Mythologie Titelblatt - Gymnasium Interlaken
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26 Narziss und Echo Mythen und Mythendeutung<br />
Gehn und sogleich mit den Armen den Hals des Ersehnten umschlingen.<br />
Aber er flieht und schreit: “Fort! Fort mit den Händen und Armen! 390<br />
Eher würde ich sterben! Du meinst, dir würd' ich mich schenken?”<br />
Jene erwiderte nichts als die Worte: “Dir würd' ich mich schenken! ”<br />
Und die Verschmähte verbirgt sich im Walde: das Antlitz versteckt sie<br />
Schamübergossen im Laub und haust nun in einsamen Grotten.<br />
Aber es haftet die Liebe; die Kränkung lässt sie noch wachsen; 395<br />
Jämmerlich zehren am Leib die quälenden Leiden: er magert<br />
Ab und die Haut wird schlaff; in die Luft verflüchtigt sich jeder<br />
Saft des Leibes. Die Stimme allein und die Knochen sind übrig;<br />
Jene hat Dauer; die Knochen, sie wurden zu Stein, so erzählt man.<br />
Und jetzt ist sie verborgen in Wäldern; man sieht sie auf keinem 400<br />
Berg, doch jedermann hört sie: ihr Ton ist lebendig geblieben.<br />
Also hatte er diese und andere Nymphen der Wasser<br />
Oder der Berge getäuscht, so früher die Männer verachtet.<br />
Aber da hob ein Verschmähter die Hände zum Himmel und flehte:<br />
“Möge er selbst so lieben und nie das Geliebte besitzen!.” 405<br />
Sprach's; die berechtigte Bitte erhörte die Göttin von Rhamnus.<br />
Sieh den lauteren Quell mit silberglänzendem Wasser!<br />
Niemals hatten ihn Hirten berührt, niemals im Gebirge<br />
Weidende Ziegen noch anderes Vieh, nie hatte ein Vogel<br />
Oder ein Wild ihn getrübt noch ein Ast, vom Baume gefallen. 410<br />
Gras stand rings um ihn her, das die Nähe des Wassers ernährt<br />
Und ein Wald, der der Sonne verwehrte, den Ort zu erhitzen.<br />
Hier sank nieder der Knabe, ermüdet von eifrigem Jagen<br />
Und von der Hitze, gelockt von dem Quell und der Anmut des Ortes.<br />
Doch wie den Durst er zu stillen begehre, erwächst ihm ein andrer 415<br />
Durst: beim Trinken erblickt er herrliche Schönheit; ergriffen<br />
Liebt er ein körperlos Schemen: was Wasser ist, hält er für Körper.<br />
Reglos staunt er sich an, mit unbeweglichem Antlitz,<br />
Starr, einer Statue gleich, die aus parischem Marmor geformt ist,<br />
Liegend am Boden erschaut er das Doppelgestirn seiner Augen, 420<br />
Sieht seine Haare: sie hätten Apollo geziert oder Bacchus !<br />
Sieht die Wangen der Jugend, den Hals, der wie Elfenbein schimmert,<br />
Seinen so zierlichen Mund und die Farbe von Schnee und von Rosen.<br />
Alles bewundert er jetzt, weshalb ihn die andern bewundern:<br />
Sich begehrt er, der Tor, der Liebende ist der Geliebte, 425<br />
Und der Ersehnte der Sehnende, Zunder zugleich und Entflammter.<br />
Oh, wie küsst' er so oft – vergeblich – die trügende Quelle,<br />
Tauchte die Arme so oft in das Wasser, den Hals zu umschlingen,<br />
Den er erschaut, und kann sich doch selbst im Gewässer nicht fassen.<br />
Was er ersieht, nicht weiss er's; er sieht's, und es setzt ihn in Flammen, 430<br />
Und seine Augen betrügt und entzündet der nämliche Irrtum.<br />
Gläubiger Knabe, du haschest vergeblich nach flüchtigen Bildern!<br />
Nirgends ist, was du ersehnst; was du liebst, du wirst es vernichten,<br />
Wenn du dich wendest; du siehst nur ein nichtiges Spiegelgebilde;<br />
Eigenes Wesen gebricht ihm: mit dir erscheint es und dauert, 435<br />
Mit dir geht es hinweg –wofern du zu gehen vermöchtest!<br />
Weder der Hunger noch Ruhebedürfnis vermag von der Stelle<br />
Ihn zu vertreiben: er schaut, im beschatteten Grase gelagert,