehnten sie einstmals.<br />
Eine verborgene Hoffnung verspricht mir dein freundliches Antlitz;<br />
Streck ich die Arme nach dir, von selber streckst du die deinen<br />
Lache ich, lachst du mir zu, und oftmals habe ich deine<br />
Tränen bemerkt, wenn ich weinte; durch Nicken schickst du mir Zeichen, 460<br />
Und deines reizenden Mundes Bewegung lässt mich ahnen,<br />
Dass du auch Worte mir spendest, die nicht zu den Ohren mir dringen.<br />
Ach, ich bin es ja selbst! ich merk es; mein Bild ist mir deutlich.<br />
Liebe zu mir verbrennt mich: ich schüre die Glut, die ich leide.<br />
Ach, was beginnen? Ihn bitten? Doch was? Soll der andere bitten? 465<br />
Mein ist, was ich ersehne; ich möchte mich schenken und kann nicht.<br />
Oh, wenn ich doch von dem eigenen Leib mich zu trennen vermöchte!<br />
War es denn je eines Liebenden Wunsch, was er liebt, möge schwinden?<br />
Und schon raubt mir die Kräfte der Schmerz; es bleibt mir vom Leben<br />
Nur noch wenig: ich muss in der blühendsten Jugend erlöschen. 470<br />
Schwer ist der Tod mir nicht – er wird vom Leid mich erlösen.<br />
Meinem Geliebten – ich wünschte ihm wohl ein längeres Leben<br />
Doch jetzt sterben wir beide, vereinigt in einzigem Hauche.”<br />
Sprach's und wandte, der Tolle, sich wieder zur gleichen Erscheinung,<br />
Und er trübte mit Tränen die Flut: durch des Wassers Bewegung 475<br />
Wurde verdunkelt das Bild. Als er sah, wie es schwand, rief kläglich:<br />
“Oh, wohin fliehst du davon? So bleibe, du Grausamer, lass mich,<br />
Der dich liebe, nicht allein! Was mir zu berühren versagt ist,<br />
Darf ich doch wenigstens sehn und die Wut, die unselige, schüren! ”<br />
Während er jammerte, streifte er ab das Gewand, und mit Händen, 480<br />
Welche wie Marmor glänzten, zerschlug er die Brust sich, die nackte.<br />
Da überzog von den Schlägen die Brust sich mit rötlicher Farbe,<br />
So wie die Aepfel es pflegen, die hier noch helle, dort rot sich<br />
Färben, oder den Beeren der Trauben, den bunten, vergleichbar,<br />
Welche, noch unreif, in purpurner Farbe zu schimmern beginnen. 485<br />
Als er es sah in dem wiederum helle gewordenen Spiegel,<br />
Konnt'er es nicht mehr ertragen: wie gelbliches Wachs in dem leichten<br />
Feuer zerschmilzt, wie Reif in den Morgenstrahlen der Sonne
28 Narziss und Echo Mythen und Mythendeutung<br />
Rasch vergeht, so zerrann der Knabe, vom Leide der Liebe<br />
Sich verzehrend, allmählich verbrannt von verborgenem Feuer. 490<br />
Hin ist die Farbe, die weisse, die rote, verschwunden des Lebens<br />
Frische und Kraft: was soeben beim Anblick entzückte, ist nicht mehr;<br />
Fort ist der Leib, der einstmals von Echo so herzlich geliebte.<br />
Als sie es sah, ergriff sie der Schmerz, obwohl sie des Zornes<br />
Niemals vergessen: sooft der unselige Knabe sein “Wehe!” 495<br />
Rief, wiederholte sie widerertönend ihr klingendes “Wehe!”<br />
Wenn er die Oberarme sich peitschte mit klatschenden Händen,<br />
Liess auch die Nymphe den nämlichen Ton der Schläge vernehmen.<br />
Auch die Worte, die letzten – er schaute noch immer ins Wasser –<br />
“Ach! du Knabe, vergeblich geliebt!” widerhallten am gleichen 500<br />
Orte; dem Rufe “Leb wohl!” “Leb wohl!” erwiderte Echo.<br />
Müde entsank ihm das Haupt auf den grünenden Rasen; der Tod schloss<br />
Ihm die Augen, die so die eigene Schönheit bestaunten.<br />
Und auch später, nachdem er zur Wohnung der Toten gelangt war<br />
Spiegelt' er sich in dem Wasser der Styx. Die Najaden beklagten 505<br />
Ihn und weihten dem Bruder die abgeschnittenen Haare.<br />
Auch die Dryaden klagten, und Echo ertönt zu der Klage.<br />
Und schon rüstete man die Verbrennung, die Bahre, geschwungne<br />
Fackeln: da war der Körper verschwunden – man fand eine krokus-<br />
Farbene Blume, den Kelch von weissen Blättern umschlossen. 510<br />
[Ovid: Metamorphosen, 3, 341-510]<br />
16) Narzissmus als psychoanalytischer Befund und seine gesellschaftlichen<br />
Auswirkungen<br />
E. Fromm, Aggression und Narzissmus<br />
Neben den bereits besprochenen Faktoren ist eine der wichtigsten Quellen der defensiven Aggression der ver-<br />
letzte Narzissmus.<br />
Freud hat den Begriff des Narzissmus im Rahmen einer Libidotheorie formuliert. Da der schizophrene Patient<br />
anscheinend keine „libidinöse” Beziehung zu Objekten (weder in der Wirklichkeit noch in seiner Phantasie) besitzt,<br />
fragte sich Freud: „Welches ist das Schicksal der den Objekten entzogenen Libido bei der Schizophrenie?” Seine<br />
Antwort lautete: „Die der Aussenwelt entzogene Libido ist dem Ich zugeführt worden, so dass ein Verhalten ent-<br />
stand, welches wir Narzissmus heissen können.” Ausserdem nahm Freud an, dass der ursprüngliche Zustand des<br />
Menschen in seiner frühen Kindheit der des Narzissmus („primärer Narzissmus”) ist, ein Stadium, in dem noch kei-<br />
nerlei Beziehung zur Aussenwelt vorhanden ist. Im Verlauf der normalen Entwicklung verstärkt das Kind seine li-<br />
bidinösen Beziehungen zur Aussenwelt an Umfang und Intensität, aber unter besonderen Bedingungen (von denen<br />
die drastischsten eine Geisteskrankheit ist) wird die Libido von den Objekten abgezogen und auf das Ich zurück-<br />
gelenkt („sekundärer Narzissmus”). Selbst im Falle einer normalen Entwicklung bleibt jedoch jeder Mensch wäh-<br />
rend seines ganzen Lebens bis zu einem gewissen Grad narzisstisch (S. Freud, 1914).<br />
Trotz dieser Feststellung hat der Begriff des Narzissmus in den klinischen Untersuchungen der Psychoanaly-<br />
tiker nicht die wichtige Rolle gespielt, die er verdient hätte. Er wurde hauptsächlich auf die frühe Kindheit und auf<br />
Psychosen angewandt, doch spielt er eine viel weitreichendere Rolle, und zwar sowohl bei der normalen als auch<br />
bei der sogenannten neurotischen Persönlichkeit. Man kann diese Rolle nur ganz verstehen, wenn man den Nar-<br />
zissmus von dem einengenden Bezugsrahmen der Libidotheorie befreit. Dann kann man den Narzissmus als einen
Mythen und Mythendeutung Narziss und Echo 29<br />
Erlebniszustand definieren, in dem nur die Person selbst, ihr Körper, ihre Bedürfnisse, ihre Gefühle, ihre Gedanken,<br />
ihr Eigentum, alles und jedes, was zu ihr gehört, als völlig real erlebt wird, während alles und jedes, was keinen Teil<br />
der eigenen Person bildet oder nicht Gegenstand der eigenen Bedürfnisse ist, nicht interessiert, keine volle Realität<br />
besitzt und nur intellektuell wahrgenommen wird; affektiv bleibt es ohne Gewicht und Farbe. In dem Masse, wie<br />
ein Mensch narzisstisch ist, hat er einen doppelten Massstab für seine Wahrnehmungen. Nur er selbst und was zu<br />
ihm gehört, besitzt Signifikanz, während die übrige Welt mehr oder weniger ohne Gewicht und Farbe ist, und ein<br />
narzisstischer Mensch weist aufgrund dieses doppelten Massstabs schwere Defekte in seinem Urteilsvermögen und<br />
seiner Fähigkeit zur Objektivität auf.<br />
Oft gelangt ein narzisstischer Mensch zu einem Gefühl der Sicherheit durch seine völlig subjektive Überzeu-<br />
gung von der eigenen Vollkommenheit, von seiner Ueberlegenheit über andere, von seinen ausserordentlichen<br />
Qualitäten, und nicht dadurch, dass er auf andere bezogen ist, oder durch wirkliche eigene Arbeit oder Leistung.<br />
Er muss sich an seine narzisstische Vorstellung von sich selbst klammern, da sich sein Wert und Identitätsgefühl<br />
darauf gründet. Wird sein Narzissmus bedroht, so ist er in einem lebenswichtigen Bereich bedroht. Wenn andere<br />
seinen Narzissmus verletzen indem sie ihn geringschätzig behandeln, ihn kritisieren und blossstellen weil er etwas<br />
Falsches gesagt hat, wenn sie ihn beim Spiel schlagen oder bei zahlreichen anderen Gelegenheiten kränken, dann<br />
reagiert ein solcher narzisstischer Mensch gewöhnlich mit intensivem Zorn oder mit Wut, ob er es nun zeigt oder<br />
nicht. Es kommt sogar vor, dass er sich dessen selber nicht bewusst ist. Wie intensiv diese aggressive Reaktion oft<br />
sein kann, zeigt sich daran, dass ein solcher Mensch jemandem, der seinen Narzissmus verwundet hat, dies nie ver-<br />
zeiht und sein Rachedurst oft grösser ist, als wenn ihn jemand körperlich verwundet oder um sein Eigentum ge-<br />
bracht hätte.<br />
Die meisten Menschen sind sich ihres Narzissmus nur insofern bewusst, als es sich um Manifestationen han-<br />
delt, in denen er nicht offen zum Ausdruck kommt. So pflegen sie zum Beispiel eine übertriebene Bewunderung für<br />
ihre Eltern oder für die eigenen Kinder zu empfinden, und es macht ihnen auch nichts aus, diese Gefühle zum Aus-<br />
druck zu bringen, weil ein solches Verhalten gewöhnlich als kindliche Pietät, als Elternliebe oder Loyalität positiv<br />
bewertet wird. Wenn sie jedoch ihren Gefühlen Ausdruck verleihen würden, die sie über ihre eigene Person emp-<br />
finden, wie zum Beispiel „Ich bin der wunderbarste Mensch auf der ganzen Welt”, „Ich bin besser als alle anderen”<br />
usw., so kämen sie nicht nur in den Verdacht, unmässig eitel zu sein, sondern man würde sie vielleicht sogar für<br />
leicht verrückt halten. Wenn andererseits jemand etwas erreicht hat, was auf dem Gebiet der Kunst, der Wissen-<br />
schaft, des Sports, im Geschäftsleben oder in der Politik Anerkennung gefunden hat, dann erscheint seine narziss-<br />
tische Einstellung nicht nur als realistisch und vernünftig, sie wird durch die Bewunderung der anderen auch noch<br />
ständig genährt. In solchen Fällen kann der Betreffende seinem Narzissmus freien Lauf lassen, weil er sozial sank-<br />
tioniert und anerkannt ist.<br />
In der heutigen westlichen Gesellschaft besteht ein besonderer innerer Zusammenhang zwischen dem Narziss-<br />
mus der Berühmtheiten und den Bedürfnissen des Publikums. Letzteres möchte mit berühmten Leuten deshalb in<br />
enge Berührung kommen, weil das Leben des Durchschnittsmenschen so leer und langweilig ist. Die Massenmedi-<br />
en leben davon, dass sie den Ruhm verkaufen, und so wird jeder zufriedengestellt: der narzisstische Künstler,<br />
Schauspieler, Wissenschaftler, Dirigent usw., das Publikum und die Verkäufer des Ruhms.<br />
Unter politischen Führern ist ein hochgradiger Narzissmus sehr häufig anzutreffen. Man kann ihn als Berufs-<br />
krankheit - oder auch als Berufskapital - auffassen, besonders bei denen, die ihre Macht ihrem Einfluss auf ein Mas-<br />
senpublikum verdanken. Wenn der betreffende Führer von seinen aussergewöhnlichen Gaben und von seiner<br />
Mission überzeugt ist, wird es ihm leicht fallen, das grosse Publikum zu überzeugen, das sich von Männern ange-<br />
zogen fühlt, die ihrer Sache absolut sicher zu sein scheinen. Aber der narzisstische Führer benutzt sein Charisma<br />
nicht nur als Mittel zum politischen Erfolg; er braucht den Erfolg und den Beifall auch zur Aufrechterhaltung seines<br />
eigenen inneren Gleichgewichts. Die Idee seiner Grösse und Unfehlbarkeit beruht im wesentlichen auf seinem nar-<br />
zisstischen Grössenwahn und nicht auf seinen wirklichen Leistungen als menschliches Wesen. Und trotzdem kann<br />
er ohne die narzisstische „Inflation” nicht leben, weil sein menschlicher Kern - seine Ueberzeugungen, sein Gewis-<br />
sen, seine Liebe und sein Glaube - nicht sehr stark entwickelt ist. Ungewöhnlich narzisstische Personen sehen sich<br />
oft fast gezwungen, berühmt zu werden, da sie sonst unter Depressionen leiden oder sogar dem Wahnsinn anheim-<br />
fallen würden. Aber man braucht schon viel Talent - und auch die passenden Gelegenheiten -, um andere so stark<br />
beeinflussen zu können, dass ihr Beifall diese narzisstischen Träume bestätigt. Selbst wenn solche Menschen Erfolg
30 Narziss und Echo Mythen und Mythendeutung<br />
haben, verspüren sie den Drang, nach weiteren Erfolgen zu streben, da ein Scheitern für sie die Gefahr eines seeli-<br />
schen Zusammenbruchs mit sich bringen würde. Populärer Erfolg ist sozusagen ihre Eigentherapie gegen Depres-<br />
sionen und Wahnsinn. Wenn sie um ihre Ziele kämpfen, kämpfen sie in Wirklichkeit um ihre geistige Gesundheit.<br />
Wenn, wie beim Gruppennarzissmus, das Objekt nicht der einzelne, sondern die Gruppe ist, der es angehört,<br />
kann sich der einzelne dieses Narzissmus voll bewusst sein und ihn ohne Hemmungen zum Ausdruck bangen. Die<br />
Behauptung, dass „mein Vaterland” (oder meine Nation oder meine Religion) am wunderbarsten, kultiviertesten,<br />
mächtigsten, friedliebendsten usw. ist, klingt durchaus nicht verrückt. Im Gegenteil, es klingt nach Patriotismus,<br />
Glaube und Loyalität. Ausserdem erscheint es als ein realistisches und vernünftiges Werturteil, da es von vielen<br />
Mitgliedern der gleichen Gruppe geteilt wird. Dieser Konsensus bringt es fertig, die Phantasie in eine Realität um-<br />
zuwandeln, da Realität für die meisten Menschen durch den allgemeinen Konsensus erzeugt wird und sich nicht<br />
auf vernünftige oder kritische Ueberlegungen gründet.<br />
Der Gruppennarzissmus hat wichtige Funktionen. Vor allem fördert er die Solidarität und den inneren Zusam-<br />
menhalt der Gruppe und erleichtert ihre Manipulationen, da er an narzisstische Vorurteile appelliert. Zweitens ist<br />
er ausserordentlich wichtig als ein Element, das den Mitgliedern der Gruppe Befriedigung verschafft, vor allem je-<br />
nen unter ihnen, die an sich wenig Grund hätten, sich stolz und schätzenswert zu finden. Wenn man das armselige,<br />
ärmste und am wenigsten respektierte Mitglied einer Gruppe ist, wird man für seinen elenden Zustand durch das<br />
Gefühl entschädigt: „Ich bin ein Teil der wundervollsten Gruppe der Welt. Ich, der ich in Wirklichkeit ein armseli-<br />
ger Wurm bin, werde zum Riesen dadurch, dass ich zu dieser Gruppe gehöre.” Folglich entspricht der Grad des<br />
Gruppennarzissmus dem Mangel an wirklicher Befriedigung im Leben. Jene sozialen Klassen, die ihr Leben mehr<br />
geniessen, sind weniger fanatisch (Fanatismus ist eine charakteristische Eigenschaft des Gruppennarzissmus) als<br />
die, welche wie das Kleinbürgertum an einem Mangel auf allen materiellen und kulturellen Gebieten leiden und<br />
ein Leben führen, das unerträglich langweilig ist.<br />
Gleichzeitig ist es vom Standpunkt des Sozialbudgets aus sehr billig, den Gruppennarzissmus zu fördern. Tat-<br />
sächlich kostet er fast nichts, verglichen mit den Sozialausgaben, die nötig wären, den Lebensstandard zu erhöhen.<br />
Die Gesellschaft braucht nur die Ideologen zu bezahlen, die die Schlagworte formulieren, welche den sozialen Nar-<br />
zissmus erzeugen. Viele soziale Funktionäre, wie Lehrer, Journalisten, Pfarrer und Professoren, sind zur Mitarbeit<br />
bereit, ohne dafür bezahlt zu werden, wenigstens was das Geld anbetrifft. Ihre Belohnung besteht darin, dass sie<br />
sich stolz und befriedigt fühlen, einer würdigen Sache zu dienen - und dass ihr Prestige und ihre Aufstiegsmöglich-<br />
keiten steigen.<br />
Diejenigen, deren Narzissmus mehr ihre Gruppe als sie selbst betrifft, sind ebenso empfindlich wie individu-<br />
elle Narzissten, und sie reagieren wütend auf jede wirkliche oder eingebildete Beleidigung, die ihrer Gruppe ange-<br />
tan wird. Sie reagieren womöglich nur noch intensiver und ganz gewiss bewusster darauf. Ein einzelner wird,<br />
wenn er nicht gerade geisteskrank ist, wenigstens manchmal einige Zweifel in bezug auf sein narzisstisches Selbst-<br />
image hegen. Das Mitglied einer Gruppe kennt solche Zweifel nicht, da die Mehrheit seinen Narzissmus teilt. Im<br />
Falle eines Konflikts zwischen verschiedenen Gruppen, die ihren kollektiven Narzissmus gegenseitig herausfor-<br />
dern, ruft diese Herausforderung eine intensive wechselseitige Feindschaft hervor. Das narzisstische Image der ei-<br />
genen Gruppe wird aufs höchste gesteigert, während man die feindliche Gruppe möglichst herabsetzt. Die eigene<br />
Gruppe wird zum Verteidiger der menschlichen Würde, des Anstandes, der Moral und des Rechts. Die andere<br />
Gruppe wird verteufelt. Sie ist betrügerisch, skrupellos, grausam und von Grund auf unmenschlich. Die Beleidi-<br />
gung eines Symbols des Gruppennarzissmus - zum Beispiel der Fahne oder der Person des Kaisers, des Präsidenten<br />
oder eines Gesandten - ruft beim Volk eine so intensive Wut und Aggression hervor, dass es sogar bereit ist, seine<br />
Führer in ihrer Kriegspolitik zu unterstützen.<br />
Der Gruppennarzissmus ist eine der wichtigsten Quellen der menschlichen Aggression, und trotzdem ist er -<br />
wie alle anderen Formen der defensiven Aggression - eine Reaktion auf einen Angriff auf vitale Interessen. Er un-<br />
terscheidet sich von anderen Formen der defensiven Aggression nur darin, dass der intensive Narzissmus an und<br />
für sich eine halbpathologische Erscheinung ist. Wenn man nach den Ursachen und der Funktion der blutigen und<br />
grausamen Massenmassaker fragt, wie sie zwischen Hindus und Moslems zur Zeit der Teilung Indiens vorkamen,<br />
so spielte der Gruppennarzissmus ganz gewiss eine beträchtliche Rolle. Dies ist nicht weiter erstaunlich, wenn man<br />
bedenkt, dass wir es hier mit den praktisch ärmsten und elendsten Bevölkerungsgruppen der Welt zu tun haben.<br />
Aber ganz gewiss ist der Narzissmus nicht die einzige Ursache dieser Phänomene, auf deren andere Aspekte wir
Mythen und Mythendeutung Narziss und Echo 31<br />
noch zu sprechen kommen werden.<br />
[E. Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Rowohlt Verlag. Hamburg 1977, S. 225-30.]<br />
Narziss - Symbolfigur einer Kultur ohne Unterdrückung?<br />
In einem seiner bedeutendsten Werke unternahm der Philosoph Herbert Marcuse den Versuch, philosophische<br />
Folgerungen aus der psychoanalytischen Theorie S. Freuds mit sozialphilosophischen Einsichten der Nachkriegs-<br />
zeit zu verbinden. Dabei unterzog er Freuds Kulturtheorie, dass kultureller Fortschritt ohne Triebunterdrückung<br />
nicht möglich sei, einer tiefschürfenden Kritik. Er skizzierte in diesem immer noch sehr lesenswerten Werk die<br />
Möglichkeit einer “nicht- repressiven” Kultur, wohl wissend, dass es sich dabei erst um eine Skizze handeln konnte.<br />
Für ihn wurden Narziss und Orpheus zu Gegenbildern der geltenden Kultur.<br />
Für das Verständnis der folgenden Textausschnitte ist es wichtig zu wissen, dass Freud in seiner Kulturtheorie<br />
ursprüngliches Lustprinzip (Bedürfnis, auftretende Triebregungen sogleich zu befriedigen) dem sogenannten<br />
„Realitätsprinzip” gegenüberstellte, das zu Lustenthaltung, zu Arbeit und Aufschub der Befriedigung zwingt weil<br />
die existentielle Lebensnot den Menschen vollständig fordert und die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung nicht zu-<br />
lässt.<br />
Nach dieser Vorstellung ist kultureller Fortschritt nur dank zunehmender Triebunterdrückung möglich - in der<br />
Geschichte der Menschheit hat das Realitätsprinzip den Sieg über das Lustprinzip davongetragen.<br />
Herbert Marcuse: Orpheus und Narziss, zwei Urbilder<br />
Ist Prometheus der Kulturheld der Mühsal, der Produktivität und des Fortschritts durch Unterdrückung, dann<br />
müssen die Symbole eines anderen Realitätsprinzips auf dem entgegengegesetzten Pol zu finden sein. Orpheus und<br />
Narziss stehen für eine sehr andere Wirklichkeit (wie Dionysos, dem sie verwandt sind: der Antagonist des Gottes,<br />
der die Logik der Herrschaft, das Reich der Vernunft sanktioniert). Sie wurden niemals die Kulturheroen der west-<br />
lichen Welt: ihre Imago ist die der Freude und der Erfüllung, ist die Stimme, die nicht befiehlt, sondern singt; die<br />
Geste, die gibt und empfängt; die Tat, die Friede ist, und das Ende der Mühsal der Eroberung, ist die Befreiung von<br />
der Zeit, die den Menschen mit Gott, den Menschen mit der Natur eint. Die Dichtung hat ihr Urbild bewahrt - so in<br />
„Sonette an Orpheus”:<br />
Und fast ein Mädchen wars und ging hervor<br />
aus diesem einigen Glück von Sang und Leier<br />
und glänzte klar durch ihre Frühlingsschleier<br />
und machte sich ein Bett in meinem Ohr.<br />
Und schlief in mir. Und alles war ihr Schlaf.<br />
Die Bäume, die ich je bewundert, diese<br />
fühlbare Ferne, die gefühlte Wiese<br />
und jedes Staunen, das mich selbst betraf.<br />
Sie schlief die Welt. Singender Gott, wie hast<br />
du sie vollendet, dass sie nicht begehrte,<br />
erst wach zu sein? Sie, die erstand und schlief.<br />
Wo ist ihr Tod? R M.<br />
[R. M. Rilke, Sonette an Orpheus Gesammelte Werke 1, 731.]<br />
Oder im Bilde des Narzissmus, der im Spiegel des Wassers seine eigene Schönheit zu ergreifen versucht. Ueber<br />
den Fluss der Zeit geneigt, in dem alle Formen voraberziehen, träumt er:<br />
„Narziss träumt vom Paradies ...<br />
Wann endlich wird die Zeit, in ihrem vergänglichen Lauf einhaltend, dieses Fliessen zur Ruhe kommen lassen?<br />
Formen, göttliche und immerwährende Formen, die Ihr nur die Ruhe erwartet um von neuem zu erscheinen, oh
32 Narziss und Echo Mythen und Mythendeutung<br />
wann, in welcher Nacht, in welcher Stille werdet Ihr wieder Gestalt annehmen?<br />
Das Paradies kann immer wieder von neuem geschaffen werden; es ist keineswegs in irgendeinem fernen Thu-<br />
le. Es besteht unter der äusseren Erscheinung fort. Jedes Ding enthält virtuell seine ureigene Harmonie wie jedes<br />
Salz die Urform seines Kristalls in sich trägt. Und es wird eine Zeit der schweigenden Nacht kommen, in der dich-<br />
tere Wasser herabfliessen: in den Abgründen, in denen sich nichts bewegt, werden die verborgenen Kristalle blü-<br />
hen.<br />
„Eine grosse Stille hört mir zu, in der ich der Hoffnung lausche. Die Stimme der Quellen ändert sich und spricht<br />
mir vom Abend; Ich höre das silberne Gras wachsen im heiligen Schatten, Und der trügerische Mond senkt seinen<br />
Spiegel Bis in die geheimen Gründe des ausgetrockneten Brunnens.” (Paul Valéry: Narcisse parle.)<br />
„Bewundere in Narziss die ewige Rückkehr<br />
zum Wasser, wo sein Bild sich seiner Liebe zeigt<br />
und seiner Schönheit sich offen darbietet:<br />
Mein Schicksal ist allein<br />
der Kraft meiner Liebe zu gehorchen.<br />
Geliebter Körper, ich gebe mich deiner Macht hin;<br />
Das stille Wasser zieht<br />
mich an, dem ich meine Arme entgegenstrecke:<br />
Diesem reinen Taumel widerstehe ich nicht.<br />
Wie könnte ich, oh<br />
meine Schönheit, etwas tun, was Du nicht wolltest."<br />
[Paul Valéry: Cantate du Narcisse. Scène 11.]<br />
Das Klima dieser Sprache ist das der „Tilgung der Spuren der Ursünde”- ist die Auflehnung gegen eine Kultur,<br />
die auf Mühsal, Herrschaft und Triebverzicht gegründet ist. Die Urbilder des Orpheus und Narziss versöhnen Eros<br />
und Thanatos. Sie rufen die Erinnerung an eine Welt wach, die nicht bemeistert und beherrscht, sondern befreit<br />
werden sollte - eine Freiheit, die die Kräfte des Eros entbinden würde, die jetzt noch in den unterdrückten und ver-<br />
steinerten Formen des Menschen und der Natur gefesselt sind. Diese Kräfte werden nicht als Zerstörung, sondern<br />
als Friede begriffen, nicht als Schrecken, sondern als Schönheit. Es genügt, die hierher gehörenden Urbilder aufzu-<br />
zählen, um die Dimension zu umschreiben, der sie verhaftet sind: die Erlösung der Lust, der Stillstand der Zeit, das<br />
Ende des Todes, Stille, Schlaf, Nacht, Paradies - das Nirwanaprinzip nicht als Tod, sondern als Leben. Baudelaire<br />
gibt das Bild solch einer Welt in zwei Zeilen:<br />
Là, tout n'est qu'ordre et beauté,<br />
Luxe, calme et volupté.<br />
Dies ist vielleicht der einzige Zusammenhang, in dem das Wort Ordnung seine repressive Bedeutung verliert:<br />
hier ist es die Ordnung der Erfüllung, die der freie Eros schafft. Die Statik triumphiert über die Dynamik; aber dies<br />
ist eine Statik, die sich in ihrer eigenen Fülle bewegt, eine schöpferische Kraft, die Sinnlichkeit, Spiel und Sang ist.<br />
Die orphische und narzisstische Welterfahrung negiert die Erfahrungsform, die die Welt des Leistungsprinzips<br />
aufrechterhält. Der Gegensatz zwischen Mensch und Natur, Subjekt und Objekt, ist überwunden. Das Sein wird als<br />
Befriedigung erfahren, die Mensch und Natur eint, so dass die Erfüllung des Menschen gleichzeitig ohne Gewalt-<br />
samkeit die Erfüllung der Natur ist. Da sie angesprochen, geliebt, umsorgt werden, erscheinen Blumen, Quelle und<br />
Tier als das, was sie sind - schön nicht nur für jene, die sich ihnen zuwenden und sie beschauen - sondern an sich,<br />
„objektiv”. Le monde tend a la beauté - im orphischen und narzisstischen Eros ist dies Streben nach Schönheit er-<br />
löst: die Gegenstände der Natur werden frei, das zu sein, was sie sind. Aber um zu sein, was sie sind, sind sie ab-<br />
hängig von der erotischen Haltung: nur in ihr empfangen sie ihr Telos. Orpheus' Gesang befriedet die tierische<br />
Welt, versöhnt den Löwen mit dem Lamm und mit dem Menschen. Die Welt der Natur ist eine Welt der Bedrük-<br />
kung, der Grausamkeit und der Schmerzen, wie es die menschliche ist: und wie diese wartet sie auf Befreiung. Diese<br />
Befreiung ist das Werk des Eros. Der Gesang Orpheus' durchbricht die Versteinerung, bewegt die Wälder und Fel-<br />
sen - bewegt sie, an der Freude teilzunehmen.
Mythen und Mythendeutung Narziss und Echo 33<br />
Narziss' Liebe wird vom Echo der Natur beantwortet. Sicherlich erscheint Narziss auch als der Antagonist des<br />
Eros: er verachtet die Liebe, die mit anderen menschlichen Wesen vereint, und dafür wird er von Eros bestraft. Als<br />
Widerpart des Eros symbolisiert Narziss den Schlaf und den Tod, das Schweigen und die Ruhe. In Thrazien steht<br />
er in naher Beziehung zu Dionysos. Aber die Bilder des Narziss tragen nicht die Tönung der Kälte, der Askese, der<br />
Selbst- Liebe; nicht diese Geste ist es, die in Kunst und Dichtung bewahrt wird. Sein Schweigen ist nicht das der<br />
toten Starrheit; und wenn er die Liebe der Jäger und Nymphen verachtet, so verwirft er einen Eros um eines ande-<br />
ren willen. Er lebt durch einen eigenen Eros und liebt nicht nur sich selbst. (Er weiss nicht, dass das Bild, das er<br />
bewundert, sein eigenes ist.) Ist seine erotische Haltung dem Tode verwandt und bringt den Tod, dann sind Ruhe,<br />
Schlaf und Tod nicht schmerzlich getrennt und unterschieden: alle diese Stadien stehen unter dem Szepter des Nir-<br />
wana-Prinzips. Wenn er stirbt, lebt er als die Blume fort, die seinen Namen trägt.<br />
Wenn wir hier Narziss mit Orpheus verknüpfen und beide als Symbole einer nicht-repressiven Haltung gegen-<br />
über der Wirklichkeit deuten, so haben wir das Urbild des Narziss der mythologisch-künstlerischen Tradition ent-<br />
nommen statt der Triebtheorie Freuds. Wir können aber jetzt vielleicht in Freuds Begriff des primären Narzissmus<br />
eine gewisse Unterstützung finden.<br />
(…)<br />
Der Begriff des primären Narzissmus bedeutet - wie das im Anfangskapitel des „Unbehagens in der Kultur”<br />
ausgeführt wird -, dass der Narzissmus nicht nur als neurotisches Symptom weiterlebt, sondern auch als konstitu-<br />
tives Element der Wirklichkeit, das mit dem reifen Realitäts-Ich zusammen besteht. Freud beschreibt die „Vorstel-<br />
lungsinhalte” des überlebenden primären Ichgefühls als „Unbegrenztheit und Verbundenheit mit dem All”<br />
(ozeanisches Gefühl). Später, im selben Kapitel, spricht Freud davon, dass das ozeanische Gefühl „etwa die Wie-<br />
derherstellung des uneingeschränkten Narzissmus anstreben könnte”. Das verblüffende Paradox, dass der Narziss-<br />
mus, der im allgemeinen als egoistischer Rückzug vor der Wirklichkeit verstanden wird, hier mit der<br />
„Verbundenheit mit dem All” in Zusammenhang gebracht wird, verrät die neuen Tiefen des Begriffs: jenseits aller<br />
unreifen Autoerotik bezeichnet der Narzissmus eine fundamentale Bezogenheit zur Realität, die eine umfassende<br />
existentielle Ordnung schaffen könnte. In anderen Worten: der Narzissmus könnte den Keim eines andersartigen<br />
Realitätsprinzips enthalten.<br />
[H. Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1969 (1957), S. 160ff.]<br />
Gisela Dischner: Ein Gegenbild zum “eindimensionalen Menschen”<br />
„Orpheus und Narziss stehen für eine sehr andere Wirklichkeit... Sie wurden niemals die Kulturheroen der<br />
westlichen Welt: Ihre Imago ist die der Freude und der Erfüllung, ist die Stimme, die nicht befiehlt, sondern sagt,<br />
die Tat, die Friede ist und das Ende der Mühsal der Eroberung... Sie rufen die Erinnerung an eine Welt wach, die<br />
nicht bemeistert und beherrscht, sondern befreit werden sollte - eine Freiheit die die Kräfte des Eros entbinden wür-<br />
de, die jetzt noch in den unterdrückten und versteinerten Formen des Menschen und der Natur gefesselt sind”<br />
(Marcuse: S. 160 ff.). Der orphische Narziss nun wäre jener, der nicht mehr gebannt ist vom eigenen Spiegel, son-<br />
dern ihn durchschreitet, sich den toten, versteinerten Dingen liebend zuwendet, dem Hades, in welchem die zu<br />
überlebenden Marionetten reduzierten Menschen unerlöst sich im Kreise drehen; er holt hier Eurydike zurück, die<br />
tote Liebe, er wagt den Weg über die Grenzen, die tödlich sein können.<br />
Was hat all dies mit dem neuen ‘Sozialisationstyp’ zu tun? Mehr als es scheinen mag. Was Marcuse beschreibt,<br />
ist der Traum eines besseren Zustandes jenseits des Leistungsprinzips, und ihn träumen die Jugendlichen konkreter<br />
denn je. Aber dieser Traum, konfrontiert mit Leistungsansprüchen, die rigider denn je sind, zerbricht an der Wirk-<br />
lichkeit einer immer perfekteren Technokratie, die den Menschen immer totaler in den Griff nimmt. Und so ‘hän-<br />
gen’ sie denn ‘herum’, diese Jugendlichen, haben ‘Arbeitsschwierigkeiten’, sind ‘motivationslos’ und ‘ichschwach’.<br />
Aber bevor wir die Jugendlichen in dieser Weise stigmatisieren, betrachten wir doch zunächst die gesellschaftliche<br />
Wirklichkeit, die sie und uns umgibt. Sie ist gekennzeichnet von einer noch nie dagewesenen Schärfe der Arbeits-<br />
teilung von Kopf- und Handarbeit, von einer Stupidität des Arbeitsprozesses, von einer verschärften „Verstandes-<br />
dressur in der Schulerziehung” (Lipp) und einer „Taylorisierung des Unterrichts” (Klaus Bruder), in der die<br />
‘Chancengleichheit’ in bezug auf den Verlust jedes phantasievollen Potentials dauernd steigt. Sie ist gekennzeich-<br />
net von einer Mechanisierung des Lebens bis hinein in den privaten Bereich, von einer ‘Technokratie der Sinnlich-
34 Narziss und Echo Mythen und Mythendeutung<br />
keit’, gegen welche „Unfähigkeit”, so meine ich, den positiven Charakter von Verweigerung erhält.<br />
[G. Dischner, Ein Gegenbild zum „eindimensionalen Menschen”, in: Häsing, Stubenrauch, Ziehe (Hrsg.): Narziss, ein neuer Sozialisationstypus? Pädagogik<br />
extra Verlag. Bensheim 1981, S. 100ff.]<br />
Peter Passett: Gedanken zur Narzissmuskritik<br />
Die entfremdeten Bedingungen, unter denen heute eine überwiegende Mehrheit der Menschen zu leben und<br />
zu arbeiten gezwungen ist, und der gewaltige, entpersönlichte bürokratische Apparat, der uns alle verwaltet, ver-<br />
hindern unsere Triebbefriedigung im engen Sinne nicht, sondern machen sich im Gegenteil anheischig, sie so gut<br />
wie nie zuvor in der Geschichte für alle zu garantieren. Und es fällt relativ schwer, dies zu bestreiten. Aber dadurch,<br />
dass wir nur noch Funktionen sind, komplett verwaltet, dass alle möglichen Befriedigungen nur in vorgegebenen<br />
Bahnen erfolgen können, werden wir zutiefst frustriert in unserem Anspruch auf Einmaligkeit und Individualität.<br />
Wir leben ja nicht, wie gewisse aussereuropäische Gesellschaften, in einer und für eine Gruppe, welche jene nar-<br />
zisstische Besetzung hätte, die bei uns das Individuum geniesst. Die Apparate, die vorgeblich um unseretwillen be-<br />
stehen, sind uns fremd und erscheinen feindlich. Durch die Arbeit, die für die meisten keine emotionale Beteiligung<br />
erlaubt, werden die Menschen ausgelaugt und gezwungen, ihre Hohlheit mit jenem Abfall auszufüllen, den das Sy-<br />
stem auswirft, und in ausbeuterischer Weise die notwendige Selbstbestätigung sich im Rahmen der intimen, vor<br />
allem der familiären Beziehungen, welche nicht ganz so verwaltet sind, zu holen. Man versucht, sich am Partner<br />
und in erster Linie an den Kindern schadlos zu halten. So kommt denn jene narzisstische Ausbeutung zustande,<br />
welche meiner Meinung nach Miller durchaus zu Recht beschreibt, aber wegen ihrer Indifferenz gegenüber gesell-<br />
schaftlichen Bedingungen fälschlicherweise nur in der geschlossenen Mutter-Kind-Dyade lokalisiert.<br />
Sucht ist in dieser Sichtweise die systemkonforme Art, durch Konsum „unnötiger” Güter, die das System pro-<br />
duzieren muss, um sich zu erhalten, jene Löcher im Selbstgefühl zu stopfen, die vorwiegend dadurch entstehen,<br />
dass man sich in diesem System nur schwer als Zentrum eigener Aktivität, als Individuum erleben kann. Sie ist mei-<br />
ner Meinung nach die narzisstische Störung par excellence, jene Störung, welche wegen ihres engen Bezugs zum<br />
System überhaupt nur noch in einigen wenigen, willkürlich ausgegrenzten Formen als Störung erkannt wird.<br />
Anders herum gesagt: Sucht ist ein tragisch scheiternder Versuch, Entfremdung aufzuheben. Ihr Zweck, den<br />
sie nicht erreichen kann, ist es, jenen Widerspruch zu negieren, der dadurch entstanden ist, dass die Verhältnisse,<br />
die ursprünglich zum Ziel hatten, das Leben zu erleichtern, zu ihren einstigen Intentionen in Gegensatz geraten<br />
sind (die gesellschaftliche Organisation der Arbeit), weil sie zu Herrschaftsverhältnissen verkamen. Die gesell-<br />
schaftliche Organisation der Arbeit, wie sie heute besteht, hat zwar die materiellen Nöte für einen Teil der Men-<br />
schen aufgehoben - allerdings nur für einen kleineren -, aber um den Preis der psychischen Verstümmelung, die<br />
darin besteht, dass kaum noch Beziehungen zu Menschen und Dingen möglich sind, in denen man sich in seiner<br />
Einmaligkeit als Individuum erleben kann.<br />
Der Druck dieser Verhältnisse lastet in doppelter Weise auf den Menschen: zum einen, indem er ihre Eltern in<br />
einem so hohen Masse narzisstisch bedürftig macht - um den Terminus hier nun ganz bewusst in seiner schillern-<br />
den Vieldeutigkeit zu verwenden -, dass sie nicht in der Lage sind, sich ihren Kindern in wichtigen Entwicklungs-<br />
phasen als jene Selbstobjekte zur Verfügung zu stellen, die die Kinder nötig hätten, um durch deren Spiegelung und<br />
die an ihnen mögliche Idealisierung und phasengerechte Enttäuschung zu Individuen zu werden, die ihr eigenes<br />
Selbstwertgefühl befriedigend regulieren können. Zum anderen aber machen diese Verhältnisse selbst einem gros-<br />
sen Teil der Privilegierten, deren Eltern ihnen gegenüber in diesen Funktionen nicht oder doch nicht vollständig<br />
versagen mussten, die Aufrechterhaltung eines solchen „gesunden” narzisstischen Gleichgewichtes unmöglich,<br />
weil ein solches Gleichgewicht, wie Kohut einleuchtend beschrieben hat, nicht nur von einer optimalen Entwick-<br />
lung abhängt, sondern lebenslänglich darauf angewiesen bleibt, durch Spiegelung und die Möglichkeit von Ideali-<br />
sierung aufrechterhalten zu werden. Diese Möglichkeiten aber sind kaum mehr gegeben.<br />
[P. Passett: Gedanken zur Narzissmuskritik: Die Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten. in: Die neuen Narzissmustheorien: zurück ins Paradies? Hrsg.<br />
vom Psychoanalytischen Seminar Zürich, Syndikat Buchges. Frankfurt 1981, S. 159ff.]
Mythen und Mythendeutung Daedalus und Ikarus 35<br />
Daedalus und Ikarus<br />
17) Ovid: Metamorphosen<br />
Daedalus interea Creten longumque perosus<br />
exilium tactusque loci natalis amore<br />
clausus erat pelago. 'terras licet' inquit 'et undas 185<br />
obstruat: at caelum certe patet; ibimus illac:<br />
omnia possideat, non possidet aera Minos.'<br />
dixit et ignotas animum dimittit in artes<br />
naturamque novat. nam ponit in ordine pennas<br />
a minima coeptas, longam breviore sequenti, 190<br />
ut clivo crevisse putes: sic rustica quondam<br />
fistula disparibus paulatim surgit avenis;<br />
tum lino medias et ceris alligat imas<br />
atque ita conpositas parvo curvamine flectit,<br />
ut veras imitetur aves. puer Icarus una 195<br />
stabat et, ignarus sua se tractare pericla,<br />
ore renidenti modo, quas vaga moverat aura,<br />
captabat plumas, flavam modo pollice ceram<br />
mollibat lusuque suo mirabile patris<br />
impediebat opus. postquam manus ultima coepto 200<br />
inposita est, geminas opifex libravit in alas<br />
ipse suum corpus motaque pependit in aura;<br />
instruit et natum 'medio' que 'ut limite curras,<br />
Icare,' ait 'moneo, ne, si demissior ibis,<br />
unda gravet pennas, si celsior, ignis adurat: 205<br />
inter utrumque vola. nec te spectare Booten<br />
aut Helicen iubeo strictumque Orionis ensem:<br />
me duce carpe viam!' pariter praecepta volandi<br />
tradit et ignotas umeris accommodat alas.<br />
inter opus monitusque genae maduere seniles, 210<br />
et patriae tremuere manus; dedit oscula nato<br />
non iterum repetenda suo pennisque levatus<br />
ante volat comitique timet, velut ales, ab alto<br />
quae teneram prolem produxit in aera nido,<br />
hortaturque sequi damnosasque erudit artes 215<br />
et movet ipse suas et nati respicit alas.<br />
hos aliquis tremula dum captat harundine pisces,<br />
aut pastor baculo stivave innixus arator<br />
vidit et obstipuit, quique aethera carpere possent,<br />
credidit esse deos. et iam Iunonia laeva 220<br />
parte Samos (fuerant Delosque Parosque relictae)<br />
dextra Lebinthos erat fecundaque melle Calymne,<br />
cum puer audaci coepit gaudere volatu<br />
deseruitque ducem caelique cupidine tractus<br />
altius egit iter. rapidi vicinia solis 225<br />
mollit odoratas, pennarum vincula, ceras;
36 Daedalus und Ikarus Mythen und Mythendeutung<br />
tabuerant cerae: nudos quatit ille lacertos,<br />
remigioque carens non ullas percipit auras,<br />
oraque caerulea patrium clamantia nomen<br />
excipiuntur aqua, quae nomen traxit ab illo. 230<br />
at pater infelix, nec iam pater, 'Icare,' dixit,<br />
'Icare,' dixit 'ubi es? qua te regione requiram?'<br />
'Icare' dicebat: pennas aspexit in undis<br />
devovitque suas artes corpusque sepulcro<br />
condidit, et tellus a nomine dicta sepulti. 235<br />
[Ovid: Metamorphosen, 8, 183-235]<br />
18) Pieter Breughel: Der Sturz des Ikarus<br />
19) Auden: Musée des Beaux Arts<br />
Ueber das Leiden wussten sie gut Bescheid,<br />
die Alten Meister: wie kannten sie gut<br />
seine menschliche Rolle; dass es geschieht,<br />
während einige essen, ein andrer ein Fenster öffnet oder gelangweilt hingeht<br />
dass, während die Alten ehrfürchtig und gespannt<br />
die wunderbare Geburt erwarten, Kinder immer dabei sind,<br />
denen nicht viel daran liegt, und die<br />
Schlittschuh auf einem Teich am Waldrande laufen;<br />
sie vergassen auch nie,<br />
dass selbst die Mysterien stattfinden müssen<br />
irgendwo abseits, an unsauberem Ort,
Mythen und Mythendeutung Daedalus und Ikarus 37<br />
wo die Hunde sich hündisch benehmen und des<br />
Folterers Pferd<br />
sein Hinterteil unschuldig an einem Baum kratzt.<br />
In Breughels Ikarus zum Beispiel: wie alles sich<br />
beinah gelassen vom Unheil abkehrt; vielleicht<br />
hat der Bauer den Aufschlag gehört, den verlorenen<br />
Schrei,<br />
aber für ihn war das nichts von Bedeutung; die Sonne<br />
beschien, wie es ihre Pflicht war, die weissen im Wasser<br />
verschwindenden Beine; und das kostspielige, stolze<br />
Schiff,<br />
das staunend etwas gesehn haben musste<br />
– einen Jungen, der aus dem Himmel fiel –,<br />
hatte ein Ziel und segelte ruhevoll weiter.<br />
[Wystan Hugh Auden (1907 – 1973): Musée des Beaux Arts (1939)]<br />
20) Bischoff: Der Sturz des Ikarus<br />
(nach dem Gemälde von Pieter Breughel d. Ä.)<br />
Von Bänkelsängern hatte er sie wohl vernommen,<br />
Die Mär vom Flügelhelden Ikarus,<br />
Wie er, den Vögeln gleich, den Himmel einst<br />
erklommen<br />
Und stürzte schwarz verbrannt vom Sonnenkuss<br />
Er schüttelte den Kopf: Was alles doch geschah –<br />
Da federte sich einer, um zu fliegen,<br />
Ein Ikarus wollt' sonnennah<br />
Die Erde schaun, im Weltabgrunde liegen.<br />
War sie ihm nicht genug, war eine Biene nicht,<br />
Die hold im Pfirsichschatten summte,<br />
Von Gott geflügelt, leicht und licht,<br />
War nie ein Vogel seiner Einfalt Lust,<br />
Wenn er ins Blaue hob die zarte Flügelbrust?<br />
Der Pieter fand es lästerlich und brummte.<br />
Dann riss er aus dem Stoss Papier<br />
Mit harten Fäusten einen Bogen<br />
Und malte erst einmal den Weltkreis hier,<br />
Den einst der Ikarus durchzogen.<br />
jedoch da er den Stift für Land und Meer gebrauchte,<br />
wuchs sie ihm trächtig zu, die Erde, die erlauchte<br />
Und Ikarus, der sich erkühnte,<br />
Verlor sich vor der Fülle, die da grünte:<br />
Da war der Hirte fromm bedächtig einzufügen;<br />
Sodann die Lämmerherde, nach und nach,<br />
Und auch der Bauer kannte kein Genügen,<br />
Er wollte mehr, als nur das Ackerfeld,<br />
Er wollte Pferd und Pflug und sich dazugestellt.<br />
Der Alte knurrte, in der Hand den Stift.<br />
Der Bogen füllte sich mit guten Erdedingen,<br />
Mit Städten, Golf und Segelschwingen.<br />
Doch was den Ikarus betrifft,<br />
Man sah ihn nirgends seinen Flug vollbringen.<br />
Die Sonne glomm am Horizont empor,<br />
Das Himmelslicht, das Saft und Seime gor.<br />
Die Berge spiegelten ins Meer,<br />
Die Wellen spielten hin und her,<br />
Hier noch ein Strich und dort noch einer,<br />
Nur diesem Ikarus galt keiner!<br />
Es schien dem Alten Spass zu machen,<br />
Dass er des Ikarus vergass,<br />
Bis er ihn doch zuletzt mit bösem Lachen,<br />
Als Hanswurst oder Fischefrass<br />
– so brummte er – am Bilderrand<br />
Hinmalte, klein und unbekannt,<br />
Wie er, der Flügelheld, nun flügellos<br />
Hinstürzend tödlich, arm und bloss,<br />
Im blauen Wasserschoss verschwand...<br />
Nach Monden, da das Bild gemalt<br />
Zu seinem Käufer finden sollte, –<br />
Ein Vorschuss war darauf gezahlt –<br />
Geschah's, zu Pieters bitterem Verdruss,<br />
Dass jener suchte nach dem Ikarus.<br />
Und als es Breughel ihm erklären wollte,<br />
Warum so winzig er erscheinen muss:<br />
“Er ist doch gross genug, der Ikarus,<br />
Für dreissig Gulden, Herr, kein Geld!”<br />
Liess er sich's doch zuletzt gefallen<br />
Und malte noch den Mann am Strand,<br />
Der niemals sah, dass Ikarus verschwand,<br />
Vielmehr die Angelrute hält,<br />
Als locke er den Sinn der Welt<br />
Tief aus dem Grund von Bernstein und Korallen.<br />
[Friedrich Bischoff (1896-1976): Der Sturz des Ikarus (1966)]
38 Daedalus und Ikarus Mythen und Mythendeutung<br />
21) Bartels: Hybris wider die Natur<br />
Neben diese grundstürzende, bedeutsamste Grenzüberschreitung des Menschen gegenüber den Göttern treten<br />
nun in der mythischen Sprache jenes archaischen Denkens mehrere weitere entsprechende Grenzverletzungen, in<br />
denen der Mensch wiederum über das ihm ursprünglich Zugeteilte hinaus jeweils die gegebenen Grenzen seines<br />
natürlichen Lebensraumes überschreitet, in unbekannte, ursprünglich ihm verschlossene Weltbereiche eindringt<br />
und dabei die unantastbaren Elemente und die anfängliche Ordnung der als göttlich und heilig empfundenen Na-<br />
tur gröblich verletzt und missbraucht. “Hybris”, eigentlich “Rechtsübergriff” lautet das Wort, mit dem die Griechen<br />
derlei Grenzüberschreitungen bezeichnet haben; und als derart hybrid wird nun auch die Technik erlebt: als frevel-<br />
hafte Grenzverletzung gegenüber den Göttern und, was für die Griechen hier ein und dasselbe ist, gegenüber der<br />
Natur.<br />
An zweiter Stelle nach dem Feuerdiebstahl und Feuergebrauch wird derart zunächst die Seefahrt als eine sol-<br />
che Hybris gebrandmarkt, in der sich der Mensch im Wortsinn über die naturgegebene Trennung von Land und<br />
Meer hinwegsetzt und mit dem scharfen Schiffskiel die Meeresfläche durchfurcht; und verwiesen wird hier mehr-<br />
fach auch auf die Verkehrung der Weltordnung, die darin liegt, dass ein Baum wie die Pinie von seinem wurzelfe-<br />
sten Standort in den Wäldern, auf den Bergen, an die Küste herabgebracht wird, um fortan, zum Kielbalken oder<br />
zum Mastbaum zurechtgestutzt, fremde Meere zu befahren und fremde Länder zu besuchen. So rücken in der An-<br />
tike der Heros Argos, der Erbauer des ersten Schiffes, der “Argo” und mit ihm der Heros Tiphys, der Steuermann<br />
der “Argo” und der auf ihr fahrenden “Argonauten”, als kühne Frevler in eine Reihe mit dem Titanen Prometheus.<br />
Neben diesem Argos und diesem Tiphys wiederum stehen als dritte, als Frevler der Luftfahrt, der kunstfertige<br />
Dädalus und sein junger Sohn Ikarus, die wir lateinisch benennen, weil ihre tragische Geschichte uns vor allem aus<br />
der mythischen Erzählung des römischen Dichters Ovid geläufig ist. Aber auch sie sind Gestalten des älteren grie-<br />
chischen Mythos, wo Dädalus, griechisch Daidalos, übrigens nicht nur als der kühne erste Flieger, sondern über-<br />
haupt als vielseitig begabter Architekt, Bildhauer und Erfinder auftritt. Auf selbstverfertigten, wachsverbundenen<br />
Vogelschwingen suchen die beiden ihrem Zwangsaufenthalt auf der Insel Kreta unter König Minos zu entkommen,<br />
zu “entfliegen”; der bedächtige, das rechte Mass und den rechten Weg einhaltende Vater erreicht schliesslich sicher<br />
das rettende griechische Festland; sein Sohn jedoch, von kindlichem Uebermut und einer Art Höhenrausch dazu<br />
verlockt, allzu hoch zu steigen, stürzt unterwegs ab, hinab in das Meer, das seit dem Tag das Ikarische heisst, nahe<br />
der Insel, die bis heute den Namen “Ikaria” trägt.<br />
Der jugendliche Ikarus ist zum mythischen Erstlingsopfer solcher Hybris geworden, sein Sturz wie für die An-<br />
tike so für die Gegenwart zum mahnenden, warnenden Menetekel – wie ja noch in diesem sonst so mythenfremden<br />
20. Jahrhundert die im Jahre 1912 untergegangene und eben jetzt erst, in diesem Jahr mit einer ähnlichen Grenz-<br />
überschreitung wiederaufgesuchte Titanic, unverkennbar zu einem jungen Mythos geworden ist; ganz und gar<br />
nicht zu fällig erinnert das unglückliche Schiff ja schon mit seinem Namen “Titanic” an den Titanen Prometheus.<br />
Auf der Rückseite der Mondscheibe, nahe der Mitte, hat die für Nomenklaturfragen zuständige Kommission der<br />
Internationalen Astronomischen Union zwei benachbarte Krater “Dädalus” und “Ikarus” benannt, zum doppelten<br />
Gedenken an den Erfolg des Dädalus und an das Scheitern des Ikarus.<br />
Es hätte solcher symbolhafter Erinnerung wohl kaum bedurft, um uns daran zu gemahnen, dass aus dieser<br />
griechischen, mythischen Perspektive wie Seefahrt und Luftfahrt so auch die junge Raumfahrt und zumal der erste<br />
Mondflug unter dem Zeichen dieser gleichen Hybris stehen; dass aus dieser griechischen, mythischen Perspektive<br />
die Namen der beiden ersten Menschen, die auf dem Mond ihren ersten “kleinen Schritt für einen Menschen” und<br />
zugleich einen “grossen Sprung für die Menschheit” taten, in einer Reihe mit jenen alten prometheischen Technik-<br />
Heroen Argos und Tiphys, Dädalus und Ikarus zu nennen wären.<br />
An vierter Stelle nach dem Feuerdiebstahl, der Seefahrt und der Luftfahrt – ebenso zufällig wie bedeutsam run-<br />
det sich hier nun eine Vierzahl der Elemente – wird schliesslich auch die Landwirtschaft, der Ackerbau, als eine
Mythen und Mythendeutung Daedalus und Ikarus 39<br />
solche hybride Verletzung der heiligen Erdmutter verstanden, die in einer unmittelbar anschaulichen Bildlichkeit<br />
vom Pflug gleichsam durchschnitten und verwundet scheint. Und natürlich wird entsprechend auch der Erzberg-<br />
bau, die Gewinnung von Gold und Silber, Bronze und Eisen, als eine gröbliche Verletzung und Ausbeutung der<br />
altehrwürdigen göttlichen Erde und ihres lebendigen mütterlichen Leibes gedeutet, womit sich der Kreis wieder<br />
schliesst: was wäre denn die Schmiedekunst des Hephaistos ohne das Eisenerz der Erdmutter, was umgekehrt das<br />
geförderte Eisen ohne das olympische Feuer nütze?<br />
[Klaus Bartels: Technik - Triumph und Tragik des Menschen: Perspektiven der Antike auf Probleme der Gegenwart. Hans-Erni-Stiftung. Luzern, 1986]
Mythen und Mythendeutung Albert Camus: Le mythe de Sisyphe 40<br />
22 Albert Camus (1913-1960): Le mythe de Sisyphe (1937-41)<br />
Albert Camus, geboren in der damaligen französischen Kolonie Algerien, ist einer der bedeutendsten französischen<br />
Autoren des 20. Jhdts. Camus schloss sein Philosophiestudium mit einer Arbeit über die spätantike<br />
griechische Philosophie des Neuplatonismus ab. Der Neuplatonismus lehrt, dass der Sinn des Lebens<br />
in der Begegnung mit dem göttlichen Ursprung des Seins liegt; dass wir umso glücklicher sind, je mehr wir<br />
uns von der materiellen Welt abwenden und der geistigen Welt zuwenden.<br />
Camus kann dieser (neu)platonisch-christlichen Philosophie nicht folgen; er glaubt nicht an eine höhere<br />
Macht und bemüht sich in vielen seiner Romane um die Frage, ob sich denn in dieser Welt ohne den Trost<br />
der Religion ein Sinn der menschlichen Existenz ausmachen lasse.<br />
Sein Text „Le mythe de Sisyphe“ sowie der Roman „L’Etranger“ machen Camus in Europa berühmt. 1957<br />
erhält er den Nobelpreis für Literatur. 1960 stirbt er bei einem Autounfall.<br />
5<br />
10<br />
15<br />
20<br />
25<br />
30<br />
35<br />
40<br />
Les dieux avaient condamné Sisyphe à rouler<br />
sans cesse un rocher jusqu'au sommet d'une<br />
montagne d'où la pierre retombait par son<br />
propre poids. Ils avaient pensé avec quelque<br />
raison qu'il n est pas de punition plus terrible<br />
que le travail inutile et sans espoir.<br />
Si l'on en croit Homère, Sisyphe était le plus<br />
sage et le plus prudent des mortels. Selon une<br />
autre tradition cependant, il inclinait au métier<br />
de brigand. Je n'y vois pas de contradiction.<br />
Les opinions diffèrent sur les motifs qui lui<br />
valurent d'être le travailleur inutile des enfers.<br />
On lui reproche d'abord quelque légèreté avec<br />
les dieux. Il livra leurs secrets. Egine, fille<br />
d'Asope, fut enlevée par Jupiter. Le père<br />
s'étonna de cette disparition et s'en plaignit à<br />
Sisyphe. Lui, qui avait connaissance- de l'enlèvement,<br />
offrit à Asope de l'en instruire, à la<br />
condition qu'il donnerait de l'eau à la citadelle<br />
de Corinthe. Aux foudres célestes, il préféra la<br />
bénédiction de l'eau. Il en fut puni dans les<br />
enfers. Homère nous raconte aussi que Sisyphe<br />
avait enchaîné la Mort. Pluton ne put<br />
supporter le spectacle de son empire désert et<br />
silencieux. Il dépêcha le dieu de la guerre qui<br />
délivra la Mort des mains de son vainqueur.<br />
On dit encore que Sisyphe étant près de mourir<br />
voulut imprudemment éprouver l'amour de<br />
sa femme. Il lui ordonna de jeter son corps<br />
sans sépulture au milieu de la place publique.<br />
Sisyphe se retrouva dans les enfers. Et là,<br />
irrité d'une obéissance si contraire à l'amour<br />
humain, il obtint de Pluton la permission de<br />
retourner sur la terre pour châtier sa femme.<br />
Mais quand il eut de nouveau revu le visage<br />
de ce monde, goûté l'eau et le soleil, les pierres<br />
chaudes et la mer, il ne voulut plus retourner<br />
dans l'ombre infernale. Les rappels,<br />
les colères et les avertissements n'y firent rien.<br />
Bien des années encore, il vécut devant la<br />
courbe du golfe, la mer éclatante et les souri-<br />
45<br />
50<br />
55<br />
60<br />
65<br />
70<br />
75<br />
80<br />
res de la terre. Il fallut un arrêt des dieux.<br />
Mercure vint saisir l'audacieux au collet et,<br />
l'ôtant à ses joies, le ramena de force aux enfers<br />
où son rocher était tout prêt.<br />
On a compris déjà que Sisyphe est le héros<br />
absurde. Il l'est autant par ses passions que par<br />
son tourment. Son mépris des dieux, sa haine<br />
de la mort et sa passion pour la vie, lui ont<br />
valu ce supplice indicible où tout l'être s'em-<br />
ploie à ne rien achever. C'est le prix qu'il faut<br />
payer pour les passions de cette terre. On ne<br />
nous dit rien sur Sisyphe aux enfers. Les mythes<br />
sont faits pour que l'imagination les ani-<br />
me. Pour celui-ci, on voit seulement tout l'ef-<br />
fort d'un corps tendu pour soulever l'énorme<br />
pierre, la rouler et l'aider à gravir une pente<br />
cent fois recommencée; on voit la visage<br />
crispé, la joue collée contre la pierre, le se-<br />
cours d'une épaule qui reçoit la masse cou-<br />
verte de glaise, d'un pied qui la cale, la reprise<br />
à bout de bras, la sûreté tout humaine de deux<br />
mains pleines de terre. Tout au bout de ce<br />
long effort mesuré par l'espace sans ciel et le<br />
temps sans profondeur, le but est atteint. Si-<br />
syphe regarde alors la pierre dévaler en quelques<br />
instants vers ce monde inférieur d'où il<br />
faudra la remonter vers les sommets. Il redescend<br />
dans la plaine.<br />
C'est pendant ce retour, cette pause, que Sisyphe<br />
m'intéresse. Un visage qui peine si près<br />
des pierres est déjà pierre lui-même! Je vois<br />
cet homme redescendre d'un pas lourd mais<br />
égal vers le tourment dont il ne connaîtra pas<br />
la fin. Cette heure qui est comme une respiration<br />
et qui revient aussi sûrement que son<br />
malheur, cette heure est celle de la conscience.<br />
A chacun de ces instants, où il quitte les<br />
sommets et s'enfoncé peu à peu vers les tanières<br />
des dieux, il est supérieur à son destin. Il<br />
est plus fort que son rocher.
85<br />
90<br />
95<br />
100<br />
105<br />
110<br />
115<br />
120<br />
125<br />
130<br />
135<br />
Mythen und Mythendeutung Albert Camus: Le mythe de Sisyphe 41<br />
Si ce mythe est tragique, c'est que son héros<br />
est conscient. Où serait en effet sa peine, si à<br />
chaque pas l'espoir de réussir le soutenait?<br />
L'ouvrier d'aujour d'hui travaille, tous les jours<br />
de sa vie, aux mêmes tâches et ce destin n'est<br />
pas moins absurde. Mais il n'est tragique<br />
qu'aux rares moments où il devient conscient'.<br />
Sisyphe, prolétaire des dieux, impuissant et<br />
révolté connaît toute l'étendue de sa misérable<br />
condition: c'est à elle qu'il pense pendant sa<br />
descente. La clairvoyance qui devait faire son<br />
tourment consomme du même coup sa victoire.<br />
Il n'est pas de destin qui ne se surmonte par<br />
le mépris.<br />
Si la descente ainsi se fait certains jours dans<br />
la douleur, elle peut se faire aussi dans la joie.<br />
Ce mot n'est pas de trop. J'imagine encore<br />
Sisyphe revenant vers son rocher, et la dou-<br />
leur était au début. Quand les images de la<br />
terre tiennent trop fort au souvenir, quand<br />
l'appel du bonheur se fait trop pressant, il<br />
arrive que la tristesse se lève au coeur de<br />
l'homme: c'est la victoire du rocher, c'est le<br />
rocher lui-même. L'immense détresse est trop<br />
lourde à porter. Ce sont nos nuits de<br />
Gethsémani. Mais les vérités écrasantes périssent<br />
d'être reconnues. Ainsi, Oedipe obéit<br />
d'abord au destin sans le savoir. A partir du<br />
moment où il sait, sa tragédie commence.<br />
Mais dans le même instant, aveugle et<br />
désespéré, il reconnaît que le seul lien qui le<br />
rattache au monde, c'est la main fraîche d'une<br />
jeune fille. Une parole démesurée retentit<br />
alors: «Malgré tant d'épreuves, mon âge avan-<br />
cé et la grandeur de mon âme me font juger<br />
que tout est bien.» L'Œdipe de Sophocle,<br />
comme le Kirilov de Dostoïevski, donne ainsi<br />
la formule de la victoire absurde. La sagesse<br />
antique rejoint l'héroisme moderne.<br />
On ne découvre pas l'absurde sans être tenté<br />
d'écrire quelque manuel du bonheur. «Eh!<br />
quoi, par des voies si étroites...?» Mais il n'y a<br />
qu'un monde. Le bonheur et l'absurde sont<br />
deux fils de la même terre. Ils sont insépara-<br />
bles. L'erreur serait de dire que le bonheur naît<br />
forcément de la découverte absurde. Il arrive<br />
aussi bien que le sentiment de l'absurde naisse<br />
du bonheur. « Je juge que tout est bien», dit<br />
Œdipe, et cette parole est sacrée. Elle retentit<br />
dans l'univers farouche et limité de l'homme.<br />
Elle enseigne que tout n'est pas, n'a pas été<br />
épuisé. Elle chasse de ce monde un dieu qui y<br />
était entré avec l'insatisfaction et le goût des<br />
douleurs inutiles. Elle fait du destin une affai-<br />
re d'homme, qui doit être réglée entre les<br />
hommes.<br />
140<br />
145<br />
150<br />
155<br />
160<br />
165<br />
170<br />
Toute la joie silencieuse de Sisyphe est là.<br />
Son destin lui appartient. Son rocher est sa<br />
chose. De même, l'homme absurde, quand il<br />
contemple son tourment, fait taire toutes les<br />
idoles. Dans l'univers soudain rendu à son<br />
silence, les mille petites voix émerveillées de<br />
la terre s'élèvent. Appels inconscients et se-<br />
crets, invitations de tous les visages, ils sont<br />
l'envers nécessaire et le prix de la victoire. Il<br />
n'y a pas de soleil sans ombre, et il faut connaître<br />
la nuit. L'homme absurde dit oui et son<br />
effort n'aura plus de cesse. S'il y a un destin<br />
personnel, il n'y a point de destiné supérieure<br />
ou du moins il n'en est qu'une dont il juge<br />
qu'elle est fatale et méprisable. Pour le reste, il<br />
se sait le maître de ses jours. A cet instant<br />
subtil où l'homme se retourne sur sa vie, Si-<br />
syphe, revenant vers son rocher, contemple<br />
cette suite d'actions sans lien qui devient son<br />
destin, créé par lui, uni sous la regard de sa<br />
mémoire et bientôt scellé par sa mort. Ainsi,<br />
persuadé de l'origine tout humaine de tout ce<br />
qui est humain, aveugle qui désire voir et qui<br />
sait que la nuit n'a pas de fin, il est toujours en<br />
marche. Le rocher roule encore.<br />
Je laisse Sisyphe au bas de la montagne! On<br />
retrouve toujours son fardeau. Mais Sisyphe<br />
enseigne la fidélité supérieure qui nie les<br />
dieux et soulève les rochers. Lui aussi juge<br />
que tout est bien. Cet univers désormais sans<br />
maître ne lui paraît ni stérile ni futile. Chacun<br />
des grains de cette pierre, chaque éclat miné-<br />
ral de cette montagne pleine de nuit, à lui seul,<br />
forme un monde. La lutte elle-même vers les<br />
sommets suffit à remplir un cœur d'homme. Il<br />
faut imaginer Sisyphe heureux.
Mythen und Mythendeutung Albert Camus: Le mythe de Sisyphe 41a<br />
Erläuterungen und Wortangaben<br />
2 sans cesse ohne Unterbruch<br />
2 le rocher Fels, Felsbrocken<br />
5 la punition Bestrafung<br />
6 inutile nutzlos<br />
8 les mortels Sterblicher(=Menschen)<br />
9 cependant hingegen, allerdings<br />
incliner a qc. zu etw. neigen<br />
10 le brigand Gauner, Bandit<br />
14 livrer un secret ein Geheimnis verraten<br />
15 enlever qc. wegnehmen, entführen<br />
19 à la condition unter der Bedingung, ...<br />
la citadelle Zitadelle, Burg<br />
20 la foudre Blitz<br />
21 la bénédiction Segnung<br />
23 enchaîner in Ketten legen<br />
28 éprouver auf die Probe stellen<br />
30 la sépulture Bestattung<br />
32 irrité irritiert, verärgert<br />
l‘obéissance Gehorsam<br />
contraire à qc. entgegengesetzt<br />
33 il obtint (p.s.) er erhielt<br />
34 châtier züchtigen, bestrafen<br />
38 infernal (Adj. zu enfer): in der Un-<br />
terwelt<br />
le rappel Ermahnung<br />
39 l‘avertissement Verwarnung<br />
41 la courbe Krümmung, Bogen<br />
42 l‘arrêt Festnahme (Arrest)<br />
43 saisir au collet am Kragen packen<br />
44 ôter aufheben, wegnehmen<br />
ramener bringen<br />
de force mit Gewalt<br />
47 autant - que ebensoso sehr - wie auch<br />
48 le mépris Missachtung, Verachtung<br />
50 le supplice Bestrafung, Qual<br />
indicible unsäglich<br />
51 achever zustande bringen<br />
56 corps tendu angespannter Körper<br />
57 gravir hochsteigen<br />
la pente Abhang<br />
59 visage crispé zus‘gekniffenes Gesicht<br />
61 la glaise Lehm, Ton<br />
61 caler verkeilen, zurückhalten<br />
64 mesuré par qc. bemessen nach etw.<br />
66 dévaler hinunterkollern<br />
78 la conscience Bewusstheit, Gewissen<br />
79 les tanières Schlupfwinkel<br />
83 conscient bewusst<br />
84 soutenir stützen, aufrecht halten<br />
86 la tâche Aufgabe<br />
89 impuissant machtlos<br />
90 l‘étendu Umfang, Tragweite<br />
92 la clairvoyance Hellsichtigkeit, Einsicht<br />
93 le tourment Qual<br />
consommer vollenden<br />
du même coup gleichzeitig<br />
95 le mépris Verachtung<br />
101 tenir au souvenir im Gedächtnis sitzen<br />
105 la détresse Verzweiflung, Hoffnungs-<br />
losigkeit<br />
107 écrasant zerschmetternd<br />
périr untergehen<br />
114 démesuré masslos<br />
retentir ertönen<br />
115 âge avancé vorgerücktes Alter<br />
120 rejoindre erreichen, s. treffen mit<br />
142 l‘idole Götzenbild<br />
143 émerveillé erstaunt/erstaunlich<br />
146 l‘envers Kehrseite, Gegenstück<br />
149 (sans) cesse ohne Unterlass<br />
150 la destinée (le destin) Schicksal<br />
1156 sans lien ohne Verbindung<br />
160 aveugle blind<br />
1164 le fardeau Bündel, Last<br />
168 futile eitel, nichtig, wertlos<br />
1171 la lutte Kampf
42 Andere Mythendeutungen Mythen und Mythendeutung<br />
Andere Mythendeutungen<br />
23) Quintus Ennius: EUHEMERUS sive SACRA HISTORIA<br />
Dieser Text hat eine lange Geschichte: Verfasst wurde er um 300 v.Chr.auf Griechisch, von einem gewissen EUHEME-<br />
ROS Anfang des 2. Jhdt.v.Chr. hat ihn der aus Unteritalien stammende ENNIUS ins Lateinische übersetzt. Diese<br />
Übersetzung ist uns nur noch in Fragmenten aus dem 4. Jhdt. greifbar; die meisten stammen aus den "Divinae Institutiones"<br />
des christlichen Autors LAKTANZ .<br />
28 Initio primus in terris imperium summum Caelus habuit: is id<br />
regnum una cum fratribus suis sibi instituit atque paravit.<br />
Lactantius, Div.Inst. 13.14<br />
is id regnum una cum fratribus suis sibi instituit atque paravit.<br />
Lactantius, Div.Inst. 11.65<br />
29 Caelo avo, quem dicit Euhemerus in Oceania mortuum et in oppido<br />
Aulacia sepultum.<br />
Lactantius, Div.Inst. 11.65<br />
30 Exim Saturnus uxorem duxit Opem. Titan qui maior natu erat<br />
postulat ut ipse regnaret. ibi Vesta mater eorum et sorores Ceres atque Ops<br />
suadent Saturno, uti de regno ne concedat fratri. ibi Titan, qui facie deterior<br />
esset quam Saturnus, idcirco et quod videbat matrem atque sorores suas<br />
operam dare uti Saturnus regnaret, concessit ei ut is regnaret. itaque pactus est<br />
cum Saturno, uti si quid liberum virile secus ei natum esset, ne quid educaret.<br />
id eius rei causa fecit, uti ad suos gnatos regnum rediret. tum Saturno filius<br />
qui primus natus est, eum necaverunt. deinde posterius nati sunt gemini,<br />
Iuppiter atque Iuno. tum Iunonem Saturno in conspectum dedere atque<br />
Iovem clam abscondunt<br />
Lactantius, Div.Inst. 14.2<br />
31 Deinde Titan postquam rescivit Saturno filios procreatos atque<br />
educatos esse clam se, seducit secum filios suos qui Titani vocantur,<br />
fratremque suum Saturnum atque Opem conprehendit eosque muro<br />
circumegit et custodiam his apponit.<br />
Lactantius, Div.Inst. 14.7<br />
32 Iovem adultum, cum audisset patrem atque matrem custodiis<br />
circumsaeptos atque in vincula coniectos, venisse cum magna Cretensium<br />
multitudine Titanumque ac filios eius pugna vicisse, parentes vinculis<br />
exemisse, patri regnum reddidisse atque ita in Cretam remeasse. post haec<br />
deinde Saturno sortem datam, ut caveret ne filius eum regno expelleret; illum<br />
elevandae sortis atque effugiendi periculi gratia insidiatum Iovi, ut eum<br />
necaret; Iovem cognitis insidiis regnum sibi denuo vindicasse ac fugasse<br />
Saturnum, qui cum iactatus esset per omnes terras persequentibus armatis,<br />
quos ad eum conprehendendum vel necandum Iuppiter miserat, vix in Italia<br />
locum in quo lateret invenit.Consedisse illi aquilam in capite atque ei regnum<br />
portendisse.<br />
Lactantius, Div.Inst. 14.10<br />
33 Deinde Pan eum deducit in montem, qui vocatur Caeli stea.<br />
postquam eo ascendit, contemplatus est late terras, ibique in eo monte aram<br />
creat Caelo, primusque in ea ara Iuppiter sacrificavit. in eo loco suspexit in<br />
caelum quod nunc nos nominamus, idque quod supra mundum erat, quod<br />
aether vocabatur, de sui avi nomine caelo nomen indidit, idque Iuppiter quod<br />
aether vocatur placans primus caelum nominavit, eamque hostiam quam ibi
Mythen und Mythendeutung Andere Mythendeutungen 43<br />
sacrificavit totam adolevit.<br />
Lactantius, Div.Inst. 11.63<br />
34 Ubi Iuppiter Neptuno imperium dat maris, t insulis omnibus et<br />
quae secundum mare loca essent omnibus regnaret.<br />
Lactantius, Div.Inst. 11.34<br />
35 Ea tempestate Iuppiter in monte Olympo maximam partem vitae<br />
colebat et eo ad eum in ius veniebant, si quae res in controversia erant. item si<br />
quis quid novi invenerat, quod ad vitam humanam utile esset, eo veniebant<br />
atque Iovi ostendebant.<br />
Lactantius, Div.Inst. 11.35<br />
36 Saturnum et Opem ceterosque tunc homines humanam carnem<br />
solitos esitare: verum primum Iovem leges hominibus moresque condentem<br />
edicto prohibuisse, ne liceret eo cibo vesci.<br />
Lactantius, Div.Inst. 13.2<br />
37 Nam cum terras circumiret, ut in quamque regionem venerat, reges<br />
principesve populorum hospitio sibi et amicitia copulabat et cum a quoque<br />
digrederetur iubebat sibi fanum creari hospitis sui nomine, quasi ut posset<br />
amicitiae ac foederis memoria conservari. sic constituta sunt templa Iovi<br />
Ataburio, Iovi Labryandio: Ataburus enim et Labryandus hospites eius atque<br />
adiutores in bello fuerunt; item Iovi Laprio, Iovi Molioni, Iovi Casio et quae<br />
sunt in eundem modum. quod ille astutissime excogitavit, ut et sibi honorem<br />
divinum et hospitibus suis perpetuum nomen adquireret cum religione<br />
coniunctum. gaudebant ergo illi et huic imperio eius libenter obsequebantur<br />
et nominis sui gratia ritus annuos et festa celebrabant. simile quiddam in<br />
Sicilia fecit Aeneas, cum conditae urbi Acestae hospitis nomen inposuit, ut<br />
eam postmodum laetus ac libens Acestes diligeret augeret ornaret. hoc modo<br />
religionem cultus sui per orbem terrae Iuppiter seminavit et exemplum ceteris<br />
ad imitandum dedit<br />
Lactantius, Div.Inst. 22.22<br />
38 Deinde Iuppiter postquam quinquies terras circuivit omnibusque<br />
amicis atque cognatis suis imperia divisit reliquitque hominibus leges mores<br />
frumentaque paravit multaque alia bona fecit, inmortali gloria memoriaque<br />
adfectus sempiterna monumenta suis reliquit. aetate pessum acta in Creta<br />
vitam commutavit et ad deos abiit eumque Curetes filii sui curaverunt<br />
decoraveruntque eum; et sepulchrum eius est in Creta in oppido Gnosso et<br />
dicitur Vesta hanc urbem creavisse; inque sepulchro eius est inscriptum<br />
antiquis litteris Graecis X?L IPMLMS id est Latine Iuppiter Saturni.<br />
Lactantius, Div.Inst. 11.45<br />
39 Venus prima artem meretriciam instituit auctorque mulieribus in<br />
Cypro fuit, uti vulgo corpore quaestum facerent: quod idcirco imperavit, ne<br />
sola praeter alias mulieres inpudica et virorum adpetens videretur. dantque<br />
eum Vestae educandum celantes Saturnum. item Neptunum clam Saturno<br />
Ops parit eumque clanculum abscondit. ad eundem modum tertio partu Ops<br />
parit geminos, Plutonem et Glaucam. Pluto Latine est Dis pater, alii Orcum<br />
vocant. ibi filiam Glaucam Saturno ostendunt, at filium Plutonem celant atque<br />
abscondunt. deinde Glauca parva emoritur. haec ut scripta sunt Iovis<br />
fratrumque eius stirps atque cognatio: in hunc modum nobis ex sacra<br />
scriptione traditum est.<br />
Lactantius, Div.Inst. 17.10
44 Weitere Themen Mythen und Mythendeutung<br />
Weitere Themen<br />
24) Verbotene Liebe<br />
Vater - Tochter:<br />
Cinyras und Myrrha: Ovid: Metamorphosen, X, 280-532<br />
Bruder - Schwester:<br />
Byblis und Caunus: Ovid: Metamorphosen, IX 455-666<br />
Stiefmutter - Sohn:<br />
Phädra undHippolytus: Seneca: Phaedra<br />
25) Begegnung fremder Kulturen<br />
Jason und Medea<br />
Ovid: Metamorphosen, VII, 1-420<br />
Euripides: Medea<br />
Seneca: Medea<br />
Franz Grillparzer: Die Argonauten (Trilogie)<br />
Hans Henny Jahnn: Medea<br />
Christa Wolff: Medea. Stimmen<br />
26) Anfänge in Mesopotamien: Gilgamesch<br />
Die folgenden Texte sind abrufbar unter http://www.gyminterlaken/Files/<br />
Babylon-Sintflut-Gilgamesch.pdf<br />
Gilgamesch-Einleitung.pdf<br />
Gilgamesch.pdf
Mythen und Mythendeutung Anhang 45<br />
Anhang<br />
Antike Metrik<br />
Metrische Übung: Ovid, Metamorphosen, Buch I: Weltaltermythos<br />
Musterprüfungen
Mythen und Mythendeutung<br />
(Kr)<br />
Textverzeichnis<br />
Verzeichnis der verwendeten Texte<br />
[Hans Schraner: Bergsagen. Schweizer Jugendschriften Nr. 53. Bern, 1925.]............................................................ 5<br />
[Herbert Hunger: Lexikon der griechischen und römischen <strong>Mythologie</strong>. Reinbek 1974. sub voce Prometheus] 6<br />
[Goethe]................................................................................................................................................................................ 7<br />
[Jacobus de Voragine: Legenda Aurea: De sancto Christophoro]............................................................................... 9<br />
[Ovid: Metamorphosen, 1,1-88]...................................................................................................................................... 12<br />
[Genesis, cap. 1-2] ............................................................................................................................................................. 13<br />
[Genesis, cap. 2] ................................................................................................................................................................ 14<br />
[Ovid: Metamorphosen, 1. Buch, 89-150]...................................................................................................................... 15<br />
[Dschuang Dsi; vgl. auch Laotse, Taoteking, Nr. 80] .................................................................................................. 16<br />
[Rilke: Duineser Elegien. Die achte Elegie.].................................................................................................................. 17<br />
[Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1900) II,63ff] ................................................................................................... 19<br />
[Erich Fromm: Märchen, Mythen, Träume. dt. Ausg. rororo. Reinbek 1957.]......................................................... 20<br />
[Ovid: Metamorphosen, 10,1ff]....................................................................................................................................... 22<br />
[Rilke: ORPHEUS. EURYDIKE. HERMES]................................................................................................................... 24<br />
[Ovid: Metamorphosen, 3, 341-510]............................................................................................................................... 28<br />
[E. Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Rowohlt Verlag. Hamburg 1977, S. 225-30.]............... 31<br />
[R. M. Rilke, Sonette an Orpheus Gesammelte Werke 1, 731.] .................................................................................. 31<br />
[Paul Valéry: Cantate du Narcisse. Scène 11.].............................................................................................................. 32<br />
[H. Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt 1969 (1957), S. 160ff.] ................................. 33<br />
[G. Dischner, Ein Gegenbild zum „eindimensionalen Menschen”, in: Häsing, Stubenrauch, Ziehe (Hrsg.): Narziss,<br />
ein neuer Sozialisationstypus? Pädagogik extra Verlag. Bensheim 1981, S. 100ff.]................................................ 34<br />
[P. Passett: Gedanken zur Narzissmuskritik: Die Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten. in: Die neuen Nar-<br />
zissmustheorien: zurück ins Paradies? Hrsg. vom Psychoanalytischen Seminar Zürich, Syndikat Buchges. Frankfurt<br />
1981, S. 159ff.].................................................................................................................................................................... 34<br />
[Ovid: Metamorphosen, 8, 183-235]............................................................................................................................... 36<br />
[Wystan Hugh Auden (1907 – 1973): Musée des Beaux Arts (1939)]........................................................................ 37<br />
[Friedrich Bischoff (1896-1976): Der Sturz des Ikarus (1966)].................................................................................... 37<br />
[Klaus Bartels: Technik - Triumph und Tragik des Menschen: Perspektiven der Antike auf Probleme der Gegen-<br />
wart. Hans-Erni-Stiftung. Luzern, 1986] ....................................................................................................................... 39<br />
[Albert Camus: Le Mythe de Sisyphe] .......................................................................................................................... 41<br />
Lactantius, Div.Inst. 13.14 ............................................................................................................................................... 42
Mythen und Mythendeutung Anhang 46<br />
Antike Metrik<br />
Metrik (Verslehre)<br />
1. Verselemente<br />
Das kleinste rhythmische Muster ist der Versfuss. Die wichtigsten Versfüsse:<br />
1.1 der Trochäus: - ˘<br />
Wóllt ihr étwas Grosses leisten, setzet éuer Lében éin! (Platen).<br />
1.2 der Jambus: ˘ -<br />
Wie rásche Pféile sándte mích Archílochús (Schlegel).<br />
Der sechsfüssige Jambus ist das Versmaß des antiken, der fünffüßige Jambus das Versmaß des<br />
klassischen<br />
deutschen Dramas.<br />
1.3 der Daktylus ("Finger", ein langes, zwei kurze Glieder): - ˘ ˘<br />
Hérrliche Táge, nicht wéinen, dáss sie vergángen,<br />
sóndern nur dánken,/ dáss sie gewésen.<br />
1.4 der Anapäst: ˘ ˘ -<br />
Und es wállet und siédet und braúset und zíscht.<br />
1.5 der Spondeus: - -<br />
Er kann den Daktylus oder den Anapäst vertreten, auch den Trochäus und Jambus.<br />
1.6 Je zwei Trochäen, Jamben und Anapäste bilden ein Metrum. Beim Daktylus hingegen zählt<br />
ein Fuß als Metrum.<br />
1.7 der Choriambus: - ˘ ˘ - / der Creticus: - ˘ -<br />
Der Choriambus und der Creticus sind Bestandteil vieler lyrischer Verse, kommen aber nicht<br />
selbständig vor.<br />
2. Versarten<br />
2.1 Die gebunden Rede (Poesie) bedient sich der Versform (versus Wendung, Zeile, von vertere).<br />
Der Versrhythmus entsteht durch einen geordneten Wechsel von Hebung und Senkung. Im<br />
Deutsch wechseln hierbei betonte und unbetonte Silben, wobei Wortakzent und Versiktus 1<br />
sich decken (akzentuierende Metrik). Im Latein besteht der Versrhythmus im geregelten<br />
Wechsel von langen und kurzen Silben (Quantitäten, quantitierende Metrik).<br />
2.2 Die Zusammenordnung einer bestimmten Anzahl von Metren nennt man Vers. Für jeden Vers<br />
gilt:<br />
- Die letzte Silbe ist anceps (schwankend), d.h. sie kann lang oder kurz sein.<br />
- Der letzte Fuß eines Verses ist entweder vollständig (akatalektisch) oder unvollständig<br />
(katalektisch, vorzeitig aufhörend). Zeichen: L<br />
- An bestimmten Stellen können längere Verse als Atempause einen Einschnitt haben, nämlich<br />
eine Zäsur 2 oder eine Diärese.<br />
2.3 Nach den Verselementen unterscheidet man jambische, trochäische, daktylische und<br />
anapästische Verse.<br />
2.4 Nach der Zahl der Metra unterscheidet man Dimeter (2), Trimeter (3), Tetrameter (4),<br />
Pentameter (5), Hexameter (6).<br />
2.5 Der jambische Trimeter resp. Senar ist das Versmaß des Dramas (Plautus, Terenz) und der<br />
Fabel (Phaedrus). Er besteht aus sechs Jamben (seni je sechs). Beim Senar können in allen<br />
1 Der Iktus bezeichnet die durch das Vermass betonte Silbe.<br />
2 Zäsur: rhythmische Pause innerhalb eines Metrums; Diärese: Pause zwischen zwei Metren.
Mythen und Mythendeutung Anhang 47<br />
Füßen außer dem letzten Längen durch Kürzen und Kürzen durch Längen vertreten werden;<br />
ist dies nur im 1., 3. und 5. Fuss erlaubt, spricht man von einem Trimeter (Seneca).<br />
˘ - ˘ - ˘ - ˘ - ˘ - ˘ - B e a t u s i l l e , q u i p r o c u l n e g o t i i s<br />
p a t e r n a r u r a b o b u s e x e r c e t s u i s<br />
2.6 Der daktylische Hexameter ist das Versmaß der grossen Dichtungen, v.a. des Epos (Heldengedichts).<br />
Er besteht aus sechs Daktylen, deren letzter stets katalektisch, d.h. zweisilbig sein<br />
muß. Jeder der vier ersten Daktylen kann mit einem Spondeus vertauscht werden, der fünfte<br />
nur ausnahmsweise:<br />
- ˘ ˘ - ˘ ˘ - ˘ ˘ - ˘ ˘ - ˘ ˘ - ˘ Quadrupedante putrem sonitu quatit ungula campum<br />
- - - - - - - - - ˘ ˘ - - ibant obsuri sola sub nocte per umbras<br />
2.7 Der daktylische Pentameter besteht aus zwei Halbversen von der Grundform<br />
Im ersten Halbvers dürfen die Daktylen durch Spondeen ersetzt werden, im zweiten nicht:<br />
- - - - - - - - - ˘ ˘ - - Dic, hospes, Spartae nos t(e) hic vidisse iacentes<br />
- ˘ ˘ - ˘ ˘ - | - ˘ ˘ - ˘ ˘ - Dum sanctis patriae legibus obsequimur<br />
Der Pentameter wird nur zusammen mit dem Hexameter verwendet. Die Verbindung beider<br />
Verse heißt Distichon ("Zweizeiler"). Ein Gedicht in Distichen heißt Elegie.<br />
3. Besonderheiten der dichterischen Prosodie (Silbenmessungslehre)<br />
3.1 Der Hiat (hiare gähnen, klaffen)<br />
- Endigt innerhalb eines Verses ein Wort mit Vokal oder mit -m (das im Auslaut nur sehr<br />
schwach ausgesprochen wurde), und beginnt das folgende Wort mit Vokal (oder mit h), so<br />
entsteht ein Hiat.<br />
- Dieser Hiat wird durch Elision (elidere 3. ausstoßen) des Endvokals vermieden:<br />
nullan(e) habes viti(a) imm(o) ali(a) et fortasse minora.<br />
Monstr(um) horrend(um) inform(e) ingens, cui lumen ademptum<br />
- stehen jedoch als zweites Wort es oder est (esse!), so wird deren e ausgestoßen:<br />
quidquid sub terra (e)st, in apricum proferet aetas.<br />
- Die Elision greift nur in seltenen Fällen auf den folgenden Vers über<br />
(= versus hypermeter).<br />
- Nur in den folgenden drei Fällen ist der Hiat (also die Vernachlässigung der Elision)<br />
gestattet:<br />
1. bei Interjektionen o et de Latia, o et de gente Sabina<br />
2. vor der Hauptzäsur (wenn durch das Wortende ein Versfuss geteilt wird)<br />
hunc ego dilexi, hic me complexus amavit.<br />
3. bei Satzschluß et ver(a) incessu patuit dea. ill(e) ubi matrem<br />
3.2 Besonderheiten im Anlaut<br />
Anlautendes i- und u- vor Vokal sind konsonantisch.<br />
3.3 Quantitäten (Zeitdauer) von Silben<br />
Im Latein unterscheidet man zwischen naturlangen und positionslangen Silben. Von Natur<br />
aus ist eine Silbe lang, wenn sie einen langen Vokal (Auskunft darüber gibt das Wörterbuch)<br />
oder einen Diphthong (au, ae, eu, oe) enthält. Eine Silbe mit naturkurzem Vokal gilt als lang,<br />
wenn mehr als ein Konsonant folgt. Dabei zählen auch die Anfangskonsonanten neuer Silben<br />
und Wörter.<br />
Merke: x und z gelten als Doppelkonsonanten, qu als einfacher Konsonant.
Mythen und Mythendeutung Anhang 48<br />
Achtung! Muta + Liquida bilden nur bei Bedarf Position<br />
Den Muta ("stumme" Laute, auch Okklusive genannt) werden folgende Konsonanten zugeteilt:<br />
- Labiale (Lippenlaute) b, p, ph<br />
- Dentale (Zahnlaute) d, t, th<br />
- Gutturale (Gaumenlaute) g, c, q, ch<br />
Zu den Liquidae (Fließlaute) gehören l, r (im weiteren Sinne auch n, m)<br />
Erklärung: Daß McL nicht automatisch Position bilden, hat phonetische Gründe; nur geschlossene Silben (dh.<br />
solche, die mit einem Konsonanten enden) gelten als lang. Bsp. par-tem. McL hingegen werden in der Aussprache<br />
so eng miteinander verknüpft, daß sie zur folgenden Silbe zählen. Bsp. pa-trem.<br />
Beispiel für muta cum liquida:<br />
- - - ˘ ˘ - ˘ ˘ - - - ˘ ˘ - ˘<br />
Beachte die Mehrdeutigkeit folgender Endungen:<br />
et primo similis volucri, mox vera volucris<br />
-a kurz: Nom. sing., Nom. u. Akk. pl. Neutr. lang: Abl. sing.<br />
-us kurz: Nom. sing. lang: Gen. sing., Nom. u. Akk. pl.<br />
-is kurz: Nom. u. Gen. sing. lang: Akk. pl. (an Stelle von -es)<br />
3.4 Beispiel für den Unterschied zwischen der antiken quantitierenden und der deutschen<br />
akzentuierenden Prosodie: Ovid, Metamorphosen, I,1-4<br />
I n n o v a f e r t a n i m u s m u t a t a s d i c e r e f o r m a s<br />
c o r p o r a ; d i , c o e p t i s ( n a m v o s m u t a s t i s e t i l l a s )<br />
a d s p i r a t e m e i s p r i m a qu(e) a b o r i g i n e m u n d i<br />
a d m e a p e r p e t u u m d e d u c i t e t e m p o r a c a r m e n !<br />
Von den Gestalten zu künden, die einst sich verwandelt in neue<br />
Körper, so treibt mich der Geist. Ihr Götter, da ihr sie gewandelt,<br />
Fördert mein Werk und lasset mein Lied in dauerndem Flusse<br />
Von dem Beginne der Welt bis auf meine Zeiten gelangen!
Mythen und Mythendeutung Anhang 49<br />
Metrische Übung: Ovid, Metamorphosen, Buch I,89ff: Weltaltermythos<br />
Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo, - ˘ ˘ - ˘ ˘ - - - - - ˘ ˘ - -<br />
90 sponte sua, sine lege fidem rectumque colebat. - ˘ ˘ - ˘ ˘ - ˘ ˘ - - - ˘ ˘ - -<br />
poena metusque aberant, nec verba minantia fixo - ˘ ˘ - ˘ ˘ - - - ˘ ˘ - ˘ ˘ --<br />
aere legebantur, nec supplex turba timebat - ˘ ˘ - - - - - - - ˘ ˘ - ˘<br />
iudicis ora sui, sed erant sine vindice tuti. - ˘ ˘ - ˘ ˘ - ˘ ˘ - ˘ ˘ - ˘ ˘ -<br />
nondum caesa suis, peregrinum ut viseret orbem, - - - ˘ ˘ - ˘ ˘ - - - ˘ ˘ --<br />
95 montibus in liquidas pinus descenderat undas, - ˘ ˘ - ˘ ˘ - - - - - ˘ ˘ - -<br />
nullaque mortales praeter sua litora norant; - ˘ ˘ - - - - - ˘ ˘ - ˘ ˘ - -<br />
nondum praecipites cingebant oppida fossae; - - - ˘ ˘ - - - - - ˘ ˘ - -<br />
non tuba derecti, non aeris cornua flexi, - ˘ ˘ - - - - - - - ˘ ˘ - -<br />
non galeae, non ensis erat: sine militis usu - ˘ ˘ - - - ˘ ˘ - ˘ ˘ - ˘ ˘ --<br />
100 mollia securae peragebant otia gentes. - ˘ ˘ - - - ˘ ˘ - - - ˘ ˘ --<br />
ipsa quoque inmunis rastroque intacta nec ullis - ˘ ˘ - - - - - - - ˘ ˘ - -<br />
saucia vomeribus per se dabat omnia tellus, - ˘ ˘ - ˘ ˘ - - - ˘ ˘ - ˘ ˘ - ˘<br />
contentique cibis nullo cogente creatis - - - ˘ ˘ - - - - - ˘ ˘ - -<br />
arbuteos fetus montanaque fraga legebant - ˘ ˘ - - - - - ˘ ˘ - ˘ ˘ - -<br />
105 cornaque et in duris haerentia mora rubetis - ˘ ˘ - - - - - ˘ ˘ - ˘ ˘ - -<br />
et quae deciderant patula Iovis arbore glandes. - - - ˘ ˘ - ˘ ˘ - ˘ ˘ - ˘ ˘ --<br />
ver erat aeternum, placidique tepentibus auris - ˘ ˘ - - - ˘ ˘ - ˘ ˘ - ˘ ˘ --<br />
mulcebant zephyri natos sine semine flores; - - - ˘ ˘ - - - ˘ ˘ - ˘ ˘ --<br />
mox etiam fruges tellus inarata ferebat, - ˘ ˘ - - - - - ˘ ˘ - ˘ ˘ - ˘<br />
110 nec renovatus ager gravidis canebat aristis; - ˘ ˘ - ˘ ˘ - ˘ ˘ - - - ˘ ˘ - -<br />
flumina iam lactis, iam flumina nectaris ibant, - ˘ ˘ - - - - - ˘ ˘ - ˘ ˘ - -<br />
flavaque de viridi stillabant ilice mella. - ˘ ˘ - ˘ ˘ - - - - - ˘ ˘ - ˘<br />
Postquam Saturno tenebrosa in Tartara misso<br />
sub Iove mundus erat, subiit argentea proles,<br />
115 auro deterior, fulvo pretiosior aere.<br />
Iuppiter antiqui contraxit tempora veris<br />
perque hiemes aestusque et inaequalis a u t u m n o s
Mythen und Mythendeutung Anhang 50<br />
et breve ver spatiis exegit quattuor a n n u m .<br />
tum primum siccis aer fervoribus ustus<br />
120 canduit, et ventis glacies adstricta pependit;<br />
tum primum subiere domos; domus antra fuerunt<br />
et densi frutices et vinctae cortice virgae.<br />
semina tum p r i m um longis Cerealia sulcis<br />
obruta sunt, pressique iugo gemuere iuvenci.<br />
125. Tertia post illam successit aenea proles,<br />
saevior ingeniis et ad horrida promptior arma,<br />
non scelerata tamen; de duro est ultima ferro.<br />
protinus inrupit venae p e ioris in a e v u m<br />
omne nefas: fugere pudor verumque fidesque;<br />
130 in quorum subiere locum fraudesque dolusque<br />
insidiaeque et vis et amor sceleratus habendi.<br />
vela dabant ventis nec adhuc bene noverat illos<br />
navita, quaeque prius steterant in m ontibus altis,<br />
fluctibus ignotis insultavere carinae,<br />
135 communemque prius ceu lumina solis et auras<br />
cautus humum longo signavit limite mensor.<br />
nec tantum segetes alimentaque debita dives<br />
poscebatur humus, sed itum est in viscera terrae,<br />
quasque recondiderat Stygiisque admoverat umbris,<br />
140 effodiuntur opes, inritamenta malorum.<br />
iamque nocens ferrum ferroque nocentius a u r u m<br />
prodierat, prodit bellum, quod pugnat utroque,<br />
sanguineaque manu crepitantia concutit arma.<br />
vivitur ex rapto: non hospes ab hospite tutus,<br />
145 non socer a genero, fratrum quoque gratia rara est;<br />
inminet exitio vir coniugis, illa mariti,<br />
lurida terribiles miscent aconita novercae,<br />
filius ante diem patrios inquirit in annos:<br />
victa iacet pietas, et virgo caede madentis<br />
150 ultima caelestum terras Astraea reliquit.
Mythen und Mythendeutung Anhang 51<br />
Musterprüfungen<br />
(I) Ovid, Metamorphosen I,545ff:Apollon und Daphne<br />
Illustration: Bernini: Apoll und Daphne, Rom, Villa Borghese, um 1622 entstanden.<br />
Kurzfassung der Geschichte:<br />
Der Gott Apollon hat sich in<br />
die Nymphe Daphne, eine<br />
Tochter des Flussgottes Peneios,<br />
verliebt. Die Nymphe<br />
weist die Annäherungsversuche<br />
Apolls zurück und flieht.<br />
Als sie, völlig entkräftet, nicht<br />
weiter kann, fleht sie ihren<br />
Vater an, sie durch eine<br />
Metamorphose dem Zugriff des<br />
Gottes zu entziehen. Ihr Vater<br />
lässt sie in einen Baum<br />
verwandeln, der fortan den<br />
Namen der Nymphe trägt.<br />
(dãfnh = Daphne bedeutet auf<br />
Griechisch „Lorbeer“).<br />
Der Lorbeer wird zum Baum<br />
des Apoll.
Mythen und Mythendeutung Anhang 52<br />
(I) Theorie<br />
(1) Was versteht man unter dem Penultimagesetz?<br />
..................................................................................................................................................................<br />
..................................................................................................................................................................<br />
(2) Markiere im folgenden alle Fälle von Muta cum Liquida:<br />
Sunt autem quidam e nostris, qui haec subtilius velint tradere et negent satis esse quid bonum sit aut<br />
quid malum sensu iudicari, sed animo etiam ac ratione intellegi posse et voluptatem ipsam per se esse<br />
expetendam et dolorem ipsum 3 per se esse fugiendum. itaque aiunt hanc quasi naturalem atque<br />
insitam in animis nostris inesse notionem, ut alterum esse appetendum, alterum aspernandum<br />
sentiamus.<br />
[Cicero: De finibus bonorum et malorum, I,32]<br />
(II) Praxis: Löse die folgenden Aufgaben<br />
(1) Ergänze das metrische Schema der folgenden Verse; das Kursive ist bereits erledigt.<br />
Kontext: Einleitung der Geschichte<br />
Primus amor Phoebi Daphne Peneia, quem non -uu -- -- -<br />
fors ignara dedit, sed saeva Cupidinis ira, -- -uu -<br />
Delius hunc nuper, victa serpente superbus, -uu -- -<br />
viderat adducto flectentem cornua nervo -uu<br />
'quid' que 'tibi, lascive puer, cum fortibus armis?' -uu -- -u<br />
[Met. I,452ff]<br />
(2) Zeichne die betonten Längen ein (oder: Schreibe Längen und Kürzen über die Silben)<br />
Kontext: Apoll will Daphne seine Liebe erklären; er komme nicht als Feind, sondern er liebe sie.<br />
'nympha, precor, Penei, mane! non insequor hostis;<br />
nympha, mane! sic agna lupum, sic cerva leonem,<br />
sic aquilam penna fugiunt trepidante columbae,<br />
hostes quaeque suos: amor est mihi causa sequendi!<br />
[Met. I,504ff]<br />
3 Vielleicht kommt Ihnen dieser Text vertraut vor; gewisse Computerprogramme machen a u s<br />
dem Text, der mit „lorem ipsum“ beginnt, den Default-Fülltext, wenn auf einer Werbung irgend<br />
ein Text erscheinen soll, der nicht vom Gegenstand ablenken darf.
Mythen und Mythendeutung Anhang 53<br />
(3) In die folgenden Analysen haben sich da und dort Fehler eingeschlichen!Wo etwas nicht stimmt, ist<br />
auch anzugeben, wo der Fehler liegt. 4 Kontext: Daphne bittet ihren Vater um Hilfe.<br />
'fer, pater,' inquit 'opem! si flumina numen habetis, -uu -uu -- -uu -uu -u<br />
qua nimium placui, mutando perde figuram!' -uu -uu -- -- -- -u<br />
vix prece finita torpor gravis occupat artus, -u -uu -- -uu -uu --<br />
mollia cinguntur tenui praecordia libro, -uu -- -uu -- -uu --<br />
in frondem crines, in ramos bracchia crescunt, -uu -- -- -uu --<br />
pes modo tam velox pigris radicibus haeret, -uu -- -- -- -uu -u<br />
ora cacumen habet: remanet nitor unus in illa. -uu -uu -uu -uu -uu --<br />
[Met. I,545ff]<br />
(4) fakultativ: Übersetze die Verse, in denen Apoll sich der verwandelten Daphne nähert<br />
conplexusque suis ramos ut membra lacertis 5<br />
oscula dat ligno; refugit tamen oscula lignum.<br />
cui deus 'at, quoniam coniunx mea non potes esse,<br />
arbor eris certe' dixit 'mea! semper habebunt<br />
te coma 6 , te citharae, te nostrae, laure, pharetrae 7<br />
..................................................................................................................................................................<br />
..................................................................................................................................................................<br />
..................................................................................................................................................................<br />
..................................................................................................................................................................<br />
..................................................................................................................................................................<br />
..................................................................................................................................................................<br />
4 Die Quantität der letzten Silbe können Sie unberücksichtigt lassen.<br />
5lacertus: Arm<br />
6coma: Haar<br />
7pharetra: Köcher
Mythen und Mythendeutung Anhang 54<br />
(II) Abschlussprobe <strong>Mythologie</strong>: Textteil<br />
(I) Familientherapie: Welche mythologischen Fälle könnten als Beispiel dienen?<br />
Die folgenden Paare oder Gruppen stehen alle miteinander in einer Verwandtschaftsbeziehung. Aufgabe: Ordne<br />
sie in das richtige Kästchen ein! Zur Beruhigung: Es gibt Fälle, bei denen man zwei richtige Lösungen<br />
annehmen kann. Beide werden als richtig gewertet.<br />
Agamemnon–Klytämnestra/Orestes —|— Akrisios–Danaë–Perseus —|— Akrisios–Perseus —|—<br />
Althaia–Meleagros– Brüder der Althaia —|— Daidalos–Ikaros —|— Daidalos–Perdix —|—<br />
Danaïden —|— Demeter–Hades– Persephone —|— Eteokles–Polyneikes —|— Gaia–Götter und<br />
Titanen —|— Herakles–Iphikles —|— Jason–Medea/Glauke —|— Laios–Oedipus —|—<br />
Medea–Apsyrtos —|— Medea–Jason–Kreon —|— Medea–Kinder —|— Minos–Ariadne —|—<br />
Nephele–Ino–Helle und Phrixos —|— Niobe–Kinder —|— Oinomaos–Hippodameia–Pelops<br />
—|— Pelias–Jason —|— Phaidra–Hippolytos —|— Prokne/ Philomela–Tereus (+Kindermord an<br />
Itys) —|— Tantalos–Pelops —|— Theseus–Hippolyte/Phädra —|— Uranos–Kronos–Zeus<br />
—|— Zeus–Prometheus<br />
Onkel / Tante Schwiegereltern Eltern / Kinder Stiefeltern / 2. Ehe<br />
Cousins Grosseltern Kinder / Geschwister Stiefkinder /<br />
Halbgeschwister
Mythen und Mythendeutung Anhang 55<br />
(II) Himmlische <strong>Mythologie</strong><br />
(1) Der in England lebende schwedische Komponist Gustav Holst (1874-1934) hat eine Suite für Orchester<br />
komponiert mit dem Namen „The Planets“ (opus 32, entstanden 1914-16). Jeder Satz ist einem Planeten<br />
gewidmet und hat einen Untertitel. Diese Untertitel sind zum Teil der antiken <strong>Mythologie</strong> entnommen, zum<br />
Teil mystischen Traditionen. Versuche, eine Lösung zu finden.<br />
The Bringer of Jollity 8 –|– The Bringer of Old Age –|– The Bringer of Peace –|– The Bringer of War<br />
–|– The Magician –|– The Mystic –|– The Winged Messenger<br />
Mars The .............................................................................................<br />
Venus The .............................................................................................<br />
Mercur The .............................................................................................<br />
Jupiter The .............................................................................................<br />
Saturn The .............................................................................................<br />
Uranus The .............................................................................................<br />
Neptune 9 The .............................................................................................<br />
(III) Rohes Wissen: Gefragt sind Kurzzusammenfassungen. (max. 3 Zeilen)<br />
Ixion<br />
..................................................................................................................................................................<br />
..................................................................................................................................................................<br />
..................................................................................................................................................................<br />
Phaëthon<br />
..................................................................................................................................................................<br />
..................................................................................................................................................................<br />
..................................................................................................................................................................<br />
Hermes<br />
..................................................................................................................................................................<br />
..................................................................................................................................................................<br />
..................................................................................................................................................................<br />
8 Tip: „Jollity“ heisst in der franz. Version „Jovialité“<br />
9 Tip: Neptun war bis zur Entdeckung Plutos der äusserste, geheimnisvollste Planet
Mythen und Mythendeutung Anhang 56<br />
(IV) Schon wieder Zoff in der Familie: Who‘s who?<br />
Jean Giraudoux: AAA<br />
Tragödie in zwei Akten.<br />
Am 13. Mai 1937 wurde Giraudoux' AAA-<br />
Version in Paris uraufgeführt. Unter den vielen<br />
Modernisierungen des Atriden-Stoffes gibt es<br />
keine größeren Gegensätze als die beiden<br />
AAA-Dramen von Gerhart Hauptmann und<br />
Jean Giraudox. Bei Hauptmann ein Zurücktauchen<br />
in die mythische Urvision die den<br />
Dichter fast überwältigt, bei Giraudoux die<br />
völlige Loslösung vom Mythischen und eine<br />
Verarbeitung, man möchte sagen: Filtrierung<br />
des Stoffes durch den Intellekt.<br />
Die Grundthese, von der das Stück ausgeht,<br />
äußert der Regent von Argos, BBB, zu dem<br />
Gerichtspräsidenten, dem Oberhaupt der<br />
strebsamen Beamtenfamilie Theokathokles: »In<br />
einer Umwelt dritter Ordnung vermag auch<br />
das wütendste Schicksal nur einen Schaden<br />
dritter Ordnung anzurichten.« BBB weiß, daß<br />
ihm von AAA Verderben droht, denn er hat<br />
zusammen mit ihrer Mutter CCC ihren Vater<br />
EEE ermordet; er kennt die verzehrende Kraft<br />
des Hasses und der nach Rache rufenden<br />
Gerechtigkeitsleidenschaft der Prinzessin, die<br />
auch die Götter beunruhigen muß wenn sie<br />
sich einmal »offenbaren« wird, wie es der<br />
Glosseur des Stückes ausdrückt, von dem man<br />
nicht weiß, ob er ein dem Trunk verfallener<br />
Bettler oder ein Gott ist. Darum will BBB AAA<br />
mit dem Gärtner des Palastes, einem minderen<br />
Mitglied der Familie Theokathokles,<br />
verheiraten, die den Göttern unsichtbar ist und<br />
keine Gestalt für sie hat: »Im Schoß dieser<br />
Familie werden AAA Augen und Gebärden<br />
ihre Zündkraft verlieren, der Schaden, den sie<br />
anrichten kann, wird bürgerlich lokalisiert<br />
sein.«<br />
Trotz eines außerordentlichen Aufwands an<br />
intellektuellem Raffinement - das Stück ist in<br />
den Streitgesprächen zwischen AAA und ihrer<br />
Mutter CCC, in ihren Auseinandersetzungen<br />
mit BBB und ihrem Bruder DDD auf lange<br />
S t r e c k e n e i n e d u r c h e xquisiteste<br />
Argumentation fesselnde szenische Debatte,<br />
die noch besonders durch die ironischen<br />
Kommentare des Bettlers gewürzt wird- trotz<br />
des scharfsinnigen und konsequenten Vorgehens<br />
des BBB gelingt es ihm jedoch nicht,<br />
den Fall AAA, der vom Wesen her eine Sache<br />
erster Ordnung ist, in eine Umwelt dritter<br />
Ordnung abzudrängen und ihn dadurch gewissermaßen<br />
zu entschärfen. Die Heirat mit<br />
dem Gärtner unterbleibt durch die Rückkehr<br />
des DDD, der allein der Mann ist, mit dem<br />
AAA sich verbinden kann, weil er der Vollstrecker<br />
ihrer Rachegedanken ist.<br />
Zum Zeichen dessen, daß die Götter den<br />
Atridenpalast unbekümmert um die Listen<br />
und Winkelzüge des BBB durchaus als<br />
Umwelt erster Ordnung betrachten, deren<br />
Angehörige sich keinesfalls in eine solche<br />
dritter Ordnung versetzen lassen, schicken sie<br />
dem DDD die Eumeniden mit - ungezogene,<br />
vorlaute kleine Mädchen, die auf eine<br />
kindisch-grausame Weise »Schicksal spielen«<br />
und so rasch wachsen, daß sie an dem Tag, an<br />
dem DDD die Rache vollzieht, so alt sind wie<br />
AAA, d. h. deren Rachebegehren nun<br />
ihrerseits als echte Erinyen mit Bezug auf den<br />
Muttermörder DDD übernehmen.<br />
Der Grundgedanke der Schicksalsbestimmtheit,<br />
wie ihn die antike Tragödie vertrat, bleibt<br />
also auch bei Giraudoux, so sehr er ihn in der<br />
AAA hinter einem leuchtenden Gewebe von<br />
Ironie, Skepsis, Frivolität und Immoralismus<br />
verbirgt, wahrnehmbar - und daneben der<br />
zweite, den der Dichter in allen seinen Werken<br />
in immer wieder neuen Varianten ausspricht<br />
und den er hier dem guten, redlichen Gärtner<br />
in den Mund legt, der um seine<br />
Hochzeitsnacht gekommen ist und darum<br />
seine milde Klage an die Zuschauer richtet:<br />
»Offenbar ist das Leben eine verfehlte<br />
Angelegenheit, aber schön ist das Leben, sehr<br />
schön.«<br />
[Quelle: Reclams Schauspielführer]<br />
AAA ..........................................................<br />
BBB ..........................................................<br />
CCC ..........................................................<br />
DDD ..........................................................<br />
EEE ..........................................................
Mythen und Mythendeutung Anhang 44
Mythen und Mythendeutung Albert Camus: Le mythe de Sisyphe 40<br />
22 Albert Camus (1913-1960): Le mythe de Sisyphe (1937-41)<br />
Albert Camus, geboren in der damaligen französischen Kolonie Algerien, ist einer der bedeutendsten französischen<br />
Autoren des 20. Jhdts. Camus schloss sein Philosophiestudium mit einer Arbeit über die spätantike<br />
griechische Philosophie des Neuplatonismus ab. Der Neuplatonismus lehrt, dass der Sinn des Lebens<br />
in der Begegnung mit dem göttlichen Ursprung des Seins liegt; dass wir umso glücklicher sind, je mehr wir<br />
uns von der materiellen Welt abwenden und der geistigen Welt zuwenden.<br />
Camus kann dieser (neu)platonisch-christlichen Philosophie nicht folgen; er glaubt nicht an eine höhere<br />
Macht und bemüht sich in vielen seiner Romane um die Frage, ob sich denn in dieser Welt ohne den Trost<br />
der Religion ein Sinn der menschlichen Existenz ausmachen lasse.<br />
Sein Text „Le mythe de Sisyphe“ sowie der Roman „L’Etranger“ machen Camus in Europa berühmt. 1957<br />
erhält er den Nobelpreis für Literatur. 1960 stirbt er bei einem Autounfall.<br />
5<br />
10<br />
15<br />
20<br />
25<br />
30<br />
35<br />
40<br />
Les dieux avaient condamné Sisyphe à rouler<br />
sans cesse un rocher jusqu'au sommet d'une<br />
montagne d'où la pierre retombait par son<br />
propre poids. Ils avaient pensé avec quelque<br />
raison qu'il n est pas de punition plus terrible<br />
que le travail inutile et sans espoir.<br />
Si l'on en croit Homère, Sisyphe était le plus<br />
sage et le plus prudent des mortels. Selon une<br />
autre tradition cependant, il inclinait au métier<br />
de brigand. Je n'y vois pas de contradiction.<br />
Les opinions diffèrent sur les motifs qui lui<br />
valurent d'être le travailleur inutile des enfers.<br />
On lui reproche d'abord quelque légèreté avec<br />
les dieux. Il livra leurs secrets. Egine, fille<br />
d'Asope, fut enlevée par Jupiter. Le père<br />
s'étonna de cette disparition et s'en plaignit à<br />
Sisyphe. Lui, qui avait connaissance- de l'enlèvement,<br />
offrit à Asope de l'en instruire, à la<br />
condition qu'il donnerait de l'eau à la citadelle<br />
de Corinthe. Aux foudres célestes, il préféra la<br />
bénédiction de l'eau. Il en fut puni dans les<br />
enfers. Homère nous raconte aussi que Sisyphe<br />
avait enchaîné la Mort. Pluton ne put<br />
supporter le spectacle de son empire désert et<br />
silencieux. Il dépêcha le dieu de la guerre qui<br />
délivra la Mort des mains de son vainqueur.<br />
On dit encore que Sisyphe étant près de mourir<br />
voulut imprudemment éprouver l'amour de<br />
sa femme. Il lui ordonna de jeter son corps<br />
sans sépulture au milieu de la place publique.<br />
Sisyphe se retrouva dans les enfers. Et là,<br />
irrité d'une obéissance si contraire à l'amour<br />
humain, il obtint de Pluton la permission de<br />
retourner sur la terre pour châtier sa femme.<br />
Mais quand il eut de nouveau revu le visage<br />
de ce monde, goûté l'eau et le soleil, les pierres<br />
chaudes et la mer, il ne voulut plus retourner<br />
dans l'ombre infernale. Les rappels,<br />
les colères et les avertissements n'y firent rien.<br />
Bien des années encore, il vécut devant la<br />
courbe du golfe, la mer éclatante et les souri-<br />
45<br />
50<br />
55<br />
60<br />
65<br />
70<br />
75<br />
80<br />
res de la terre. Il fallut un arrêt des dieux.<br />
Mercure vint saisir l'audacieux au collet et,<br />
l'ôtant à ses joies, le ramena de force aux enfers<br />
où son rocher était tout prêt.<br />
On a compris déjà que Sisyphe est le héros<br />
absurde. Il l'est autant par ses passions que par<br />
son tourment. Son mépris des dieux, sa haine<br />
de la mort et sa passion pour la vie, lui ont<br />
valu ce supplice indicible où tout l'être s'em-<br />
ploie à ne rien achever. C'est le prix qu'il faut<br />
payer pour les passions de cette terre. On ne<br />
nous dit rien sur Sisyphe aux enfers. Les mythes<br />
sont faits pour que l'imagination les ani-<br />
me. Pour celui-ci, on voit seulement tout l'ef-<br />
fort d'un corps tendu pour soulever l'énorme<br />
pierre, la rouler et l'aider à gravir une pente<br />
cent fois recommencée; on voit la visage<br />
crispé, la joue collée contre la pierre, le se-<br />
cours d'une épaule qui reçoit la masse cou-<br />
verte de glaise, d'un pied qui la cale, la reprise<br />
à bout de bras, la sûreté tout humaine de deux<br />
mains pleines de terre. Tout au bout de ce<br />
long effort mesuré par l'espace sans ciel et le<br />
temps sans profondeur, le but est atteint. Si-<br />
syphe regarde alors la pierre dévaler en quelques<br />
instants vers ce monde inférieur d'où il<br />
faudra la remonter vers les sommets. Il redescend<br />
dans la plaine.<br />
C'est pendant ce retour, cette pause, que Sisyphe<br />
m'intéresse. Un visage qui peine si près<br />
des pierres est déjà pierre lui-même! Je vois<br />
cet homme redescendre d'un pas lourd mais<br />
égal vers le tourment dont il ne connaîtra pas<br />
la fin. Cette heure qui est comme une respiration<br />
et qui revient aussi sûrement que son<br />
malheur, cette heure est celle de la conscience.<br />
A chacun de ces instants, où il quitte les<br />
sommets et s'enfoncé peu à peu vers les tanières<br />
des dieux, il est supérieur à son destin. Il<br />
est plus fort que son rocher.
85<br />
90<br />
95<br />
100<br />
105<br />
110<br />
115<br />
120<br />
125<br />
130<br />
135<br />
Mythen und Mythendeutung Albert Camus: Le mythe de Sisyphe 41<br />
Si ce mythe est tragique, c'est que son héros<br />
est conscient. Où serait en effet sa peine, si à<br />
chaque pas l'espoir de réussir le soutenait?<br />
L'ouvrier d'aujour d'hui travaille, tous les jours<br />
de sa vie, aux mêmes tâches et ce destin n'est<br />
pas moins absurde. Mais il n'est tragique<br />
qu'aux rares moments où il devient conscient'.<br />
Sisyphe, prolétaire des dieux, impuissant et<br />
révolté connaît toute l'étendue de sa misérable<br />
condition: c'est à elle qu'il pense pendant sa<br />
descente. La clairvoyance qui devait faire son<br />
tourment consomme du même coup sa victoire.<br />
Il n'est pas de destin qui ne se surmonte par<br />
le mépris.<br />
Si la descente ainsi se fait certains jours dans<br />
la douleur, elle peut se faire aussi dans la joie.<br />
Ce mot n'est pas de trop. J'imagine encore<br />
Sisyphe revenant vers son rocher, et la dou-<br />
leur était au début. Quand les images de la<br />
terre tiennent trop fort au souvenir, quand<br />
l'appel du bonheur se fait trop pressant, il<br />
arrive que la tristesse se lève au coeur de<br />
l'homme: c'est la victoire du rocher, c'est le<br />
rocher lui-même. L'immense détresse est trop<br />
lourde à porter. Ce sont nos nuits de<br />
Gethsémani. Mais les vérités écrasantes périssent<br />
d'être reconnues. Ainsi, Oedipe obéit<br />
d'abord au destin sans le savoir. A partir du<br />
moment où il sait, sa tragédie commence.<br />
Mais dans le même instant, aveugle et<br />
désespéré, il reconnaît que le seul lien qui le<br />
rattache au monde, c'est la main fraîche d'une<br />
jeune fille. Une parole démesurée retentit<br />
alors: «Malgré tant d'épreuves, mon âge avan-<br />
cé et la grandeur de mon âme me font juger<br />
que tout est bien.» L'Œdipe de Sophocle,<br />
comme le Kirilov de Dostoïevski, donne ainsi<br />
la formule de la victoire absurde. La sagesse<br />
antique rejoint l'héroisme moderne.<br />
On ne découvre pas l'absurde sans être tenté<br />
d'écrire quelque manuel du bonheur. «Eh!<br />
quoi, par des voies si étroites...?» Mais il n'y a<br />
qu'un monde. Le bonheur et l'absurde sont<br />
deux fils de la même terre. Ils sont insépara-<br />
bles. L'erreur serait de dire que le bonheur naît<br />
forcément de la découverte absurde. Il arrive<br />
aussi bien que le sentiment de l'absurde naisse<br />
du bonheur. « Je juge que tout est bien», dit<br />
Œdipe, et cette parole est sacrée. Elle retentit<br />
dans l'univers farouche et limité de l'homme.<br />
Elle enseigne que tout n'est pas, n'a pas été<br />
épuisé. Elle chasse de ce monde un dieu qui y<br />
était entré avec l'insatisfaction et le goût des<br />
douleurs inutiles. Elle fait du destin une affai-<br />
re d'homme, qui doit être réglée entre les<br />
hommes.<br />
140<br />
145<br />
150<br />
155<br />
160<br />
165<br />
170<br />
Toute la joie silencieuse de Sisyphe est là.<br />
Son destin lui appartient. Son rocher est sa<br />
chose. De même, l'homme absurde, quand il<br />
contemple son tourment, fait taire toutes les<br />
idoles. Dans l'univers soudain rendu à son<br />
silence, les mille petites voix émerveillées de<br />
la terre s'élèvent. Appels inconscients et se-<br />
crets, invitations de tous les visages, ils sont<br />
l'envers nécessaire et le prix de la victoire. Il<br />
n'y a pas de soleil sans ombre, et il faut connaître<br />
la nuit. L'homme absurde dit oui et son<br />
effort n'aura plus de cesse. S'il y a un destin<br />
personnel, il n'y a point de destiné supérieure<br />
ou du moins il n'en est qu'une dont il juge<br />
qu'elle est fatale et méprisable. Pour le reste, il<br />
se sait le maître de ses jours. A cet instant<br />
subtil où l'homme se retourne sur sa vie, Si-<br />
syphe, revenant vers son rocher, contemple<br />
cette suite d'actions sans lien qui devient son<br />
destin, créé par lui, uni sous la regard de sa<br />
mémoire et bientôt scellé par sa mort. Ainsi,<br />
persuadé de l'origine tout humaine de tout ce<br />
qui est humain, aveugle qui désire voir et qui<br />
sait que la nuit n'a pas de fin, il est toujours en<br />
marche. Le rocher roule encore.<br />
Je laisse Sisyphe au bas de la montagne! On<br />
retrouve toujours son fardeau. Mais Sisyphe<br />
enseigne la fidélité supérieure qui nie les<br />
dieux et soulève les rochers. Lui aussi juge<br />
que tout est bien. Cet univers désormais sans<br />
maître ne lui paraît ni stérile ni futile. Chacun<br />
des grains de cette pierre, chaque éclat miné-<br />
ral de cette montagne pleine de nuit, à lui seul,<br />
forme un monde. La lutte elle-même vers les<br />
sommets suffit à remplir un cœur d'homme. Il<br />
faut imaginer Sisyphe heureux.
Mythen und Mythendeutung Albert Camus: Le mythe de Sisyphe 42<br />
Erläuterungen und Wortangaben<br />
2 sans cesse ohne Unterbruch<br />
2 le rocher Fels, Felsbrocken<br />
5 la punition Bestrafung<br />
6 inutile nutzlos<br />
8 les mortels Sterblicher(=Menschen)<br />
9 cependant hingegen, allerdings<br />
incliner a qc. zu etw. neigen<br />
10 le brigand Gauner, Bandit<br />
14 livrer un secret ein Geheimnis verraten<br />
15 enlever qc. wegnehmen, entführen<br />
19 à la condition unter der Bedingung, ...<br />
la citadelle Zitadelle, Burg<br />
20 la foudre Blitz<br />
21 la bénédiction Segnung<br />
23 enchaîner in Ketten legen<br />
28 éprouver auf die Probe stellen<br />
30 la sépulture Bestattung<br />
32 irrité irritiert, verärgert<br />
l‘obéissance Gehorsam<br />
contraire à qc. entgegengesetzt<br />
33 il obtint (p.s.) er erhielt<br />
34 châtier züchtigen, bestrafen<br />
38 infernal (Adj. zu enfer): in der Un-<br />
terwelt<br />
le rappel Ermahnung<br />
39 l‘avertissement Verwarnung<br />
41 la courbe Krümmung, Bogen<br />
42 l‘arrêt Festnahme (Arrest)<br />
43 saisir au collet am Kragen packen<br />
44 ôter aufheben, wegnehmen<br />
ramener bringen<br />
de force mit Gewalt<br />
47 autant - que ebensoso sehr - wie auch<br />
48 le mépris Missachtung, Verachtung<br />
50 le supplice Bestrafung, Qual<br />
indicible unsäglich<br />
51 achever zustande bringen<br />
56 corps tendu angespannter Körper<br />
57 gravir hochsteigen<br />
la pente Abhang<br />
59 visage crispé zus‘gekniffenes Gesicht<br />
61 la glaise Lehm, Ton<br />
61 caler verkeilen, zurückhalten<br />
64 mesuré par qc. bemessen nach etw.<br />
66 dévaler hinunterkollern<br />
78 la conscience Bewusstheit, Gewissen<br />
79 les tanières Schlupfwinkel<br />
83 conscient bewusst<br />
84 soutenir stützen, aufrecht halten<br />
86 la tâche Aufgabe<br />
89 impuissant machtlos<br />
90 l‘étendu Umfang, Tragweite<br />
92 la clairvoyance Hellsichtigkeit, Einsicht<br />
93 le tourment Qual<br />
consommer vollenden<br />
du même coup gleichzeitig<br />
95 le mépris Verachtung<br />
101 tenir au souvenir im Gedächtnis sitzen<br />
105 la détresse Verzweiflung, Hoffnungs-<br />
losigkeit<br />
107 écrasant zerschmetternd<br />
périr untergehen<br />
114 démesuré masslos<br />
retentir ertönen<br />
115 âge avancé vorgerücktes Alter<br />
120 rejoindre erreichen, s. treffen mit<br />
142 l‘idole Götzenbild<br />
143 émerveillé erstaunt/erstaunlich<br />
146 l‘envers Kehrseite, Gegenstück<br />
149 (sans) cesse ohne Unterlass<br />
150 la destinée (le destin) Schicksal<br />
1156 sans lien ohne Verbindung<br />
160 aveugle blind<br />
1164 le fardeau Bündel, Last<br />
168 futile eitel, nichtig, wertlos<br />
1171 la lutte Kampf
Mythen und Mythendeutung Albert Camus: Le mythe de Sisyphe 2