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Mythologie Titelblatt - Gymnasium Interlaken

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32 Narziss und Echo Mythen und Mythendeutung<br />

wann, in welcher Nacht, in welcher Stille werdet Ihr wieder Gestalt annehmen?<br />

Das Paradies kann immer wieder von neuem geschaffen werden; es ist keineswegs in irgendeinem fernen Thu-<br />

le. Es besteht unter der äusseren Erscheinung fort. Jedes Ding enthält virtuell seine ureigene Harmonie wie jedes<br />

Salz die Urform seines Kristalls in sich trägt. Und es wird eine Zeit der schweigenden Nacht kommen, in der dich-<br />

tere Wasser herabfliessen: in den Abgründen, in denen sich nichts bewegt, werden die verborgenen Kristalle blü-<br />

hen.<br />

„Eine grosse Stille hört mir zu, in der ich der Hoffnung lausche. Die Stimme der Quellen ändert sich und spricht<br />

mir vom Abend; Ich höre das silberne Gras wachsen im heiligen Schatten, Und der trügerische Mond senkt seinen<br />

Spiegel Bis in die geheimen Gründe des ausgetrockneten Brunnens.” (Paul Valéry: Narcisse parle.)<br />

„Bewundere in Narziss die ewige Rückkehr<br />

zum Wasser, wo sein Bild sich seiner Liebe zeigt<br />

und seiner Schönheit sich offen darbietet:<br />

Mein Schicksal ist allein<br />

der Kraft meiner Liebe zu gehorchen.<br />

Geliebter Körper, ich gebe mich deiner Macht hin;<br />

Das stille Wasser zieht<br />

mich an, dem ich meine Arme entgegenstrecke:<br />

Diesem reinen Taumel widerstehe ich nicht.<br />

Wie könnte ich, oh<br />

meine Schönheit, etwas tun, was Du nicht wolltest."<br />

[Paul Valéry: Cantate du Narcisse. Scène 11.]<br />

Das Klima dieser Sprache ist das der „Tilgung der Spuren der Ursünde”- ist die Auflehnung gegen eine Kultur,<br />

die auf Mühsal, Herrschaft und Triebverzicht gegründet ist. Die Urbilder des Orpheus und Narziss versöhnen Eros<br />

und Thanatos. Sie rufen die Erinnerung an eine Welt wach, die nicht bemeistert und beherrscht, sondern befreit<br />

werden sollte - eine Freiheit, die die Kräfte des Eros entbinden würde, die jetzt noch in den unterdrückten und ver-<br />

steinerten Formen des Menschen und der Natur gefesselt sind. Diese Kräfte werden nicht als Zerstörung, sondern<br />

als Friede begriffen, nicht als Schrecken, sondern als Schönheit. Es genügt, die hierher gehörenden Urbilder aufzu-<br />

zählen, um die Dimension zu umschreiben, der sie verhaftet sind: die Erlösung der Lust, der Stillstand der Zeit, das<br />

Ende des Todes, Stille, Schlaf, Nacht, Paradies - das Nirwanaprinzip nicht als Tod, sondern als Leben. Baudelaire<br />

gibt das Bild solch einer Welt in zwei Zeilen:<br />

Là, tout n'est qu'ordre et beauté,<br />

Luxe, calme et volupté.<br />

Dies ist vielleicht der einzige Zusammenhang, in dem das Wort Ordnung seine repressive Bedeutung verliert:<br />

hier ist es die Ordnung der Erfüllung, die der freie Eros schafft. Die Statik triumphiert über die Dynamik; aber dies<br />

ist eine Statik, die sich in ihrer eigenen Fülle bewegt, eine schöpferische Kraft, die Sinnlichkeit, Spiel und Sang ist.<br />

Die orphische und narzisstische Welterfahrung negiert die Erfahrungsform, die die Welt des Leistungsprinzips<br />

aufrechterhält. Der Gegensatz zwischen Mensch und Natur, Subjekt und Objekt, ist überwunden. Das Sein wird als<br />

Befriedigung erfahren, die Mensch und Natur eint, so dass die Erfüllung des Menschen gleichzeitig ohne Gewalt-<br />

samkeit die Erfüllung der Natur ist. Da sie angesprochen, geliebt, umsorgt werden, erscheinen Blumen, Quelle und<br />

Tier als das, was sie sind - schön nicht nur für jene, die sich ihnen zuwenden und sie beschauen - sondern an sich,<br />

„objektiv”. Le monde tend a la beauté - im orphischen und narzisstischen Eros ist dies Streben nach Schönheit er-<br />

löst: die Gegenstände der Natur werden frei, das zu sein, was sie sind. Aber um zu sein, was sie sind, sind sie ab-<br />

hängig von der erotischen Haltung: nur in ihr empfangen sie ihr Telos. Orpheus' Gesang befriedet die tierische<br />

Welt, versöhnt den Löwen mit dem Lamm und mit dem Menschen. Die Welt der Natur ist eine Welt der Bedrük-<br />

kung, der Grausamkeit und der Schmerzen, wie es die menschliche ist: und wie diese wartet sie auf Befreiung. Diese<br />

Befreiung ist das Werk des Eros. Der Gesang Orpheus' durchbricht die Versteinerung, bewegt die Wälder und Fel-<br />

sen - bewegt sie, an der Freude teilzunehmen.

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