Mythologie Titelblatt - Gymnasium Interlaken
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Mythen und Mythendeutung Narziss und Echo 29<br />
Erlebniszustand definieren, in dem nur die Person selbst, ihr Körper, ihre Bedürfnisse, ihre Gefühle, ihre Gedanken,<br />
ihr Eigentum, alles und jedes, was zu ihr gehört, als völlig real erlebt wird, während alles und jedes, was keinen Teil<br />
der eigenen Person bildet oder nicht Gegenstand der eigenen Bedürfnisse ist, nicht interessiert, keine volle Realität<br />
besitzt und nur intellektuell wahrgenommen wird; affektiv bleibt es ohne Gewicht und Farbe. In dem Masse, wie<br />
ein Mensch narzisstisch ist, hat er einen doppelten Massstab für seine Wahrnehmungen. Nur er selbst und was zu<br />
ihm gehört, besitzt Signifikanz, während die übrige Welt mehr oder weniger ohne Gewicht und Farbe ist, und ein<br />
narzisstischer Mensch weist aufgrund dieses doppelten Massstabs schwere Defekte in seinem Urteilsvermögen und<br />
seiner Fähigkeit zur Objektivität auf.<br />
Oft gelangt ein narzisstischer Mensch zu einem Gefühl der Sicherheit durch seine völlig subjektive Überzeu-<br />
gung von der eigenen Vollkommenheit, von seiner Ueberlegenheit über andere, von seinen ausserordentlichen<br />
Qualitäten, und nicht dadurch, dass er auf andere bezogen ist, oder durch wirkliche eigene Arbeit oder Leistung.<br />
Er muss sich an seine narzisstische Vorstellung von sich selbst klammern, da sich sein Wert und Identitätsgefühl<br />
darauf gründet. Wird sein Narzissmus bedroht, so ist er in einem lebenswichtigen Bereich bedroht. Wenn andere<br />
seinen Narzissmus verletzen indem sie ihn geringschätzig behandeln, ihn kritisieren und blossstellen weil er etwas<br />
Falsches gesagt hat, wenn sie ihn beim Spiel schlagen oder bei zahlreichen anderen Gelegenheiten kränken, dann<br />
reagiert ein solcher narzisstischer Mensch gewöhnlich mit intensivem Zorn oder mit Wut, ob er es nun zeigt oder<br />
nicht. Es kommt sogar vor, dass er sich dessen selber nicht bewusst ist. Wie intensiv diese aggressive Reaktion oft<br />
sein kann, zeigt sich daran, dass ein solcher Mensch jemandem, der seinen Narzissmus verwundet hat, dies nie ver-<br />
zeiht und sein Rachedurst oft grösser ist, als wenn ihn jemand körperlich verwundet oder um sein Eigentum ge-<br />
bracht hätte.<br />
Die meisten Menschen sind sich ihres Narzissmus nur insofern bewusst, als es sich um Manifestationen han-<br />
delt, in denen er nicht offen zum Ausdruck kommt. So pflegen sie zum Beispiel eine übertriebene Bewunderung für<br />
ihre Eltern oder für die eigenen Kinder zu empfinden, und es macht ihnen auch nichts aus, diese Gefühle zum Aus-<br />
druck zu bringen, weil ein solches Verhalten gewöhnlich als kindliche Pietät, als Elternliebe oder Loyalität positiv<br />
bewertet wird. Wenn sie jedoch ihren Gefühlen Ausdruck verleihen würden, die sie über ihre eigene Person emp-<br />
finden, wie zum Beispiel „Ich bin der wunderbarste Mensch auf der ganzen Welt”, „Ich bin besser als alle anderen”<br />
usw., so kämen sie nicht nur in den Verdacht, unmässig eitel zu sein, sondern man würde sie vielleicht sogar für<br />
leicht verrückt halten. Wenn andererseits jemand etwas erreicht hat, was auf dem Gebiet der Kunst, der Wissen-<br />
schaft, des Sports, im Geschäftsleben oder in der Politik Anerkennung gefunden hat, dann erscheint seine narziss-<br />
tische Einstellung nicht nur als realistisch und vernünftig, sie wird durch die Bewunderung der anderen auch noch<br />
ständig genährt. In solchen Fällen kann der Betreffende seinem Narzissmus freien Lauf lassen, weil er sozial sank-<br />
tioniert und anerkannt ist.<br />
In der heutigen westlichen Gesellschaft besteht ein besonderer innerer Zusammenhang zwischen dem Narziss-<br />
mus der Berühmtheiten und den Bedürfnissen des Publikums. Letzteres möchte mit berühmten Leuten deshalb in<br />
enge Berührung kommen, weil das Leben des Durchschnittsmenschen so leer und langweilig ist. Die Massenmedi-<br />
en leben davon, dass sie den Ruhm verkaufen, und so wird jeder zufriedengestellt: der narzisstische Künstler,<br />
Schauspieler, Wissenschaftler, Dirigent usw., das Publikum und die Verkäufer des Ruhms.<br />
Unter politischen Führern ist ein hochgradiger Narzissmus sehr häufig anzutreffen. Man kann ihn als Berufs-<br />
krankheit - oder auch als Berufskapital - auffassen, besonders bei denen, die ihre Macht ihrem Einfluss auf ein Mas-<br />
senpublikum verdanken. Wenn der betreffende Führer von seinen aussergewöhnlichen Gaben und von seiner<br />
Mission überzeugt ist, wird es ihm leicht fallen, das grosse Publikum zu überzeugen, das sich von Männern ange-<br />
zogen fühlt, die ihrer Sache absolut sicher zu sein scheinen. Aber der narzisstische Führer benutzt sein Charisma<br />
nicht nur als Mittel zum politischen Erfolg; er braucht den Erfolg und den Beifall auch zur Aufrechterhaltung seines<br />
eigenen inneren Gleichgewichts. Die Idee seiner Grösse und Unfehlbarkeit beruht im wesentlichen auf seinem nar-<br />
zisstischen Grössenwahn und nicht auf seinen wirklichen Leistungen als menschliches Wesen. Und trotzdem kann<br />
er ohne die narzisstische „Inflation” nicht leben, weil sein menschlicher Kern - seine Ueberzeugungen, sein Gewis-<br />
sen, seine Liebe und sein Glaube - nicht sehr stark entwickelt ist. Ungewöhnlich narzisstische Personen sehen sich<br />
oft fast gezwungen, berühmt zu werden, da sie sonst unter Depressionen leiden oder sogar dem Wahnsinn anheim-<br />
fallen würden. Aber man braucht schon viel Talent - und auch die passenden Gelegenheiten -, um andere so stark<br />
beeinflussen zu können, dass ihr Beifall diese narzisstischen Träume bestätigt. Selbst wenn solche Menschen Erfolg