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Verwandte Jesu als Referenzpersonen für das Judenchristentum

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<strong>Verwandte</strong> <strong>Jesu</strong><br />

<strong>als</strong> <strong>Referenzpersonen</strong> <strong>für</strong> <strong>das</strong> <strong>Judenchristentum</strong><br />

Doris Lambers-Petry<br />

Nach den Angaben der Apostelgeschichte bildeten die Mutter und die Brüder<br />

<strong>Jesu</strong> gemeinsam mit den Jüngern und den Frauen einen Kreis, der sich im<br />

Obergemach einer Wohnung in Jerusalem regelmäßig zum Gebet traf. Während<br />

die synoptischen Evangelien den Eindruck erwecken, <strong>das</strong>s die Brüder <strong>Jesu</strong><br />

zu dessen Lebzeiten nicht zu seinen Anhängern zählten, siedelt <strong>das</strong> Johannesevangelium<br />

sie unter den Wundergläubigen am Rand der Bewegung an. 1<br />

Bekannt aber waren die Brüder auch den Synoptikern. Sie erwähnen sie im<br />

Zusammenhang mit der Verwerfung <strong>Jesu</strong> in seiner Vaterstadt. Markus und<br />

Matthäus nennen sogar ihre Namen: Jakobus, Simeon, Ju<strong>das</strong> und Joseph beziehungsweise<br />

Joses. In den Briefen des Paulus sowie in der Apostelgeschichte<br />

stoßen wir auf weitere Hinweise darauf, <strong>das</strong>s sie an der durch die Auferstehung<br />

<strong>Jesu</strong> ausgelösten Bewegung eng beteiligt waren. So erwähnt Paulus in<br />

1Kor 9,5f. Brüder <strong>Jesu</strong>, die in Begleitung ihrer Frauen <strong>als</strong> Missionare unterwegs<br />

sind. Die in 1Kor 15,7 angeführte Erscheinung des Auferstandenen vor<br />

einem nicht näher bestimmten Jakobus dürfte sich auf den Herrenbruder beziehen.<br />

Die Jakobusklauseln<br />

Der Herrenbruder Jakobus scheint in allen frühchristlichen Kreisen großes<br />

Ansehen genossen zu haben. Paulus galt er bereits <strong>als</strong> apostolische Autorität,<br />

<strong>als</strong> er seinen Antrittsbesuch bei Petrus in Jerusalem machte (Gal 2). Den Worten<br />

des Lukas ist zu entnehmen, <strong>das</strong>s Jakobus kurze Zeit später, <strong>als</strong> Petrus im<br />

Zuge der Verfolgung unter Agrippa I flüchten musste, die Leitung der Jerusalemer<br />

Gemeinde übernahm (Apg 12). Auf dem Aposteltreffen, <strong>das</strong> in den<br />

Vierziger Jahren in Jerusalem stattfand und auf dem Paulus und Barnabas sich<br />

mit den Aposteln über die gesetzesfreie Mission unter den Heiden besprachen,<br />

trat er <strong>als</strong> der maßgebliche Verhandlungspartner auf, obgleich Petrus und<br />

Johannes anwesend waren. Seiner umsichtigen Führung ist es zu verdanken,<br />

<strong>das</strong>s die überfordert wirkenden Jerusalemer Christen anerkannten, <strong>das</strong>s Heidenchristen<br />

durch ihren Glauben erlöst werden und deshalb nicht zur<br />

———————<br />

1 Joh 2,1–12 und 7,1–13 dürften Überlieferungen der Semeiaquelle spiegeln. Siehe PRAT-<br />

SCHER 24–27.


<strong>Verwandte</strong> <strong>Jesu</strong> 33<br />

Einhaltung des ganzen Mosaischen Gesetzes verpflichtet werden sollten. Die<br />

gesetzesfreie Mission unter Heiden –aber nur dort! –war somit offiziell<br />

anerkannt. Auf Vorschlag des Jakobus wurden die sogenannten Jakobusklauseln<br />

formuliert und <strong>als</strong> Anweisung der Apostel und Ältesten von den Gemeindegliedern<br />

Ju<strong>das</strong> und Silas per Brief der Antiochenischen Gemeinde und ihren<br />

Tochtergemeinden in Syrien und Kilikien überbracht (Apg 15). 2<br />

Diese Klauseln prägen ganz entscheidend <strong>das</strong> neutestamentliche Jakobusbild.<br />

Im Einzelnen handelt es sich um die Verbote Ersticktes (d.h. Fleisch aus<br />

nicht-koscherer Schlachtung) zu essen, Unzucht zu treiben (d.h. mit nahen<br />

<strong>Verwandte</strong>n eine geschlechtliche Beziehungen zu haben), Blut zu verzehren<br />

und am Götzendienst teilzunehmen. In seinen Anweisungen bezeichnet Jakobus<br />

die Klauseln <strong>als</strong> notwendig (�����������), um die Heidenchristen vor Befleckung<br />

(�������������) zu schützen. Dieser Begriff, der im NT nur an dieser<br />

Stelle auftritt, wurde wohl von Daniel LXX geprägt, wo er <strong>als</strong> Verb gleich<br />

mehrm<strong>als</strong> vorkommt und sich auf die mögliche Verunreinigung Daniels an<br />

Tafel und Becher des Königs bezieht. Es ist deshalb anzunehmen, <strong>das</strong>s die<br />

Klauseln den Heidenchristen eine gewisse kultische Reinheit vermitteln und<br />

damit wohl auch <strong>das</strong> Zusammenleben von Heiden- und Judenchristen in gemischten<br />

Gemeinden wie Antiochien ermöglichen sollte.<br />

Hinsichtlich der Tischgemeinschaft aber herrschte in der Jerusalemer Gemeinde<br />

Uneinigkeit. Dies zeigt sich beim sogenannten „Zwischenfal in Antiochien“,<br />

den Paulus in Gal 2 erwähnt und der sich zeitlich nach dem Trefen<br />

in Jerusalem ereignet haben dürfte: In den galatischen Gemeinden waren<br />

Judenchristen aufgetaucht, die auf die Beschneidung der dortigen Heidenchristen<br />

und die volle Beachtung des jüdischen Gesetzes pochten. Paulus berichtet<br />

seinen dortigen Schützlingen voller Empörung, <strong>das</strong>s auch in Antiochien<br />

Männer aus Jerusalem aufgetreten seien, die unter Berufung auf Jakobus<br />

die dort praktizierte Tischgemeinschaft <strong>als</strong> nicht statthaft unterbunden und<br />

dadurch einen großen Streit zwischen ihm, Paulus, einerseits und Petrus und<br />

Barnabas andererseits ausgelöst hätten. Dieser Streit dürfte dann dazu geführt<br />

haben, <strong>das</strong>s Paulus enttäuscht die Stadt verließ, während Petrus noch geraume<br />

Zeit blieb und selbst eine leitende Funktion ausübte. 3<br />

Paulus zufolge wurde auf die Bite der „drei Säulen“ hin auf dem Apostelkonzil<br />

vereinbart, <strong>das</strong>s er und Barnabas in ihren Gemeinden eine Kollekte <strong>für</strong><br />

die „Armen“ (nach Röm 15,26 und 1Kor 16,3 die Jerusalemer Gemeinde)<br />

erheben sollten (Gal 2,10). Während er von den Klauseln nichts gewusst zu<br />

———————<br />

2 Die Klauseln werden nur von Lukas erwähnt und <strong>als</strong> Ergebnis der Verhandlungen des<br />

Apostelkonzils dargestellt. Einiges deutet aber darauf hin, <strong>das</strong>s sie später in der Jerusalemer<br />

Gemeinde formuliert wurden. Zwar wird man annehmen müssen, <strong>das</strong>s sie Paulus irgendwann<br />

mitgeteilt wurden (vielleicht im Zusammenhang mit dem sogenannten Antiochenischen Zwischenfall),<br />

doch vermitteln seine Briefe nicht den Eindruck, <strong>das</strong>s er sie je seinen Gemeinden<br />

empfohlen hätte. Siehe auch Anm. 6.<br />

3 Siehe Origenes, In Lucam Hom. 6c und Euseb, Hist. eccl. 3.36.2.


34<br />

Lambers-Petry<br />

haben scheint, nahm er dieses Versprechen sehr ernst (1Kor 16,1–4; 2Kor<br />

9,12). Nach Röm 15,31 war <strong>das</strong> Überbringen der Kollekte sogar der einzige<br />

Grund <strong>für</strong> seine verhängnisvolle letzte Reise nach Jerusalem. 4 Offensichtlich<br />

war sie <strong>für</strong> ihn <strong>das</strong> Symbol der Einheit der Kirche und der Verbundenheit seiner<br />

Misionsgemeinden mit den „Heiligen“ der Jerusalemer Urgemeinde. Die<br />

Angaben des Galaterbriefes werfen Zweifel hinsichtlich der Vereinbarung der<br />

Klauseln auf dem Apostelkonzil auf; sie vermitteln vielmehr den Eindruck,<br />

die Klauseln seien erst später und in Abwesenheit des Paulus in Jerusalem<br />

formuliert und diesem danach aufgezwungen worden. 5<br />

Zehn Jahre etwa nach dem Jerusalemer Treffen kam Paulus nach Jerusalem<br />

zurück, um die Sammlung zu überbringen. Wiederum wandte er sich an den<br />

Herrenbruder, der ihm riet, einige zur Gemeinde gehörenden Nasiräer auszulösen<br />

und somit den Gerüchten über seinen angeblichen Abfall vom Gesetz<br />

entgegenzuwirken (Apg 21,23). Diese Auslösung galt <strong>als</strong> eine fromme Tat,<br />

war gleichzeitig aber auch eine kostspielige Angelegenheit. Es ist gut denkbar,<br />

<strong>das</strong>s Paulus hier die Kollekte investieren musste. Jakobus hätte sich damit<br />

in dieser heiklen Situation <strong>als</strong> geschickter Diplomat erwiesen, der die offensichtlich<br />

berechtigte Be<strong>für</strong>chtung des Paulus, seine Kollekte könne in Jerusalem<br />

abgelehnt werden (Röm 15,31), in eine <strong>für</strong> beide Seiten akzeptable Ehrenpflicht<br />

abwandelte. Auch kam die Kollekte der paulinischen Gemeinden –<br />

wie vereinbart –den Bedürftigen der Gemeinde zu Gute.<br />

Auf die Hintergründe des Apostelkonzils sowie die Umstände und Überlegungen,<br />

die zur Einführung der Kollekte und zur Formulierung der Jakobusklauseln<br />

geführt haben, während des Konzils oder später, kann im Rahmen<br />

dieser Untersuchung nicht eingegangen werden. Rückblickend kann auch<br />

kaum noch beurteilt werden, wo und wie lange die Klauseln beachtet wurden<br />

und welche Formen des Zusammenlebens sie ermöglichten. Wir sollten aber<br />

bedenken, <strong>das</strong>s die Diskussion um die Einhaltung jüdischer Gebote in christlichen<br />

Kreisen noch Mitte des 2. Jahrhunderts andauerte und der in Rom<br />

lebende Kirchenvater Justin, ein Heidenchrist, sich nachdrücklich im Sinn der<br />

Klauseln und damit <strong>für</strong> die Einheit aller Gläubigen aussprach (Dial. 47.1–4). 6<br />

———————<br />

4 Der Beschluss des Paulus, nach Jerusalem zu reisen, wird in der Apostelgeschichte nicht<br />

weiter begründet und auch nirgendwo mit einer Kollekte in Verbindung gebracht. Nach 20,16<br />

wollte er rechtzeitig zum Wochenfest (�����������) dort sein.<br />

5 Spannungen dieser Art werden im offiziellen Schreiben an die gemischten Gemeinden<br />

angesprochen (Apg 15,24). Auch dies spricht da<strong>für</strong>, <strong>das</strong>s die Klauseln erst nach dem sogenannten<br />

Antiochenischen Zwischenfall (Gal 2,11–21) <strong>als</strong> verbindliche Forderung formuliert<br />

wurden, ohne die Beteiligung des Paulus. Lukas dürfte, wie so manchmal, den historischen<br />

Sachverhalt in seiner Darstellung aus apologetischen Gründen harmonisiert und vereinfacht<br />

haben.<br />

6 Spuren sind u. a. vorhanden in Off 2,14.20.25, in Did. 6.3, in einem 177 n.Chr. datierten<br />

Märtyrerbrief bei Euseb, Hist. eccl. 5.1.26 und in PsCl. Hom. 7.8.1.


<strong>Verwandte</strong> <strong>Jesu</strong> 35<br />

Festhalten wollen wir auch, <strong>das</strong>s die Bedeutung des Jakobus <strong>für</strong> die Entwicklung<br />

des frühen Christentums von Paulus und Lukas anerkannt wird.<br />

Allerdings wird er von beiden mit einem stets konservativer werdenden <strong>Judenchristentum</strong><br />

in Verbindung gebracht, <strong>das</strong> zwar <strong>Jesu</strong>s <strong>als</strong> den Messias anerkennt,<br />

aber entschlossen an Gesetz und Tempelfrömmigkeit festhält. Im Lauf<br />

der Zeit sollten diese Gruppen von den stets einflussreicher werdenden Heidenchristen<br />

wie auch von jüdischer Seite zumeist <strong>als</strong> häretisch abgelehnt und<br />

marginalisiert werden.<br />

Der Jakobusbrief<br />

Das Jakobusbild des Neuen Testaments wird entscheidend von einem Brief<br />

mitgeprägt, der den Anspruch erhebt, von Jakobus, dem Knecht Gottes und<br />

des Herrn <strong>Jesu</strong>s Christus, geschrieben worden zu sein. Dass mit diesem Jakobus<br />

der Herrenbruder gemeint ist, ist nahezu unbestritten. Der Brief richtet<br />

sich formal an die „zwölf Stämme in der Zerstreuung“. Hinter dieser gewichtigen<br />

Anrede zeichnen sich Gläubige ab, die sich innerhalb eines synagogenähnlichen<br />

Verbandes zu Christus bekennen und Anfechtungen ausgesetzt<br />

sind. 7 Der Schreiber, der sich in 3,1f <strong>als</strong> Lehrer bezeichnet, mahnt zu Geduld<br />

und Weisheit und befasst sich paradigmatisch mit der gewissenhaften Gestaltung<br />

einer persönlichen und gemeinschaftlichen christlichen Existenz zwischen<br />

Taufe und Endgericht. Die jüdische Prägung des Rundschreibens, insbesondere<br />

seine Nähe zur jüdischen Weisheitsliteratur, wird allgemein anerkannt.<br />

Er setzt an mehreren Stellen Kenntnisse der heiligen Schrift voraus<br />

(������������������). Der ������wird nachdrücklich <strong>als</strong> Richtschnur verstanden,<br />

nach welcher der Mensch, „in den der ������eingepflanzt ist“ (Jak 1,21),<br />

einmal beurteilt werden wird. Der Christ soll nicht nur hören und verstehen,<br />

sondern logosgemäß handeln, <strong>das</strong> heißt gemäß dem Namen, auf den er getauft<br />

ist, und aus dem „volkommenen Gesetz der Freiheit“ heraus (Jak 1,25 und<br />

2,12). 8 Dies bedeutet, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> überlieferte Gesetz nicht mehr auferlegt ist,<br />

sondern durch den Glauben an <strong>Jesu</strong>s Christus und seine bevorstehende<br />

Wiederkunft bewirkt wird. Wie die Beispiele zeigen, fällt der Nachdruck<br />

dabei auf <strong>das</strong> Moralgesetz. In dieser Verschiebung der Perspektiven liegt der<br />

Unterschied zu den herkömmlichen Lehren des Judentums, und dürfen die<br />

Adressaten sich gemeinsam mit Jakobus durch ihren geduldigen Widerstand<br />

———————<br />

7 Der Verfasser des Jakobusbriefes ist der einzige im NT, der die Versammlung der Gläubigen<br />

<strong>als</strong> ���������bezeichnet (2,2). Er nennt sie auch ����������, deren ������������mit<br />

den Gläubigen zusammenkommen um zu beten und rituelle Handlungen durchzuführen<br />

(5,14).<br />

8 Das Gesetz <strong>als</strong> befreiend zu verstehen, entspricht stoischer Lehre. Philo übertrug sie auf<br />

<strong>das</strong> mosaische Gesetz und lobte den ������<strong>als</strong> Befreiung vom ������(Prob. 41–50). Siehe<br />

auch mAv 6.2. Nach dem Jakobusbrief befreit nicht <strong>das</strong> Halten des Gesetzes an sich, sondern<br />

seine Verinnerlichung befreit zum rechten Handeln.


36<br />

Lambers-Petry<br />

gegenüber dem Bösen und durch ihre tätige Liebe <strong>als</strong> „Erstlinge seiner<br />

Geschöpfe“ (Jak 1,18) begreifen.<br />

Seine Aufmachung <strong>als</strong> Diasporabrief suggeriert die Herkunft des Briefes<br />

aus Jerusalem, die synagogale Struktur der angesprochenen Gemeinden und<br />

die Bezeichnung der Gemeindeleiter <strong>als</strong> „Älteste“ einen judenchristlich geprägten<br />

Kontext. 9 Dass Fragen der kultischen Pflichten von Heidenchristen<br />

hier nicht angeschnitten, frühe (mündliche) <strong>Jesu</strong>straditionen nicht <strong>als</strong> Herrenworte<br />

gekennzeichnet werden und Hinweise auf die eschatologische Bedeutung<br />

von Tod und Auferstehung <strong>Jesu</strong> fehlen, könnte <strong>für</strong> eine relativ frühe<br />

Entstehung sprechen. Die Erwähnung der (exorzistischen) Krankenölung „im<br />

Namen des Hern“ durch die Presbyter der Ecclesia (5,14), die keine deutliche<br />

jüdische Parallele hat, setzt allerdings eine erste Phase der Entwicklung spezifisch<br />

christlicher Riten voraus. 10<br />

Obwohl viele dieser Eindrücke durchaus zu dem Jakobusbild passen, <strong>das</strong><br />

auch Paulus und die Apostelgeschichte vermitteln, halten die meisten Forscher<br />

den Herrenbruder nicht <strong>für</strong> den Verfasser der Schrift. Ihre Hauptargumente<br />

sind die ausgezeichnete griechische Rhetorik des Briefes, die man dem<br />

Herrenbruder nicht recht zugestehen möchte, <strong>das</strong> Fehlen von Hinweisen auf<br />

eine persönliche Beziehung zu <strong>Jesu</strong>s, seine späte Bezeugung und seine damit<br />

verbundene zögerliche Aufnahme in den Kanon. Statt dessen wird vielfach<br />

angenommen, es handle sich um ein pseudepigraphisches Werk aus späterer<br />

Zeit. 11<br />

Wie auch immer, <strong>das</strong> Schreiben stammt aus der Feder eines Christen, der<br />

ein jüdisch gefärbtes Referenzsystem handhabt. Obgleich der Verfasser weiß<br />

oder vermutet, <strong>das</strong>s seine Adressaten Berührungen mit Lehren paulinischer<br />

Prägung haben, kann er die Autorität des Jakobus <strong>als</strong> unbestritten voraussetzen<br />

und mit ihrer Hilfe eine Lehre korrigieren, welche ausschließlich den<br />

Glauben des Christen im Auge hat, nicht aber seine praktischen Konsequenzen.<br />

Als Adressaten kommen deshalb in erster Linie judenchristliche und judenchristlich<br />

geprägte Gemeinden im Geltungsbereich des Aposteldekrets in<br />

Frage, nämlich Kleinasien, Kilikien und Syrien. Wahrscheinlich war der Brief<br />

aber auch an Gemeinden im ägyptischen Raum gerichtet, wo petrinisch und<br />

paulinisch geprägte Traditionen erst nach den jakobeischen Fuß fassten und in<br />

———————<br />

9 Bischöfe und Diakone gehören zur Organisation der frühen paulinischen Gemeinde, die<br />

ihrerseits keine Ältesten kennt. Diese werden lediglich erwähnt im Jak, 1 Petr, Apg und Apk,<br />

die wiederum keine Bischöfe und Diakone nennen.<br />

10 Dabei kommt nicht dem Öl die wunderwirkende Kraft zu, sondern der Ölung unter<br />

Gebet und Anrufung des Namens Christi durch die Presbyter. Näheres siehe DIBELIUS 299f.<br />

Schon <strong>das</strong> auf Petrustraditionen basierende Markusevangelium berichtet, <strong>das</strong>s die Jünger nach<br />

ihrer Aussendung Dämonen austrieben und Kranke durch Salbung mit Öl genasen (Mk 6,13).<br />

11 Für den Herrenbruder <strong>als</strong> Verfasser sprechen sich aus: HENGEL (1987), ADAMSON<br />

(1989), BAUCKHAM (1999), MOO (2000). DIBELIUS (1920), BURCHARD (1980), FRANKEMÖLLE<br />

(1994) und TSUJI (1997) halten dies <strong>für</strong> unwahrscheinlich und datieren den Brief viel später.


<strong>Verwandte</strong> <strong>Jesu</strong> 37<br />

dem die apostolische Sukzession keine wesentliche Rolle spielte. Ähnlichkeiten<br />

mit christlicher Literatur römischer Herkunft (Hirte des Hermas, Erster<br />

Clemensbrief) könnten da<strong>für</strong> sprechen, <strong>das</strong>s der Brief bereits zur Jahrhundertwende<br />

in Rom bekannt war.<br />

Der Ju<strong>das</strong>brief<br />

Auch der Verfasser des Ju<strong>das</strong>briefes erhebt den Anspruch, zur Familie des<br />

Herrn zu gehören. 12 Er nennt sich „Ju<strong>das</strong>, ein Knecht <strong>Jesu</strong> Christi, Bruder aber<br />

des Jakobus“ und dürftedamit einen der Herrenbrüder meinen, die Paulus in<br />

1Kor 9,5 erwähnt. An dieser Stelle schreibt Paulus über die Rechte der Apostel<br />

auf Unterhalt durch die besuchte Gemeinde und setzt dabei <strong>als</strong> bekannt<br />

voraus, <strong>das</strong>s die Herrenbrüder <strong>als</strong> Missionare mit ihren Ehefrauen umherreisen.<br />

Dieser Hinweis lässt die Existenz eines von ihm auf Griechisch verfassten<br />

Rundschreibens grundsätzlich plausibel erscheinen. Wie beim Jakobusbrief<br />

ist aber auch hier die sprachliche Qualität des Briefes ein viel gebrauchtes<br />

Argument gegen einen Herrenbruder <strong>als</strong> Verfasser.<br />

Auf Grund seiner Benutzung durch 2Petr darf man annehmen, <strong>das</strong>s der<br />

Ju<strong>das</strong>brief noch im ersten Jahrhundert entstanden ist. Wie der Jakobusbrief<br />

war er eine Zeit lang umstritten (Euseb, Hist. eccl. 2.23 und 3.25), doch wurde<br />

er schon vom Kanon Muratori, Tertullian und Clemens von Alexandrien<br />

(nach Euseb, Hist. eccl. 6.6, in dessen Stromateis) <strong>als</strong> kanonisch anerkannt.<br />

Euseb und Hieronymus beanstanden seine Verwendung apokrypher jüdischer<br />

Schriften. 13<br />

Da <strong>das</strong> Neue Testament keinerlei Einzelheiten zur Person des Herrenbruders<br />

Ju<strong>das</strong> bereithält, ist unser Ju<strong>das</strong>bild stark vom Ju<strong>das</strong>brief, einem der<br />

kleinsten des neutestamentlichen Kanons, und seinem bescheiden anmutenden<br />

Autoritätsanspruch geprägt: Inhaltlich befast der Brief sich mit dem „christlichen“<br />

Libertinismus, einer vor- oder frühgnostischen Erscheinung, die der<br />

breiten gnostischen Bewegung des zweiten und dritten Jahrhunderts den Weg<br />

bereitete. Ju<strong>das</strong> protestiert gegen dessen Lehren, da sie dem „festgelegten“,<br />

apostolischen Glauben (V. 3) widersprächen und von Betrügern, die <strong>als</strong> wandernde<br />

Charismatiker aufgetreten waren, in die Gemeinde hineingetragen<br />

worden seien. Genaueres kann aus der Polemik nur erschlossen werden: Die<br />

Libertinisten lehnten offensichtlich jegliches Gesetz, ob es nun von Moses (V.<br />

8–10) oder <strong>Jesu</strong>s (V. 4 und 8) herrührte, ab und propagierten statt dessen die<br />

moralische Unabhängigkeit derer, die den „Geist“ besitzen (V. 9 und 19). Der<br />

Akzent des Briefes liegt auf der Bloßstellung ihrer Vertreter <strong>als</strong> unmoralisch.<br />

———————<br />

12 Die Identifizierung mit anderen Personen des gleichen Namens scheitert daran, <strong>das</strong>s aus<br />

neutestamentlicher Zeit kein anderes Brüderpaar Ju<strong>das</strong> und Jakobus bekannt ist.<br />

13 KÜMMEL, Einleitung, 377f.


38<br />

Lambers-Petry<br />

Ju<strong>das</strong> nennt sie wiederholt „Gotlose“ (���������, V. 4, 15, 18) und wirft ihnen<br />

vor, die Gnade Gottes in Ausschweifungen zu verkehren (V. 4). Mit der Bezeichnung<br />

„Träumer“ (����������������, V. 8) spielt er auf ekstatische Offenbarungsvisionen<br />

an, durch die sie „ihr Fleisch befleckten“ (V. 8). Auch wirft<br />

er ihnen vor, Unzucht zu treiben wie die Leute von Sodom und Gomorra (V.<br />

7), sich über die Engelsmächte hinwegzusetzen (V. 8) und die von Engeln<br />

begleitete Parusie Christi zum Gericht zu leugnen (V. 14f.). 14<br />

Durch die autoritative Inanspruchnahme der Assumptio Mosis (V. 9) und<br />

des Henochbuches 15 (V. 14) sowie die Anspielungen auf alttestamentliche Legenden<br />

(V. 6), erweist sich der Verfasser <strong>als</strong> Apokalyptiker. Sein besonderes<br />

Interesse <strong>für</strong> die Henochsche Engellehre, deren Kenntnis er auch bei seinen<br />

Adressaten voraussetzt, situiert ihn am ehesten in den syrisch-palästinischen<br />

Raum, wo sich diese Traditionen besonderer Beliebtheit erfreuten. 16 Vermutlich<br />

reflektiert er die theologischen Auseinandersetzungen Kleinasiens, die<br />

auch in den Sendschreiben der Offenbarung aufgegriffen werden. Falls der<br />

Herrenbruder nicht selbst der Verfasser war, so spricht doch die Verwendung<br />

seines Namens <strong>für</strong> sein Ansehen in Kreisen, die sich gegen libertinistische<br />

Tendenzen wehren wollten und dabei gleichermaßen an der Autorität der<br />

Apostel sowie an der des Jakobus anknüpften.<br />

Traditionen über <strong>das</strong> Martyrium des Jakobus und des Symeon<br />

Der älteste außerkanonische Hinweis auf Jakobus und sein Ansehen in Jerusalem<br />

stammt von dem jüdischen Priester und Geschichtsschreiber Josephus<br />

(Ant. 20.197–203). Bei der Beschreibung der politischen Situation in Jerusalem<br />

am Vorabend des großen jüdisch-römischen Krieges erwähnt dieser auch<br />

die Steinigung des Jakobus, „des Bruders des <strong>Jesu</strong>s, der auch Christus genannt<br />

wurde“, sowie einiger anderer Männer durch den gerade ernannten sadduzäischen<br />

Hohenpriester Ananus II. Dieser war ein Sohn des einflussreichen<br />

Hohenpriesters Ananus I (Hannas), der uns aus dem NT <strong>als</strong> Agitator gegen<br />

<strong>Jesu</strong>s bekannt ist. Nach Josephus wurde die Aktion von angesehenen, gesetzestreuen<br />

Bürgern Jerusalems <strong>als</strong> Amtsmissbrauch beziehungsweise Amtsübergriff<br />

denunziert. Dies führte dazu, <strong>das</strong>s Agrippa II den Hohenpriester<br />

———————<br />

14 Die Verbindung von Ekstase und Engeln finden wir auch bei Paulus. In 1Kor 11,10<br />

schreibt er den Frauen vor, sich während des prophetischen Betens <strong>das</strong> Haar zu bedecken,<br />

damit die gefallenen Engel nicht verführt würden, mit ihnen in Gemeinschaft zu treten und so<br />

die göttliche Ordnung zu schänden. Die Engel galten im Frühjudentum <strong>als</strong> Sachwalter des<br />

Gesetzes (Apg 7; Gal 3,19).<br />

15 BAUCKHAM, Relatives, 140f. vermutet die Verwendung der aramäischen Version und<br />

sieht darin einen Hinweis auf einen palästinischen Verfasser.<br />

16 VANDERKAM 87 nennt <strong>als</strong> Zeugen „Jude, Justin, Tatian, Bardaisan, Acts of Thomas, the<br />

Clementine Literature, Africanus for a time“ und weist auch auf ihre weite Verbreitung im<br />

Römischen Reich hin.


<strong>Verwandte</strong> <strong>Jesu</strong> 39<br />

spontan wieder absetzte. Die Verurteilung des Jakobus durch einen Sadduzäer<br />

und die folgenreichen Proteste einer mächtigen Opposition verweisen nicht<br />

nur auf einen gedanklichen Austausch mit den religiösen Strömungen des damaligen<br />

Judentums und deren unterschiedliche Reaktionen, sondern suggerieren<br />

auch, <strong>das</strong>s zumindest Ananus II, möglicherweise aber auch Agrippa II,<br />

seinen weiteren Einfluss um jeden Preis unterbinden wollte. 17 Die Erwähnung<br />

des Jakobus in einem jüdischen Geschichtswerk spricht <strong>für</strong> dessen Bekanntheit<br />

und Ansehen über die Gemeindegrenzen hinaus. Josephus, der ja aus<br />

Jerusalem stammte, könnte sogar Zeuge dieser Hinrichtung gewesen sein.<br />

Eine ausführlichere Darstellung des Martyriums des Jakobus finden wir in<br />

den Hypomnêmata des Kirchenvaters Hegesipp, dem judenchristliche Lokaltraditionen<br />

zur Verfügung gestanden haben dürften. 18 Er beschreibt eindrucksvoll<br />

die fremdartige, nasiräisch anmutende Lebensweise des Herrenbruders<br />

(Verzicht auf Fleisch, Alkohol, Körperöl und Haarschneiden) und seine<br />

levitische Frömmigkeit, die sich in anhaltenden Fürbitten im Tempel <strong>für</strong> sein<br />

Volk äußerte und ihm die jüdische Ehrenbezeichnung „Zadik“ eingebracht<br />

habe. Dieses Ansehen beim Volk sei ihm zum Verhängnis geworden: Als er<br />

sich in aller Öffentlichkeit unerschrocken zu <strong>Jesu</strong>s <strong>als</strong> dem kommenden<br />

Menschensohn bekannt und dies massenhafte Bekehrungen ausgelöst habe,<br />

häten die „die Schriftgelehrten und Pharisäer“ spontan beschlosen, ihn zu<br />

töten. 19 Hegesipp bezeugt die Verankerung der Erinnerung an Jakobus in<br />

jüdischen Motiven, insbesondere dem priesterlichen, <strong>das</strong> durch den Titel „der<br />

Gerechte“, mit dem auch der legendäre Hohepriester Simeon 20 geehrt wurde,<br />

noch betont wird. Er zieht aber auch beliebte Motive aus den Märtyrertraditionen<br />

der frühen Kirche heran, um <strong>das</strong> dreifache Martyrium des Jakobus<br />

(Steinigung, Sturz, Erschlagung) darzustellen. Jakobus wird hier zum Parademärtyrer<br />

der Jerusalemer Gemeinde stilisiert, mit einem Grab in unmittelbarer<br />

Nähe des Tempels.<br />

Jakobus wird von Hegesipp <strong>als</strong> Garant der reinen Lehre hervorgehoben.<br />

Erst durch die Eifersüchteleien eines gewissen Thebutis, der gehofft hatte,<br />

sein Nachfolger zu werden, sei es in der Jerusalemer Kirche zu Unstimmigkeiten<br />

gekommen und seien die judenchristlichen Häresien<br />

———————<br />

17 Agrippa II hatte keinerlei Rechtsbefugnisse in Judäa, genoss aber <strong>das</strong> Privileg, den<br />

Hohenpriester ernennen zu dürfen. Für die Amtseinsetzung des Ananus war nach Josephus<br />

der unerwartete Tod des Prokurators Festus und die damit verbundene Vakanz in der Statthalterschaft<br />

ausschlaggebend. Ananus handelte, <strong>als</strong> er Jakobus steinigen ließ, ohne römische<br />

Erlaubnis und musste dann auch seine Absetzung hinnehmen.<br />

18 Von den Hypomnêmata (ca. 180 n.Chr.) sind lediglich einige Zitate erhalten, bis auf<br />

zwei Ausnahmen alle in der Hist. eccl. des Euseb.<br />

19 Die Gegner des Jakobus sind nicht mehr wie bei Josephus der Hohepriester und der<br />

Sanhedrin, sondern die Pharisäer und Schriftgelehrten, die in der Zeit Hegesipps die Gegner<br />

des <strong>Judenchristentum</strong>s verkörperten.<br />

20 Simeon der Gerechte kann mit Josephus, Ant. 12.43 mit dem Hohenpriester Simeon I<br />

oder mit Ben Sira 50,1-6 mit Simeon II identifiziert werden.


40<br />

Lambers-Petry<br />

(�����������������������������) entstanden (Hist. eccl. 4.22.5f). Euseb zitiert aus<br />

den Hypomnêmata, um die apostolische Sukzession innerhalb der<br />

Urgemeinde nachzuweisen, <strong>für</strong> die er wohl sonst keine Überlieferung vorfand.<br />

Allerdings ist diesen auch zu entnehmen, <strong>das</strong>s bei der Regelung der Nachfolge<br />

des Jakobus <strong>das</strong> Familiencharisma eine größere Rolle spielte <strong>als</strong> apostolische<br />

Kompetenz: Er wiederholt auch Hegesipps Notiz, <strong>das</strong>s die noch<br />

lebenden Apostel und <strong>Verwandte</strong>n <strong>Jesu</strong> nach Jerusalem gekommen seien und<br />

einstimmig Symeon gewählt hätten, weil er ein Vetter <strong>Jesu</strong> war. Sein Vater<br />

Klopas sei ein Onkel des Herrn gewesen (Hist. eccl. 4.22.4f), seine Mutter die<br />

in Joh 19,25 genannte Maria, (Frau) des Klopas (Hist. eccl. 3.32.4). An<br />

anderer Stelle paraphrasiert Euseb dieses Zitat und fügt hinzu, der genannte<br />

Klopas sei ein Bruder Josephs gewesen und schon im Evangelium erwähnt<br />

worden (Hist. eccl. 3.11, eine Anspielung auf die Emmaus-Szene in Lk 24,13-<br />

35). 21 Euseb könnte sich hier natürlich auf Hegesipp stützen. Es entspräche<br />

aber auch sehr seinem eigenen apologetischen Interesse, Symeon bzw. seinen<br />

Vater in einem anerkannten Evangelium zu verankern, um <strong>für</strong> die<br />

<strong>Verwandte</strong>nwahl apostolisches Rückgrat zu schaffen. Hegesipp brauchte<br />

diese Verbindung noch nicht: Für ihn war die Rechtmäßigkeit der Nachfolge<br />

durch die Wahl und die Verwandtschaft garantiert.<br />

Wenn Symeon die Gemeinde tatsächlich 40 Jahre lang leitete, erlebte er<br />

noch die wachsenden Spaltungen innerhalb der Gemeinde und den Bruch mit<br />

dem Judentum, bevor auch er dann unter Kaiser Trajan <strong>das</strong> Martyrium erlitt<br />

(Hist. eccl. 3.32.6). In einem Bericht, der ebenfalls von Hegesipp überliefert<br />

wird und stark legendarische Züge trägt, ist von einer allgemeinen Verfolgung<br />

der Angehörigen des „Hauses David“ unter Trajan die Rede, bei der auch<br />

Symeon –120jährig 22 –nach tagelangen Qualen gekreuzigt worden sei. Der<br />

Kaiser hätte damit eine Reihe von Aktionen gegen potentielle politische<br />

Gegner fortgesetzt, die gleich nach der Eroberung Jerusalems von Vespasian<br />

begonnen (Hist. eccl. 3.12) und von dessen zweitem Sohn Domitian wieder<br />

aufgegriffen worden war. Nach Hegesipp waren im Verlauf dieser Verfolgung<br />

zwei Enkel des Herrenbruders Ju<strong>das</strong> von den „häretischen Gemeinschaften“<br />

<strong>als</strong> Davididen angezeigt und dem Kaiser vorgeführt worden. Dessen offensichtlich<br />

politisch motivierten Ängste seien angesichts ihrer relativen Armut<br />

aber zerstreut und die Enkel wieder freigelassen worden. Sie hätten danach <strong>als</strong><br />

Gemeindevorsteher großes Ansehen genossen (Hist. eccl. 3.19f). 23<br />

Von einem dynastisch bedingten Anspruch der Herrenbrüder auf religiöse<br />

Führungspositionen, wie noch vertreten von A. Schlatter (1898) und E.<br />

———————<br />

21 Es spricht aber auch wenig gegen die Möglichkeit, <strong>das</strong>s es sich hier um ganz alte<br />

Traditionen handelt.<br />

22 Diese Angabe hat symbolische Bedeutung: Es ist <strong>das</strong> Sterbealter Mose, in welchem der<br />

Überlieferung nach auch Hillel und Akiva starben. Siehe MANNS 136.<br />

23 Herodes der Große hatte wohl ähnliche Be<strong>für</strong>chtungen, <strong>als</strong> er die Archive mit den<br />

Aufzeichnungen der hebräischen Geschlechter verbrennen ließ (Euseb, Hist. eccl. 1.7.13).


<strong>Verwandte</strong> <strong>Jesu</strong> 41<br />

Stauffer (1952), wird heute kaum noch gesprochen. 24 Allerdings darf die Bedeutung<br />

der Abstammung, die schon durch die zahlreichen Genealogien des<br />

Alten Testaments <strong>für</strong> alle Schichten des israelischen Volkes belegt ist, bei der<br />

Betrachtung dieser Frage nicht unbeachtet bleiben: So wurde bis in die Zeit<br />

der hellenistischen Reform <strong>das</strong> Hohepriesteramt innerhalb der aaronitischzadokidischen<br />

Linie vererbt. Dies sollte die unverfälschte Weitergabe der<br />

vielfältigen und komplizierten Regeln und Riten garantieren, die <strong>für</strong> die Ausübung<br />

eines gültigen Tempeldienstes unerlässlich erschienen. Mit der Machtübernahme<br />

der Makkabäer geriet <strong>das</strong> Pontifikat in die hasmonäische Familie<br />

und wurde zeitweise gar an die Königswürde gekoppelt. 25 Die Herodianer<br />

schließlich nahmen sich zwar <strong>das</strong> Recht heraus, <strong>das</strong> Hohepriesteramt nach<br />

persönlichem Gutdünken immer wieder neu zu vergeben, mussten sich dabei<br />

aber auf Angehörige bestimmter Familien beschränken. Interessanter noch<br />

sind die Parallelen im rabbinischen Bereich, etwa <strong>das</strong>s die Leitung der Lehrschule<br />

Hillels durch <strong>das</strong> „Haus Hilel“ bis etwa 425 n.Chr. nachgewiesen werden<br />

kann und auch der Patriarch (Nasi) in der Regel aus dieser Familie<br />

stammte. Was nun die Angehörigen <strong>Jesu</strong> betrifft, so liegt aus dem frühen dritten<br />

Jahrhundert eine glaubwürdige Nachricht des aus Jerusalem gebürtigen<br />

Kirchenvaters Julius Afrikanus vor, der längere Zeit im judäischen Emmaus/<br />

Nikopolis lebte und wohl Zugang zu palästinisch-judenchristlichen Traditionen<br />

der Anfangszeit hatte. Nach dieser zogen nicht näher bezeichnete <strong>Verwandte</strong><br />

<strong>Jesu</strong>, die �����������(in Anlehnung an ����������Gebieter), von den<br />

galiläischen Dörfern Nazareth und Kokhaba aus durch <strong>das</strong> übrige Land. Sie<br />

sollen ein genealogisches Werk bei sich gehabt haben, <strong>das</strong> sogenannte „Buch<br />

der Tage“, mit desen Hilfe sie ihre (!) davidische Herkunft nachwiesen (Euseb,<br />

Hist. eccl. 1.7.14 und 3.11.19f., 23). Dies lässt durchaus dynastische<br />

Ambitionen vermuten und es ist gut möglich, <strong>das</strong>s sich in der Liste der Jerusalemer<br />

Bischöfe „aus der Beschneidung“ (Hist. eccl. 4.5) weitere <strong>Verwandte</strong><br />

<strong>Jesu</strong> verbergen.<br />

Die Brüder <strong>Jesu</strong> in den Schriften judenchristlicher<br />

Gemeinschaften des zweiten Jahrhunderts<br />

Erinnerungen an <strong>Verwandte</strong> <strong>Jesu</strong> sind am stärksten mit Traditionen verhaftet,<br />

die mit Palästina verbunden sind und von dort aus in die Diasporagemeinden<br />

der Grenzgebiete wirkten. Sie führen uns über <strong>das</strong> Gebiet der Dekapolis und<br />

Kleinasien nach Syrien, aber auch in den ägyptischen Raum, wo sie auf die<br />

verschiedenartigen Schattierungen und Herausforderungen des damaligen<br />

———————<br />

24 Gegen ein Kalifat sprechen sich VON CAMPENHAUSEN, und BAUCKHAM, Relatives, aus.<br />

25 Mit Ausnahme der Regierungszeit der Königin Salomé Alexandra, die <strong>als</strong> Frau dieses<br />

Amt nicht bekleiden konnte. Ihr ältester Sohn Hyrkan wurde Hoherpriester und galt damit <strong>als</strong><br />

ihr designierter Nachfolger.


42<br />

Lambers-Petry<br />

Diasporajudentums treffen. Aus der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts<br />

stammen die nur bruchstückhaft überlieferten Evangelien der judenchristlichen<br />

Gemeinschaften, die auch nach dem jüdisch-römischen Krieg und dem<br />

Bar-Kochba-Aufstand an Gesetz und Beschneidung festhielten. Dass sie einst<br />

über weitere Schriften verfügten, darf angenommen werden. Judenchristliche<br />

Gemeinden werden in der sie zumeist ablehnenden Literatur oft zusammenfasend<br />

<strong>als</strong> „ebionitisch“ bezeichnet, obgleich zwischen ihnen Unterschiede<br />

insbesondere christologischer Art bestehen. Die Zuordnung von Zitaten zu<br />

den jeweiligen Schriften ist nicht immer eindeutig, ja wir können nicht einmal<br />

mit Sicherheit sagen, wieviele judenchristliche Evangelien es gegeben hat. 26<br />

Von ihrer spärlichen Bezeugung sollte man aber nicht auf eine faktische<br />

Bedeutungslosigkeit des <strong>Judenchristentum</strong>s schließen. 27 Die ungenauen, zum<br />

Teil widersprüchlichen Angaben der Kirchenväter zu diesen Werken sowie<br />

ihre voreingenommenen Kommentare lassen vielmehr erkennen, wie oberflächlich<br />

die Kontakte waren und wie groß die Diversität innerhalb des <strong>Judenchristentum</strong>s.<br />

Das Nazaräerevangelium<br />

Das in Aramäisch verfasste Evangelium der in Galiläa, im Ostjordanland und<br />

im zölesyrischen Raum ansässigen Nazaräer 28 galt in kirchlichen Kreisen <strong>als</strong><br />

unbedenklich. Nach Hieronymus (ca. 347-419) war in der Bibliothek des<br />

Pamphilus in Caesarea eine Kopie vorhanden, und besaß er selbst eine<br />

Abschrift, die er von den Nazaräern der Stadt Beröa (dem heutigen Aleppo)<br />

bekommen haben will (Vir. ill. 3). Der Kirchenvater überliefert dann auch die<br />

meisten Fragmente dieses Evangeliums. Er betont, <strong>das</strong>s die in ihm enthaltenen<br />

Zitate aus der Hebräischen Bibel stammten, nicht aus der Septuaginta, und<br />

<strong>das</strong>s es von vielen <strong>für</strong> <strong>das</strong> vom Apostel Matthäus in hebräischer beziehungsweise<br />

aramäischer Sprache verfasste Evangelium gehalten werde. Diese Anschauung<br />

kann so allerdings nicht zutreffen, und es ist merkwürdig, <strong>das</strong>s Hieronymus,<br />

der behauptet, es selbst kürzlich ins Griechische übersetzt zu haben<br />

(Hieronymus, Comm. in Mt. 12.13), sie nicht bereits an dieser Stelle<br />

widerlegt. 29<br />

———————<br />

26 KLAUCK 62–72.<br />

27 STRECKER im Nachtrag zu BAUER 245f.<br />

28 Die Nazaräer umfassten neben ganz alten galiläischen Gemeinden wohl auch solche, die<br />

von Jerusalem aus gegründet worden waren, sei es durch geflüchtete oder missionierende<br />

Gemeindemitglieder. Sie scheinen sich vor allem in Richtung Norden ausgebreitet zu haben,<br />

in <strong>das</strong> Gebiet Zölesyriens. PRITZ 108–110 sieht in ihnen direkte Nachfahren der nach Pella<br />

geflüchteten Jerusalemer Gemeinde.<br />

29 Hieronymus orientierte sich wohl an einer Überlieferung des Papias aus dem frühen 2.<br />

Jh., die besagt, <strong>das</strong>s der Apostel Matthäus in aramäischer Sprache ein Evangelium geschrieben<br />

habe. Diese sicherte dem griechischsprachigen MtEv apostolische Verfasserschaft und


<strong>Verwandte</strong> <strong>Jesu</strong> 43<br />

Die zahlreichen Fragmente lassen in der Tat erkennen, <strong>das</strong>s es inhaltlich<br />

dem Matthäusevangelium ähnelte; möglicherweise handelte es sich um eine<br />

selbständige Um- bzw. Weiterbildung desselben. Wie die Synoptiker präsentiert<br />

<strong>das</strong> Evangelium der Nazaräer die Brüder <strong>Jesu</strong> <strong>als</strong> Kleingruppe, zu der<br />

auch Maria gehört. Anders <strong>als</strong> in diesen fordern sie <strong>Jesu</strong>s auf, sich gemeinsam<br />

mit ihnen von Johannes dem Täufer „zur Vergebung der Sünden“ taufen zu<br />

lassen, was <strong>Jesu</strong>s aber unter Berufung auf seine Sündlosigkeit lediglich <strong>für</strong><br />

den hypothetischen Fal einer „Unwisenheitsünde“ anzunehmen scheint<br />

(Hieronymus, Adv. Pel. 3.2).<br />

Das Ebionäerevangelium<br />

Die griechischsprachigen Ebionäer werden erstmalig um 180 von Irenäus erwähnt.<br />

30 Seinem Bericht nach benutzten sie ausschließlich <strong>das</strong> Matthäusevangelium,<br />

hielten an der Beschneidung, dem Gesetz sowie den jüdischen<br />

Lebensformen fest und schmähten Paulus <strong>als</strong> Apostaten (Haer. 1.26.2). Sie<br />

verwarfen die Jungfrauengeburt (Haer. 3.21.2) und verstanden die Gottessohnschaft<br />

Christi <strong>als</strong> Eingang des Heiligen Geistes in den Körper <strong>Jesu</strong> bei<br />

dessen Taufe durch Johannes (Haer. 5.1.3). Origenes zufolge lehnten sie die<br />

Heidenmission ab (Princ. 4.3.8).<br />

Die Ausführungen des Epiphanius (Pan. 30), dem Judenchristen generell<br />

suspekt waren, sind nicht nur die umfangreichsten, sondern auch die feindseligsten.<br />

Dabei hat er wohl weniger auf unabhängige Quellen zurückgegriffen,<br />

<strong>als</strong> vielmehr seinem antihäretischen Anliegen freien Lauf gelassen. Neben<br />

häretischem Synkretismus wirft er ihnen fehlende Einsicht in die religiöse Gedankenwelt<br />

der Evangelien und der Apostel vor. Darüber hinaus verspottet er<br />

sie <strong>als</strong> Asketen und Vegetarier, die zunächst „wegen Jakobus, dem Bruder des<br />

Hern“, den Zölibat gehalten, später aber die Ehe zur Pflicht gemacht häten.<br />

Epiphanius ist der einzige, der einige Fragmente ihres Evangeliums zitiert. Sie<br />

geben zu erkennen, <strong>das</strong>s es sich weder um <strong>das</strong> Matthäusevangelium (Irenäus)<br />

handelte, noch um <strong>das</strong> Evangelium der Nazaräer (Hieronymus), sondern um<br />

eine Art Evangelienharmonie ohne Kindheitsgeschichte. In den Zitaten<br />

kommen die Brüder <strong>Jesu</strong> zwar nicht vor, doch überliefert Epiphanius, <strong>das</strong>s die<br />

Ebionäer die (heute verschollene) Schrift ’���������� ’��������besonders<br />

schätzten, welche Jakobus zu Unrecht unterstelle, Tempelkult und Tieropfer<br />

abgelehnt zu haben (Pan. 30.16.6f).<br />

kanonische Autorität. Die widersprüchlichen Angaben des Hieronymus lassen vermuten, <strong>das</strong>s<br />

er <strong>das</strong> EvNaz entweder nicht besaß oder nicht in der Lage war, es zu lesen.<br />

30 Für eine ausführlichere Darstellung siehe die Beiträge von R. BAUCKHAM und J. VER-<br />

HEYDEN in diesem Band.


44<br />

Das Hebräerevangelium<br />

Lambers-Petry<br />

Die Bezeugung dieses Evangeliums durch Clemens (Strom. 2.9.45, 5.14.96),<br />

Origenes (Comm. in Joh. 2.12) und Didymus von Alexandrien (Comm in Pss.<br />

34) sowie inhaltliche Besonderheiten 31 weisen auf Ägypten <strong>als</strong> seine Heimat.<br />

32 Das griechischsprachige Milieu, in dem dieses Evangelium <strong>als</strong> <strong>das</strong> einzige<br />

anerkannt war, empfand Clemens noch <strong>als</strong> orthodox. Es sind nur sieben<br />

Fragmente erhalten. Obgleich die in ihnen enthaltenen Motive denen der<br />

synoptischen und johanneischen Evangelientradition ähneln, weicht ihre Darstellung<br />

stark von diesen ab. Manche Stellen tragen merkwürdig mythologische<br />

Züge (Fragmente 1 und 3). Das Evangelium verteidigt die jüdische Lehre<br />

von der Personifizierung der göttlichen Weisheit in verschiedenen Gestalten<br />

(Propheten und Boten), hier durch die Taufe in <strong>Jesu</strong>s. Dass es auch doketische<br />

Tendenzen abwehren musste, die <strong>Jesu</strong>s einen Scheinleib zuweisen wollten,<br />

zeigt der Hinweis auf <strong>das</strong> Leichentuch <strong>Jesu</strong> am Anfang von Fragment 7.<br />

Bei diesem letzten Fragment scheint es sich um den Höhepunkt des Evangeliums<br />

zu handeln. Ihm ist zu entnehmen, <strong>das</strong>s dem Herrenbruder Jakobus,<br />

der auch hier „der Gerechte“ genannt wird, eine zentrale Role zukommt:<br />

Entgegen den Darstellungen des Neuen Testaments ist er hier nicht nur beim<br />

letzten Abendmahl (mit Brot und Wein) zugegen, sondern er ist auch derjenige,<br />

dem <strong>Jesu</strong>s nach seiner Auferstehung erscheint, dem er einen Tisch<br />

bereiten lässt und <strong>für</strong> den er <strong>das</strong> Brot bricht. 33 Auch lässt sich erschließen,<br />

<strong>das</strong>s Jakobus bei diesem Abendmahl gelobt hatte, kein Brot mehr zu essen,<br />

bis der Auferstandene vor ihm stehe. Damit erwies er sich nicht nur <strong>als</strong> zum<br />

Kreis um <strong>Jesu</strong>s gehörig 34 , sondern auch <strong>als</strong> der Einzige, der der Voraussage<br />

<strong>Jesu</strong> vertraute, er werde von den Toten auferstehen. Jakobus –und vermutlich<br />

er allein –wird von <strong>Jesu</strong>s <strong>als</strong> Auferstehungszeuge ausgezeichnet (nach 1Kor<br />

15,7 war <strong>das</strong> Petrus). Dies ist umso interessanter, <strong>als</strong> <strong>Jesu</strong>s sich hier –in der<br />

———————<br />

31 Hervorzuheben wäre die Vorstellung der Abstammung <strong>Jesu</strong> vom Heiligen Geist, die im<br />

koptischen Jakobusbrief (NHC I,2) belegt ist. Für einen ursprünglich semitischen Hintergrund<br />

spricht <strong>das</strong> Verständnis des Heiligen Geistes <strong>als</strong> eines weiblichen Wesens, <strong>für</strong> jüdische Theologie<br />

die Vorstellung der personifizierten Weisheit, die wiederholt in die Welt eintritt, um<br />

Ruhe zu finden (Sap 7,27; Sir 24,7).<br />

32 Ende des ersten Jahrhunderts wohl in Aramäisch verfasst, wurde es bald ins Griechische<br />

übersetzt und in dieser Sprache von den beiden genannten Kirchenvätern zitiert. Euseb<br />

verfügte über ein aramäisches Exemplar, <strong>das</strong> auch Hieronymus bekannt war. Die meisten<br />

Fragmente wurden von Hieronymus in Lateinisch überliefert.<br />

33 Eine zeitlich später einzuordnende Erscheinung des Auferstandenen vor Jakobus wird<br />

zwar von Paulus in 1Kor 15,7 erwähnt, im NT aber nirgendwo beschrieben.<br />

34 PRATSCHER 26 interpretiert <strong>das</strong> Fragment 2 des dem Matthäusevangelium nahe stehenden<br />

Nazaräerevangeliums ebenfalls <strong>als</strong> Hinweis auf Bemühungen judenchristlicher Kreise,<br />

die Brüder <strong>Jesu</strong> schon früh zu dessen Anhängerkreis zu zählen. Deren Aufforderung, <strong>Jesu</strong><br />

möge sich doch mit ihnen von Johannes taufen lassen, verbindet die Brüder aber eher mit<br />

dem Täufer <strong>als</strong> mit <strong>Jesu</strong>s, zumal <strong>Jesu</strong>s dies ablehnt. In den anderen Fragmenten werden die<br />

Brüder nicht erwähnt.


<strong>Verwandte</strong> <strong>Jesu</strong> 45<br />

dritten Person – <strong>als</strong> Menschensohn zu erkennen gibt, „der von den Entschlafenen<br />

auferstanden ist”. Damit spielt er gleichzeitig auf vergangenes und<br />

zukünftiges Wirken an. Jakobus wird den Jüngern gegenüber in eine Mittlerposition<br />

gehoben. 35<br />

Die Ju<strong>das</strong>-Thomas-Tradition<br />

Das frühe syrisch/ostsyrische Christentum trägt deutlich jüdische Züge, zeichnet<br />

sich aber auch durch eine kulturelle Offenheit aus, wie sie <strong>für</strong> Handelszentren<br />

oft typisch ist (Antiochien und Edessa liegen an der Seidenstraße).<br />

Unter den christlichen Gruppen waren die gnostisierenden besonders erfolgreich.<br />

36 Während die Kirche von Antiochien mit Petrus und Ignatius <strong>als</strong> ersten<br />

Bischöfen bereits früh beachtliche Autorität beanspruchen konnte, gewann die<br />

orthodoxe Kirche Ostsyriens erst im vierten Jahrhundert mit dem Kirchenvater<br />

Ephraim an Profil.<br />

Im ostsyrischen Raum verbanden sich diese Erinnerungen schon früh mit<br />

dem Namen des Apostels Ju<strong>das</strong> Thomas, der <strong>als</strong> der Begründer der dortigen<br />

Mission verehrt wurde. 37 Syrien nun gilt <strong>als</strong> der Einflussbereich der frühen<br />

petrinischen Mission, die noch von Jakobus mitbestimmt wurde. Diese Erinnerungen<br />

wurden unter dem Einfluss der Evangelisten Matthäus und Thomas<br />

mit der Zeit (vermutlich im Zusammenhang der Verlagerung der Interessen<br />

des Petrus nach Rom) unterschiedlich interpretiert, und es entstanden verschiedene<br />

Traditionsstränge, die anfangs noch miteinander konkurrierten 38 .<br />

Die Thomastradition hat sich dabei unter gnostischen Einflüssen inhaltlich<br />

wie geographisch immer weiter von ihren judenchristlichen Ursprüngen entfernt.<br />

Ab dem zweiten Jahrhundert galt Thomas <strong>als</strong> Verfasser oder Inspirator<br />

einer Reihe mehr oder weniger gnostisierender Schriften, die beanspruchen,<br />

auf geheime Offenbarungen des Auferstandenen zurückzugehen. 39<br />

———————<br />

35 HENGEL 83.<br />

36 VANDERKAM 157.<br />

37 Nach der Abgar-Legende (Euseb, Hist. eccl. 1.13.4, 11 und 2.1.6; die Doctrina Addai ist<br />

eine spätere Version) ist er derjenige Apostel, der einer göttlichen Eingebung zufolge die<br />

Missionierung von Edessa durch Thaddäus, einen Mann aus dem Siebzigerkreis, veranlasst<br />

hat. Ju<strong>das</strong> Thomas selbst soll in Indien missioniert und dort den Märtyrertod gefunden haben,<br />

seine sterbliche Hülle danach nach Edessa gebracht worden sein (Carmina Nisibensa 42.1f).<br />

Diese Legende spiegelt die werbende Auseinandersetzung der orthodoxen Gemeinde von<br />

Edessa mit den Manichäern. Sie übernimmt deren größten Missionar Addai und macht ihn zu<br />

Thaddäus, einem Augenzeugen der Wirksamkeit und Auferstehung <strong>Jesu</strong>. Siehe DRIJVERS,<br />

‘Edesa’ 91.<br />

38 Das Johannesevangelium verfügt über interessante Sondertraditionen zu Philippus,<br />

Petrus und Thomas (insbesondere die Zweiflerszene 20,24–29). Thomas bleibt bei Mk und<br />

Lk/Apg unbeachtet.<br />

39 Gespräche des Auferstandenen mit einem oder mehreren Jüngern sind in der Gnosis ein<br />

beliebtes Motiv, mit dem man gnostische Geheimlehren wunderbar absichern konnte. Wie die


46<br />

Das Thomasevangelium<br />

Lambers-Petry<br />

Die bekannteste und wohl früheste Schrift dieser Traditionsgruppe ist <strong>das</strong><br />

Thomasevangelium (NHC II,2), eine Spruchsammlung aus dem Bereich der<br />

von Palästina ausgehenden Wandermission. Seine Themen wirken eher<br />

aggressiv <strong>als</strong> erbaulich, und die oft rätselhaften Formulierungen bedürfen der<br />

homiletischen Einkleidung durch einen Eingeweihten. 40 Das Thomasevangelium<br />

setzt sich mit Themen auseinander, die ein jüdisch geprägtes Bewusstsein<br />

voraussetzen und gleichzeitig ablehnen: Es hebt ethische Normen über<br />

kultische (Logion 6) und verurteilt die traditionelle jüdische Frömmigkeitspraxis<br />

<strong>als</strong> irreführende Sünde (Logien 14 und 53), wohl weil diese vom Weg<br />

zur wahren Gnosis ablenke. Die Gesetz und Beschneidung verteidigenden<br />

Pharisäer werden verurteilt, da sie ihrem und dem Heil anderer im Wege<br />

ständen (Logion 39). Andererseits erkennt es mit Nachdruck Jakobus den<br />

Gerechten <strong>als</strong> den von <strong>Jesu</strong>s selbst eingesetzten Nachfolger und Leiter der<br />

Jüngergruppe an, obgleich dieser seine persönliche Verbundenheit mit dem<br />

Judentum gewiss nie aufgegeben hat. In Logion 12 heißt es sogar begeistert,<br />

<strong>für</strong> ihn seien Himmel und Erde erschaffen worden.<br />

Der deutlichste Unterschied zur Matthäustradition liegt in deren ekklesiologischer<br />

Orientierung auf die Gemeinschaft hin, während <strong>das</strong> Thomasevangelium<br />

die „Heim- oder Rückkehr“ des Einzelnen ins „Königreich des<br />

Vaters“ in Ausicht stelt, und zwar mitels der Erkenntnis der wahren Gestalt<br />

<strong>Jesu</strong>. Dies setzt die Präexistenz der Seele voraus und die Gleichstellung des<br />

„Reiches“ mit dem götlichen Selbst des Gnostikers. Dadurch bedarf er weder<br />

der Gemeinschaft noch der Vorstellung von einem am Ende der Zeiten zu erwartenden<br />

Endgericht, noch einer eschatologischen Deutung von Kreuz und<br />

Auferstehung.<br />

Thomasbuch und Thomasakten<br />

Für uns ist nun von Bedeutung, <strong>das</strong>s in den sog. Thomasakten (ActaTh 11)<br />

und dem Buch Thomas des Athleten 41 (NHC II,7 Einleitung) dieser Ju<strong>das</strong><br />

Thomas mit dem Herrenbruder Ju<strong>das</strong> identifiziert wird, und zwar auf Grund<br />

seiner großen Ähnlichkeit mit <strong>Jesu</strong>s, <strong>als</strong> dessen Zwilling. Werfen wir einen<br />

kritischen Blick auf diese Schriften: Bei dem Thomasbuch handelt es sich um<br />

einen reichlich unverständlichen Offenbarungsdialog zwischen dem Aufer-<br />

Epistula Apostolorum zeigt, fand diese literarische Fiktion aber auch in der Bekämpfung der<br />

Gnosis Verwendung. Siehe REBELL 114f.<br />

40<br />

Zur möglichen Entstehungsgeschichte des Thomasevangeliums siehe KOESTER, Gospels,<br />

75–128.<br />

41<br />

Das Thomasbuch ist nur in dieser koptischen Übersetzung aus dem Griechischen und in<br />

nur einem Exemplar erhalten. Seine Existenz wurde von der altchristlichen Literatur nicht<br />

wahrgenommen. Unter „Athleten“ versteht es Männer und Frauen, die den Martern der Verfolger<br />

widerstanden.


<strong>Verwandte</strong> <strong>Jesu</strong> 47<br />

standenen und Ju<strong>das</strong> Thomas, der in paränetische Wehe- und Segensrufe<br />

mündet. Er will von einem nicht weiter identifizierten Mathaias (Matthäus)<br />

aufgezeichnet worden sein. Die Dialogform wirkt sekundär; wahrscheinlich<br />

wurde sie einer darunterliegenden jüdisch-hellenistischen Weisheitsschrift<br />

nachträglich übergestülpt. 42 Das Thomasbuch ist nur schwach gnostisch geprägt<br />

und zeigt Berührungen mit Gedankengut, <strong>das</strong> zwar neutestamentliche<br />

Parallelen hat, aber nicht spezifisch christlich ist. Es propagiert Selbsterkenntnis<br />

durch eine asketische Lebensweise, insbesondere die Befreiung von körperlichen<br />

Leidenschaften (Enkratismus), mit dem Ziel Ruhe zu finden. Der in<br />

Nag Hammadi gefundene Dialog des Erlösers (NHC III,5) beansprucht ebenfalls,<br />

belehrende Dialoge des Erlösers mit Ju<strong>das</strong> (Thomas) und Matthäus<br />

sowie mit Maria Magdalena wiederzugeben. Durch <strong>das</strong> Auflegen seiner Hand<br />

(Fragment 36) zeichnet dieser die drei Jünger gegenüber den anderen, die<br />

ebenfalls anwesend sind, aus und versetzt sie in die Lage, heilsnotwendige<br />

Erkenntnisse über sich selbst zu erlangen. Dies erinnert an die Geschichte von<br />

der Berufung der Jünger auf dem Berg in Mk 3,13–19, und deren Bevollmächtigung<br />

durch <strong>Jesu</strong>s, böse Geister auszutreiben. Vermutlich haben wir es<br />

hier mit einer alternativen, auf gnostische Bedürfnisse ausgerichteten Berufungsgeschichte<br />

zu tun. Der Inhalt der Dialoge ist weltfeindlich; auch hier<br />

wird die Sehnsucht des Menschen nach Ruhe angeführt, der Weg zur Erlösung<br />

allerdings gelingt nur über Selbsterkenntnis.<br />

Die viel umfangreicheren Thomasakten 43 , die lediglich im Hintergrund die<br />

legendäre Indienmission des Apostels beschreiben, bemühen sich wie <strong>das</strong><br />

Thomasbuch um die Verbreitung asketischer Ideale. Hier wird Ju<strong>das</strong> Thomas<br />

sogar selbst aktiv, indem er insbesondere wohlhabenden Ehefrauen und Jungvermählten<br />

seine Ideale nahebringt. Auch hier gilt Ju<strong>das</strong> Thomas <strong>als</strong> Empfänger<br />

und Vermittler geheimer Offenbarungen.<br />

Gnostische Jakobustraditionen<br />

Von den in gnostisierenden Kreisen Ägyptens verbreiteten Texten beanspruchen<br />

drei vom Herrenbruder Jakobus aufgezeichnet worden zu sein bzw. seine<br />

———————<br />

42 Dies ist, kurz gefasst, die Literarkritik von SCHENKE 194f. gegen die Annahme zweier<br />

ineinander verarbeiteter Quellenschriften. Der vom Rahmen befreite Text, so SCHENKE,<br />

entspreche dem Eugnostosbrief (NHC III, 3 und V, 1), der der Sophia <strong>Jesu</strong> Christi (NHC III,<br />

4) <strong>als</strong> Grundschrift diente.<br />

43 Diese dürften kurz nach ihrer Entstehung Anfang des dritten Jahrhunderts aus dem<br />

Syrischen ins Griechische übersetzt worden sein. Sie standen nach Epiphanius (Pan. 47.1;<br />

61.1) in enkratitischen Sekten in hohem Ansehen und galten bei den Manichäern, die die<br />

lukanische Apostelgeschichte verwarfen, gemeinsam mit anderen apokryphen Apostelakten<br />

sogar <strong>als</strong> kanonisch. Dass sie sich auch sonst großer Beliebtheit erfreuten, beweisen die<br />

zahlreichen, zum Teil auch orthodoxen Bearbeitungen. Siehe DRIJVERS, ‘Thomasakten’, 290f.


48<br />

Lambers-Petry<br />

Visionen getreu nachzuerzählen. 44 Sie gehören zu den Nag Hammadi-Funden<br />

und sind aus der patristischen Literatur sonst nicht bekannt. Die Texte sind<br />

teilweise stark zerstört und ihr Inhalt kann nicht immer rekonstruiert werden.<br />

Es handelt sich jeweils um Dialoge mit dem Erlöser, einmal in Briefform,<br />

zweimal in der Form der Apokalypse. Ihre griechischen Originale dürften aus<br />

judenchristlichen Kreisen Syriens stammen und ins frühe zweite Jahrhundert<br />

zu datieren sein. In allen drei Schriften wird der Aspekt der geheimen Offenbarung<br />

und die zentrale Bedeutung ihres Empfängers Jakobus <strong>als</strong> Garant <strong>für</strong><br />

die gewissenhafte und geheime Weitergabe ausgearbeitet.<br />

Der Apokryphe Jakobusbrief<br />

In einem Brief an einen gewissen Kerinth beschreibt ein Verfasser, der sich<br />

Jakobus nennt, eine geheime Offenbarung des Auferstandenen, die ihm und<br />

Petrus gemeinsam zuteil worden sei und die er zunächst in hebräischer Sprache<br />

aufgeschrieben habe (NHC I, 2). Der Adressat dürfte mit dem Kerinth aus<br />

Kleinasien identisch sein, auf dessen frühgnostische Lehre Irenäus in Haer.<br />

1,26 kurz eingeht: Nach ihr sind Gott und Weltschöpfer deutlich voneinander<br />

zu unterscheiden. <strong>Jesu</strong>s sei nicht von einer Jungfrau geboren, sondern ein<br />

gewöhnlicher Mensch, der allen anderen aber an Gerechtigkeit, Weisheit und<br />

Klugheit überlegen gewesen sei. Der Geist „Christos“ sei bei der Taufe von<br />

Gott her über ihn gekommen und habe ihn zu Wundern befähigt, dann aber<br />

wieder verlassen. Nach seinem Leiden sei der Mensch <strong>Jesu</strong>s wieder auferweckt<br />

worden.<br />

Irenäus vergleicht diese Lehre in wesentlichen Punkten, insbesondere der<br />

Christologie, mit der Lehre der Ebionäer und stempelt sie damit <strong>als</strong> häretisch<br />

ab. In seinem Brief weist Jakobus diese Christologie ebenfalls zurück. Nicht<br />

was <strong>Jesu</strong>s zwischen Taufe und Tod gesagt habe sei wirklich relevant <strong>für</strong> die<br />

Erlösung, sondern <strong>das</strong> nachösterliche Wort des Auferstandenen, <strong>das</strong> dieser<br />

ihm, Jakobus, und Petrus in einem geheimen Dialog verkündet habe (NHC I,<br />

2.7). Der Dialog, in den zahlreiche Makarismen und Wehe-Rufe eingearbeitet<br />

sind, nimmt synoptische und johanneische Themen auf. Inhaltlich betont er,<br />

<strong>das</strong>s nur Glaube, Liebe und Taten <strong>das</strong> Wort verkörperten und wahres Leben<br />

gäben. Der Brief endet mit der Aufforderung <strong>Jesu</strong>, Jakobus möge doch <strong>das</strong><br />

Martyrium auf sich nehmen und sich auf diese Art selbst erlösen. 45<br />

———————<br />

44 Hippolyt bestätigt in Ref. 5.2, <strong>das</strong>s Jakobus <strong>als</strong> der Garant der gnostischen Offenbarung<br />

galt, welche die Naassener durch die Vermittlung der Mariamme (Maria Magdalena?) erhalten<br />

hätten. Er bezeichnet dies allerdings <strong>als</strong> Verleumdung. In seinen Strom. 1.11.13 erwähnt<br />

Clemens von Alexandrien Sonderoffenbarungen des Auferstandenen, die an Jakobus und<br />

andere Jünger gerichtet gewesen seien.<br />

45 Der gnostische Charakter der Schrift zeigt sich in den herangezogenen Bildern: der<br />

Aufstieg der Seelen, <strong>das</strong> Trunken- bzw. Nüchternsein des Gnostikers usw.


Die Jakobusapokalypsen<br />

<strong>Verwandte</strong> <strong>Jesu</strong> 49<br />

Die 1ApokJk (NHC V, 3) reflektiert die Funktion des Leidens des Gnostikers.<br />

Das bevorstehende Martyrium Jakobus des Gerechten gilt <strong>als</strong> dessen Weg zur<br />

Erlösung. Der erste Teil des Dialogs zwischen <strong>Jesu</strong>s und Jakobus findet –und<br />

<strong>das</strong> ist in der gnostischen Literatur unüblich –vor der Passion <strong>Jesu</strong>, der zweite<br />

nach seiner Auferstehung statt. Auch gnostische Kreise hielten <strong>als</strong>o an einer<br />

engen vorösterlichen Verbindung zwischen Jakobus und <strong>Jesu</strong>s fest. Die Verwandtschaft<br />

wird allerdings relativiert durch den Hinweis <strong>Jesu</strong>, Jakobus sei<br />

wohl sein Bruder, „aber nicht der Materie nach“ (Fol. 24.15). Die Stelung des<br />

Jakobus beschreibt <strong>Jesu</strong>s selbst mit „. (Wir sind) zwei aus dem, der ist. Ich<br />

aber, (ich) bin vor dir.“ (24.24f). Er gilt <strong>als</strong> Empfänger und Vermitler bestimmter<br />

Kenntnise, die ihn ermächtigen, „die Zwölf zu tadeln“ (42.1–24).<br />

In der 2ApokJk (NHC V, 4) steht, gnostisch bearbeitet, <strong>das</strong> Martyrium des<br />

Jakobus im Mittelpunkt. Er selbst wird <strong>als</strong> Erleuchteter und Erlöser gepriesen<br />

(Fol. 55). Die Schrift endet mit einem gnostischen Sterbegebet. Besonders<br />

interessant und wichtig <strong>für</strong> unsere Fragestellung ist, <strong>das</strong>s der Verfasser sich<br />

<strong>als</strong> Priester namens Marim vorstellt und seinerseits beansprucht, ein <strong>Verwandte</strong>r<br />

des Jakobus zu sein (Fol. 44). Die brüderliche Beziehung zwischen<br />

<strong>Jesu</strong>s und Jakobus einschließlich der Anrede „Bruder“ erklärt er umständlich<br />

<strong>als</strong> Milchbruderschaft (Fol. 50f). 46 Den Vater des Jakobus nennt er Theu<strong>das</strong><br />

(Fol. 44). Die hier herangezogenen Traditionen dürften sehr alt und zumindest<br />

teilweise von Hegesipp (s.o.) unabhängig sein. 47<br />

Jakobus in den judenchristlichen Traditionen der<br />

Pseudoklementinen<br />

Den Anspruch absoluter Autorität erheben <strong>für</strong> Jakobus die pseudoklementinischen<br />

Schriften. Zu diesen gehören die zwei Rezensionen einer gemeinsamen,<br />

verlorengegangenen Grundschrift, die sogenannten Recognitionen<br />

(Rec.) und Homilien (Hom.), die wohl Anfang/ Mitte des dritten Jahrhunderts<br />

in Zölesyrien entstanden ist. 48 Sie dürfte judenchristliche Traditionen ver-<br />

———————<br />

46 Auch die <strong>als</strong> „Protevangelium des Jakobus“ bekannte großkirchliche Schrift trägt in der<br />

ältesten Handschrift (Papyrus Bodmer V) den Titel „Ge/nesij Mari/aj, A)pokaluyij )Iakw/b“.<br />

Die Verbindung mit Jakobus dürfte sekundär, aber alt sein, da auch Origenes sie kennt,<br />

und auf der Bekanntheit des Jakobus beruhen. Auch handelt es sich nicht um eine Offenbarung,<br />

sondern um eine volkstümliche Erzählung, welche die Frömmigkeit Marias illustrieren<br />

und die Vorstellung von der Jungfrauengeburt in erbaulicher Art unterstützen soll. Jakobus,<br />

hier ein Sohn aus einer früheren Ehe des Josef, fällt dabei die Rolle des Augenzeugen zu.<br />

Siehe PRATSCHER 221–224.<br />

47 Siehe LAMBERS-PETRY 116–118.<br />

48 Sie beanspruchen, von Clemens, dem zweiten Bischof von Rom zu stammen und schildern<br />

in romanhafter Weise dessen Familiengeschichte und Werdegang. Neben den inhaltlich


50<br />

Lambers-Petry<br />

arbeitet haben, in denen Jakobus eine zentrale Rolle spielt, darunter die sogenannten<br />

�����������������sowie eine Schrift, die mit den bei Epiphanius<br />

erwähnten ebionitischen ’�����������’���������verwandt gewesen sein dürfte,<br />

die hypothetische AJ II-Quelle. 49 Hier ist Jakobus gleichzeitig Leiter der<br />

Jerusalemer Gemeinde und –aufgrund deren besonderer Stellung –auch <strong>das</strong><br />

Haupt der Gesamtkirche. Die Apostel sind ihm untergeordnet und verantworten<br />

ihm gegenüber ihre Missionsarbeit. Demokratische Strukturen wie etwa<br />

ein Presbyterium scheint es nicht zu geben. In den Briefen und direkten Reden<br />

wird Jakobus mit „unser Jakobus“, „unser ehrwürdiger Bruder Jakobus“, <strong>als</strong><br />

„Her und Bischof“ und sogar <strong>als</strong> „Erzbischof“ bezeichnet. Die AJ I-Quelle<br />

dürfte die Vorlage <strong>für</strong> die Ereignisse auf der Tempeltreppe und den ihnen<br />

vorangestellten heilsgeschichtlichen Abriss geliefert haben (Rec. 1.33–71):<br />

Auf Bitte des Hohenpriesters finden dort Disputationen der 12 Apostel mit<br />

den verschiedenen Vertretern der jüdischen Parteien statt. Da sie Kaiphas<br />

nicht überzeugen können, kommt am nächsten Tag Jakobus (Rec. 1.68: „der<br />

Erste der Bischöfe“) selbst zum Tempel. Seine energischen Ausführungen<br />

nun führen den Hohenpriester zur Einsicht und zu einer allgemeinen Bereitschaft,<br />

sich taufen zu lassen. Dies wird aber in letzter Sekunde verhindert<br />

durch <strong>das</strong> wütende Auftreten des „homo quidam inimicus“, der mit einigen<br />

Männern in den Tempel eindringt, großes Blutvergießen verursacht und<br />

Jakobus von der obersten Tempelstufe stößt. Jakobus überlebt den Sturz und<br />

wird verletzt nach Hause gebracht. Die 5000 Mann starke Gemeinde flüchtet<br />

nach Jericho.<br />

In dieser legendarischen, teilweise Märtyrermotive der Darstellung Hegesipps<br />

aufgreifenden Erzählung, erweist Jakobus sich <strong>als</strong> gewaltiger Prediger<br />

und Missionar, dem es gelingt, den Hohenpriester zu überzeugen. Auffällig ist<br />

seine nur beiläufig erwähnte Einsetzung <strong>als</strong> Bischof durch <strong>Jesu</strong>s selbst (Rec.<br />

1.43.3). 50 Die theologische Position der AJ II-Gemeinde lässt sich an der<br />

Ablehnung des Opferkultes und der entsprechenden Betonung der Heilsnotwendigkeit<br />

der Taufe auch bei vollkommener Lebensführung erkennen. Der<br />

Glaube an <strong>Jesu</strong>s <strong>als</strong> den von Moses verkündeten Propheten erscheint <strong>als</strong> der<br />

einzige wirkliche Streitpunkt zwischen den Jerusalemer Anhängern <strong>Jesu</strong> und<br />

den anderen Gruppierungen des Judentums. Zum Bruch kommt es erst durch<br />

ähnlichen Recognitionen (lateinisch) und Homilien (griechisch) sind zwei ebenfalls pseudepigraphische<br />

Briefe (griechisch) unterschiedlicher sprachlicher und theologischer Prägung<br />

erhalten, die von Petrus bzw. Clemens verfasst sein wollen und an Jakobus gerichtet sind.<br />

Zum Brief des Petrus gehört eine Contestatio, in der die Reaktion des Ältestenrates auf den<br />

Brief beschrieben wird.<br />

49 Von dieser sind aber keine weiteren Spuren überliefert. Zur Diskussion der komplizierten<br />

Entstehungsgeschichte siehe STRECKER, Pseudoklementinen, 439–447 und JONES<br />

328–331.<br />

50 Clemens von Alexandrien hingegen berichtet, Jakobus sei von Petrus, Johannes und<br />

Jakobus Zebedäi gewählt worden (Euseb, Hist. eccl. 2.1.3–5).


<strong>Verwandte</strong> <strong>Jesu</strong> 51<br />

<strong>das</strong> verheerende Auftreten des Feindes, hinter dem sich Paulus verbirgt. 51 Aus<br />

den Kerygmata, in denen eigentlich Petrus zentral steht, stammt wahrscheinlich<br />

die Darstellung des Jakobus <strong>als</strong> „Hüter der Kerygmen“ gegen die Versuche<br />

des „Feindes“ und seiner Anhänger, diese zu verfälschen. Auf Drängen<br />

des Petrus führt er Vorsichtsmaßregeln in Form von Probezeiten und furchterregenden<br />

Gelöbnissen, die Kerygmen geheimzuhalten, in die Jerusalemer<br />

Gemeinde ein (EpPetr., Cont.). Der göttliche Offenbarungsträger ist hier der<br />

„wahre Prophet“, der sich nach Abraham und Moses (Hom. 2.52.3) nunmehr<br />

in <strong>Jesu</strong>s manifestiert hat und die wahre, gesetzliche Gnosis verkündet, etwa<br />

indem er auf Verfälschungen in den alttestamentlichen Schriften hinweist. 52<br />

Die Forderung, die jüdischen Reinheitsgesetze einzuhalten (Hom. 11.28ff),<br />

gilt wohl generell, <strong>als</strong>o auch <strong>für</strong> Heidenchristen. Von einer Vereinbarung wie<br />

den Jakobusklauseln ist hier nichts zu erkennen.<br />

Schlussbemerkungen<br />

Wie wir sahen, beziehen eine ganze Reihe neutestamentlicher Schriften und<br />

Kirchenväter die <strong>Verwandte</strong>n <strong>Jesu</strong> in die nachösterliche Bewegung mit ein.<br />

Im Mittelpunkt steht dabei Jakobus, dessen Einfluss in der Jerusalemer Gemeinde<br />

und ihrem Wirkungsbereich gewiss nicht unterschätzt werden darf. Er<br />

steht neben Paulus <strong>als</strong> Garant der Einheit bei allen Divergenzen, welche die<br />

heiden- und die judenchristliche Mission kennzeichnen. Die Hinweise aus der<br />

ja nur sehr fragmentarisch erhaltenen späteren Literatur der judenchristlichen<br />

Gruppen und aus den Referenzen zu ihrer zum Teil abweichenden Glaubenspraxis<br />

ergänzen <strong>das</strong> neutestamentliche Bild der Herrenverwandten um interessante<br />

Aspekte und zeigen seine Weiterentwicklung unter dem Einfluss der<br />

politischen Ereignisse und der Verschiebungen im religiös-kulturellen Bereich.<br />

So wird gerade Jakobus <strong>für</strong> viele Gruppen zum Oberhaupt und zentralen<br />

Verbindungsglied zur Urgemeinde vor dem Fall des Tempels. Die apostolische<br />

Sukzession spielt in den judenchristlichen Traditionen keine Rolle; hier<br />

kommt es auf <strong>das</strong> persönliche Charisma des Offenbarungsträgers an, <strong>das</strong> in<br />

erster Linie auf nachösterlichen Enthüllungen und der Verantwortung <strong>für</strong> ihre<br />

Weitergabe beruht, von seiner Verwandtschaft mit <strong>Jesu</strong>s und der Zugehörigkeit<br />

zum Haus David aber entscheidend mitgeprägt ist.<br />

———————<br />

51 Das hinter dem Pseudonym „Simon Magus“ Paulus steht, ist dem Hinweis zu entnehmen,<br />

er sei vor Petrus bei den Heiden gewesen.<br />

52 Gemeint sind die Erwähnung anderer Götter, die Bedeutung des Opfers, des Tempels<br />

und des Königtums, „menschliche“ Eigenschaften Gotes u.a.


52<br />

Lambers-Petry<br />

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