Mythologie Titelblatt - Gymnasium Interlaken
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Mythen und Mythendeutung<br />
Sage, Mythos, Legende: Begriffsbestimmung 9<br />
beweisen.” Der Einsiedler: “Kennst du den Fluss, bei dessen Ueberquerung viele in Gefahr geraten und verunglük-<br />
ken?” Christophorus: “Ja.” Der Einsiedler: “Da du sehr gross und stark bist, wäre es Christus, dem König, dem du<br />
zu dienen wünschst, sehr recht, wenn du dich an diesem Flusse niederliessest und alle hinüberbrächtest, und ich<br />
hoffe, dass er sich dir dort offenbart.” Christophorus: “Diesen Beweis meines Gehorsams kann ich erbringen, und<br />
ich verspreche, dass ich ihm diesen Dienst erweisen werde.” Er ging also zu dem genannten Fluss, baute sich dort<br />
eine Hütte und nahm anstelle eines Stockes eine lange Stange in die Hand, mit der er sich im Wasser abstützte und<br />
alle ohne Unterbrechung hinübertrug.<br />
Der Christusträger<br />
Es vergingen viele Tage. Als er einmal in seiner Hütte ausruhte, hörte er die Stimme eines Knaben, der ihn rief<br />
und sprach: “Christophorus, komm heraus und bring mich hinüber.” Christophorus sprang auf und lief hinaus,<br />
konnte aber niemanden sehen. Er kehrte in seine Hütte zurück und hörte erneut die Stimme des Knaben, der ihn<br />
rief. Wieder lief er nach draussen und fand niemanden. Als er dann zum dritten Mal wie zuvor gerufen wurde, ging<br />
er hinaus und fand einen Knaben am Ufer sitzen, der ihn inständig bat, dass er ihn hinüberbringe. Christophorus<br />
hob also den Jungen auf seine Schultern, nahm seinen Stab und ging in den Fluss, um ihn zu überqueren. Und siehe<br />
da, das Wasser des Flusses stieg allmählich an, und der Junge wurde so schwer wie Blei. Je weiter er ging, desto<br />
höher wurde die Flut, und der Knabe drückte mit seinem Gewicht immer mehr auf Christophorus' Schultern, so<br />
dass er ihn kaum mehr tragen konnte. Er bekam grosse Angst und fürchtete, ertrinken zu müssen. Aber als er es<br />
mit knapper Not geschafft und den Fluss durchwatet hatte, setzte er den Knaben am Ufer ab und sagte zu ihm: “Du<br />
hast mich in grosse Gefahr gebracht, Junge, und warst mir eine so grosse Last, dass ich mir kaum eine grössere Last<br />
hätte vorstellen können, auch wenn ich die ganze Welt auf den Schultern gehabt hätte.” Der Knabe erwiderte:<br />
“Wundere dich nicht Christophorus, denn du hattest nicht nur die ganze Welt auf deinen Schultern, sondern du<br />
trugst auch den, der die Welt geschaffen hat. Ich bin nämlich Christus, dein König, dem du mit deiner Arbeit dienst.<br />
Und damit du erkennst, dass ich die Wahrheit sage, stecke deinen Stab, sobald du hinübergegangen bist, neben dei-<br />
ner Hütte in die Erde und du wirst sehen dass er am nächsten Morgen blüht und Früchte trägt.” Und sofort ver-<br />
schwand er aus seinen Augen. Christophorus ging also zurück und steckte seinen Stab in die Erde. Am nächsten<br />
Morgen stand er auf und sah, dass der Stab Blätter und Früchte trug wie eine Palme. […]<br />
[Jacobus de Voragine: Legenda Aurea: De sancto Christophoro]