Mythologie Titelblatt - Gymnasium Interlaken
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Mythen und Mythendeutung Narziss und Echo 31<br />
noch zu sprechen kommen werden.<br />
[E. Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Rowohlt Verlag. Hamburg 1977, S. 225-30.]<br />
Narziss - Symbolfigur einer Kultur ohne Unterdrückung?<br />
In einem seiner bedeutendsten Werke unternahm der Philosoph Herbert Marcuse den Versuch, philosophische<br />
Folgerungen aus der psychoanalytischen Theorie S. Freuds mit sozialphilosophischen Einsichten der Nachkriegs-<br />
zeit zu verbinden. Dabei unterzog er Freuds Kulturtheorie, dass kultureller Fortschritt ohne Triebunterdrückung<br />
nicht möglich sei, einer tiefschürfenden Kritik. Er skizzierte in diesem immer noch sehr lesenswerten Werk die<br />
Möglichkeit einer “nicht- repressiven” Kultur, wohl wissend, dass es sich dabei erst um eine Skizze handeln konnte.<br />
Für ihn wurden Narziss und Orpheus zu Gegenbildern der geltenden Kultur.<br />
Für das Verständnis der folgenden Textausschnitte ist es wichtig zu wissen, dass Freud in seiner Kulturtheorie<br />
ursprüngliches Lustprinzip (Bedürfnis, auftretende Triebregungen sogleich zu befriedigen) dem sogenannten<br />
„Realitätsprinzip” gegenüberstellte, das zu Lustenthaltung, zu Arbeit und Aufschub der Befriedigung zwingt weil<br />
die existentielle Lebensnot den Menschen vollständig fordert und die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung nicht zu-<br />
lässt.<br />
Nach dieser Vorstellung ist kultureller Fortschritt nur dank zunehmender Triebunterdrückung möglich - in der<br />
Geschichte der Menschheit hat das Realitätsprinzip den Sieg über das Lustprinzip davongetragen.<br />
Herbert Marcuse: Orpheus und Narziss, zwei Urbilder<br />
Ist Prometheus der Kulturheld der Mühsal, der Produktivität und des Fortschritts durch Unterdrückung, dann<br />
müssen die Symbole eines anderen Realitätsprinzips auf dem entgegengegesetzten Pol zu finden sein. Orpheus und<br />
Narziss stehen für eine sehr andere Wirklichkeit (wie Dionysos, dem sie verwandt sind: der Antagonist des Gottes,<br />
der die Logik der Herrschaft, das Reich der Vernunft sanktioniert). Sie wurden niemals die Kulturheroen der west-<br />
lichen Welt: ihre Imago ist die der Freude und der Erfüllung, ist die Stimme, die nicht befiehlt, sondern singt; die<br />
Geste, die gibt und empfängt; die Tat, die Friede ist, und das Ende der Mühsal der Eroberung, ist die Befreiung von<br />
der Zeit, die den Menschen mit Gott, den Menschen mit der Natur eint. Die Dichtung hat ihr Urbild bewahrt - so in<br />
„Sonette an Orpheus”:<br />
Und fast ein Mädchen wars und ging hervor<br />
aus diesem einigen Glück von Sang und Leier<br />
und glänzte klar durch ihre Frühlingsschleier<br />
und machte sich ein Bett in meinem Ohr.<br />
Und schlief in mir. Und alles war ihr Schlaf.<br />
Die Bäume, die ich je bewundert, diese<br />
fühlbare Ferne, die gefühlte Wiese<br />
und jedes Staunen, das mich selbst betraf.<br />
Sie schlief die Welt. Singender Gott, wie hast<br />
du sie vollendet, dass sie nicht begehrte,<br />
erst wach zu sein? Sie, die erstand und schlief.<br />
Wo ist ihr Tod? R M.<br />
[R. M. Rilke, Sonette an Orpheus Gesammelte Werke 1, 731.]<br />
Oder im Bilde des Narzissmus, der im Spiegel des Wassers seine eigene Schönheit zu ergreifen versucht. Ueber<br />
den Fluss der Zeit geneigt, in dem alle Formen voraberziehen, träumt er:<br />
„Narziss träumt vom Paradies ...<br />
Wann endlich wird die Zeit, in ihrem vergänglichen Lauf einhaltend, dieses Fliessen zur Ruhe kommen lassen?<br />
Formen, göttliche und immerwährende Formen, die Ihr nur die Ruhe erwartet um von neuem zu erscheinen, oh