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Angenommen – und was nun?

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10 BUDAPESTER ZEITUNG FEUILLETON 5. - 11. JULI • NR. 27VON MÁRIA SCHMIDTEr war ein Junge aus der Vorstadt, derunter sehr bescheidenen Verhältnissenaufwuchs. Seine Schulbildung konnteer sich nur nach der Arbeit, an derAbendfachschule aneignen. Er gingins Ausland, in die Sowjetunion, nachRostow, um das Hochschulstudiumzu absolvieren. Hier erhielt er imJahre 1954 auch sein Diplom. EinJahr zuvor war er der kommunistischenPartei der Ungarischen Werktätigen(Magyar Dolgozók Pártja,MDP) beigetreten. Von hier aus warsein Weg im Einparteienstaat regelrechteingebettet. Er arbeitete aufaußenpolitischer Linie. Er wurdeDiplomat, <strong>und</strong> kam dann unter dieLenker der Außenpolitik in die Parteizentrale.Das erste Mal wurde ich Ende dersiebziger, Anfang der achtzigerJahre auf ihn aufmerksam. Er sprachim Fernsehen über irgendet<strong>was</strong>. Worüber,daran erinnere ich mich nichtmehr, sondern nur daran, dass er eineandere Sprache benutzte als die anderenFunktionäre.Durch seine Person wurde mir bewusst,dass in Ungarn in der zweitenbis dritten Reihe eine neue Generationvon Technokraten erschienenwar, die bereits studiert hatte, die informiert,auch offen für die westlicheWelt <strong>und</strong> zu mehr fähig war, als nurdie im „Parteichinesisch“ verfasstenTexten zu wiederholen. Diese Generation,deren talentiertester <strong>und</strong> erfahrensterVertreter Gyula Horn war, hatein unvergängliches Verdienst darin,dass Ungarn der Motor, der Impulsgeber<strong>und</strong> eines der erfolgreichstenLänder der politischen Wende <strong>und</strong> desSystemwechsels in Ostmitteleuropasein konnte.Kádár alsLehrerEr war Außenpolitiker <strong>und</strong> blieb esauch. Dies spielte eine entscheidendeRolle dabei, dass er unter den sichschnell verändernden internationalenVerhältnissen der achtziger Jahre dieneuen Möglichkeiten unserer Region<strong>und</strong> Ungarns richtig einschätzte. Obwohler selbst sich kaum damit brüstete,so hat er doch in Wahrheit rechtviel von JánosKádár gelernt. Erhatte jene KádárscheDoktrin verstanden,verinnerlicht<strong>und</strong> blieb biszum Ende seinesLeben ihr Anhänger,die aus der relativenKraftlosigkeit<strong>und</strong> dem Fehlenan Gewicht Ungarns eine Tugendschmiedend, ab den siebziger Jahrenbestrebt war, die möglichst entschlosseneVertretung nationaler InteressenUngarns durchzusetzen.Auf dem bipolaren Spielfeld bedeutetedies, auf den Umstand hinweisend,ja vielleicht sogar mit ihm drohend,dass die Ungarn, wie sie dies jaauch 1956 bewiesen hatten, Rebellenseien, bei den Sowjets im Rahmenvon Verhandlungen Zugeständnissefür eine Sonderbehandlung Ungarnszu erreichen. Das heißt einerseits sohäufig wie möglich wirtschaftlicheVorteile im Gegenzug für die geraubteSouveränität Ungarns aus ihnenherauszuholen, <strong>und</strong> andererseits ihnendas Land als eine Art Experimentierfeldanzubieten, wo man verschiedeneNachruf auf Gyula Horn (1932-2013)Ein Meister der Kádárschen DoktrinMTI / Lajos Soós„Vieles kann manerben, aber nichtden Mut.“Gedenken an den “talentiertesten <strong>und</strong> erfahrensten Vertreter einer neuen Generation von Technokraten” im Plenarsaal des Parlaments.Jorge Luis Borges„Die Welt hat sich auf die Begriffe RECHTS <strong>und</strong> LINKSversteift <strong>und</strong> dabei vergessen, dass es auchein OBEN <strong>und</strong> UNTEN gibt.“Franz Werfel„neue wirtschaftliche Mechanismen“,IMF- <strong>und</strong> Weltbank-Anschlüsse ausprobierenkönne, damit im Falle desErfolgs, das gesamte Lager <strong>und</strong> eventuellauch die Sowjetunion selbst davonprofitieren könne. Und im Falleeines Misserfolges könne man die ungarischeParteiführung für diesen verantwortlichmachen, während manzugleich mit keinem allzu großen politischenRisiko rechnen musste, dennwenn irgendwo, dann schien damalsgerade bei uns in Ungarn das politischeSystem recht stabil zu sein. DieseRolle eines „Pilotprojekts“, die Ungarnin den letzten beiden Jahrzehntendes Sozialismus gespielt hatte, wirktesich übrigens auch recht befruchtendauf Deng Xiaoping aus, der denKádárschen Erfolg <strong>und</strong> dessen Rezeptanalysierend beziehungsweise anwendendChina in die Reformära führte.Horn kam aus dieser Schule. Erhatte verstanden, dass die Größe unseresLandes unseinengte <strong>und</strong> zugleichMöglichkeiteneröffnete,wenn wir geschickt<strong>und</strong> talentiertsind. Er wares. Erfolgreich <strong>und</strong>entschlossen erweiterteer unserendiplomatischenSpielraum, als er die Aufnahme von diplomatischenBeziehungen mit solchenLändern vorantrieb, die er überuns in die Politik der Region einbeziehenwollte. Als er erkannt hatte, dasssich das Kräfteverhältnis der Großmächtezu verändern begonnen hatte,zog er daraus die für uns wichtigenSchlussfolgerungen. Vor allen Dingenjene, dass, wenn sich das Gleichgewichtder bipolaren Welt zugunstender USA verschiebt, hieraus hinsichtlichEuropas die Aufwertung Deutschlandsfolge. Und dies dann die Regelungder deutschen Frage, das heißtdie Wiedervereinigung unvermeidlichmache. Dieser Erkenntnis folgtenTaten. Der Höhepunkt der LaufbahnHorns ist die Öff<strong>nun</strong>g des EisernenVorhangs, die Öff<strong>nun</strong>g der ungarischenGrenze für die deutschen Flüchtlinge,<strong>was</strong> selbstverständlich zur Liquidierungdes kommunistischen Systems<strong>und</strong> zum Systemwechsel führte.In beiden Belangen spielte er eineinitiierende Rolle, so wie auch seineGeneration <strong>und</strong> seine Genossen inFührungspositionen. Sie wussten esam besten, hatten sie ihn doch schonseit langen Jahren am Funktionierenerhalten, dass der Sozialismus nach einerlangen Agonie längst klinisch totwar, mit anderen Worten: nicht mehrzu retten. Aus dieser Erkenntnis folgte,dass sie mit all ihrem Talent <strong>und</strong> ihrerKraft daran arbeiteten, auch für dieneue, demokratische Einrichtung unverzichtbarzu bleiben, auch im neuenSystem die Elite zu bleiben. DieseBestrebung hatte zum Teil Erfolg.Strategischer Fehlerbei der NamenswahlHorn hatte eine der erfolgreichstenParteien des Zeitraums seit demSystemwechsel erschaffen, dieUngarische Sozialistische Partei (ung.Magyar Szocialista Párt, MSZP), derenVorsitzender er von 1990 bis1998 war. Er beging einen strategischenFehler, als er nicht den Namen„sozialdemokratisch“ für seine Parteiin Anspruch nahm, <strong>was</strong> in vielerleiHinsicht die Abtren<strong>nun</strong>g der neuenPartei von ihrer Vergangenheit alsStaatspartei <strong>und</strong> die Bestimmung ihreralt-neuen Identität erleichtert hätte.Hierzu hätte er umso mehr dieMöglichkeit gehabt, denn die Vorgängerinder USAP (Ungarische SozialistischeArbeiterpartei, ung. MSZMP),war aus dem Zusammenschluss dersozialdemokratischen <strong>und</strong> der kommunistischenPartei im Sommer desJahres 1948 entstanden; die neuePartei hätte sich also darauf berufenkönnen, dass sie nach der Tren<strong>nun</strong>gdie sozialdemokratischen Traditionenfortsetzen möchte. Doch Horn hieltes für viel wichtiger, sich des organisatorischen<strong>und</strong> materiellen Vermächtnissesder MSZMP zu bemächtigen<strong>und</strong> dieses zu sichern, als sich mitirgendwelchen historischen <strong>und</strong> Legitimitätsfragenherumzuplagen, die ernie für wirklich wichtig gehalten hatte.In Rekordzeit erreichte er, dass nachder demütigenden Niederlage seinerPartei, der MSZP bei den ersten freienWahlen, diese mit Unterstützung desaus der Opposition vor der Zeit desSystemwechsels entstandenen B<strong>und</strong>esder Freien Demokraten (Szabad DemokratákSzövetsége, SZDSZ) sowieder Hilfe der Demokratischen Charta(Demokratikus Charta) genanntenantifaschistischen Gruppierung ausder politischen Quarantäne herauskommenkonnte, in die seine Parteigeraten war. Dass die Sozialisten indie Pariarolle gedrängt worden waren,hatte als Ursache, dass die ungarischeGesellschaft sich erst nach den erstenfreien Wahlen mit all dem Leid, demSchmutz, den Unmengen von Verbrechenkonfrontiert sah, die die Führer<strong>und</strong> die Handlanger der Staatsparteibelastete. All jene Sünden <strong>und</strong> Verbrechen,über die man in den Jahrender totalitären Diktatur nicht sprechenkonnte, über die, die der Diktatur dienendeintellektuelle Elite in verlogenerWeise behauptete, sie wären nie geschehen,oder wenn doch, dann seienes richtige <strong>und</strong> nützliche Taten gewesen.Dieser ganze Dreck, der Schmerz <strong>und</strong>die Trauer bedeckten die Sozialisten,die hierdurch verkrampften <strong>und</strong> nichtin der Lage waren, sich von den inakzeptablen<strong>und</strong> durch nichts zu rechtfertigendenSchrecken zu distanzieren.Anstatt dass sie bei der Annahmeder Wiedergutmachungsgesetze mitder Mehrheit des ersten frei gewähltenParlaments zusammengearbeitet hätten,mobilisierten sie ihren informellenEinfluss <strong>und</strong> ihre Medienmacht,um die Bestrebungen nach historischerWiedergutmachung zu verhindern.Sie zählten hierbei, <strong>und</strong> konntenauch darauf zählen, auf die Unterstützungdurch die Angehörigen desSZDSZ. Dabei stand gerade ihnen,angesichts ihrer Lage als Nachfolgepartei,weder die Rettung der Verantwortlichenfür die Verbrechen derStaatsicherheitspolizei (ÁVH), nochdie der Vergeltungsmaßnahmen nach1956, noch die Bagatellisierung ihrerTaten nicht gut. Der Wahlerfolg von1994, der der von Gyula Horn geführtenMSZP die absolute Mehrheitbescherte, verstärkte in Horn denEindruck, dass sie auch ohne die Klärungihres Verhältnisses zum ehemaligenSystem der Staatspartei zu gleichberechtigtenTeilnehmern des demokratischenpolitischen Lebens werdenkönnten.Gyula Horn war durch die Rolle,die er in der Revolution <strong>und</strong> demFreiheitskampf von 1956 übernommenhatte, nicht in der Lage, sich dieserFrage ohne emotionale Befangenheitanzunähern. Welche Rolle er1956 darüber hinaus gespielt hatte,dass er sich vom November '56 biszum Juni '57 der so genannten kommunistischen„Steppjacken-Brigade“angeschlossen <strong>und</strong> an der Niederschlagungder Revolution sowie derVerfolgung der Revolutionäre teilgenommenhat, harrt noch einer genauerenUntersuchung.Als er seine Auszeich<strong>nun</strong>g „Für denDienst für die Arbeiter- <strong>und</strong> Bauernmacht“erhielt, dürfte er seine Verdienstevermutlich als bedeutenderhingestellt haben, als sie es in derWirklichkeit tatsächlich gewesen waren,denn diese Medaille ging auchmit bedeutenden Vorteilen im Regimeeinher. Nach dem Sturz des Kádár-Systemsstand die Bagatellisierung,ja sogar die Verleug<strong>nun</strong>g seinerehemaligen Rolle in seinem Interesse.Deshalb beschloss er, als er schonMinisterpräsident geworden war, dieAuflösung der Kommission, die dieFälle des Jahres 1956 untersuchte, indenen Salven auf die Zivilbevölkerungabgegeben worden waren, auf der anderenSeite behinderte er jedoch diePflege des Kultus' von 56 sowie diegebührende Thematisierung der Ereignissenicht.Gyula Horn war zwischen 1994-98der Ministerpräsident Ungarns. Obwohler über die zum Regieren ausreichendeParlamentsmehrheit verfügte,machte er dem schon in der DemokratischenCharta erprobten SZDSZ,dem Zweitplatzierten der Wahlen, einKoalitionsangebot.

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