15integration.qxd 19.09.2006 11:40 Uhr Seite 1 Falter Special SARGFABRIK 15 <strong>Die</strong> Herstellung des Ganzen GESELLSCHAFT Eine der Kernideen des Projekts <strong>Sargfabrik</strong> lautet Integration – und damit ist nicht nur miteinander <strong>Wohnen</strong> gemeint, sondern auch das Miteinander von Kultur und Leben. WOLFGANG PATERNO und CHRISTOPHER WURMDOBLER Man habe, lautete ungefähr der Text auf dem fotokopierten Aushang in den Liften, einander vor dreißig Jahren in der Eisfabrik <strong>ums</strong> Eck kennen und lieben gelernt, lebe seit zehn Jahren glücklich in der <strong>Sargfabrik</strong>, und deshalb mögen doch bitte alle zum angegebenen Termin in den Hof der Miss kommen; es gäbe Eis für alle. Der Anlass war ein sehr privater, das Fest sehr für die Allgemeinheit, und tatsächlich kamen dann auch sehr viele Menschen, plauderten, lachten, verzehrten ohne Ende Eis am Stiel und freuten sich der Liebe. Miteinander statt immer nur privat: Mitte der Achtzigerjahre konstituierte sich eine Gruppe von Menschen, die ein Wohnprojekt jenseits von Spießigkeit und dem Diktat der Kleinfamilie zu verwirklichen suchten. Man trachtete danach, die Bereiche <strong>Wohnen</strong>, Kultur und Integration im Alltagsleben zu harmonisieren. 1987 wurde der Verein für Integrative Lebensgestaltung (VIL) gegründet, der bis heute als G<strong>rund</strong>eigentümer, Bauherr und Betreiber der <strong>Sargfabrik</strong> fungiert. Zielsetzung des Vereins war und ist unter anderem die Integration von behinderten Menschen und anderen sozial benachteiligten Gruppen sowie die Mischung hinsichtlich Alter und Herkunft. So ähnlich steht’s auch in den Vereinsstatuten. Ebenfalls ein Ziel: Betreiben eines kulturellen Zentr<strong>ums</strong> für Grätzel, Bezirk und Stadt durch Gastronomie, Kultur-, Seminar-, Kinder- und Badehaus. Klingt gut. Klingt groß. Mittlerweile lebt man in der <strong>Sargfabrik</strong> Integration in vielen verschiedenen Bereichen. <strong>Die</strong> Herstellung des Ganzen, so die wörtliche Übersetzung des Kernbegriffs, versteht man dabei nicht nur als das geglückte Miteinanderleben von Menschen mit den unterschiedlichsten Biografien. <strong>Die</strong> <strong>Sargfabrik</strong> hat den Anspruch, Ort der Begegnung zu sein, Austausch soll auf sozialer wie kultureller Ebene stattfinden. Der Zentralbegriff des Projekts ist längst in schierer Bedeutungsvielfalt und unzähligen gelebten Realitäten aufgegangen. Seit Gründung der <strong>Sargfabrik</strong> lebt Esther Kittel-Friedrich, 50, in der sogenannten „Großen WG“, einem <strong>rund</strong> 400 Quadratmeter umfassenden Lebens- und Arbeitsraum, der derzeit von sieben Erwachsenen, teilweise mit ihren Partnerinnen und Partnern, sowie vier Jugendlichen bewohnt wird. „Integration hat hier eine immense Bedeutung“, sagt Kittel-Friedrich, die von Beruf therapeutische Betreuerin ist und im Vorstand der <strong>Sargfabrik</strong> seit einiger Zeit das Amt einer Behindertenbeauftragten übernommen hat. Ehrenamtllich, versteht sich. Niederschwelligkeit lautet das Zauberwort in der <strong>Sargfabrik</strong> und meint dabei nicht nur rollstuhlgerechte Architektur. Regelmäßig mietet sich ein Veranstalter mit seinen Clubbings ein, bei denen Menschen mit oder ohne Behinderung miteinander feiern, im Badehaus findet „Behindertenschwimmen“ statt. „<strong>Die</strong> Türen waren und sind hier immer sehr offen. In den allermeisten Fällen funktioniert die Integration sowohl nach außen wie nach innen“, sagt Esther Kittel-Friedrich. Was jetzt so besonders klingt, ist in den Köpfen der <strong>Sargfabrik</strong>ler schon Alltag, also ganz normal, kaum mehr erwähnenswert. Trotzdem gibt es aber den Integrations-Award, einen hausintern vergebenen Wanderpokal. Kürzlich wurde die „Große WG“ damit ausgezeichnet. So war es auch für die Bewohner und Bewohnerinnen eine Selbstverständlichkeit, die schwerkranke, vor kurzem verstorbene Anni von nebenan regelmäßig und gemeinschaftlich zu betreuen.In der <strong>Sargfabrik</strong> fand Anni, von der viele gerne und ausführlich erzählen, so etwas wie Familienanschluss. Sie wurde zu einem wichtigen Teil des Alltags und Lebens derer, die hier wohnen. Alt werden, krank werden: Es wäre nicht die <strong>Sargfabrik</strong>, würde Foto: Arthur Fleischmann Sieben Erwachsene und vier Jugendliche leben in der „Großen WG“ das Feiern des 10-Jahre-Bestandsjubilä<strong>ums</strong> nicht auch Fragen aufwerfen. <strong>Die</strong> Volkskundlerin Anna Härle, 42, gebürtige Vorarlbergerin und ebenfalls Gründungsmitglied des Projekts, hat eine Arbeitsgruppe gebildet und diese Fragen ausformuliert. 16 Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern hat man geführt, im Zentrum des Interesses stand dabei das Thema Integration. Es gilt,Lücken zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu überbrücken, auch und vor allem zehn Jahre nach Gründung des einzigartigen Wohn- und Lebensprojekts. Härle und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter versuchen dies mittels ihrer Kleinstudie. Bis heute ist es zuweilen nicht ganz einfach, sich über die verschiedenen Formen der Integration in der <strong>Sargfabrik</strong> Übersicht zu verschaffen. Als wir hier eingezogen sind“, erinnert sich Anna Härle, „erzählten sich die Anrainer <strong>rund</strong>herum noch Schauermärchen über uns.“ Mittlerweile nutzen zahlreiche Menschen aus dem Grätzel und dem Rest der Stadt die vielen Einrichtungen der <strong>Sargfabrik</strong>, sie benutzen das Badehaus, speisen im Beisl oder besuchen Workshops im Seminarhaus und Musikveranstaltungen im Kulturhaus. Spricht Härle über das Thema Integration, fällt oft das Wort „Ebene“, da gebe es „mehrere Ebenen“, sagt sie häufig. Zehn Menschen mit Behinderung leben in <strong>Sargfabrik</strong> und Miss, in zweiterer gleich <strong>ums</strong> Eck gibt es zudem eine sozialpädagogische Wohngemeinschaft der Stadt Wien für Kinder. Einmal lebten sogar vier Generationen einer Familie in der <strong>Sargfabrik</strong>; eine geplante Flüchtlingswohnung scheiterte an der Finanzierung. „Wir müssen auch darauf achten“, zieht Härle ein weiteres Plateau in ihr Nachdenkgebäude ein,„dass aus der <strong>Sargfabrik</strong> kein reines Altersheim wird, dass Nachwachsende integriert werden, dass sich Junge für unser Projekt interessieren.“ Wie groß das Interesse ist, ins <strong>Sargfabrik</strong>-Abenteuer einzusteigen, sich zu integrieren, zeigt die lange Warteliste. Und sollte es irgendwann zu einem Generationskonflikt kommen: <strong>Die</strong> Leute in der <strong>Sargfabrik</strong> finden ganz bestimmt eine Lösung. Beim gemeinsamen Herstellen des Ganzen. ❑ „<strong>Sargfabrik</strong>. Integration.“: Präsentation der Forschungsergebnisse am 17.10., 19 Uhr im Seminarhaus <strong>Sargfabrik</strong>.
16-17kinderCW.qxd 22.09.2006 12:04 Uhr Seite 18 16 SARGFABRIK Ganz groß werden KINDER Junge Menschen haben im Kinderhaus <strong>Sargfabrik</strong> ihren eigenen Bereich und werden als Persönlichkeiten respektiert. CHRISTOPHER WURMDOBLER Falter Special Im Kinderhaus setzt man im Atelier bildnerische Schwerpunkte – die können sich sehen lassen