Landesgartenschau Nagold Renate Tsiaousidis 20 SeNIOreNAKTIVITÄTeN Seniorenkurier Oktober bis Dezember 2012
Brahms Tierleben Herbstferien nutzen Lehrer gern für einen zusätzlichen Kurzurlaub. 1947 in Deutschland Ost waren Kurzurlaube kaum machbar. Nicht aus Geldmangel, nein, da gab`s ganz andere, handfeste und recht gemeine Schwierigkeiten. Durch den Krieg in dem jetzt wieder französischen Lothringen, wo wir damals lebten, ein halbes Jahr vor Kriegsschluss, rausexpediert, begleitet vom Lärm der Bombardements und dem Geschützdonner der heranrückenden Invasionstruppen, dann weiter evakuiert in das noch ruhige Ostdeutschland jenseits der elbe – noch ruhig! Wohin auch in dem Trümmerfeld Westdeutschland? Die Sehnsucht und der Wille zurückzukehren aber blieben wach. Ich mit meinen 23 Lenzen sah meine Aufgabe in dem, damals aber scheiternden, Versuch, für mich und meine eltern diese Heimat zurück zu erobern, und dazu boten sich diese Herbstferien an. Nein, sie boten sich beileibe nicht an, denn eine Ausreise von Deutschland nach Deutschland war streng verboten, von Zuchthaus und Todesstrafe bedroht, oft genug auch praktisch vollzogen und nur „schwarz“ möglich. Dabei gingen jede Nacht Hunderte über die Grenze; es muss also damals nicht so schön gewesen sein im deutschen Osten. Man trug als Frau zu jener Zeit noch keinen Hosenanzug. Ich trug und noch einen passenden Mantel dazu. Von Mutter nach meinem entwurf genäht, der mir, an das bedeutendste deutsche Modehaus Bayer in Leipzig eingereicht, ein Begriff aus alter Zeit, damals 12 Mark einbrachte und in einem der nächsten Modehefte erschien. In Natura sah das in grau mit tomatenrot gefütterte, abknöpfbarer Kapuze, weil so ein Stoffrest gerade vorhanden war, aus wie Schrubbtücher. Aber auch Schrubbtücher können schick aussehen. Dazu trug man Hut, farblich passend natürlich. und da ich ein Hut Typ war, bat mich meine Hutmacherin in Zittau einmal, für sie Mannequin zu spielen. Hach, ich hätte den blauen Hut so gerne gehabt! Ich bekam ihn nicht. Dafür aber zu meiner Hochzeit das ihr in Auftrag gegebene Brautkrönchen nach meinem entwurf umsonst, als Geschenk von ihr für mich. Jetzt wollen wir mal zusammenstellen; also: Hosenanzug mit Mantel, Hut, handmade rucksack auf dem rücken, einkaufsbeutel in der Hand, die Moneten im Brustbeutel unter der Kledage, Gott sei Dank. Vorstellbar? Nicht? Na ja, wie auch ?! – Man fuhr in stockfinsterer Nacht, Mond gab´s nicht – das einzige, was man dem regime nicht anlasten konnte von dem, was es nicht gab – weil man glaubte, dann sicherer zu sein. Weit gefehlt! An der Grenzstation geschah´s dann: der übliche Bandenüberfall im Stockfinstern im und außerhalb des Zuges, schreiende Menschen, denen man zum Teil die Kleider vom Leib riss, mit geübten Griffen das Geld entwendete, raubte, was nicht niet- und nagelfest war. Ich selbst hatte Glück, dass ich körperlich nicht angegriffen wurde; aber meinen rucksack, noch nicht auf dem rücken, suchte ich vergeblich. Selbst das Handtuch darin und die ersatzschlüpfer waren nicht zu ersetzende Wertstücke. Ich heulte vor Wut und war drauf und dran wieder in den Zug einzusteigen und zurück zu fahren. Dann aber reizte mich und siegte der entschluss, es trotzdem und nun gerade zu versuchen. Irgendwie gelangte man, trotz völliger unkenntnis und obwohl man keine Hand vor Augen sah, sich auf den pfaden vorantastend ins andere Deutsch land, das heißt auf einen Bahnhof schon im Westen und in einen Zug, der mich nach Göttingen brachte, wo bei dem vorher per post im Kenntnis gesetzten Vetter die erste Station sein sollte. Für mich Fremde, da wir uns seit Kinderzeit nicht mehr gesehen hatten. Ich kannte Göttingen, weitgehend vom Bombenterror verschont geblieben, noch nicht. Also durchfragen nach der Brahmsstraße. eine polizeistreife bot sich an: „Können Sie mir bitte sagen…“ . er konnte, jung, strahlend: „Sie meinen die von Brahms Tierleben?“ Ich konterte: „Ne, ich meine die von Brahms Musike.“ Gegen 11 uhr abends landete ich beim Vetter. und das stimmte eigentlich auch wieder nicht; denn das Leben damals war etwas kompliziert. ein anständiger Gast kommt ja nicht abends um 23 uhr. Aber was war damals schon anständig. Die gute Kinderstube hatte man schon längst zu begraben gelernt. Aber sich zu entschuldigen konnte man noch und danke sagen auch! Ich stand in der Brahmsstraße. Ich klingelte. Der sympathische Herr im Schlafanzug, der mir öffnete, war im Aussehen das ganze Gegenteil meines Vetters. Aber er war überhaupt nicht überrascht, war also unterrichtet, hatte meine Karte gelesen und wohl auch sollen, so vertraut, wie eine Wohngemeinschaft, wenn man zueinander passt, damals war, denn der Wohnungsinhaber war auf der Hochzeitsreise. Der Schlafanzug hatte sich inzwischen vorgestellt als erster Geiger des Göttinger Orchesters. Der Flüchtling, wohl aus dem Sudetenland, hatte bei meinem Vetter ein Dach überm Kopf, eine Couch im Wohnzimmer für sich zum Schlafen und ein Bett für seine hübsche Tochter gefunden. Das erstaunen über irgendwelche eindringlinge von irgendwoher war damals nicht so groß. Man rechnete immer damit. Auch wir hatten damit gerechnet in Metz, und irgendwann nach dem zweiten schweren Fliegerangriff auf Wuppertal hatte ja dann Oktober bis Dezember 2012 Seniorenkurier uNTerHALTuNG, WISSeN 21