Mythen und Mythendeutung Oedipus 19 stück zum Traum vom Tod des Vaters. Die Oedipus-Fabel ist die Reaktion der Phantasie auf diese beiden typischen Träume, und wie die Träume von Erwachsenen mit Ablehnungsgefühlen erlebt werden, so muss die Sage Schreck und Selbstbestrafung in ihren Inhalt mit aufnehmen. [Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1900) II,63ff] 12) Erich Fromm: Der Oedipusmythos Es sieht tatsächlich so aus, als ob der Mythos Freuds Theorie bestätigt, dass der Oedipuskomplex seinen Namen zu Recht trägt. Wenn wir den Mythos jedoch genauer untersuchen, stellen sich Fragen, die Zweifel an der Richtig- keit dieser Auffassung aufkommen lassen. Zunächst fällt uns folgendes auf: Wenn Freuds Interpretation richtig wä- re, so sollten wir erwarten, dass der Mythos uns berichtete dass Oedipus Iokaste begegnete, ohne zu wissen, dass sie seine Mutter war, dass er sich in sie verliebte und dann - wiederum unwissentlich seinen Vater tötete. Aber im Mythos weist nichts darauf hin, dass Oedipus sich zu Iokaste hingezogen fühlt oder dass er sich in sie verliebt Der einzige Grund, der uns für die Heirat von Oedipus und Iokaste angegeben wird, ist der, dass sie sozusagen mit zum Thron gehört. Sollten wir tatsächlich glauben, ein Mythos, dessen zentrales Thema eine inzestuöse Beziehung zwi- schen Mutter und Sohn ist, würde das Element der Zuneigung zwischen beiden völlig auslassen? Gewiss ist eine definitive Antwort unmöglich. Aber wir sind wenigstens in der Lage, eine Hypothese zu formulieren, nämlich, dass der Mythos nicht als Symbol der inzestuösen Liebe zwischen Mutter und Sohn, sondern als Rebellion des Sohnes gegen die Autorität des Vaters in der patriarchalischen Familie zu verstehen ist; dass die Heirat von Oedipus und Iokaste nur ein sekundäres Element, nur eines der Symbole für den Sieg des Sohnes ist, der den Platz des Vaters mit allen seinen Privilegien einnimmt. Das die drei Tragödien durchziehende Thema ist der Konflikt zwischen Vater und Sohn. In König Oedipus tötet Oedipus seinen Vater Laios, der ihn als kleines Kind hatte umbringen wollen. In Oedipus auf Kolonus lässt Oedipus seinem wilden Hass auf seine Söhne freien Lauf, und in Antigone treffen wir auf den gleichen Hass zwischen Kreon und Haimon. Das Inzestproblem existiert weder in der Beziehung zwischen Oedipus Söhnen und ihrer Mutter, noch in der Beziehung zwischen Haimon und seiner Mutter Eurydike. Wenn wir König Oedipus im Hinblick auf die gesamte Trilogie interpretieren, so scheint die Annahme einleuchtend, dass das wahre Problem, um das es auch in König Oedipus geht, der Konflikt zwischen Vater und Sohn und nicht das Inzestproblem ist. In Antigone finden wir einen weiteren Vater-Sohn-Konflikt als eines der Hauptthemen der Tragödie. Hier steht Kreon, der Vertreter des autoritären Prinzips in Staat und Familie, seinem Sohn Haimon gegenüber, der ihm seinen erbarmungslosen Despotismus und seine Grausamkeit gegen Antigone vorwirft. Haimon versucht seinen Vater zu töten und begeht Selbstmord, als ihm dies misslingt. Eine Analyse der gesamten Oedipus-Trilogie wird zeigen, dass der Kampf gegen die väterliche Autorität das Hauptthema ist, und dass die Ursprünge dieses Kampfes weit zu- rückreichen, bis in die uralten Kämpfe zwischen dem patriarchalischen und dem matriarchalischen Gesellschafts- system. Oedipus repräsentiert ebenso wie Haimon und Antigone das matriarchalische Prinzip; sie greifen alle eine gesellschaftliche und religiöse Ordnung an, die sich auf die Macht und die Privilegien des Vaters gründet, welche durch Laios und Kreon repräsentiert wird. Nach matriarchalischer Auffassung sind alle Menschen gleich, da sie alle die Kinder von Müttern sind und jedermann ein Kind der Mutter Erde ist. Eine Mutter hat alle ihre Kinder gleich lieb und zwar bedingungslos, weil sich ihre Liebe darauf gründet, dass sie eben ihre Kinder sind, und nicht auf ein besonderes Verdienst oder eine besondere Leistung. Das Ziel des Lebens ist das Glück der Menschen, und es gibt nichts, was wichtiger oder würdiger wäre als die menschliche Existenz und das Leben. Das patriarchalische System dagegen sieht im Gehorsam gegenüber der Autorität die Haupttugend. Anstelle des Gleichheitsprinzips finden wir den Begriff des Lieblingssohnes und eine hierarchische Ordnung in der Gesellschaft. Nur eine Gestalt im Mythos und in Sophokles' König Oedipus scheint unserer Hypothese zu widersprechen - nämlich Iokaste. Nehmen wir an, dass sie das mütterliche Prinzip repräsentiert, so erhebt sich die Frage, weshalb die Mutter zugrunde geht, anstatt den Sieg davonzutragen, falls die hier gegebene Deutung stimmt. Die Beantwortung dieser Frage wird zeigen, dass die Rolle der Iokaste nicht nur unserer Hypothese nicht widerspricht, sondern sie im Gegenteil bestätigt. Iokastes Vergehen besteht darin, dass sie ihre Pflicht als Mutter nicht erfüllt hat, dass sie ihr Kind umbringen wollte, um den
20 Oedipus Mythen und Mythendeutung Gatten zu retten. Es war dies vom Standpunkt der patriarchalischen Gesellschaft aus eine legitime Entscheidung, aber vom Standpunkt der matriarchalischen Gesellschaft und der matriarchalischen Ethik aus ist es ein unverzeih- liches Verbrechen. Sie ist es, die durch dieses Verbrechen die Kette von Ereignissen auslöst, die schliesslich zu ihrem eigenen Untergang wie auch zu dem ihres Gatten und ihres Sohnes führt. Um das zu verstehen, dürfen wir die Tat- sache nicht aus den Augen verlieren, dass der Mythos, so wie Sophokles ihn kannte, bereits dem patriarchalischen System entsprechend geändert war, dass der manifeste und bewusste Bezugsrahmen das Patriarchat ist und dass die latente, ältere Bedeutung nur in verhüllter und oft entstellter Form noch in Erscheinung tritt. Das patriarchali- sche System hatte gesiegt, und der Mythos erklärt die Gründe für den Niedergang des Matriarchats. Er will uns klarmachen, dass die Mutter, dadurch dass sie ihre oberste Pflicht verletzte, ihren eigenen Untergang herbeiführte. [Erich Fromm: Märchen, Mythen, Träume. dt. Ausg. rororo. Reinbek 1957.]