16Juli/August Mai 2012 2013| HISTORIE |RICHARD WAGNER (1813 — 1883)JENA ALS ›WAGNERSTADT‹ zu bezeichnen, wäre reichlich übertrieben. Der große Komponist, dessen 200. Geburtstagsich im Mai dieses Jahres jährt, blieb 1849 nur wenig mehr als eine Nacht in der Stadt <strong>und</strong> verließ sie fluchtartig:Steckbrieflich von der Dresdner Polizei gesucht, halfen ihm <strong>Jena</strong>er Fre<strong>und</strong>e erfolgreich seinen Allerwertesten zuretten <strong>und</strong> sich in Richtung Schweiz abzusetzen.Als die Polizei im Mai 1849 bei Wagnersin Dresden an die Tür klopft <strong>und</strong> dieWohnräume durchsucht, ist der Delinquentnicht zu fassen, ›ausgeflogen‹. DieStaatsbehörden walten pflichtschuldig ihresAmtes: Der eben noch stadtweit gefeiertejunge Komponist <strong>und</strong> Dirigent mutiert überNacht zum per Haftbefehl gesuchten Staatsfeind.»Der unten etwas näher bezeichnetekönigl. Capellmeister Richard Wagner istwegen wesentlicher Teilnahme an der in hiesigerStadt stattgef<strong>und</strong>enen aufrührerischenBewegung zur Untersuchung zu ziehen, zurZeit aber nicht zu erlangen gewesen. Es werdendaher alle Polizeibehörden auf denselbenaufmerksam gemacht <strong>und</strong> ersucht, Wagnernim Betretungsfalle zu verhaften <strong>und</strong> davonuns schleunigst Nachricht zu ertheilen«,steht in dem am 16. Mai 1849 ausgefertigtenSteckbrief der Stadtpolizei, der drei Tage späterim »Dresdener Anzeiger« veröffentlichtwird. Eine Woche zuvor war der DresdnerMaiaufstand unter dem Ansturm preußischerTruppen, die der sächsische König FriedrichAugust II. zur Niederschlagung der Rebellionzu Hilfe gerufen hat, zusammengebrochen.EIN REVOLUTIONÄR FLÜCHTETVom Gedanken einer Revolution der überkommenenTheaterstrukturen beseelt <strong>und</strong>vom Tatendrang des russischen Anarchisten<strong>und</strong> Anführers des Aufstands Michail Bakuninsowie seines Musikerkollegen AugustRöckel <strong>und</strong> des Architekten <strong>und</strong> ›Barrikaden-Baumeisters‹ Gottfried Semper mitgerissen,hatte Wagner sich dem Kampf um freiheitlicheGr<strong>und</strong>rechte <strong>und</strong> gegen diefeudale Obrigkeit angeschlossen.In den »Volksblättern« redeteer der »Zerstörung der bestehendenOrdnung der Dinge«<strong>das</strong> Wort, verteilte Flugblätter,bezog während der Kämpfeauf dem Turm der KreuzkircheBeobachtungsposten <strong>und</strong> riefsächsische Soldaten zum Desertierenauf.Jetzt, da <strong>das</strong> ›Alte‹ doch dieOberhand gehalten hatte, galtes nur noch, Kopf <strong>und</strong> Kragenzu retten. Das Schicksal seinerMitstreiter war Warnunggenug: Röckel ging der PolizeiFRANZ LISZT (1811 — 1886)noch in Dresden ins Netz, Bakunin, wie Wagnerüber Chemnitz auf der Flucht, wurde vonden Häschern in einer Herberge im Schlafüberrascht <strong>und</strong> gleichfalls verhaftet. Beidewerden zunächst zum Tode verurteilt — erstererspäter <strong>für</strong> mehr als ein Jahrzehnt aufder Festung Königsstein <strong>und</strong> im ZuchthausWaldheim weggesperrt, letzterer an Russlandausgeliefert.BEI LISZT IN WEIMARWagner indes entkommtdem unmittelbaren Zugriff<strong>und</strong> findet ab dem 10. Maiim Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach bei seinemFre<strong>und</strong> <strong>und</strong> KapellmeisterFranz Liszt in Weimar Unterschlupf.»Ein <strong>für</strong> allemal zählenSie mich von nun an zu ihreneifrigsten <strong>und</strong> ergebenstenBew<strong>und</strong>erern — nah wie fernbauen sie auf mich <strong>und</strong> verfügenSie über mich«, hatte Lisztan Wagner geschrieben, nachdemer dessen, von der be-Abbildungen: www.dresden.stadtwiki.de / wikipedia.de
Juli/August Mai 2013 201217STECKBRIEF RICHARD WAGNERrühmten Sage vom Sängerkrieg auf derWartburg inspirierte Oper »Tannhäuser« zuGroßherzogin Maria Pawlownas Geburtstagam 16. Februar 1949 unter Jubelstürmen desPublikums in Weimar aufgeführt hatte.Dass <strong>das</strong> Versprechen in einer <strong>für</strong> Wagnerso misslichen Lage nur wenige Monatespäter der Einlösung bedurfte, bot auch <strong>für</strong>Liszt eine gehörige Überraschung, der denDresdner Hofkapellmeister zunächst aufFre<strong>und</strong>schaftsbesuch wähnte. Von Wagners›Revoluzzertum‹ bald darauf in Kenntnis,setzte Liszt umgehend alle Hebel in Bewegung,um dem aus seiner Sicht »schädelspaltendenGenie« nach Kräften beizustehen.Liszts ausgedehnter Fre<strong>und</strong>eskreis in <strong>Jena</strong>sollte dabei eine Schlüsselrolle spielen: AlsLiszt <strong>und</strong> Wagner am Abend des 18. Mai imWeimarer Hotel »Zum Erbprinz« Fluchtpläneschmieden, kommen erstmals Liszts engeFre<strong>und</strong>schaftsbande nach <strong>Jena</strong> zum Tragen,zunächst in Person des <strong>Jena</strong>er MedizinprofessorsAugust Friedrich Siebert.INKOGNITO IN MAGDALABis <strong>für</strong> Wagner, den ein späterer Steckbriefzum »politisch gefährlichen Individuum«erklärt, ein Pass zur Weiterreise aufgetriebenist, empfiehlt Siebert <strong>das</strong> Kammergutdes Ökonomen Julius Theodor Wernsdorf imzwischen Weimar <strong>und</strong> <strong>Jena</strong> gelegenen Magdalaals einstweilige Zufluchtsstätte. Wagnermacht sich am Vormittag des 19. Mai in einemEinspänner auf die etwa dreistündigeReise über Oberweimar <strong>und</strong> Mellingen <strong>und</strong>wird dort gegen Mittag vom Gutspächter persönlichin Empfang genommen. »Sie erhaltenhierbei den Herrn Professor Werther ausBerlin <strong>und</strong> verfahren mit ihm nach Abrede«,steht auf der Notiz, die Siebert dem Ökonomierataus den Händen des Komponisten zukommenlässt.Zumindest seinem Gastgeber gegenübersetzt Wagner noch auf dem Weg zu seinemZimmer der Camouflage ein Ende: »Ich kannwohl offen gegen Sie sein? Ich bin der KapellmeisterWagner aus Dresden. DenkenSie sich, heute soll in Weimar mein Tannhäusergegeben werden, da muß ich Weimarden Rücken kehren <strong>und</strong> mich vor der Polizeiverstecken.« Tatsächlich war bald Gr<strong>und</strong> zurEile geboten, hatte doch die Nachricht vomSteckbrief inzwischen auch Weimar erreicht,wenngleich die Beschreibung Wagners daraufmehr als vage bleibt: »Wagner ist 37 — 38Jahre alt, mittlerer Statur, hat braunes Haar<strong>und</strong> trägt eine Brille«.MIT FALSCHEM PASS INS EXILSeinen 36. Geburtstag verbringt Wagneram 22. Mai im Beisein seiner Frau Minnanoch in der ländlichen Abgeschiedenheit desKammerguts, ehe er sich am 24. Mai »aufFußpfaden« auf den Weg nach <strong>Jena</strong> macht.Diese »etwa sechsstündige Wanderung tratich denn an <strong>und</strong> gelangte über eine Hochebenemit Sonnenuntergang in <strong>das</strong> jetzt zumersten Mal mir sich fre<strong>und</strong>lich auftuende Universitätsstädtchen«beschreibt Wagner selbstin seiner Autobiografie »Mein Leben« seineAnkunft in <strong>Jena</strong>. Im Haus des eng mit Lisztbefre<strong>und</strong>eten Literaturprofessors Oskar LudwigBernhard Wolff am Löbdergraben nahebeim Roten Turm fand Wagner nicht nur <strong>für</strong>eine Nacht Unterkunft, es wurde auch nocham selben Tag in kleiner R<strong>und</strong>e über Detailsseiner weiteren Flucht beratschlagt.Der Schriftsteller <strong>und</strong> NationalökonomProfessor Christian Adolf Widmann halfüberdies mit einem alten, bereits abgelaufenenPass aus, mit dem Wagner am 25. Maischließlich die Weiterreise über Rudolstadt,Coburg <strong>und</strong> Lichtenfels nach Lindau am Bodenseeantrat, von wo ihn ein Dampfschiffdrei Tage später wohlbehalten ins sichereSchweizer Exil brachte. »Eurem Rat <strong>und</strong> eurereifrigen Unterstützung, lieben Fre<strong>und</strong>e,verdanke ich diese Sicherheit«, schreibt Wagnervon Zürich aus am 29. Mai in einem Briefan Wolff.Dem Geschützlärm von Dresden <strong>und</strong> derglücklichen Rettung folgt eine wahre Dankeskanonade:an seinen »Brot- <strong>und</strong> Lehnsherrn«Franz Liszt, verb<strong>und</strong>en mit dem »festenVorsatz, ihm nach Leibeskräften Freudezu bereiten«. An Dr. Widmann, »als dessenDoppelgänger ich jetzt vier Tage lang fungirthabe: ich gebe ihn sich ganz wieder zurück<strong>und</strong> trage hoffentlich zu seinem vollkommenenWohlsein nicht wenig bei.« Schließlichan Wolff selbst, »<strong>für</strong> die große Güte, die Siemir erwiesen: ich bin so voller Andenken daran,<strong>das</strong>s ich keinen Griff in meine Taschenthun kann, ohne an Fre<strong>und</strong> Wolff’s Fürsorge<strong>und</strong> Theilnahme erinnert zu werden. Lobe esIhnen meine Zukunft!«.Musikalisch hielt Richard Wagner bekanntlichWort. Mit seinen großen dramatischenOpernwerken Tannhäuser, Lohengrin,dem Ring des Nibelungen <strong>und</strong> den Meistersingernvon Nürnberg schrieb er Musikgeschichte.Dass es soweit kam, ist auch ein Verdienstderer, die ihm im Mai 1849 auf seiner Fluchtüber <strong>Jena</strong> zur Seite standen. Am Löbdergraben11, an den Wänden des Nachfolgebaus jenesHauses, in dem Richard Wagner damalsObdach gewährt wurde, erinnert bis heuteeine Gedenktafel an diese kleine große Tat.(akl)