Mythologie Titelblatt - Gymnasium Interlaken
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38 Daedalus und Ikarus Mythen und Mythendeutung<br />
21) Bartels: Hybris wider die Natur<br />
Neben diese grundstürzende, bedeutsamste Grenzüberschreitung des Menschen gegenüber den Göttern treten<br />
nun in der mythischen Sprache jenes archaischen Denkens mehrere weitere entsprechende Grenzverletzungen, in<br />
denen der Mensch wiederum über das ihm ursprünglich Zugeteilte hinaus jeweils die gegebenen Grenzen seines<br />
natürlichen Lebensraumes überschreitet, in unbekannte, ursprünglich ihm verschlossene Weltbereiche eindringt<br />
und dabei die unantastbaren Elemente und die anfängliche Ordnung der als göttlich und heilig empfundenen Na-<br />
tur gröblich verletzt und missbraucht. “Hybris”, eigentlich “Rechtsübergriff” lautet das Wort, mit dem die Griechen<br />
derlei Grenzüberschreitungen bezeichnet haben; und als derart hybrid wird nun auch die Technik erlebt: als frevel-<br />
hafte Grenzverletzung gegenüber den Göttern und, was für die Griechen hier ein und dasselbe ist, gegenüber der<br />
Natur.<br />
An zweiter Stelle nach dem Feuerdiebstahl und Feuergebrauch wird derart zunächst die Seefahrt als eine sol-<br />
che Hybris gebrandmarkt, in der sich der Mensch im Wortsinn über die naturgegebene Trennung von Land und<br />
Meer hinwegsetzt und mit dem scharfen Schiffskiel die Meeresfläche durchfurcht; und verwiesen wird hier mehr-<br />
fach auch auf die Verkehrung der Weltordnung, die darin liegt, dass ein Baum wie die Pinie von seinem wurzelfe-<br />
sten Standort in den Wäldern, auf den Bergen, an die Küste herabgebracht wird, um fortan, zum Kielbalken oder<br />
zum Mastbaum zurechtgestutzt, fremde Meere zu befahren und fremde Länder zu besuchen. So rücken in der An-<br />
tike der Heros Argos, der Erbauer des ersten Schiffes, der “Argo” und mit ihm der Heros Tiphys, der Steuermann<br />
der “Argo” und der auf ihr fahrenden “Argonauten”, als kühne Frevler in eine Reihe mit dem Titanen Prometheus.<br />
Neben diesem Argos und diesem Tiphys wiederum stehen als dritte, als Frevler der Luftfahrt, der kunstfertige<br />
Dädalus und sein junger Sohn Ikarus, die wir lateinisch benennen, weil ihre tragische Geschichte uns vor allem aus<br />
der mythischen Erzählung des römischen Dichters Ovid geläufig ist. Aber auch sie sind Gestalten des älteren grie-<br />
chischen Mythos, wo Dädalus, griechisch Daidalos, übrigens nicht nur als der kühne erste Flieger, sondern über-<br />
haupt als vielseitig begabter Architekt, Bildhauer und Erfinder auftritt. Auf selbstverfertigten, wachsverbundenen<br />
Vogelschwingen suchen die beiden ihrem Zwangsaufenthalt auf der Insel Kreta unter König Minos zu entkommen,<br />
zu “entfliegen”; der bedächtige, das rechte Mass und den rechten Weg einhaltende Vater erreicht schliesslich sicher<br />
das rettende griechische Festland; sein Sohn jedoch, von kindlichem Uebermut und einer Art Höhenrausch dazu<br />
verlockt, allzu hoch zu steigen, stürzt unterwegs ab, hinab in das Meer, das seit dem Tag das Ikarische heisst, nahe<br />
der Insel, die bis heute den Namen “Ikaria” trägt.<br />
Der jugendliche Ikarus ist zum mythischen Erstlingsopfer solcher Hybris geworden, sein Sturz wie für die An-<br />
tike so für die Gegenwart zum mahnenden, warnenden Menetekel – wie ja noch in diesem sonst so mythenfremden<br />
20. Jahrhundert die im Jahre 1912 untergegangene und eben jetzt erst, in diesem Jahr mit einer ähnlichen Grenz-<br />
überschreitung wiederaufgesuchte Titanic, unverkennbar zu einem jungen Mythos geworden ist; ganz und gar<br />
nicht zu fällig erinnert das unglückliche Schiff ja schon mit seinem Namen “Titanic” an den Titanen Prometheus.<br />
Auf der Rückseite der Mondscheibe, nahe der Mitte, hat die für Nomenklaturfragen zuständige Kommission der<br />
Internationalen Astronomischen Union zwei benachbarte Krater “Dädalus” und “Ikarus” benannt, zum doppelten<br />
Gedenken an den Erfolg des Dädalus und an das Scheitern des Ikarus.<br />
Es hätte solcher symbolhafter Erinnerung wohl kaum bedurft, um uns daran zu gemahnen, dass aus dieser<br />
griechischen, mythischen Perspektive wie Seefahrt und Luftfahrt so auch die junge Raumfahrt und zumal der erste<br />
Mondflug unter dem Zeichen dieser gleichen Hybris stehen; dass aus dieser griechischen, mythischen Perspektive<br />
die Namen der beiden ersten Menschen, die auf dem Mond ihren ersten “kleinen Schritt für einen Menschen” und<br />
zugleich einen “grossen Sprung für die Menschheit” taten, in einer Reihe mit jenen alten prometheischen Technik-<br />
Heroen Argos und Tiphys, Dädalus und Ikarus zu nennen wären.<br />
An vierter Stelle nach dem Feuerdiebstahl, der Seefahrt und der Luftfahrt – ebenso zufällig wie bedeutsam run-<br />
det sich hier nun eine Vierzahl der Elemente – wird schliesslich auch die Landwirtschaft, der Ackerbau, als eine