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Download - Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft mbH

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<strong>Leipziger</strong> <strong>Wohnungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Baugesellschaft</strong> <strong>mbH</strong><br />

Prager Straße 21, 04103 Leipzig<br />

Telefon: 0341 - 99 20<br />

www.lwb.de<br />

FORUM DREI | November 2006 Alte Stadt. Neue Stadt. Denkmäler als Konfliktfeld <strong>und</strong> Chance<br />

FORUM DREI | November 2006<br />

ALTE STADT.<br />

NEUE STADT.<br />

DENKMÄLER ALS<br />

KONFLIKTFELD UND CHANCE


FORUM ist eine zweimal im Jahr erscheinende<br />

Publikation der <strong>Leipziger</strong> <strong>Wohnungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Baugesellschaft</strong><br />

<strong>mbH</strong> (> www.lwb.de), die sich an einen<br />

ausgewählten, interessierten Leserkreis wendet.<br />

Thematisiert werden wohnungswirtschaftliche<br />

Entwicklungen <strong>und</strong> Trends, die sich im Spannungsfeld<br />

städtebaulicher Veränderungen <strong>und</strong> urbaner<br />

Lebenswelt spiegeln.<br />

FORUM ist kein Fachmagazin, sondern will den<br />

Blick dafür schärfen, dass die heutige Attraktivität<br />

der Städte maßgeblich den Leistungen der Immobilien-<br />

<strong>und</strong> <strong>Wohnungs</strong>wirtschaft zu verdanken ist.<br />

Am Beispiel Leipzigs lässt sich gerade dies<br />

eindrucksvoll belegen.<br />

FORUM DREI | November 2006<br />

ALTE STADT.<br />

NEUE STADT.<br />

DENKMÄLER ALS<br />

KONFLIKTFELD UND CHANCE


DENKMÄLER ALS<br />

KONFLIKTFELD UND CHANCE<br />

Zahllose Gründerzeithäuser<br />

drücken dem<br />

Bild der Stadt Leipzig<br />

ihren Stempel auf. Vier<br />

Fünftel von ihnen wurden<br />

seit 1990 saniert<br />

<strong>und</strong> zeigen wieder ihre<br />

Pracht von einst. Aber<br />

man muss auch über<br />

die r<strong>und</strong> 2.500 Gebäude<br />

sprechen, von denen die meisten in einem sehr<br />

schlechten Bauzustand sind <strong>und</strong> für die aus den<br />

verschiedensten Gründen bislang noch niemand<br />

die Kraft zur Sanierung aufgebracht hat. Und für<br />

einige von ihnen möglicherweise auch nie aufbringen<br />

wird.<br />

Denn Leipzig hat gemessen an seiner jetzigen<br />

Einwohnergröße r<strong>und</strong> 40.000 Wohnungen zuviel.<br />

Und da die Bevölkerungszahl nach allen demografischen<br />

Gewissheiten auch nicht wieder das<br />

Niveau des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts erreichen wird,<br />

müssen hier teilweise unpopuläre Entscheidungen<br />

getroffen werden. Im Endeffekt heißt dies:<br />

Möglichst viel an denkmalgeschützter, identitätsstiftender<br />

Bausubstanz der Stadt erhalten.<br />

Wo aber Gebäuden jegliche Perspektive fehlt,<br />

2<br />

muss auch über den Abriss des Hauses nachgedacht<br />

werden.<br />

Womit wir mitten in FORUM DREI wären: Denkmäler<br />

als Konfliktfeld <strong>und</strong> Chance. In Leipzig als<br />

der Stadt mit den deutschlandweit meisten<br />

Denkmälern prallen verständlicherweise die<br />

Ansichten über die Rettung von Häusern aufeinander.<br />

Weil es neben der emotionalen Seite<br />

auch handfeste betriebswirtschaftliche, wohnungswirtschaftliche<br />

<strong>und</strong> städtebauliche Aspekte<br />

gibt, die eine Entscheidung über Abriss oder<br />

Erhaltung beeinflussen.<br />

Auf den folgenden Seiten kommen viele Experten<br />

zu Wort, verschiedene Aspekte des Denkmalschutzes<br />

werden beleuchtet. Wir zeigen auf,<br />

wie Menschen über Denkmalschutz denken, die<br />

auf die eine oder andere Weise mit alten Gebäuden<br />

zu tun haben. Auch dieses FORUM will informieren,<br />

Denkanstöße geben <strong>und</strong> zur Diskussion<br />

einladen.<br />

Peter Stubbe<br />

Geschäftsführer der LWB<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006<br />

ALTE STADT. NEUE STADT.<br />

INHALT<br />

Seiten 4 bis 9<br />

„Unverzichtbares schützen,<br />

Belangloses durch Neues ersetzen“<br />

Essay von Michael Bräuer, Vorsitzender<br />

der Expertengruppe Städtebaulicher<br />

Denkmalschutz<br />

Seiten 10 bis 13<br />

Denkmal-Hauptstadt heisst Leipzig<br />

15.000 Häuser <strong>und</strong> Objekte stehen unter<br />

besonderem Schutz, viele sind liebevoll<br />

saniert, doch einige H<strong>und</strong>ert machen Sorgen<br />

Seiten 14 bis 17<br />

„So viel wie möglich retten“<br />

Interview mit dem <strong>Leipziger</strong> Bürgermeister<br />

Martin zur Nedden<br />

Seiten 18 bis 21<br />

Abbruch <strong>und</strong> Stadtumbau als<br />

Chance ostdeutscher Städte<br />

Wie der Stadtumbau Leipzig verändert<br />

Seiten 22 bis 25<br />

Denkmalschutz – koste es, was es wolle?<br />

Pro & Contra – Dieter Bartetzko (FAZ)<br />

<strong>und</strong> Peter Stubbe (LWB)<br />

Seiten 26 bis 31<br />

„Denkmalschutz kann man nicht erzwingen“<br />

Gespräch mit dem Landesdenkmalpfleger<br />

Michael Kirsten<br />

Seiten 32 bis 40<br />

Vom Leben mit Denkmälern<br />

<strong>Leipziger</strong> <strong>und</strong> ihre ganz spezielle Sicht<br />

auf den Denkmalschutz<br />

3


»Tradition – das ist die<br />

Bewahrung des Feuers <strong>und</strong><br />

nicht die Anbetung der Asche!«<br />

Gustav Mahler (1860 – 1911),<br />

österreichischer Komponist,<br />

Dirigent <strong>und</strong> Operndirektor<br />

4<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006<br />

„UNVERZICHTBARES SCHÜTZEN,<br />

BELANGLOSES DURCH NEUES ERSETZEN“<br />

Von Michael Bräuer, Architekt, Stadtplaner <strong>und</strong> Vorsitzender der Expertengruppe Städtebaulicher<br />

Denkmalschutz beim B<strong>und</strong>esministerium für Verkehr, Bau <strong>und</strong> Stadtentwicklung<br />

Die aktuelle Entwicklung in einer Reihe<br />

von Städten der östlichen B<strong>und</strong>esländer<br />

ist zunehmend von einer Auseinandersetzung<br />

um die Bewahrung <strong>und</strong><br />

Wiederbelebung von Baubeständen betroffen,<br />

die in den Jahren seit der Wende aus den unterschiedlichsten<br />

Gründen noch nicht wieder in Nutzung<br />

genommen werden konnten oder auch in<br />

dieser Zeit aus der Nutzung ausgeschieden wurden.<br />

Sie stören nun.<br />

Da der Stadtumbau in seiner Ost-Version die<br />

Möglichkeit eröffnet, diese Bestände ohne den<br />

gravierenden Einsatz eigener Finanzmittel loszuwerden<br />

<strong>und</strong> die Politik mancherorts dazu auffordert,<br />

diese „Gunst der St<strong>und</strong>e“ zu nutzen, ist der<br />

Konflikt bei problembeladenen Bebauungen an<br />

ausgewählten Standorten vorprogrammiert. Dies<br />

betrifft insbesondere die historischen Stadtkerne<br />

sowie Bereiche der Innenstädte mit Bausubstanzen<br />

mittelalterlicher Herkunft, aber auch aus der<br />

Gründerzeit <strong>und</strong> zunehmend auch der Neuen<br />

Moderne der Zwischenkriegszeit sowie der 50er<strong>und</strong><br />

60er-Jahre des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Besonders schmerzhaft empf<strong>und</strong>en wird dieses<br />

Geschehen, wenn es sich in definierten Sanierungsgebieten<br />

der Städte oder den in der Regel<br />

weiträumiger gefassten Erhaltungsgebieten<br />

manifestiert. Als nicht akzeptabel muss es<br />

bezeichnet werden, wenn es Fördergebiete<br />

betrifft, die im Rahmen des Sonder-Förderprogrammes<br />

Städtebaulicher Denkmalschutz als<br />

Ensemble gefördert wurden <strong>und</strong> werden.<br />

Denkmalpfleger als Partner<br />

Leider <strong>und</strong> in der Regel zu Unrecht werden häufig<br />

die Organe der Denkmalpflege, das heißt<br />

deren Mitarbeiter zum Buhmann bzw. zur Buhfrau<br />

in der Auseinandersetzung. Das ist ungerecht.<br />

Es darf an dieser Stelle daran erinnert werden,<br />

dass ein für viele Bürger der ehemaligen<br />

DDR gravierender Gr<strong>und</strong> für die Wende im Herbst<br />

1989 die andauernde Gefährdung der Identität<br />

stiftenden historisch gewachsenen Stadtbereiche<br />

unter den damals vorgegebenen baulichen<br />

Reproduktionsbedingungen war. Wer in dieser<br />

Zeit verantwortungsvoll am Entwicklungsgeschehen<br />

in den Städten beteiligt war, war froh, unter<br />

ALTE STADT. NEUE STADT.<br />

den im Institut für Denkmalpflege tätigen Kolleginnen<br />

<strong>und</strong> Kollegen Partner zu finden, mit denen<br />

es auch gelingen konnte, politisch anders vorgeprägte<br />

Entwicklungen noch in vernünftige Bahnen<br />

zu lenken, Besinnung oder Entschleunigung<br />

anzumahnen <strong>und</strong> auch durchzusetzen <strong>und</strong> somit<br />

manchen Abrissverlust zu verhindern. Erfolge<br />

basierten auch damals, in der Regel von den<br />

Stadtoberen zähneknirschend akzeptiert, auf<br />

dem im Prinzip vorbildlichen <strong>und</strong> seit 1975 geltenden<br />

Denkmalschutzgesetz der DDR. Der subjektive<br />

Faktor, Persönlichkeit, Selbstbewusstsein,<br />

fachliche Qualität <strong>und</strong> Integrität, Dialogbereitschaft<br />

<strong>und</strong> auch manche List waren schon<br />

damals immer hilfreich.<br />

Erfolge sind unübersehbar<br />

Die für die Denkmalschützer <strong>und</strong> die ihnen<br />

anempfohlenen Bausubstanzen ambivalente<br />

Situation wurde durch die Wiedergewinnung der<br />

Einheit <strong>und</strong> die Bildung der Länder im Osten prinzipiell<br />

beendet. Alle waren darüber sehr froh.<br />

Wesentliche Aspekte der Politik waren seitdem<br />

auf die Erhaltung <strong>und</strong> Wiederbelebung der historisch<br />

gewachsenen Stadtstrukturen <strong>und</strong> der sie<br />

definierenden Bestände gerichtet. Alle b<strong>und</strong>esstaatlichen<br />

<strong>und</strong> föderalen Regelungen der Länder,<br />

5


STILEPOCHEN<br />

darunter auch die von allen Ländern erlassenen<br />

Denkmalgesetze, verfolgten dieses Ziel <strong>und</strong> tun<br />

das auch heute noch. Die Förderprogramme,<br />

zunächst das Modellstadtprogramm, dann das<br />

Stadterneuerungsprogramm <strong>und</strong> besonders<br />

wirksam das B<strong>und</strong>-Länder-Programm Städtebaulicher<br />

Denkmalschutz, das 1991 aufgelegt wurde,<br />

schufen den notwendigen Unterbau für die seitdem<br />

eingetretene <strong>und</strong> für jedermann überzeugende<br />

Wiedergewinnung unserer Städte als Zentren<br />

des gesellschaftlichen <strong>und</strong> auch des bürgerschaftlichen<br />

Lebens. Die seit September 2006<br />

existierende <strong>und</strong> derzeit umlaufende Ausstellung<br />

„Denk!mal: Alte Stadt – Neues Leben“ vermittelt<br />

eindrucksvoll den flächendeckend eingetretenen<br />

Wandel <strong>und</strong> damit eines der hervorragenden<br />

Erfolgsmerkmale des Einigungsprozesses. Die<br />

meisten historischen Stadtkerne sind in ihren<br />

Strukturen <strong>und</strong> den sie prägenden Substanzen<br />

nicht mehr gefährdet. Dieser Erfolg kann nicht<br />

hoch genug eingeschätzt werden <strong>und</strong> beinhaltet<br />

die Verpflichtung, in dem Bemühen nicht nachzulassen.<br />

Dabei liegt es in der Natur der Sache,<br />

dass das Engagement der Denkmalschützer nicht<br />

nur die historischen <strong>und</strong> mittelalterlich geprägten<br />

Stadtkerne betrifft, sondern dass auch nachfolgende<br />

Epochen <strong>und</strong> Generationen Stadträume<br />

<strong>und</strong> Bauten von historischer <strong>und</strong> kultureller<br />

Bedeutung geschaffen haben, die es zu<br />

schützen gilt, insbesondere wenn sie auf Gr<strong>und</strong><br />

ihrer Qualität unter Schutz gestellt sind.<br />

> ROMANIK IN LEIPZIG<br />

Die Andreaskapelle in Knautna<strong>und</strong>orf gilt als ältestes<br />

Bauwerk in Leipzig <strong>und</strong> ältester Sakralbau in<br />

Sachsen. Unter dem achtseitigen Turmaufsatz von<br />

1721 ist eine romanische R<strong>und</strong>kapelle aus dem<br />

11. Jahrh<strong>und</strong>ert erhalten geblieben. Damit ist die<br />

Kapelle im <strong>Leipziger</strong> Südwesten ein unschätzbares<br />

Zeugnis aus der frühen Zeit der deutschen Besiedlung<br />

im <strong>Leipziger</strong> Raum.<br />

6<br />

Fair handeln<br />

In unserer zivilisierten Gesellschaft sind die<br />

gesetzlichen Regelungen <strong>und</strong> ihre Ausformungen<br />

nicht der Willkür einzelner ausgesetzt, sondern<br />

Ausdruck des demokratisch verfassten Wollens<br />

der Gesellschaft. In diesem Sinne sollten sie<br />

jederzeit von allen Beteiligten ernst genommen<br />

werden, <strong>und</strong> nur darauf können Arbeitsprozesse,<br />

Diskurse <strong>und</strong> letztlich Entscheidungen basieren.<br />

Dabei kann es in einem verantwortungsvoll<br />

gestalteten Entscheidungsprozess nicht um die<br />

Dominanz oder gar das Diktat einer Seite gehen,<br />

sondern es muss der Diskurs gleichberechtigter<br />

Partner <strong>und</strong> die Suche nach Gemeinsamkeit <strong>und</strong><br />

bestmöglicher Lösung gefordert werden <strong>und</strong><br />

möglich sein. Das ist in der Regel nicht mehr der<br />

Fall, wenn die Organe der Denkmalpflege in den<br />

Organisationsstrukturen der Landes- <strong>und</strong> Kommunalverwaltungen<br />

den Bereichen des Bauens<br />

unterstellt sind. Die so eingeordneten Denkmalschützer<br />

haben, das dürfte für jedermann nachvollziehbar<br />

sein, deutlich eingeschränkte Möglichkeiten,<br />

ihren Standpunkt in den Dialog einzubringen<br />

oder auch seine Priorität durchzusetzen.<br />

Einen offenen Dialog führen<br />

Andererseits muss man auch von den Denkmalschützern<br />

die Anerkennung von Realitäten <strong>und</strong><br />

die Bereitschaft einfordern, sich dem erforderlichen<br />

Dialog zu stellen <strong>und</strong> sich nicht lediglich<br />

hinter der stringenten Handhabung der Denkmalgesetzgebung<br />

zu verbarrikadieren. So muss<br />

es möglich sein, über die weiteren Existenzchancen<br />

von Bausubstanzen zu diskutieren, die trotz<br />

hervorragender <strong>und</strong> in dieser Breite in Zukunft<br />

nicht mehr gegebener Fördermöglichkeiten bisher<br />

nicht wieder aktiviert werden konnten. Dafür<br />

gibt es, wie schon erwähnt, vielfältige Ursachen.<br />

Diese können bei noch immer nicht geklärten<br />

Eigentumsverhältnissen bzw. der Handlungsunfähigkeit<br />

zerstrittener oder breit gestreuter<br />

Eigentümergemeinschaften liegen. Sie können<br />

durch Lageprobleme wie die Belastung durch die<br />

erheblich gewachsenen Verkehrsströme in dafür<br />

historisch nicht ausgeformten Stadträumen<br />

beeinflusst sein oder auch lediglich in einer zu<br />

geringen Attraktivität im Ranking der vergleichbaren<br />

Standorte der jeweiligen Stadt ihre Ursache<br />

haben. Die Bedingungen, mit denen die<br />

Stadtgesellschaften durch Abwanderung <strong>und</strong><br />

demografischen Wandel heute <strong>und</strong> noch weiter<br />

in der Zukunft konfrontiert werden, schaffen<br />

standörtlich differenziert, aber letztlich doch<br />

unvermeidbar, Leerstände <strong>und</strong> städtische<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006<br />

Leerräume. Das ist von niemandem gewollt, aber<br />

leider nicht vollständig zu verhindern. Damit ist<br />

aber im Interesse des Gemeinwohls der<br />

Anspruch verknüpft, diesen Prozess planerisch<br />

zu begleiten <strong>und</strong> politisch <strong>und</strong> fachlich breit<br />

abgestützt bewusst zu gestalten.<br />

Stufenweise vorgehen<br />

Oberstes Prinzip ist – <strong>und</strong> muss es auch bleiben<br />

–, jegliche kulturhistorisch wertvolle <strong>und</strong><br />

auch als solche erkannte <strong>und</strong> geschützte Bausubstanz<br />

im originalen Zustand zu erhalten <strong>und</strong><br />

zu nutzen. Sollte das nicht möglich sein, so kann<br />

nur in einem verantwortungsvoll absolvierten,<br />

fairen <strong>und</strong> auf gemeinsame Auffassungen abstellenden<br />

Arbeitsprozess der Grad der Veränderung<br />

oder das Ausmaß des Eingriffs unter frühzeitiger<br />

<strong>und</strong> intensiver Beteiligung der Vertreter der<br />

Denkmalpflege erarbeitet werden.<br />

Das erfordert den einschlägigen Willen der Eigentümer,<br />

Investoren <strong>und</strong> Genehmigungsbehörden<br />

auf der einen Seite <strong>und</strong> die Bereitschaft der<br />

Denkmalpfleger auf der anderen Seite, sich diesem<br />

Prozess zu stellen. Das kann zeit- <strong>und</strong><br />

arbeitsaufwändig sein, <strong>und</strong> es ist zu beobachten,<br />

dass die personell stark abgebauten Organe des<br />

Denkmalschutzes mehr <strong>und</strong> mehr überfordert,<br />

Personalverstärkungen aber kaum zu erwarten<br />

sind. Unter diesem Aspekt ist das frühzeitige Aufeinander<br />

zugehen geradezu zwingend, wenn<br />

nicht der Zeitdruck zum letzten, fachlich am<br />

wenigsten kompetenten Entscheider werden soll.<br />

Der wegen unlösbarer Probleme unwiderrufliche<br />

Abriss <strong>und</strong> damit der Verlust definierter kultureller<br />

<strong>und</strong> immer auch materieller Werte darf nur<br />

der letzte Ausweg sein. Der Weg bis dahin muss<br />

nachweislich von dem Bemühen geprägt sein,<br />

alle denkbaren Möglichkeiten zur Revitalisierung<br />

der Bausubstanz ausgeschöpft zu haben. Dazu<br />

gehört auch die Nutzung der im Rahmen der alljährlich<br />

abzuschließenden Verwaltungsvereinba-<br />

ALTE STADT. NEUE STADT.<br />

rungen des B<strong>und</strong>es mit den Ländern angebotenen<br />

Mittel zur Sicherung von Gebäuden mit der<br />

Absicht einer späteren Sanierung <strong>und</strong> Wiedernutzung.<br />

Bestehende bürgerschaftliche Aktivitäten,<br />

Gruppierungen <strong>und</strong> Vereine sollten immer in<br />

die Prozesse <strong>und</strong> Entscheidungen einbezogen<br />

werden. Ohne die Beteiligung der Öffentlichkeit<br />

kann es nicht erfolgreich sein.<br />

Rechtzeitig planen<br />

In allen Städten, die verantwortungsvoll ihre<br />

Stadtentwicklung planen <strong>und</strong> gestalten, ist der<br />

Transformationsprozess der Stadtbevölkerung in<br />

seinen Tendenzen bekannt, allerdings in seinen<br />

Größenordnungen nur durch ständiges Beobachten<br />

in Relationen erfassbar. Es ist aber<br />

immer möglich, daraus Ansätze für gesamtstädtische<br />

<strong>und</strong> davon abgeleitete Detailplanungen zu<br />

entwickeln. Hier ist die kommunale Planungshoheit<br />

gefordert. Rechtzeitig die städtischen Plandokumente,<br />

die vielerorts noch aus der einseitigen<br />

Wachstumssicht der 90er-Jahre aufgestellt<br />

<strong>und</strong> in den wenigsten Fällen standortkonkret<br />

fortgeschrieben worden sind, zu prüfen <strong>und</strong> sich<br />

bei Bedarf neu zu positionieren, Prioritäten neu<br />

zu setzen <strong>und</strong> damit mittel- <strong>und</strong> langfristig<br />

Abläufe vorzustrukturieren, die gewährleisten,<br />

dass die Stadt als lebendiger Organismus mit<br />

attraktiver Gestaltung existent <strong>und</strong> ablesbar<br />

bleibt – das ist ein gegenwärtiges Erfordernis.<br />

Unabgestimmte oder auch ungewollte Abrisse<br />

<strong>und</strong> Perforierung verhindern, die Stadtmitte stärken,<br />

nachhaltig nutzbare Stadtstrukturen sichern<br />

<strong>und</strong> Lebensräume für eine vitale <strong>und</strong> möglichst<br />

auch multikulturelle Stadtgesellschaft organisieren,<br />

die alle Altersgruppen umfasst, sind nur<br />

einige der gegenwärtigen Ansprüche. Das wird<br />

nicht überall <strong>und</strong> über alle Stadtgrößen oder<br />

Regionen hinweg gleichermaßen bedeutsam<br />

sein, aber im Prinzip muss man sich in allen Kommunen<br />

damit befassen. Je besser man vorbereitet<br />

7


STILEPOCHEN<br />

ist, umso eher sind die kommenden Entwicklungen<br />

sozial verträglich <strong>und</strong> finanzpolitisch abgesichert<br />

zu meistern.<br />

Qualität sichern<br />

Mehr denn je stehen Städte <strong>und</strong> Regionen heute<br />

in Konkurrenz zueinander. In dieser Situation ist<br />

die baukulturelle Komponente der Stadtpolitik,<br />

also die Qualität der Prozesse <strong>und</strong> die der darauf<br />

aufbauenden Ergebnisse von eminenter Bedeutung.<br />

Die außerordentliche Wertschätzung für die<br />

historischen <strong>und</strong> über lange Zeiträume gewachsenen<br />

Stadtstrukturen in den Intentionen der<br />

europäischen Stadt ist dabei unbestritten. Aber<br />

die derzeitige Entwicklung zeigt, dass es nicht<br />

gelingen wird, alle bestehenden Substanzen wieder<br />

zu vitalisieren. Und so ist auch der „Mut zur<br />

Lücke“ gefragt. Dabei muss gleichzeitig geklärt<br />

werden, ob die Lücke endgültig ist oder vielleicht<br />

eine Chance für eine Aufwertung darstellt, womit<br />

verbesserte Existenzbedingungen für eine neue,<br />

junge oder auch altersmäßig gut durchmischte<br />

Wohnbevölkerung geschaffen werden können,<br />

oder ob sie wieder bebaut werden soll. Das, was<br />

> GOTIK IN LEIPZIG<br />

Die Thomaskirche, erbaut zwischen 1482 <strong>und</strong> 1496,<br />

gilt als beeindruckendes Beispiel obersächsischspätgotischer<br />

Hallenkirchen. Ungewöhnlich steil ist<br />

der Dachstuhl der Kirche, die auf dem Gelände eines<br />

Kirchenbaus aus dem 12. Jahrh<strong>und</strong>ert entstand.<br />

Die Heimstätte des fast 800 Jahre alten Thomaner-<br />

Chores erfuhr nach ihrer Errichtung mehrmals mehr<br />

oder weniger große stilistische Veränderungen.<br />

dann als Neubau entsteht, sollte möglichst besser<br />

<strong>und</strong> vollkommener sein als das, was aufgegeben<br />

werden muss. Das trifft letztendlich auch<br />

für alle Stadtbrachen, bereits bestehende <strong>und</strong><br />

künftig noch entstehende, zu. Hier gilt es, nicht<br />

Beliebigkeit zuzulassen, sondern Kreativität <strong>und</strong><br />

Innovation herauszufordern, Ideenvielfalt durch<br />

Wettbewerbe zu produzieren <strong>und</strong> bestmögliche<br />

Lösungen zu entwickeln. So kann es gelingen,<br />

den Stadtumbau, der im Prinzip immer stattfindet<br />

– unterschiedlich in Quantität <strong>und</strong> Qualität<br />

<strong>und</strong> standörtlich <strong>und</strong> zeitlich differenziert – verantwortbar<br />

zu gestalten. Dazu stellt die Expertengruppe<br />

Städtebaulicher Denkmalschutz in<br />

ihrem Memorandum vom Oktober 2004 fest: „Im<br />

Ergebnis des Dialoges aller Partner beim Entscheidungsprozess<br />

muss es möglich sein, das<br />

Unverzichtbare zu schützen <strong>und</strong> andererseits<br />

belanglose Bausubstanz durch qualitätsvolle<br />

Neubauten zu ersetzen. Damit sollte die Rettung<br />

der historischen Altstadt erleichtert werden. Priorität<br />

müssen bei der Erhaltung immer Baudenkmäler<br />

<strong>und</strong> alle Bauten haben, die für die<br />

Geschlossenheit der Straßen- <strong>und</strong> Platzwände<br />

bedeutsam sind. Es muss verhindert werden,<br />

dass es durch Abbrüche zur Perforierung des<br />

Stadtbildes insbesondere in den historischen<br />

Innenstädten kommt. Die gr<strong>und</strong>sätzliche Ablehnung<br />

einer maßvollen Durchgrünung der historischen<br />

Stadt durch die Denkmalpflege sollte überdacht<br />

<strong>und</strong> örtlich differenziert möglich werden.<br />

Mit dem von Generation zu Generation sich wandelnden<br />

Anspruch der Bewohner an die Wohnumwelt<br />

<strong>und</strong> den Wohnkomfort hat sich die historische<br />

Stadt schon immer verändert. Auch auf<br />

diesem Wandel beruht der Denkmalwert, woraus<br />

sich das Recht zu erneuten Veränderungen ableitet.<br />

Dieser muss allerdings in Form qualitätsvoller<br />

Zutaten unserer Zeit erfolgen <strong>und</strong> die Identität<br />

der Baudenkmäler, Straßen- <strong>und</strong> Platzräume<br />

wahren.“<br />

> www.staedtebaulicher-denkmalschutz.de<br />

Die Expertengruppe Städtebaulicher Denkmalschutz<br />

ist ein vom B<strong>und</strong>esminister für<br />

Verkehr, Bau <strong>und</strong> Stadtentwicklung berufenes<br />

Gremium zur fachlichen Begleitung des<br />

Programms Städtebaulicher Denkmalschutz.<br />

Die Expertengruppe besteht aus anerkannten<br />

Fachleuten, zu deren Schwerpunkten die<br />

erhaltende Stadterneuerung <strong>und</strong> die städtebauliche<br />

Denkmalpflege zählen. Zu den Mitgliedern<br />

gehören unter anderem Architekten<br />

<strong>und</strong> Stadtplaner, Verwaltungsexperten sowie<br />

Repräsentanten der Landesdenkmalämter.<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006<br />

ALTE STADT. NEUE STADT.<br />

8 9


»Es gibt kein Vergangenes, das<br />

man zurücksehnen darf, es gibt<br />

nur ein ewig Neues, das sich<br />

aus den erweiterten Elementen<br />

der Vergangenheit gestaltet,<br />

<strong>und</strong> die echte Sehnsucht muss<br />

stets produktiv sein, ein Neues,<br />

Besseres zu schaffen.«<br />

Giordano Bruno (1548 – 1600),<br />

italienischer Naturphilosoph<br />

DEUTSCHLANDS DENKMAL-HAUPTSTADT<br />

HEISST LEIPZIG<br />

15.000 Häuser <strong>und</strong> Objekte stehen unter besonderem Schutz, viele sind liebevoll saniert, doch<br />

einige H<strong>und</strong>ert machen Eigentümern, der Stadt <strong>und</strong> den Bürgern noch Sorgen, weil sie verfallen<br />

Tag für Tag zwängen sich Busse voller<br />

Touristen durch die engen Tempo-30-<br />

Zonen im <strong>Leipziger</strong> Waldstraßenviertel.<br />

Und das aus gutem Gr<strong>und</strong>: Im Quartier<br />

am Westrand der <strong>Leipziger</strong> City bestaunen Gäste<br />

aus dem In- <strong>und</strong> Ausland den ganz besonderen<br />

Reiz der alten Bürger- <strong>und</strong> Handelsstadt an der<br />

Pleiße. Wohin das Auge schaut, beeindruckende<br />

Zeugnisse der Architektur des Spätklassizismus,<br />

des Historismus <strong>und</strong> des Jugendstils, die in der<br />

Gründerzeit des ausgehenden 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

entstanden. 550 Gebäude des einst wohlhabenden<br />

<strong>Leipziger</strong> Bürgertums mit reich dekorierten<br />

Straßenfassaden <strong>und</strong> beeindruckenden Treppenhäusern<br />

wurden in diesem Quartier seit 1990<br />

hochwertig saniert <strong>und</strong> stehen heute überwiegend<br />

unter Denkmalschutz.<br />

Und es sind bei weitem nicht die einzigen unter<br />

diesem besonderen Schutz. Leipzig zählt r<strong>und</strong><br />

15.000 denkmalgeschützte Gebäude, Parks <strong>und</strong><br />

technische Anlagen – was die Halbmillionenmetropole<br />

in Deutschland so einzigartig macht.<br />

Andere Großstädte kommen aus den verschiedensten<br />

Gründen nicht annähernd auf solche<br />

Zahlen. Verheerende Bombardierungen wie in<br />

Dresden, Hamburg oder Köln vernichteten im<br />

Zweiten Weltkrieg weitgehend die Gründerzeitquartiere<br />

dieser Städte. Dazu kamen die architektonischen<br />

<strong>und</strong> städtebaulichen Ideale der<br />

50er- oder 60er-Jahre. So wurden in Hamburg<br />

nach dem Krieg Prämien für das Abschlagen von<br />

Fassadenschmuck gezahlt.<br />

Leipzigs Denkmäler durch<br />

„DDR-Verfall“ gerettet<br />

Leipzig hatte dagegen Glück, wenngleich dieser<br />

Begriff relativ ist, wie Wolfgang Hocquél weiß:<br />

„Leipzig ist eine bedeutende Gründerzeitstadt<br />

<strong>und</strong> war zudem bis zum Ende der 30er-Jahre eine<br />

der größten deutschen Städte. Sie wurde im<br />

Zweiten Weltkrieg im Vergleich zu Dresden oder<br />

Hamburg weniger zerstört. Es fehlte außerdem<br />

in Leipzig zu DDR-Zeiten die Baukapazität zur<br />

Sanierung des Altbaubestandes. Und Gott sei<br />

Dank fehlten auch die Mittel für einen flächendeckenden<br />

Abriss der damals schon äußerst<br />

baufälligen Gründerzeitquartiere“, so der Referatsleiter<br />

für Denkmalschutz im Regierungsbezirk<br />

Leipzig.<br />

Als im Januar 1990 mitten in der politischen<br />

Wende eine vorurteilsfreie Bestandsaufnahme<br />

der <strong>Leipziger</strong> innerstädtischen Bausubstanz<br />

gemacht wurde, waren nach Ansicht vieler Fachleute<br />

ganze Stadtteile nicht mehr zu retten. Leipzig<br />

wirkte an einigen Stellen, wie im südlichen<br />

Connewitz oder im westlichen Lindenau, wie<br />

eine Ruinenstadt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.<br />

Dort war 40 Jahre lang nahezu nichts in<br />

die alte Bausubstanz investiert worden. Während<br />

die DDR-Politik seit Mitte der 70er-Jahre<br />

fast ganz auf die Errichtung von Plattenbauwoh-<br />

> RENAISSANCE IN LEIPZIG<br />

1556/57 errichtete Hieronymus Lotter – unter Verwendung<br />

älterer Bauteile – das Alte Rathaus. Dieser<br />

lang gestreckte, stattliche Putzbau mit seinen roten<br />

Gliederungen in Rochlitzer Porphyrtuff gehört zu den<br />

herausragenden Bauleistungen der Renaissance in<br />

Deutschland. Bemerkenswert ist unter anderem der<br />

43 Meter lange <strong>und</strong> 11 Meter breite Festsaal.<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006 ALTE STADT. NEUE STADT.<br />

10 11<br />

STILEPOCHEN


nungen auf der grünen Wiese setzte, fehlten<br />

Kraft, Geld <strong>und</strong> oft auch das Interesse, 80 bis<br />

100 Jahre alte Wohnhäuser zu sanieren.<br />

Bauboom bescherte Leipzig<br />

großflächige Sanierungen<br />

Nach der Wiedervereinigung verfiel Leipzig in<br />

einen wahren Baurausch. Investoren wurden auf<br />

der Suche nach attraktiven Geldanlagen in Leipzig<br />

fündig: R<strong>und</strong> 12.000 der denkmalgeschützten<br />

Objekte – die meisten aus der Gründerzeit – wurden<br />

bis heute hochwertig saniert <strong>und</strong> erstrahlen<br />

in altem Glanz wie vor 100 Jahren. Insgesamt flossen<br />

schätzungsweise r<strong>und</strong> 23 Milliarden Euro in<br />

Leipzigs Bausubstanz. Neben privatem Geld<br />

beförderten inzwischen nahezu gänzlich ausgelaufene<br />

steuerliche Förderinstrumente den Bauboom.<br />

Dazu kamen Mittel aus der Städtebauförderung<br />

<strong>und</strong> diversen anderen Programmen.<br />

Inzwischen sind ganze Quartiere hochwertig<br />

saniert <strong>und</strong> prägen das Bild der Stadt. Dennoch<br />

bleiben r<strong>und</strong> 2.500 unsanierte, leer stehende<br />

<strong>und</strong> zu bedeutenden Teilen denkmalgeschützte<br />

Gebäude. Und diese Häuser machen Eigentümern,<br />

Politikern, Stadtplanern <strong>und</strong> vielen Bürgern<br />

große Sorgen. Denn sie sind oft in einem<br />

dramatisch schlechten, quasi unvermietbaren<br />

Zustand. Allein 400 Häuser waren Ende 2004<br />

akut einsturzgefährdet. Wolfgang Hocquél nennt<br />

die Gründe für die scheinbar vergessenen Häuser,<br />

die meistens optisch wie auch bautechnisch<br />

in einem erbärmlichen Zustand sind: „Leipzig hat<br />

mit einem massiven Bevölkerungsschw<strong>und</strong> aus<br />

den 90er-Jahren zu kämpfen. Also fehlt bei einem<br />

sowieso schon hohen Leerstand eigentlich der<br />

Bedarf für neuen Wohnraum.“ Zudem finde sich<br />

keine Bank mehr, die solche Investitionen finanzieren<br />

würde. Seit 1990 sind in der Messestadt<br />

12<br />

Leerstand, kein Investor, keine<br />

Perspektive: Nicht alle Häuser in<br />

Leipzig können gerettet werden.<br />

r<strong>und</strong> 450 Baudenkmäler abgerissen worden –<br />

nicht immer mit dem nötigen Fingerspitzengefühl,<br />

aber sehr oft aus der puren Not von Hausbesitzern<br />

oder weil die Häuser quasi kurz vor<br />

dem Einsturz standen.<br />

Viel zu wenig Mieter für verfallenden „Rest“<br />

Hocquéls Rechnung zeigt, dass die Probleme<br />

nicht geringer geworden sind: 2.500 leer stehende<br />

unsanierte Häuser haben im Schnitt<br />

10 Wohnungen. Je Wohnung wird ein 2,5-Personen-Haushalt<br />

veranschlagt. Das sind über 60.000<br />

Mieter, was der Einwohnerzahl der Stadt Görlitz<br />

entspricht. Wo sollen die Menschen angesichts<br />

einer bereits bestehenden Leerstandsquote von<br />

16 Prozent (Ende 2003) herkommen?<br />

Zur Zeit werden in Leipzig trotz aller Unwägbarkeiten<br />

laut Wolfgang Hocquél immer noch 250<br />

bis 300 denkmalgeschützte Häuser pro Jahr<br />

saniert. Macht knapp zehn Jahre für alle unsanierten<br />

Gebäude. So lange halten die meisten<br />

nicht mehr durch. Was – auch nach Protesten von<br />

Architekten <strong>und</strong> Bürgervereinen – in einigen Fällen<br />

die Stadt auf den Plan ruft. Sie legte im März<br />

2005 ein Sicherungsprogramm für Gründerzeithäuser<br />

auf. Dieses Programm hat zum Ziel, die<br />

Gründerzeitgebäude mit einer besonderen städtebaulichen<br />

oder denkmalpflegerischen Bedeutung<br />

vorrangig zu sichern. Priorität genießen<br />

dabei Gebäude in der inneren Stadt. Hier soll nur<br />

in begründeten <strong>und</strong> vertretbaren Ausnahmen<br />

abgerissen werden. Demgegenüber werden<br />

öffentliche Ressourcen für die Erhaltung von Einzelgebäuden<br />

in den entfernter liegenden Stadtteilen<br />

nur entsprechend den verfügbaren Mitteln<br />

<strong>und</strong> der Qualität der Gebäude bereitgestellt. Im<br />

Klartext: Dort kann es auch zum Abriss von denkmalgeschützten<br />

Gründerzeithäusern kommen.<br />

Eine Prioritätenliste mit knapp 50 akut gefährdeten<br />

Gebäuden mit „sehr großer städtebaulicher<br />

<strong>und</strong> denkmalpflegerischer Bedeutung“ wird seit<br />

Auflage des Sicherungsprogramms abgearbeitet.<br />

Sei es durch ein provisorisches oder neues Dach,<br />

durch die Sanierung von Gebäudehüllen, sei es<br />

für die kurzfristige Gewährleistung der Bausicherheit.<br />

Neue Wege: Familien sanieren Häuser<br />

Ungeachtet der knappen finanziellen Ressourcen<br />

versucht die Stadt, innovative Wege zu beschreiten,<br />

um neue Bewohnerschichten für unsanierte<br />

Häuser zu gewinnen. Unter dem Motto „Neue<br />

Gründerzeit“ realisiert das <strong>Leipziger</strong> Amt für<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006<br />

Stadterneuerung <strong>und</strong> <strong>Wohnungs</strong>bauförderung<br />

seit 1998 eine Stadterneuerungsstrategie, die<br />

aus zwei Komponenten besteht: Einmal wird der<br />

Neubau von Stadthäusern auf Brachflächen <strong>und</strong><br />

inmitten gründerzeitlicher Bestände gefördert.<br />

Zum anderen gibt es ein sogenanntes Selbstnutzerprogramm,<br />

bei dem die Stadt vor allem Familien<br />

dazu animiert, Gründerzeithäuser zu sanieren.<br />

Gemeinsam mit Architekten, aber oft ohne<br />

Bauträger, entstehen so kostengünstige Möglichkeiten<br />

des Eigentumserwerbs. Seit 2001<br />

haben 120 Familien insgesamt 18 Gründerzeithäuser<br />

saniert.<br />

18 gerettete denkmalgeschützte Häuser – ein<br />

Tropfen auf den heißen Stein? „Wir halten das<br />

Programm für erfolgreich, weil es zeigt, wie man<br />

mitten in der Stadt mit vergleichsweise wenig<br />

Mitteln Eigentum bilden kann. Das Beispiel<br />

wirkt“, freut sich Stefan Gabi, Abteilungsleiter im<br />

Amt für Stadterneuerung <strong>und</strong> <strong>Wohnungs</strong>bauförderung.<br />

ALTE STADT. NEUE STADT.<br />

> BAROCK IN LEIPZIG<br />

Die Alte Handelsbörse ist als ältestes erhaltenes<br />

Versammlungsgebäude der <strong>Leipziger</strong> Kaufleute der<br />

erste Barockbau in der Messestadt. Die Börse wurde<br />

zwischen 1678 <strong>und</strong> 1687 errichtet. Im Börsensaal im<br />

Obergeschoss wurden Wechsel- <strong>und</strong> Geldgeschäfte<br />

getätigt <strong>und</strong> Informationen ausgetauscht. Heute<br />

wird der Börsensaal für Konzerte <strong>und</strong> andere kulturelle<br />

Veranstaltungen genutzt.<br />

13<br />

STILEPOCHEN


»Man sollte beständig die Wirkung der<br />

Zeit <strong>und</strong> die Wandelbarkeit der Dinge<br />

vor Augen haben <strong>und</strong> daher bei allem,<br />

was jetzt stattfindet, sofort das Gegenteil<br />

imaginieren.«<br />

Arthur Schopenhauer (1788 – 1860),<br />

deutscher Philosoph<br />

14<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006<br />

„SO VIEL WIE MÖGLICH RETTEN“<br />

Interview mit Martin zur Nedden, Bürgermeister für Stadtentwicklung <strong>und</strong> Bau der Stadt Leipzig<br />

Herr Bürgermeister, bis Mitte 2006 waren Sie<br />

Stadtbaurat in Bochum. Nun sind Sie Bürgermeister<br />

in gleicher Funktion in Leipzig. Wie<br />

groß ist der Unterschied zwischen den beiden<br />

Städten?<br />

zur Nedden: Bochum hat städtebaulich eine ganz<br />

andere Struktur. Erst durch die wachsende Montanindustrie<br />

Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts erfuhr die<br />

Stadt einen enormen Entwicklungsschub. Zudem<br />

hatte Bochum unter erheblichen Kriegszerstörungen<br />

zu leiden – die prägende Bausubstanz ist<br />

dort also aus der Zeit nach 1945. Leipzig ist dagegen<br />

bekanntermaßen aufgr<strong>und</strong> seiner langen<br />

Geschichte als Handels- <strong>und</strong> Universitätsstadt<br />

baulich ganz anders geprägt. Auch Kriegszerstörungen<br />

waren gottlob nicht so schlimm wie in<br />

anderen deutschen Städten. Eine wesentliche<br />

Qualität ist daher die gründerzeitliche Bausubstanz,<br />

von der immerhin schon vier Fünftel überwiegend<br />

hervorragend saniert sind. Leipzig ist<br />

heute eine absolut lebenswerte Metropole. Auch<br />

wenn es noch viel zu tun gibt.<br />

ALTE STADT. NEUE STADT.<br />

Viel zu tun heißt ja vor allem Rettung von<br />

Gründerzeithäusern: Was passiert mit den 20<br />

Prozent an unsanierten Gebäuden, die häufig<br />

vom Verfall bedroht sind? Wird Leipzig trotz<br />

aller Bemühungen Gründerzeithäuser abreißen<br />

müssen, die nicht mehr zu retten sind?<br />

zur Nedden: Wir arbeiten derzeit an einem integrierten<br />

Stadtentwicklungskonzept. Auch in diesem<br />

Zusammenhang diskutieren wir derzeit<br />

intensiv darüber, wie wir möglichst viel gründerzeitliche<br />

Substanz erhalten können. Aber wir<br />

haben beispielsweise auch zu entscheiden, was<br />

mit leer stehenden Gebäuden aus den Jahren<br />

1900 bis 1960 passiert, die nicht unbedingt<br />

unter Denkmalschutz stehen.<br />

Alles in allem gilt, dass wir so viel Substanz wie<br />

möglich retten wollen. Dafür gibt es auch unterschiedliche<br />

Ansätze. Im Rahmen des im Herbst<br />

2005 vom Stadtrat beschlossenen Gebäudesicherungsprogramms<br />

konnten wir zum Beispiel<br />

in diesem Jahr 20 Gebäude mit städtebaulich<br />

herausragender Bedeutung bzw. hohem<br />

15


16<br />

Eines von 18 Gebäuden, die<br />

von Selbstnutzern saniert<br />

wurden: die Waldstraße 65.<br />

Denkmalwert vor dem endgültigen Verfall retten.<br />

Die Sicherungsmaßnahmen sollen nun möglichst<br />

in langfristige Konzepte zur Erhaltung dieser<br />

Gebäude münden. Das Programm ist auf<br />

einem guten Weg, weil es Denkmäler zeitweilig<br />

vor dem Verfall rettet <strong>und</strong> privaten Eigentümern<br />

die Chance eröffnet, ihren Besitz zu erhalten<br />

<strong>und</strong> möglicherweise sogar zu sanieren, auch<br />

wenn dies angesichts des Leerstandes sehr<br />

schwierig ist. Dennoch gibt es Wege. Die <strong>Leipziger</strong><br />

haben schon bewiesen, wie kreativ sie das<br />

Problem angehen. Wächterhäuser, Stadthäuser,<br />

Selbstnutzer – das sind alles erfolgreiche Bausteine,<br />

die es weiterzuentwickeln gilt.<br />

Die bisherige Strategie geht davon aus, dass<br />

denkmalgeschützte Häuser im Zentrum oder<br />

in Zentrumsnähe möglichst ausnahmslos<br />

gerettet werden sollen. Heißt dies auch, dass<br />

in Stadtteilen wie Anger-Crottendorf oder<br />

Lindenau die Abrissbirne viel häufiger zum<br />

Einsatz kommt?<br />

zur Nedden: Auch da überprüfen wir laufend<br />

unsere Konzepte <strong>und</strong> entwickeln sie weiter. Die<br />

Rahmenbedingungen ändern sich eher in positiver<br />

Richtung. Immerhin sind r<strong>und</strong> 40.000 Menschen<br />

in Gründerzeitviertel zurück gezogen. Und<br />

Leipzig muss nicht mit einem weiteren drastischen<br />

Bevölkerungsrückgang rechnen, eher mit<br />

Zuwächsen.<br />

Wie wäre es, wenn man den Bewohnern der<br />

Plattenbaugebiete wie in Grünau oder Paunsdorf<br />

Gründerzeit schmackhaft machen <strong>und</strong> sie<br />

zum Umzug hinein in die Stadt animieren<br />

würde?<br />

zur Nedden: Egal ob Gründerzeit, 20er-Jahre,<br />

Platten-Großsiedlung oder neu gebaute Stadthäuser<br />

– alle diese Wohnformen haben ihre<br />

Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> damit gr<strong>und</strong>sätzlich ihre Daseinsberechtigung.<br />

Es gibt Menschen, die gern in der<br />

Platte in Grünau leben, weil sie vielleicht die<br />

Gründerzeitgebäude nicht mögen oder das über<br />

Jahre entstandene soziale Umfeld mit den<br />

gewohnten Nachbarn nicht verlassen wollen<br />

<strong>und</strong> das inzwischen aufgewertete Wohnumfeld<br />

mit Einkaufsmöglichkeiten <strong>und</strong> guter Verkehrsanbindung<br />

schätzen.<br />

Welche Rolle fällt der LWB beim Stadtumbau<br />

<strong>und</strong> der Stadtplanung generell zu?<br />

zur Nedden: Die LWB spielt natürlich eine wichtige<br />

Rolle für die Stadtentwicklung <strong>und</strong> die Stadt<br />

ganz allgemein. Leipzig als Eigentümer des<br />

städtischen <strong>Wohnungs</strong>unternehmens kann sehr<br />

viel gezielter Einfluss nehmen auf die Bereitstellung<br />

des benötigten Wohnraums – eine wichtige<br />

sozialpolitische Komponente. Aber auch städtebaulich<br />

kann mit einer kommunalen <strong>Wohnungs</strong>gesellschaft<br />

vieles direkter umgesetzt werden als<br />

mit privaten Immobilienbesitzern.<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006<br />

„RETTUNGSANKER“ FÜR<br />

LEIPZIGER GRÜNDERZEITHÄUSER<br />

Selbstnutzer.de – Wohnen im Eigentum<br />

Seit dem Jahr 2001 haben r<strong>und</strong> 120 <strong>Leipziger</strong><br />

Familien 18 Gründerzeithäuser auf eher unkonventionellem<br />

Weg in ihren Besitz genommen.<br />

Innerhalb des <strong>Leipziger</strong> Selbstnutzer-Programms<br />

haben sie die Chance genutzt, Wohneigentum zu<br />

bilden. Sie schlossen sich zusammen, um mit<br />

einem Architekten, aber in der Regel ohne Bauträger,<br />

unsanierte Gründerzeithäuser wieder<br />

bewohnbar zu machen. Das Programm selbst<br />

öffnet keinen „Fördertopf“, setzt aber auf Beratung,<br />

Gruppenmoderation, Marketing <strong>und</strong> Netzwerkbildung<br />

<strong>und</strong> bringt damit die Interessenten<br />

an einen Tisch oder besser gesagt in ein Haus.<br />

Denn die Interessenten erwerben das Haus in<br />

gemeinschaftlichem Eigentum <strong>und</strong> ihre Wohnungen<br />

für sich allein. Günstige Bodenpreise,<br />

niedriges Zinsniveau, sinkende Baukosten, ein<br />

hoher Eigenanteil an den Bauleistungen – dies<br />

alles macht die Selbstnutzung attraktiv. Auch für<br />

kleinere Geldbeutel.<br />

> www.selbstnutzer.de<br />

Gebäudesicherungsprogramm<br />

Im Herbst 2005 beschloss der Stadtrat ein<br />

Gebäudesicherungsprogramm für den Erhalt<br />

gefährdeter Gebäude mit städtebaulich herausragender<br />

Bedeutung bzw. hohem Denkmalwert.<br />

Im Herbst 2006 standen insgesamt 1,6 Millionen<br />

Euro – 267.000 davon als Eigenanteil der Stadt –<br />

zur Verfügung. Der Rest sind Fördermittel von<br />

Land <strong>und</strong> B<strong>und</strong>. Ziel des Programms ist nicht nur<br />

der Erhalt von Gebäuden, auch baurechtliche<br />

Möglichkeiten wie Anordnung oder Ersatzvornahme<br />

zum Gebäudeerhalt oder die Vermittlung<br />

von potenziellen Kaufinteressenten wird aus diesen<br />

Mitteln bestritten. Derzeit werden 20 wertvolle<br />

Gebäude auf diese Weise vor dem endgültigen<br />

Verfall geschützt. Weitere sollen hinzukommen.<br />

Wächterhäuser<br />

Es gibt eine Vielzahl von Gründerzeithäusern –<br />

zum Beispiel an belebten Ausfallstraßen – wo der<br />

klassische Investor/Bauträger nur noch in Einzelfällen<br />

Interesse an einer Sanierung zeigt, weil<br />

diese Gebäude keine rentable Modernisierung<br />

<strong>und</strong> anschließende konventionelle Wohnnutzung<br />

zulassen. Diesen Häusern will der 2004 gegründete<br />

Verein „HausHalten e. V.“ mit unkonventionellen<br />

Nutzungsideen neue Perspektiven geben.<br />

ALTE STADT. NEUE STADT.<br />

Künstler, Studenten, Initiativen <strong>und</strong> Vereine<br />

suchen in der Regel viel Betätigungsfläche für<br />

wenig Geld. Ziel ist, diese Gruppen zu aktivieren<br />

<strong>und</strong> zusammenzuführen, damit sie solche Häuser<br />

nutzen. Dies geschieht durch beträchtlichen<br />

eigenen handwerklichen Einsatz <strong>und</strong> bauliche<br />

Eigenleistungen, individuelle Gestaltungsformen<br />

der Häuser <strong>und</strong> unter Verzicht normaler Ausstattungsstandards.<br />

Diese nicht auf Dauer angelegten<br />

Nutzungsformen sollen auch Eigentümern<br />

über schwierige Zeiten hinweg helfen. Anfang<br />

September 2006 waren sechs Wächterhäuser<br />

vertraglich geb<strong>und</strong>en, drei bereits bezogen.<br />

> www.haushalten.org<br />

„Wächterhäuser“ wie in der Kuhturmstraße<br />

im <strong>Leipziger</strong> Westen<br />

werden von Vereinen <strong>und</strong> Verbänden<br />

für wenig Geld genutzt.<br />

17


»Zeit ist Geld.«<br />

Benjamin Franklin<br />

(1706 – 1790),<br />

US-amerikanischer<br />

Politiker, Naturwissenschaftler,<br />

Erfinder <strong>und</strong><br />

Schriftsteller<br />

18<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006<br />

ABBRUCH UND STADTUMBAU ALS<br />

CHANCE OSTDEUTSCHER STÄDTE<br />

Wie der Stadtumbau Leipzig verändert<br />

In vielen ostdeutschen Klein- <strong>und</strong> Großstädten<br />

ist der Stadtumbau Ost als wohnungspolitisches<br />

<strong>und</strong> städtebauliches Dauerthema Normalität,<br />

<strong>und</strong> der Abriss vor allem von Plattenbauten<br />

an den Stadträndern gehört nunmehr seit<br />

Jahren zum Alltag. Daher ist es nicht ungewöhnlich,<br />

dass der Abbruch von Wohnungen immer<br />

dann eine größere mediale Aufmerksamkeit<br />

erfährt, wenn er in die Kritik gerät. Etwa wenn es<br />

um den Abriss von denkmalgeschützten Gebäuden<br />

geht. Dabei lohnt sich ein genaueres Hinsehen,<br />

weil die positiven Wirkungen des Stadtumbaus<br />

längst sichtbar sind. In Leipzig zum Beispiel,<br />

wo allein die <strong>Leipziger</strong> <strong>Wohnungs</strong>- <strong>und</strong><br />

<strong>Baugesellschaft</strong>, eine Tochter der Stadt, seit dem<br />

Jahr 2000 r<strong>und</strong> 6.000 Wohnungen abgerissen<br />

<strong>und</strong> damit maßgeblich zur Stabilisierung des<br />

Marktes beigetragen hat. Ablesbar an einer Aufwertung<br />

benachteiligter Wohnstandorte, einem<br />

geringeren <strong>Wohnungs</strong>leerstand <strong>und</strong> verhalten<br />

optimistischen Markteinschätzungen.<br />

So kommt beispielsweise eine Mitte September<br />

2006 veröffentlichte Analyse vom Immobilienverband<br />

Deutschland zu einer positiven Einschätzung<br />

des <strong>Leipziger</strong> Immobilienmarktes.<br />

Zwar ist der Optimismus noch verhalten, doch er<br />

ist nicht gr<strong>und</strong>los. Wenn nicht mehr Leerstandszahlen<br />

<strong>und</strong> sinkende Mieterwartungen die Sicht<br />

auf den <strong>Wohnungs</strong>markt bestimmen, dann weil<br />

der Stadtumbau <strong>und</strong> die großflächige Erhaltung<br />

des Altbaubestandes Wirkung zeigen. Während<br />

achtzig Prozent der <strong>Wohnungs</strong>abbrüche in Sachsen<br />

von den städtischen <strong>Wohnungs</strong>unternehmen<br />

realisiert werden – in Leipzig entfällt genau dieser<br />

Anteil auf die LWB –, profitieren von dieser<br />

Marktverknappung auch private oder genossenschaftliche<br />

<strong>Wohnungs</strong>anbieter. Von r<strong>und</strong> 4.000<br />

LWB-Mietern beispielsweise, die infolge des<br />

Abbruchs umziehen mussten, zogen nur 60 Prozent<br />

wieder in eine kommunale Wohnung, 40<br />

Prozent der Mieter wechselten mit dem Umzug<br />

auch den Vermieter.<br />

Vor allem profitieren jedoch die ostdeutschen<br />

Städte von dem Programm, weil der Stadtumbau<br />

mehr als ein Ges<strong>und</strong>schrumpfen des Marktes ist.<br />

Er ist eine ordnungspolitische Chance, wohnungswirtschaftliche<br />

<strong>und</strong> städtebauliche Versäumnisse<br />

<strong>und</strong> Fehlentwicklungen der Vergan-<br />

ALTE STADT. NEUE STADT.<br />

genheit aufzuarbeiten <strong>und</strong> die ostdeutschen<br />

Immobilienmärkte wieder überlebensfähig zu<br />

machen.<br />

Abriss hat historische<br />

<strong>und</strong> demografische Gründe<br />

Beispielsweise lässt sich die Situation der Stadt<br />

Leipzig, Wohnungen abreißen zu müssen, nur<br />

historisch oder besser demografisch begründen.<br />

Leipzig hat einen zu großen <strong>Wohnungs</strong>bestand<br />

oder zu wenig Einwohner, dies spiegelt sich in<br />

über 20.000 leer stehenden vermietbaren Wohnungen<br />

wider. Nicht eingerechnet eine ähnliche<br />

Anzahl unvermietbarer Wohnungen. Eine Situation,<br />

die keineswegs dem Wegzug vieler Menschen<br />

in die alten B<strong>und</strong>esländer nach der Wende<br />

anzulasten ist, sondern weiter zurückreicht.<br />

Ende 1930 hatte Leipzig r<strong>und</strong> 718.000 Einwohner,<br />

während die Fläche der Stadt um annähernd<br />

zwei Drittel kleiner war als in ihrer heutigen Ausdehnung.<br />

Bis 1945 verlor Leipzig vor allem<br />

infolge der nationalsozialistischen Rassenpolitik<br />

<strong>und</strong> des Krieges r<strong>und</strong> 137.000 Einwohner. Einen<br />

weiteren Aderlass musste die Stadt dann in der<br />

DDR hinnehmen. Die Einwohnerzahl lag 1989 bei<br />

etwa 530.000 Einwohnern, obwohl sich die Fläche<br />

des Stadtgebietes durch die Neubaugebiete<br />

19


Die LWB hat Gründerzeithäuser wie hier<br />

in der August-Bebel-Straße gemeinsam<br />

mit Bauträgern aufwändig saniert, trägt<br />

aber auch durch den Verkauf von Häusern<br />

an Investoren zur Rettung von<br />

denkmalgeschützten Gebäuden bei.<br />

an den Stadträndern ständig vergrößert hatte.<br />

Auch nach 1990 änderte sich an den Bevölkerungsverlusten<br />

nichts: Die Menschen zogen der<br />

Arbeit hinterher oder erfüllten sich – begünstigt<br />

durch Eigenheimzulage <strong>und</strong> steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten<br />

– den Traum vom<br />

eigenen Haus außerhalb der Stadt. Den demografischen<br />

Tiefpunkt erreichte Leipzig dann 1998<br />

mit r<strong>und</strong> 437.000 Einwohnern. Erst die Eingemeindungen<br />

infolge der Gebietsreform bescherten<br />

Leipzig Ende der neunziger Jahre einen deutlichen<br />

Einwohnerzuwachs, ein echtes Bevölkerungswachstum<br />

verzeichnet die Stadt seit 2002.<br />

Während die Bevölkerung also über Jahrzehnte<br />

kontinuierlich abnahm, führte insbesondere die<br />

steuerlich geförderte Neubau- <strong>und</strong> Sanierungstätigkeit<br />

nach der Wende zu einem <strong>Wohnungs</strong>überangebot<br />

mit den bekannten Folgen. Vor diesem<br />

Hintergr<strong>und</strong> ist der Stadtumbau ein Reflex<br />

auf eben jene skizzierte Einwohnerentwicklung.<br />

Zwar unterscheidet sich Leipzig allein durch sein<br />

Bevölkerungswachstum von anderen ostdeutschen<br />

Städten wie Hoyerswerda oder Schwedt,<br />

doch eine Reduzierung des Überangebotes von<br />

Wohnungen ist aus marktpolitischen Erwägungen<br />

wie aus stadträumlicher Sicht auch hier alternativlos.<br />

Man mag die derzeitige Förderpolitik als<br />

zu abrisslastig kritisieren <strong>und</strong> sich eine stärkere<br />

Förderung von Erhaltungs- <strong>und</strong> Konservierungsmaßnahmen<br />

wünschen. Man mag nachträglich<br />

20<br />

auch die widersprüchliche Förderpraxis der 90er-<br />

Jahre kritisieren, durch steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten<br />

gerade den Neubau außerhalb<br />

der Städte zu begünstigen <strong>und</strong> dadurch die<br />

Abwanderung zu forcieren. Nur lässt sich heute<br />

eben weder an den demografischen Entwicklungen<br />

noch den steuerpolitischen Gegebenheiten<br />

der Vergangenheit etwas ändern. Der Stadtumbau<br />

greift zumindest korrigierend ein.<br />

Abbruch nur bei Verbesserung<br />

der Wohnqualität<br />

Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> muss gelegentlichen<br />

Vorwürfen widersprochen werden, der Abriss<br />

würde den erhaltenswerten Altbaubestand ostdeutscher<br />

Städte gefährden. Auch hier lohnt sich<br />

genaues Hinsehen. So verfügt Leipzig über<br />

15.000 Baudenkmäler, darunter 12.500 Gründerzeithäuser,<br />

von denen vier Fünftel saniert <strong>und</strong><br />

damit vor dem Verfall gerettet sind. Allein die<br />

<strong>Leipziger</strong> <strong>Wohnungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Baugesellschaft</strong> hat bis<br />

2005 mehr als 1,4 Milliarden Euro in ihren <strong>Wohnungs</strong>bestand<br />

investiert. Von ihren seit 1992<br />

sanierten 23.000 Wohnungen stehen über 10.000<br />

unter Denkmalschutz. Abgebrochen wurden im<br />

Rahmen des Stadtumbaus lediglich 538 denkmalgeschützte<br />

Wohnungen, überwiegend im<br />

Kontext von Aufwertungen, wo Abbrüche innerhalb<br />

geschlossener Siedlungen zu einer verbesserten<br />

Wohnqualität des Quartiers führten.<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006<br />

Exemplarisch lässt sich der Stadtumbau in zwei<br />

Altbauvierteln der Messestadt zeigen. Im <strong>Leipziger</strong><br />

Osten, einem traditionellen Arbeiterviertel<br />

mit Gründerzeithäusern, Plattenbauten <strong>und</strong><br />

wenig Grün, wurden teilweise flächendeckend<br />

marode Altbauten abgerissen, um Grünräume zu<br />

schaffen. Hier entstand ein großes parkähnliches<br />

Areal mit Rasenflächen, Radwegen, Spiel<strong>und</strong><br />

Sportplätzen, die das Viertel erheblich aufwerten.<br />

Innerhalb geschlossener Gevierte wurden<br />

die Häuser hingegen weitgehend gehalten<br />

<strong>und</strong> alternative Lösungen entwickelt. Unter<br />

anderem ein sogenanntes Selbstnutzerprogramm,<br />

bei dem sich potenzielle Eigentümer mit<br />

logistischer Unterstützung der Stadt ihr eigenes<br />

Haus ausbauen.<br />

Einen anderen Weg ist die <strong>Leipziger</strong> <strong>Wohnungs</strong><strong>und</strong><br />

<strong>Baugesellschaft</strong> im Hermann-Duncker-Viertel<br />

gegangen, das als erste Siedlung nach dem<br />

Krieg mit r<strong>und</strong> 1.000 Wohnungen im <strong>Leipziger</strong><br />

Westen entstand. Im Rahmen des Stadtumbaus<br />

wird die Siedlung derzeit in mehreren Bauabschnitten<br />

saniert <strong>und</strong> umgebaut. So wurden die<br />

Gr<strong>und</strong>risse der Wohnungen verändert <strong>und</strong> den<br />

heutigen Wohnansprüchen angepasst. Aus dem<br />

ursprünglich sehr dicht bebauten inneren<br />

Bereich der Siedlung wurden r<strong>und</strong> 100 Wohnungen<br />

abgerissen, wodurch Mietergärten, Spielplätze<br />

<strong>und</strong> Pkw-Stellflächen entstehen konnten.<br />

Sechs Gewerbeeinheiten wurden zu rollstuhlgerechten<br />

Wohnungen umgebaut.<br />

Aufwertung durch Abriss: Im Jahr 2003<br />

sanierte die LWB eine Hauszeile in der Credner-<br />

Straße. Weil Gebäude an der stark befahrenen<br />

Prager Straße abgerissen wurden, erhöhte sich<br />

der Wohnwert der dahinter liegenden Häuser.<br />

ALTE STADT. NEUE STADT.<br />

Betriebswirtschaftliche <strong>und</strong><br />

wohnungspolitische Argumente<br />

Beide Beispiele spiegeln die Strategie des Stadtumbaus<br />

wider: Abriss vor allem an den Rändern<br />

<strong>und</strong> Erhaltung in den inneren Stadtgebieten,<br />

sowie die Aufwertung unattraktiver Wohnstandorte.<br />

Dass diese Strategie aufgeht, selbst wenn<br />

in den nächsten Jahren weiter abgebrochen werden<br />

muss, lässt sich deutlich an der Akzeptanz<br />

<strong>und</strong> wachsenden <strong>Wohnungs</strong>nachfrage in den<br />

umgestalteten Quartieren ablesen. Dabei ist die<br />

Erhaltung der denkmalgeschützten Gebäudesubstanz<br />

bis heute ein städtebaulicher Gr<strong>und</strong>satz<br />

Leipzigs, der trotz einzelner Abbrüche von<br />

Denkmälern nie aufgegeben wurde. Gleichwohl<br />

darf sich der Erhaltungswille nicht allein auf<br />

ästhetische oder kulturhistorische, sondern<br />

muss sich auch auf betriebswirtschaftliche oder<br />

wohnungswirtschaftliche Argumente stützen.<br />

Maßgeblich wird der weitere Erfolg des Stadtumbaus<br />

auch davon abhängen, wie sich Lösungen<br />

<strong>und</strong> Nutzungsalternativen für solche Häuser<br />

finden lassen, die aus kulturhistorischen Gründen<br />

erhalten werden sollten, bei denen aber<br />

weder eine Sanierung finanziell darstellbar noch<br />

eine spätere Vermietung absehbar ist. Der Stadtumbau<br />

zielt auf eine Konsolidierung der ostdeutschen<br />

<strong>Wohnungs</strong>märkte. Gerade deshalb<br />

darf er nicht subventionieren, wo die Refinanzierung<br />

<strong>und</strong> kostendeckende Bewirtschaftung<br />

von Immobilien nicht absehbar sind.<br />

21


»Unablässig, unaufhaltsam,<br />

allgewaltig naht die Zeit.«<br />

Adelbert von Chamisso<br />

(1781 – 1838), deutschfranzösischer<br />

Dichter <strong>und</strong><br />

Naturforscher<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006<br />

DENKMALSCHUTZ –<br />

KOSTE ES, WAS ES WOLLE?<br />

Dies vornweg: Die politischen <strong>und</strong> juristischen<br />

Instrumentarien scheinen mir<br />

als Rahmenbedingungen für den Denkmalschutz<br />

in Deutschland durchaus<br />

ausreichend zu sein. Dies zeigt sich am Stellenwert,<br />

den Erhaltung <strong>und</strong> Sanierung, Wiedererrichtung<br />

<strong>und</strong> Rekonstruktion von Denkmälern in<br />

Deutschland einnehmen. Es gibt einen breiten<br />

gesellschaftlichen Konsens, Kulturdenkmäler zu<br />

erhalten, es gibt ein großes öffentliches Interesse<br />

am Thema Denkmalschutz, <strong>und</strong> es gibt<br />

eine klar geregelte Kompetenz. Schwieriger zu<br />

beantworten ist allerdings, wie sich die förderrechtlichen<br />

<strong>und</strong> finanziellen Rahmenbedingungen<br />

so gestalten lassen, dass die Eigentümer<br />

ihre gesetzliche Verpflichtung zum Denkmal-<br />

ALTE STADT. NEUE STADT.<br />

schutz erfüllen können.<br />

Hier ist zu konstatieren,<br />

dass derzeit vornehmlich<br />

mit steuerlichen Vergünstigungen<br />

Anreize gesetzt<br />

werden, Denkmäler zu<br />

erhalten. Damit wird zum<br />

einen der Kreis der begünstigten<br />

Eigentümer<br />

unnötig eingegrenzt; zum anderen wird die<br />

gezielte Förderung von prioritär zu konservierenden<br />

Denkmälern erschwert. Die Denkmalpflege<br />

verliert unnötig Steuerungsmöglichkeiten.<br />

Es steht die Frage im Raum, ob denkmalgeschützte<br />

Gebäude so lange „konserviert“<br />

Fortsetzung auf Seite 25<br />

22 23<br />

PRO<br />

Dr. Dieter Bartetzko, Leiter des Ressorts Architektur, Denkmalpflege <strong>und</strong> Archäologie<br />

im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung<br />

Die Zeiten für den Denkmalschutz in<br />

Deutschland sind, drastisch gesagt,<br />

lausig. Dies festzustellen, genügt ein<br />

täglicher Blick in die Zeitungen.<br />

Momentan ist darin der Verlust zweier Denkmäler<br />

von b<strong>und</strong>esweiter, ja europäischer Bedeutung<br />

ein Hauptthema: die „Bergwerksdirektion“<br />

in Saarbrücken <strong>und</strong> die Großmarkthalle in Frankfurt<br />

am Main. Erstere, ein exzellentes Beispiel<br />

für den Monumentalismus der Jahrh<strong>und</strong>ertwende,<br />

soll für ein Einkaufszentrum entstellend<br />

umgebaut werden. Letztere, das wohl größte<br />

expressionistische Bauwerk<br />

Deutschlands, soll<br />

als künftiges Foyer der<br />

Europäischen Zentralbank<br />

etwa ein Viertel seiner<br />

Originalsubstanz verlieren.<br />

Beide Gebäude sind<br />

denkmalgeschützt, beide<br />

verloren auf städtischen<br />

CONTRA<br />

Druck im Namen der Standortmaximierung <strong>und</strong><br />

des internationalen Wettbewerbs ihren gesicherten<br />

Status.<br />

Was den rigorosen Umgang mit historischen<br />

Bauten angeht, so sind Ost- <strong>und</strong> Westdeutschland<br />

völlig wiedervereint. In den ostdeutschen<br />

Städten, die man wegen ihres umfangreichen<br />

historischen Bestands in den ersten Nachwendejahren<br />

gefeiert hatte, wird zunehmend abgerissen.<br />

Abwanderung, Leerstand, Überalterung<br />

<strong>und</strong> leere Kassen lauten hier die Totschlagargumente,<br />

wenn Einspruch laut wird gegen das<br />

Beseitigen – „vom Markt nehmen“ lautet die<br />

beschönigende Formulierung – ganzer Straßenzüge.<br />

Der Rat, oft genug schon die verzweifelte<br />

Bitte der Denkmalpfleger, lautet, man solle<br />

„Denkmal-Bevorratung“ betreiben. Konkret: Leer<br />

stehende historische Wohnzeilen oder Einzelbauten,<br />

bemerkenswerte historische Industrieanlagen<br />

oder Siedlungen sollten in ihrem<br />

Fortsetzung auf Seite 24<br />

Peter Stubbe, Geschäftsführer der <strong>Leipziger</strong> <strong>Wohnungs</strong>- <strong>und</strong> <strong>Baugesellschaft</strong> LWB


STILEPOCHEN<br />

PRO<br />

Bestand gesichert werden, so lange, bis sich eine<br />

neue Verwendung findet oder die Zeit all jene<br />

alarmierenden Prognosen bestätigt hat, laut<br />

derer unsere Städte entweder auf ein Minimum<br />

schrumpfen oder zu Megazentren anwachsen<br />

werden, in denen einer vergreisten deutschen<br />

Bevölkerung eine erdrückende Mehrheit junger<br />

Immigranten gegenübersteht, deren Interessen<br />

alles andere sind als das Leben in historischem<br />

Umfeld.<br />

Egal wann <strong>und</strong> egal wo: Abrisse haben bisher<br />

unsere Städte immer verunstaltet <strong>und</strong> nie jenen<br />

Nutzen gebracht, den Experten prognostiziert<br />

hatten. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> kann man die<br />

erwähnte Bevorratung nicht oft genug empfehlen.<br />

Doch Städte leben nicht nur im Gestern <strong>und</strong><br />

Morgen, sondern vor allem im Heute. Es wäre<br />

fatal, wollte man einer Bevölkerung wie der Leipzigs<br />

zumuten, zugunsten kommender Generationen<br />

in einer Stadt zu leben, wo Bevorratung<br />

ganze Viertel zu geschützten Gespensterstädten<br />

macht. So gilt es, neue Möglichkeiten zu suchen,<br />

um leer stehende Wohnbauten zu füllen <strong>und</strong><br />

Quartiere wiederzubeleben. Eine Voraussetzung<br />

dafür ist das genaue <strong>und</strong> vorurteilsfreie Beobachten<br />

urbanen Lebens <strong>und</strong> Wandels. Neue<br />

Formen des Wohnens <strong>und</strong> des Miteinander, die<br />

sich in sogenannten Nischenkulturen entwickeln,<br />

sollten in die Planung der Kommunen <strong>und</strong><br />

die Praxis von <strong>Wohnungs</strong>unternehmen aufgenommen<br />

werden. Innerstädtische spezielle<br />

> KLASSIZISMUS IN LEIPZIG<br />

Im Stadtzentrum gibt es nur wenige erhaltene Zeugnisse<br />

des Klassizismus. Das stattlichste ist sicherlich<br />

der Große Blumenberg, der 1826 bis 1832 am<br />

heutigen Richard-Wagner-Platz durch den Umbau<br />

mehrerer Gebäude errichtet wurde. Die heutige<br />

monochrome Farbgestaltung der Fassade aus dem<br />

Jahr 1994 stimmt allerdings mit der ursprünglichen<br />

Gestaltung von 1832 nicht überein.<br />

24<br />

Wohnangebote für Singles, Alleinerziehende,<br />

junge Familien <strong>und</strong> alte Paare, für Wohngemeinschaften<br />

von Studenten oder „Senioren“ sind<br />

noch immer Mangelware, ebenso wie es viel zu<br />

wenige Klubs <strong>und</strong> Treffpunkte für Jugendliche<br />

<strong>und</strong> Senioren, für Vereine <strong>und</strong> Interessengemeinschaften<br />

jeglicher Couleur gibt. Improvisation<br />

statt Bürokratie, Experiment statt Wiederholung<br />

sollte im Städtebau <strong>und</strong> im Denkmalschutz<br />

die Regel werden. Ein herkömmliches<br />

betriebswirtschaftliches Denken, das sich auf<br />

kurze Zeiträume konzentriert, ist hierbei verfehlt.<br />

Denn anfangs wird man mit derartigen Versuchen<br />

gewiss in den Rathäusern <strong>und</strong> <strong>Wohnungs</strong>unternehmen<br />

rote Zahlen ernten.<br />

Längerfristig gesehen aber wäre eine solche<br />

Praxis Gewinn bringend: Ein Leipzig beispielsweise,<br />

in dem sich zwischen sanierten Inseln der<br />

Glückseligen entweder vermauerte Viertel oder<br />

begrünte Abbruchbrachen ausbreiten, wird<br />

weder Investoren noch Unternehmen oder<br />

Bevölkerung anziehen. Ein Leipzig aber, das als<br />

einzige deutsche Großstadt nicht nur einen<br />

historischen Kern, sondern außer hervorragenden<br />

Neubauten auch noch weitläufige intakte<br />

Gründerzeitviertel zu bieten hat, wird seine<br />

Attraktivität nicht nur wahren, sondern steigern.<br />

Dr. Dieter Bartetzko, Kunst- <strong>und</strong> Architekturhistoriker,<br />

1984 Promotion über das Thema<br />

„Die Theatralik der NS-Architektur“. Redakteur<br />

im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen<br />

Zeitung, Leiter des Ressorts Architektur,<br />

Denkmalpflege <strong>und</strong> Archäologie.<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006<br />

CONTRA<br />

werden sollten, bis die Mittel zu ihrer Sanierung<br />

bereitstehen. Zweifellos gibt es Gebäude, die<br />

städtebaulich oder kulturhistorisch so bedeutsam<br />

sind, dass sie um jeden Preis konserviert<br />

werden sollten. Allerdings sind Konservierungsmittel<br />

für eine Erhaltung nur dann sinnvoll, wenn<br />

überhaupt Aussicht auf eine Nutzung der Immobilie<br />

besteht. Für einen großen Teil bedrohter<br />

Denkmäler ist die Konservierung keine Lösung,<br />

weil diese gr<strong>und</strong>sätzliche Frage offen bleibt <strong>und</strong><br />

in eine ferne Zukunft verschoben wird. Zudem<br />

kostet auch eine konservierte Immobilie den<br />

Eigentümer viel Geld, weil unabhängig von der<br />

Konservierung den Unterhaltungs- <strong>und</strong> Bewirtschaftungskosten<br />

keine Einnahmen gegenüberstehen.<br />

Mit Blick auf den Leerstand in Ostdeutschland,<br />

die fehlende Finanzkraft von Städten <strong>und</strong><br />

Gemeinden <strong>und</strong> die große Zahl der vom Verfall<br />

bedrohten Denkmäler sollte klar sein, dass<br />

unkonventionelle Ideen zwar einzelne Gebäude<br />

erhalten helfen, sie lösen aber nicht das Problem.<br />

So hat die LWB beispielsweise Vereinen<br />

<strong>und</strong> sozialen Trägern Immobilien zur Erbpacht<br />

überlassen, die auf Gr<strong>und</strong> günstiger Pachtverträge<br />

die Gebäude aus eigener Kraft sanieren<br />

<strong>und</strong> damit erhalten konnten. Und seit über<br />

einem Jahr versteigert die LWB auf Auktionen<br />

auch denkmalgeschützte Altbauten, für die bis-<br />

ALTE STADT. NEUE STADT.<br />

> HISTORISMUS (GRÜNDERZEIT)<br />

Als zweiter monumentaler Staatsbau der Wilhelminischen<br />

Kaiserzeit nach dem Berliner Reichstag wurde<br />

zwischen 1888 <strong>und</strong> 1895 das Reichsgericht errichtet.<br />

Es darf als herausragendes Beispiel des Historismus<br />

bzw. der Neorenaissance italienischer Prägung<br />

in Leipzig gelten. Bis 1945 war hier das oberste<br />

deutsche Gericht beheimatet; seit August 2002 ist<br />

das restaurierte Gebäude Sitz des B<strong>und</strong>esverwaltungsgerichts.<br />

lang kein Käufer gef<strong>und</strong>en werden konnte. Auf<br />

diesem Wege können durch private Investitionen<br />

einzelne Denkmäler gerettet werden.<br />

Dennoch sind diese <strong>und</strong> ähnliche Modelle keine<br />

Lösung für alle vom Verfall bedrohten Denkmäler.<br />

Ergänzend ist es erforderlich – <strong>und</strong> erfolgreich<br />

begonnen – mit Abbrüchen den historisch<br />

entstandenen <strong>Wohnungs</strong>überhang abzubauen.<br />

Den Schwerpunkt für den Abriss bildet der Siedlungsbau.<br />

Wenn die LWB auch denkmalgeschützte Gebäude<br />

abgebrochen hat, so ist in der Regel ein<br />

desolater Bauzustand die Ursache. Wir haben<br />

daneben für denkmalgeschützte Siedlungen<br />

Konzepte entwickelt, die Abbruch <strong>und</strong> Sanierung<br />

verbinden, um die Wohnqualität zu verbessern.<br />

Dass Denkmalpflege schlechthin unwirtschaftlich<br />

sei, sehe ich nicht. Denn dieser ideelle Wert<br />

wirkt nicht unwesentlich auf Image, Attraktivität<br />

<strong>und</strong> Marktgängigkeit der Wohnungen zurück.<br />

Der Denkmalstatus ist durchaus ein Vermarktungsvorteil,<br />

den jeder Eigentümer auch für sich<br />

nutzen wird.<br />

Peter Stubbe ist Bankkaufmann, Soziologe<br />

<strong>und</strong> Immobilienökonom. Seit Anfang 2002<br />

ist er Geschäftsführer der LWB.<br />

25<br />

STILEPOCHEN


»Die Zeit ordnet viele Dinge.«<br />

Pierre Corneille (1606 – 1684),<br />

französischer Dramatiker<br />

<strong>und</strong> Bühnendichter<br />

26<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006<br />

Was macht ein Gebäude oder eine Industrieanlage<br />

zu einem denkmalgeschützten<br />

Objekt?<br />

Dr. Kirsten: Dies ist im Sächsischen Denkmalschutzgesetz<br />

definiert: Zunächst geht es um<br />

eine von Menschen geschaffene Sache, wodurch<br />

sich das Objekt vom Naturdenkmal unterscheidet.<br />

Dies können also Gebäude, sogenannte<br />

Sachgesamtheiten (zum Beispiel ein Herrenhaus<br />

mit Kapelle <strong>und</strong> umliegender Parkanlage),<br />

Parks, Industrieanlagen, Bergbauanlagen, aber<br />

auch Straßenbahnen oder Schiffe sein.<br />

Damit drängt sich die Vermutung auf, dass<br />

Gebäude mit einem gewissen Mindestalter –<br />

sagen wir vor 1920 gebaut – automatisch<br />

unter Denkmalschutz stehen.<br />

Dr. Kirsten: Nein. Nicht das Alter oder der Erhaltungszustand,<br />

sondern festgelegte objektive Kriterien<br />

bestimmen, ob ein Gebäude unter Denkmalschutz<br />

gestellt wird oder nicht. Es ist festzu-<br />

ALTE STADT. NEUE STADT.<br />

„DENKMALSCHUTZ<br />

KANN MAN NICHT<br />

ERZWINGEN“<br />

Gespräch mit Dr. Michael Kirsten, Leiter<br />

der Abteilung Gebietsdenkmalpflege beim<br />

Landesamt für Denkmalpflege Sachsen<br />

Mit r<strong>und</strong> 120.000 Denkmälern steht der Freistaat Sachsen ganz oben in der Liste der B<strong>und</strong>esländer,<br />

wenn es um wertvolle Gebäude oder technische Anlagen geht. 15.000 denkmalgeschützte<br />

Häuser <strong>und</strong> Anlagen in Leipzig, 10.000 in Dresden, dazu flächendeckend historische<br />

Gebäude in allen Winkeln des Freistaats machen die kulturgeschichtliche Bedeutung Sachsens<br />

aus. Im Landesamt für Denkmalpflege in Dresden widmen sich r<strong>und</strong> 60 Mitarbeiter der Pflege<br />

der sächsischen Denkmäler <strong>und</strong> wissenschaftlichen Aufgaben wie der Listenerfassung <strong>und</strong><br />

Fragen der Restaurierung.<br />

stellen, ob ein Haus eine geschichtliche, künstlerische,<br />

wissenschaftliche, städtebauliche oder<br />

landschaftsgestaltende Bedeutung hat. Wird<br />

mindestens eines dieser Kriterien erfüllt, unterliegt<br />

das Objekt dem Schutz des Gesetzes <strong>und</strong><br />

wird im Verzeichnis der Kulturdenkmäler (Denkmalliste)<br />

vermerkt. Denn dann wird ein öffentliches<br />

Erhaltungsinteresse festgestellt.<br />

Das klingt sehr schwammig. Was, wenn in<br />

einem Gründerzeitviertel Haus Nummer 14<br />

unter Denkmalschutz kommt, Haus 16 aber<br />

nicht, obwohl sich beide sehr ähnlich sehen?<br />

Dr. Kirsten: Dies ist tatsächlich nicht in jedem<br />

Fall für einen Laien erkennbar. Aber es geht zum<br />

Beispiel darum, ob der Fassadenschmuck echt<br />

ist oder nach dem alten Motiv neu hergestellt<br />

<strong>und</strong> angebracht wurde. Es kann auch sein, dass<br />

diese Fassadenelemente für ihre Epoche sehr<br />

gewöhnlich <strong>und</strong> sehr häufig anzutreffen sind.<br />

Dann sinkt das öffentliche Erhaltungsinteresse.<br />

27


Wird ein Gebäude in seiner Gesamtheit<br />

bewertet oder gibt es Prioritäten?<br />

Dr. Kirsten: Gr<strong>und</strong>sätzlich geht es um das<br />

Gebäude im Ganzen, aber die Fassadengestaltung<br />

ist oft von übergeordneter Bedeutung.<br />

Wenn auch im Innern des Hauses wertvolle Flurmalerei,<br />

ein kostbares Treppenhaus oder prächtige<br />

Stuckdecken existieren, dann kann das die<br />

Frage nach der Denkmalwürdigkeit beeinflussen.<br />

Wie alt muss ein Gebäude mindestens sein,<br />

damit es Kulturdenkmal sein kann?<br />

Dr. Kirsten: Dies ist im Sächsischen Denkmalschutzgesetz<br />

nicht festgelegt. Theoretisch<br />

könnte ein Gebäude einen Tag nach seiner<br />

Errichtung unter Denkmalschutz gestellt werden.<br />

Aber als Faustregel gilt, dass das Gebäude einer<br />

abgeschlossenen Stilepoche angehören oder<br />

mindestens eine Generation (20 bis 30 Jahre) alt<br />

sein sollte.<br />

28<br />

Ein völlig entkerntes Kulturdenkmal, das nur<br />

seine originale äußere Fassade behalten hat,<br />

unterliegt auch dem Denkmalschutz?<br />

Dr. Kirsten: In der Regel schon. Einzig ein nach<br />

alten Plänen mit neuen Baumaterialien errichtetes<br />

Haus dürfte die Kriterien des Denkmalschutzes<br />

nicht hinreichend erfüllen. Gr<strong>und</strong>sätzlich gilt,<br />

dass unter Denkmalschutz stehende Objekte<br />

gepflegt werden müssen <strong>und</strong> nicht zerstört werden<br />

dürfen. Allerdings lässt das Gesetz den Fall<br />

der Unzumutbarkeit für den Eigentümer ausdrücklich<br />

zu.<br />

Wann ist die Erhaltung oder gar Sanierung<br />

einem Besitzer nicht zuzumuten?<br />

Dr. Kirsten: Zunächst einmal spielt hier das<br />

Ansehen der Person keine Rolle. Egal ob Senior<br />

mit knapper Rente, Bauträger, kommunales Unternehmen<br />

oder Investor – für alle gelten die<br />

Regeln der möglichen Unzumutbarkeit. Im Endeffekt<br />

geht es um die Rentierlichkeit des Hauses.<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006<br />

Wenn zum Beispiel absehbar ist, dass mit dem<br />

Gebäude trotz steuerlicher Vorteile wie der<br />

Denkmalabschreibung weder die Mittel zu seiner<br />

Erhaltung geschweige zur Sanierung zu<br />

erwirtschaften sind <strong>und</strong> damit das Gebäude<br />

über einen längeren Zeitraum für den Eigentümer<br />

bei hohem Leerstand ein großes Verlustgeschäft<br />

darstellt, erfüllt dies das Kriterium der<br />

Unzumutbarkeit. Aber dies sind Einzelfallentscheidungen,<br />

die im Zusammenwirken der<br />

Abteilungen Denkmalschutz der Regierungspräsidien,<br />

der Unteren Denkmalschutzbehörden auf<br />

kommunaler Ebene <strong>und</strong> der Eigentümer zu treffen<br />

sind. Es kann auch sein, dass man sich bei<br />

der erfolglosen Suche nach Alternativen für<br />

einen Abriss entscheiden muss. Angesichts<br />

hoher <strong>Wohnungs</strong>leerstände zum Beispiel in<br />

Leipzig <strong>und</strong> der absolut fehlenden Rentierlichkeit<br />

des Hauses kommt man nicht immer um<br />

den Abriss herum. Dies ist schmerzlich, aber<br />

nicht in jedem Fall zu verhindern.<br />

ALTE STADT. NEUE STADT.<br />

Der <strong>Leipziger</strong> Hauptbahnhof gehört zu den<br />

größten Verkehrsbauten der Welt.<br />

> JUGENDSTIL<br />

Im Jahr 1904 entstand im <strong>Leipziger</strong> Westen die<br />

wohl schönste Jugendstilvilla der Stadt. Die Paul-<br />

Michael-Straße 6 war einst eine Fabrikantenvilla<br />

<strong>und</strong> wurde nach der Wende aufwändig saniert.<br />

Die Innenausstattung ist weitgehend erhalten<br />

<strong>und</strong> restauriert. Die Jugendstilvilla des Architekten<br />

Paul Möbius, der eine spezifische Art dieses Stils<br />

kreierte, findet sich auch heute in Privatbesitz.<br />

29<br />

STILEPOCHEN


STILEPOCHEN<br />

Und wenn es sich um ein besonders<br />

wertvolles Gebäude handelt?<br />

Dr. Kirsten: Dann sind sicherlich alle Beteiligten<br />

aufgefordert, nach Wegen zu suchen, um dem<br />

öffentlichen Interesse an dem Gebäude zu entsprechen.<br />

Da kann die Last nicht allein auf den<br />

Schultern des Eigentümers verbleiben. Im Übrigen<br />

geht es bei jedem einzelnen denkmalgeschützten<br />

Objekt auch immer darum, Kom-<br />

30<br />

> ART DÉCO<br />

Als einer der bedeutendsten deutschen Museumsbauten<br />

vor dem Zweiten Weltkrieg wurde am Johannisplatz<br />

zwischen 1925 <strong>und</strong> 1929 für das Grassimuseum<br />

ein Neubau errichtet. Während das Innere<br />

des Gebäudes ganz den funktionalen Anforderungen<br />

der verschiedenen Sammlungen entsprach, fanden<br />

sich außen an dem Gebäude im Art-déco-Stil gehaltene<br />

Details. Das Gebäude brannte im Zweiten Weltkrieg<br />

völlig aus; beim Wiederaufbau musste auf<br />

einige der Art-déco-Details verzichtet werden.<br />

Das Gohliser Schlößchen – spätbarocker<br />

Landsitz aus den Jahren<br />

1755/56 im Norden von Leipzig.<br />

promisse zu suchen. Denkmalschutz kann man<br />

nicht erzwingen. Es kann vorkommen, dass auf<br />

bestimmte denkmalrelevante Details am Objekt<br />

verzichtet wird, um das gesamte Ensemble zu<br />

retten.<br />

Gibt es viele Einsprüche <strong>und</strong> juristische<br />

Auseinandersetzungen um den Denkmalstatus<br />

einzelner Gebäude?<br />

Dr. Kirsten: Die Widersprüche halten sich in<br />

Grenzen. Es ist eher so, dass Investoren <strong>und</strong><br />

Bauherren bei uns Schlange stehen, weil sie ihr<br />

Mietshaus auf die Denkmalliste bekommen wollen.<br />

Dies ist schließlich die Voraussetzung für die<br />

attraktive Denkmalabschreibung. In diesem<br />

umgekehrten Fall können wir auch nicht immer<br />

den Denkmalwert für ein Objekt bestätigen, es<br />

gelten die eingangs beschriebenen Kriterien.<br />

Wie zufrieden sind Sie mit dem Schutz von<br />

Denkmälern 16 Jahre nach der Wende?<br />

Dr. Kirsten: Im Rückblick auf den Zustand Ende<br />

der 80er-Jahre können wir natürlich hoch zufrieden<br />

sein. 1990 waren viele Altstädte in Sachsen<br />

vom Zerfall bedroht, heute ist der große Teil dieser<br />

historisch wertvollen Bausubstanz saniert<br />

<strong>und</strong> gerettet. Nachdem in den 90er-Jahren Fördermittel<br />

in riesigen Dimensionen geflossen sind<br />

<strong>und</strong> steuerliche Anreize die Sanierung beflügelt<br />

haben, ist es inzwischen auch wieder schwerer<br />

geworden, die noch verbliebenen denkmalgeschützten<br />

Altbestände zu sanieren. Arbeit gibt es<br />

da noch genug.<br />

> www.denkmalpflege.sachsen.de<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006<br />

DENKMALSCHUTZ IN DEUTSCHLAND<br />

Anzahl der Denkmäler<br />

Sachsen 120.000*<br />

ALTE STADT. NEUE STADT.<br />

Schleswig-Holstein 12.300***<br />

Sachsen-Anhalt 90.000*<br />

Saarland 7.000*<br />

Rheinland-Pfalz 45.000**<br />

NRW 82.000**<br />

Thüringen 30.000*<br />

Baden-Württemberg 83.000***<br />

Quelle:<br />

Deutsches Nationalkomitee<br />

für Denkmalschutz<br />

Bei den Zahlen handelt es sich<br />

um Zirka-Werte von 2002, in<br />

Bayern von 1977.<br />

Anteil der Denkmäler am Gesamtbestand baulicher<br />

Anlagen in ausgewählten B<strong>und</strong>esländern<br />

10<br />

9<br />

8<br />

7<br />

6<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

9,9 %<br />

Sachsen<br />

5,6 %<br />

Mecklenb.-<br />

Vorpommern<br />

3,75 %<br />

Brandenburg<br />

3,5 %<br />

Berlin<br />

Niedersachsen 83.000<br />

Bayern 109.000*<br />

Berlin 8.000*<br />

Brandenburg 30.000*<br />

Bremen 1.500**<br />

Hamburg 1.300**<br />

Hessen 63.000*<br />

Mecklenburg-Vorpommern 25.000*<br />

*Deklaratorische Erfassung: Denkmallisten werden nachrichtlich geführt. In<br />

sie werden Objekte aufgenommen, die die im jeweiligen Gesetz genannten<br />

Voraussetzungen erfüllen, wobei die Denkmaleigenschaft eines Objektes nicht<br />

von der Eintragung in die Liste abhängt.<br />

** Konstitutive Erfassung: Ein Denkmal steht erst unter gesetzlichem Schutz,<br />

wenn es durch einen bestandskräftigen Verwaltungsakt in die Liste aufgenommen<br />

wurde. Dazu sind die entsprechenden Stellen zu hören, der Denkmaleigner<br />

hat die Möglichkeit, verwaltungsgerichtlich gegen die Aufnahme<br />

in die Denkmalliste vorzugehen.<br />

*** Mischform aus deklaratorischer <strong>und</strong> konstitutiver Erfassung.<br />

2 %<br />

Thüringen<br />

1,76 %<br />

Bayern<br />

Quelle:<br />

Deutsches Nationalkomitee<br />

für Denkmalschutz<br />

31


»Wir eilen mit dem Strom der Zeit<br />

stets näher hin zur Wirklichkeit.«<br />

Joachim Neander (1650 – 1680),<br />

deutscher evangelischer Theologe <strong>und</strong><br />

Kirchenlieddichter, Pastor in Bremen<br />

32<br />

Gitta Jung mit ihrem vierjährigen<br />

Sohn Armin<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006<br />

VOM LEBEN MIT DENKMÄLERN<br />

Gedanken von Menschen, die auf die eine oder andere Weise<br />

mit denkmalgeschützten Häusern zu tun haben – aufgeschrieben von Sibylle Kölmel<br />

Familie Türke genießt über den Dächern<br />

von Gohlis vor allem eines – das Flair in<br />

ihrer sanierten Altbauwohnung. Stefan<br />

Naether verspürt als Immobilienmakler<br />

seit Anfang der 90er-Jahre immer wieder den<br />

Spaß, „aus Ruinen was Tolles zu machen“.<br />

Dr. Thomas Nabert wiederum bemüht sich mit<br />

seinem Verein Pro Leipzig stets aufs Neue, den<br />

<strong>Leipziger</strong>n die kulturhistorisch wertvolle Bausubstanz<br />

ihrer Heimatstadt bewusst zu machen.<br />

Dirk Fischer haben 21 Jahre in einem Plattenbau<br />

gereicht: Er zieht als Mieter nunmehr den Altbau<br />

anderen, moderneren Bauweisen vor, weil ihm<br />

ALTE STADT. NEUE STADT.<br />

Individualität wichtig ist. Andreas Stolle, mit<br />

Sanierung <strong>und</strong> Abriss beschäftigter Unternehmer,<br />

schätzt den Denkmalschutz, warnt aber vor<br />

der Forderung, jedes Haus erhalten zu wollen.<br />

Constanze Arndt restauriert seit einem Jahrzehnt<br />

Wandmalereien <strong>und</strong> Gemälde in <strong>Leipziger</strong> Treppenhäusern<br />

<strong>und</strong> Wohnungen <strong>und</strong> gibt Gebäuden<br />

so ihre Seele <strong>und</strong> ihren Charakter wieder.<br />

Und Folke von Köding erlebt tagtäglich, wie<br />

begeistert Touristen von Leipzigs Gebäuden<br />

sind. Sieben Ansichten über Altes, Neues, über<br />

verfallende Häuser <strong>und</strong> wie man mit Denkmalschutz<br />

umgehen sollte.<br />

33


„ALTBAU LIEGT UNS SEHR AM HERZEN“<br />

Familie Türke, Mieter im Poetenhof in Leipzig-Gohlis<br />

Seit gut anderthalb Jahren wohnt Familie<br />

Türke mittlerweile hier oben über den<br />

Dächern von Gohlis. Lange hatte das<br />

Ehepaar mit dem 18-jährigen Sohn nach<br />

einer idealen Dachgeschosswohnung gesucht.<br />

Dabei spielte die Frage, ob lieber Alt- oder Neubau<br />

stets eine große Rolle. Die 107-Quadratmeter-Wohnung<br />

mit den drei Räumen in der denkmalgeschützten<br />

Wohnanlage „Poetenhof“ erschien<br />

schließlich ideal.<br />

„Heutzutage ist es ja möglich, trotz Denkmalschutz<br />

<strong>und</strong> den damit verknüpften, teils strengen<br />

Bedingungen dennoch hochkomfortable<br />

Wohnbedingungen zu schaffen. Die Mitarbeiterin<br />

vom Denkmalschutz war, was den Poetenhof<br />

betrifft, während der Sanierung sehr kooperativ.<br />

Beispielsweise beim Balkonanbau oder beim<br />

Ausbau des Dachgeschosses. Der Putz ist der<br />

Originalstruktur nachempf<strong>und</strong>en, diese wurde<br />

anhand alter Fotos rekonstruiert. Den Originalton<br />

fand man durch Reinigung einer Stelle an<br />

der Wand. Und die alten Klappläden sind auch<br />

originalgetreu erneuert. Auf diese Weise bleibt<br />

das alte Bild der Anlage bestehen“, erzählt<br />

Sabine Türke, 42. Und ihr Mann Ingo, 42,<br />

ergänzt: „Wenn ich ein Stück weiter weggehe,<br />

sehe ich die Wärmedämmung oder andere Veränderungen<br />

am Haus ja letztlich gar nicht. Es<br />

handelt sich eher um einen Altbau mit einer Art<br />

Face-Lifting. Als normaler Mieter merkt man vermutlich<br />

nicht, ob es sich um ein denkmalgeschütztes<br />

Haus handelt oder nicht.“<br />

34<br />

Die Türkes aber sind eher keine normalen Mieter.<br />

Denn beide haben sie zu DDR-Zeiten in Leipzig<br />

Betriebswirtschaft der Bauindustrie studiert,<br />

hatten beruflich immer mit Wohnen <strong>und</strong> Sanierung<br />

zu tun. Und sind wahre Experten auf dem<br />

Gebiet.<br />

Dazu kommt ein subjektives ästhetisches Empfinden:<br />

„Ich finde, es wohnt sich im Altbau einfach<br />

besser. Das Flair ist doch ein ganz anderes“,<br />

meint Ingo Türke. Ein großzügiges <strong>und</strong><br />

hohes Treppenhaus beispielsweise vermittle<br />

bereits beim Betreten des Hauses ein vollkommen<br />

anderes Raumgefühl. Im Neubau hingegen<br />

werde kein Zentimeter an Fläche verschenkt.<br />

Alles sei optimiert, um höchstmögliche Erträge<br />

zu erzielen. Nebenflächen würden möglichst<br />

gering gehalten. „Hier im Poetenhof indessen<br />

haben wir beispielsweise Keller, die zum Teil so<br />

groß sind wie unsere Küchen!“, lacht Sabine<br />

Türke. Die abgeschlossenen Räume <strong>und</strong> die<br />

großzügigen Stellflächen seien ihr sehr wichtig.<br />

Eine aufwändige Sanierung wie die des Poetenhofes<br />

sei logischerweise immer Ermessenssache.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich komme es bei der heutigen<br />

Marktsituation sehr auf den Zustand des<br />

Wohnobjektes an. Und auf die Lage natürlich.<br />

„Wenn man sich zum Beispiel den <strong>Leipziger</strong><br />

Osten anguckt, die Torgauer oder die Eisenbahnstraße,<br />

da stehen so schöne Häuser mit<br />

teils Originalmalereien in den Treppenhäusern.<br />

Aber es zieht eben kaum jemand hin“, meint<br />

Sabine Türke.<br />

Familie Türke fühlt sich wohl im<br />

sanierten Altbau. Sie schätzt das<br />

„andere Raumgefühl“ gegenüber<br />

modernen Wohnbauten.<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006<br />

Stefan Naether saniert<br />

seit 1994 frei stehende<br />

Häuser <strong>und</strong> komplette<br />

Wohnanlagen in Leipzig.<br />

„ICH HABE SPASS DARAN, AUS<br />

RUINEN WAS TOLLES ZU MACHEN“<br />

Stefan Naether, Makler<br />

Stefan Naether, 37, kann sich noch gut<br />

an die maroden Straßenzüge Leipzigs<br />

vor <strong>und</strong> kurz nach der Wende erinnern.<br />

Bei der Menge an verfallener Bausubstanz<br />

sei es nur schwer möglich gewesen, die<br />

Schönheit der einzelnen alten Häuser <strong>und</strong> der<br />

Stadt insgesamt noch wahrzunehmen.<br />

Seit 1994 saniert der <strong>Leipziger</strong> Makler mit fünf<br />

Mitarbeitern erfolgreich sowohl frei stehende<br />

Häuser als auch komplette Wohnanlagen. R<strong>und</strong><br />

dreih<strong>und</strong>ert Wohnungen, über ganz Leipzig verstreut,<br />

nennt er sein Eigentum. „Ich habe Spaß<br />

daran, aus Ruinen was Tolles zu machen.<br />

Danach bin ich fast süchtig.“ Auch wenn während<br />

des Sanierungsprozesses häufig der Punkt<br />

komme, wo er am liebsten aufgeben würde.<br />

„Nach der Fertigstellung schaue ich dann aber<br />

schon wieder nach dem nächsten Objekt“,<br />

erzählt Naether, selbst in einem Altbau aus dem<br />

Jahre 1878 wohnend, <strong>und</strong> lacht.<br />

Man müsse in Leipzig trennen zwischen sogenannten<br />

Gewinnerlagen wie beispielsweise dem<br />

Süden, dem Musikviertel <strong>und</strong> Plagwitz („Häuser,<br />

die unter Denkmalschutz <strong>und</strong> in einer guten<br />

Lage stehen, sind immer Gold wert“) sowie eher<br />

schwierigen Gegenden wie Volkmarsdorf oder<br />

der Neustadt. Und dann gäbe es auch Stadtteile,<br />

wo er derzeit kaum Entwicklung feststelle. Häufig<br />

wechsle das aber schon von Straßenzug zu<br />

Straßenzug.<br />

R<strong>und</strong> 15.000 Objekte stehen in Leipzig unter<br />

Denkmalschutz. Manchmal w<strong>und</strong>ere er sich<br />

zugegebenermaßen schon, was da alles dazu-<br />

ALTE STADT. NEUE STADT.<br />

gehört. Auch deshalb müsse man, wenn es um<br />

die Frage erhalten oder nicht geht, jedes Haus<br />

einzeln <strong>und</strong> kritisch betrachten. „Auf jeden Fall<br />

sollte verhindert werden, in eine geschlossene<br />

<strong>und</strong> stimmige Bebauung eine sogenannte Zahnlücke<br />

zu reißen.“ Er sei in den meisten Fällen<br />

dafür, die alten Gebäude zu konservieren. Das<br />

sei auch mit wenigen finanziellen Mitteln möglich.<br />

Leider aber wäre es dafür bei vielen Häusern<br />

zu spät.<br />

> BAUHAUS<br />

Der sogenannte R<strong>und</strong>ling im Stadtteil Lößnig ist<br />

eine der herausragenden stadtplanerischen Leistungen<br />

der Moderne in Deutschland. Der städtebaulicharchitektonisch<br />

eindrucksvolle Komplex wurde<br />

1929/30 erbaut <strong>und</strong> umfasst 624 Wohnungen,<br />

die von der LWB in den Jahren 1993 bis 1997 saniert<br />

wurden. Architekturhistoriker bezeichnen den R<strong>und</strong>ling<br />

als „Symbol für die Ideale des Neuen Bauens in<br />

der Weimarer Republik“.<br />

35<br />

STILEPOCHEN


„MAN SOLLTE IMMER AUF AUFWERTUNG<br />

SETZEN UND KEINE LÜCKEN ZULASSEN“<br />

Dr. Thomas Nabert, Geschäftsführer von Pro Leipzig e. V.<br />

Damals, kurz vor der Wende, sei geplant<br />

gewesen, ganze Straßenzüge abzureißen.<br />

So lädiert waren einzelne<br />

Gebäude, so groß war der Verfall insgesamt.<br />

Die Angst vor den damit einhergehenden<br />

kulturellen Verlusten der Stadt ist für Thomas<br />

Nabert, 44, Geschäftsführer von Pro Leipzig,<br />

ein Aspekt, der zu der friedlichen Revolution<br />

im Jahr 1989 mit beigetragen hat.<br />

„Ein enormer Veränderungsdruck, der auf Leipzig<br />

zukommen würde, war absehbar. Wir von Pro<br />

Leipzig begannen zu jener Zeit mit der Zielstellung,<br />

diesen Wandel in Stadt <strong>und</strong> Umgebung in<br />

behutsame Bahnen zu lenken“, erzählt der promovierte<br />

Historiker <strong>und</strong> <strong>Leipziger</strong>. Dem Verein<br />

sei klar gewesen, dass das Mahnen allein nicht<br />

ausreichen würde. „Wir sind damals in Stadtviertel<br />

gegangen, haben Wissen vermittelt, die<br />

Bürger einbezogen. Viele Menschen haben ja<br />

über bestimmte Erlebnisse <strong>und</strong> Erinnerungen<br />

einen persönlichen Bezug zu einzelnen alten<br />

Gebäuden.“<br />

Über 150 Publikationen hat der Verein mittlerweile<br />

herausgegeben, zahlreiche Ausstellungen<br />

<strong>und</strong> Exkursionen organisiert. Die Erhaltung der<br />

kulturhistorisch wertvollen Bausubstanz steht<br />

für Pro Leipzig oben an. Auch wenn der Bedarf<br />

36<br />

Dr. Thomas Nabert hält mit<br />

seinem Verein Pro Leipzig das<br />

Bewusstsein für die wertvolle<br />

Bausubstanz der Stadt wach.<br />

für die Vielzahl der zu rettenden Häuser momentan<br />

nicht da sei <strong>und</strong> viel leer stehe, gebe es<br />

selbstredend eine Prioritätenliste für Erhalt. So<br />

sollten Abrisse in geschlossenen gründerzeitlichen<br />

Quartieren oder von Stadtbild prägenden<br />

Bauwerken vermieden werden.<br />

„Ich wehre mich gegen dieses ‚Hier mal ein Haus<br />

<strong>und</strong> da mal ein Haus wegnehmen‘. Dieses ,Durchlüften‘<br />

ist extrem schädlich. Damit werden Potenziale<br />

der Stadt zerstört. Man sollte stets auf Aufwertung<br />

städtischer Qualitäten setzen <strong>und</strong> keine<br />

Lücken zulassen“, so Thomas Nabert. Wenn es<br />

unbedingt sein muss, könne man eher an den<br />

Randbereichen der Stadt abschmelzen. Und die<br />

Randlagen dann mit Grün betonen. „Ein anderes<br />

Beispiel ist Stötteritz. Dort sind in der Zeit vor<br />

dem Ersten Weltkrieg um den alten Ortskern<br />

hohe Gründerzeithäuser entstanden, die sich von<br />

der ursprünglichen niedrigeren Ortsbebauung<br />

deutlich abheben. Einzelne Gründerzeitruinen in<br />

sonst noch dörflich geprägten einstigen Ortskernen<br />

müssen nicht um jeden Preis gehalten werden.“<br />

Im Osten Leipzigs sei der Abbruch häufig<br />

vonnöten, da die Häuser dort, aufgr<strong>und</strong> der Kanalisierung<br />

der Rietzschke, auf feuchtem <strong>und</strong><br />

bewegtem Boden stehen. Der Verfall der<br />

Gebäude ziehe sich da wie eine Linie durch.<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006<br />

„STATT ALTER HÄUSER LIEBER<br />

PLATTENBAUTEN ABREISSEN“<br />

Dirk Fischer, Diplomkaufmann<br />

Ein<strong>und</strong>zwanzig Jahre lang hat Dirk Fischer,<br />

29, in Leipzig im Plattenbau gewohnt. In<br />

Erinnerung geblieben ist ihm vor allem<br />

ein Gefühl der Enge. Eng waren die<br />

kleine Wohnung <strong>und</strong> das Treppenhaus, als beengend<br />

empfand der gebürtige <strong>Leipziger</strong> aber<br />

auch den Blick aus dem Fenster: „Wenn ich<br />

rausgeschaut habe, stand da sofort die nächste<br />

Platte. Und alles hat gleich ausgesehen. So eintönig,<br />

so wenig individuell.“<br />

Deshalb, so erzählt der Diplomkaufmann weiter,<br />

sei er gleich zu Beginn seines Studiums in eine<br />

Dachgeschosswohnung in einem denkmalgeschützten<br />

Haus in Reudnitz gezogen. Und<br />

möchte auch künftig unbedingt <strong>und</strong> immer im<br />

Altbau wohnen. „Ich finde die Individualität der<br />

einzelnen Häuser sehr beeindruckend. Die<br />

Gebäude sind solider <strong>und</strong> so viel schöner.<br />

Sowohl von außen als auch von innen. Schon<br />

allein die Atmosphäre mancher Treppenhäuser<br />

ist unglaublich.“ Toll seien auch die unterschiedlichen<br />

Zuschnitte der Wohnungen <strong>und</strong> die<br />

hohen Räume.<br />

Beim Denkmalschutz ist er geteilter Meinung.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich solle man möglichst viele Altbauten<br />

erhalten <strong>und</strong> lieber Plattenbauten abreißen.<br />

Weil die alten Objekte so großartig <strong>und</strong><br />

besonders seien <strong>und</strong> das historische Stadtbild<br />

erhalten bleiben müsse. Außerdem rate er,<br />

behutsam mit den entstandenen Lücken in den<br />

Häuserreihen umzugehen. Viele Neubauten pass-<br />

Dirk Fischer hat 21 Jahre in<br />

der Platte gelebt <strong>und</strong> genießt<br />

inzwischen die Individualität<br />

seiner Dachgeschosswohnung<br />

im Altbau.<br />

ALTE STADT. NEUE STADT.<br />

ten oftmals nicht ins Bild, wirkten irritierend, gar<br />

hässlich. Dessen ungeachtet sei aber alles auch<br />

eine Frage des finanziellen Aufwandes. Derjenige,<br />

dem das Gebäude gehört, dürfe nicht in<br />

den finanziellen Ruin getrieben werden. Da<br />

müsse man genau abwägen.<br />

Und etwas genauer hinsehen müsse man auch.<br />

„Manchmal habe ich den Eindruck, dass das<br />

Viertel um die Eisenbahnstraße mit dem hohen<br />

Leerstand von manchen Menschen absichtlich<br />

schlecht geredet wird.“<br />

> NATIONALE BAUTRADITION<br />

Die Architekturkonzeption der Nationalen Bautradition<br />

der DDR fand ihren Ausdruck vor allem in dem<br />

1953 bis 1955 errichteten Wohnhausensemble am<br />

Roßplatz, der sogenannten Ringbebauung. Die 197<br />

Wohnungen des Komplexes <strong>und</strong> das für 800 Gäste<br />

konzipierte Ring-Café boten den Mietern wie den<br />

Besuchern einen außergewöhnlichen Komfort.<br />

37<br />

STILEPOCHEN


Andreas Stolle hält viel vom<br />

Denkmalschutz, aber nichts<br />

von ausufernden Kosten.<br />

„ICH WEHRE MICH GEGEN DIESES<br />

DENKMALSCHUTZ-UM-JEDEN-PREIS“<br />

Andreas Stolle, Geschäftsführer der Entsorgungs-G<strong>mbH</strong> Reinwald<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich sei Denkmalschutz eine<br />

sehr wichtige Sache. „Wenn wir den<br />

Denkmalschutz nicht hätten, würden<br />

viele Städte nicht so aussehen, wie sie<br />

heute aussehen. Die Schönheit <strong>und</strong> Einzigartigkeit<br />

vieler Gebäude wird ja erst durch die Sanierung<br />

sichtbar“, meint Andreas Stolle, 44, <strong>Leipziger</strong><br />

<strong>und</strong> Geschäftsführer der Entsorgungs-G<strong>mbH</strong><br />

Reinwald in Leipzig-Leutzsch. Die Deutschen<br />

seien da, aufgr<strong>und</strong> des Zweiten Weltkrieges,<br />

besonders wachsam <strong>und</strong> sensibel. Vor allem die<br />

ältere Generation wolle die Objekte, die unversehrt<br />

geblieben sind, unbedingt erhalten.<br />

Dennoch müsse man im konkreten Fall stets<br />

abwägen, habe die Medaille für ihn meist zwei<br />

Seiten. „Ich wehre mich gegen dieses ,Denkmalschutz-um-jeden-Preis‘,<br />

koste es, was es<br />

wolle. Meiner Ansicht nach handelt es sich bei<br />

manchen Objekten um auf die Spitze getriebene<br />

Bürokratie“, so der studierte Diplom-Kaufmann.<br />

Als Beispiel nennt er einen Gasometer, wo giftige<br />

Materialien vorhanden waren. Seine Firma<br />

habe das Gebäude mit großem Aufwand von<br />

38<br />

den Altlasten befreit. „Dann waren die alten<br />

Fenster zum Teil zerstört <strong>und</strong> mussten kostenaufwändig<br />

restauriert werden. Die Stadtwerke<br />

hätten neue Fenster finanziert, aber die denkmalpflegerischen<br />

Auflagen waren dagegen. Das<br />

halte ich für viel zu schematisch.“ Oder das<br />

Gebäude am Dittrichring 11, das in hohem Maße<br />

einsturzgefährdet gewesen sei. Allein die Sanierung<br />

der Fassade wäre mit einem extrem hohen<br />

finanziellen Aufwand verb<strong>und</strong>en gewesen, so<br />

Andreas Stolle.<br />

Selbstredend sei er immer dafür, das Stadtbild<br />

zu erhalten. Möglichst viele Gebäude solle man<br />

sanieren, sie bei Leerstand konservieren, auch<br />

über einen längeren Zeitraum. Das gelte nicht<br />

zuletzt für den eher problematischen <strong>Leipziger</strong><br />

Osten.<br />

Dann fügt er noch hinzu, dass er nicht zwangsläufig<br />

dafür sei, Plattenbauten abzureißen, um<br />

so den Leerstand in den Altbauten zu minimieren.<br />

„Die LWB hat einige Plattenbauten hervorragend<br />

saniert. Und: Der Ruf der Platte ist deutlich<br />

schlechter, als sie tatsächlich ist.“<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006<br />

„JEDES HAUS<br />

IST EINMALIG“<br />

Das, was Constanze Arndt, 36, an<br />

Schönheit <strong>und</strong> Anmut an Wänden <strong>und</strong><br />

Decken wiedererstehen lässt, beeindruckt<br />

den Betrachter zutiefst. Hin <strong>und</strong><br />

wieder ist auch sie selbst, trotz mittlerweile<br />

langjähriger Berufserfahrung, noch beeindruckt,<br />

wie sich eher unscheinbare alte Hauswände in<br />

wahre Paläste verwandeln. Zum Beispiel in einer<br />

Wohnung in der Elsbethstraße 12. Als sie damals<br />

eher zufällig an einem Tapetenstück an einer<br />

<strong>Wohnungs</strong>decke zog <strong>und</strong> darunter prächtige<br />

Deckengemälde mit Blumen, Engeln <strong>und</strong> Himmelsszenen<br />

zum Vorschein kamen. Vor fast zehn<br />

Jahren, nach einem Studium der Buchgestaltung<br />

<strong>und</strong> Grafik an der Hochschule für Grafik <strong>und</strong><br />

Buchkunst in Leipzig, hat sich die diplomierte<br />

Grafikdesignerin in Leipzig selbstständig gemacht.<br />

Seitdem restaurieren sie <strong>und</strong> eine Kollegin erfolgreich<br />

Wandmalereien <strong>und</strong> Gemälde in alten <strong>Leipziger</strong><br />

(Treppen-)Häusern <strong>und</strong> Wohnungen.<br />

„Zunächst erfolgt meist ein farbrestauratorisches<br />

Gutachten. Dabei wird die in allen Häusern<br />

einst vorhandene Ausmalung freigelegt<br />

<strong>und</strong> dokumentiert. Die dabei entdeckten<br />

Gemälde werden oft danach vollständig freigelegt<br />

<strong>und</strong> restauriert. Zur kunsthistorischen Ausstattung<br />

der Häuser gehörten in der Regel auch<br />

Dekorationsmalereien mit Schablonenmotiven,<br />

Linien <strong>und</strong> Bändern, Marmor- <strong>und</strong> Holzimitation.“<br />

Für sie heißt Wiederherstellung der (Dekorations-)Malerei,<br />

dem Haus seine Seele <strong>und</strong> den<br />

Charakter wiederzugeben.<br />

Immer wieder stelle sie dabei fest, dass der Ausstattungsgrad<br />

der Wände nicht zwangsläufig<br />

von der Lage der Häuser abhängig ist. „Man findet<br />

auch in ärmeren Stadtteilen so tolle Sachen<br />

an den Decken <strong>und</strong> Wänden.“ Fasziniert<br />

sei sie davon, dass nahezu jedes Haus mit<br />

anderen Motiven <strong>und</strong> Mustern bemalt ist. Die<br />

Wiederholungsquote liegt in den bei ihr untersuchten<br />

Gebäuden bei zirka zwei Prozent. „Das<br />

heißt, jedes Haus ist einmalig. Ein Schatz, der<br />

bei einem Abriss der Gebäude verloren geht.“<br />

Auch deswegen ist Constanze Arndt dafür, möglichst<br />

viele alte Gebäude zu konservieren. Das<br />

Geld, was man für den Abbruch erhalte, solle<br />

man lieber in eine Dachreparatur <strong>und</strong> Erneuerung<br />

der Dachentwässerung investieren. So<br />

konserviert, könnten die Häuser noch lange<br />

erhalten bleiben.<br />

Leipzig ist die Stadt der Gründerzeit <strong>und</strong> des<br />

ALTE STADT. NEUE STADT.<br />

Constanze Arndt, Restauratorin<br />

Constanze Arndt restauriert<br />

Wandmalereien in<br />

alten Treppenhäusern <strong>und</strong><br />

gibt den Häusern so Charakter<br />

<strong>und</strong> Seele wieder.<br />

Jugendstils. Nirgendwo in Deutschland gibt es so<br />

viele Einzeldenkmäler wie hier. „Diese stehen<br />

nicht verstreut, sondern bilden geschlossene<br />

Gevierte mit historischem Charakter. Das ist ein<br />

Pf<strong>und</strong>, mit dem die Stadt touristisch <strong>und</strong> in<br />

Sachen Lebensqualität enorm punkten kann.“<br />

Nur wenn ein Haus zu marode, verschnitten oder<br />

ungünstig gelegen sei, müsse man abwägen, ob<br />

sich die Sanierung tatsächlich auch lohne. Hier<br />

plädiert sie dafür, auch unkonventionelle Wege<br />

wie das Selbstnutzerprogramm der Stadt Leipzig<br />

zu gehen.<br />

> DDR-MODERNE<br />

Als siebengeschossiger Stahlbetonskelettbau mit<br />

einer Aluminium-Vorhangfassade gehört die Hauptpost<br />

am Augustusplatz zu den herausragenden<br />

Gesellschaftsbauten der DDR. Das Gebäude entstand<br />

zwischen 1961 <strong>und</strong> 1964 <strong>und</strong> zeichnet sich<br />

durch eine differenzierte Gestaltung der verschiedenen<br />

Funktionsbereiche aus. Es gelang den Architekten,<br />

eine signifikante Architektur zu schaffen.<br />

39<br />

STILEPOCHEN


STILEPOCHEN<br />

„MAN SOLLTE<br />

ALLES, WAS IRGEND<br />

GEHT, ERHALTEN.“<br />

40<br />

Folke von Köding, Gästeführerin<br />

Bei ihren Stadtführungen hat Folke von<br />

Köding, 38, immer eine Mappe mit<br />

alten Fotos von einzelnen Gebäuden<br />

bei sich. Anhand dieser Bilder macht<br />

die Gästeführerin von „Leipzig Erleben“ den Touristen<br />

den enormen Wandel der Stadt sichtbar.<br />

„Viele Leute, vor allem die, die zum ersten Mal<br />

herkommen, können sich ja meist nicht vorstellen,<br />

wie es hier mal ausgesehen hat. Die Stadt<br />

war ja völlig am Zusammenbrechen.“<br />

Ein gutes Beispiel dafür ist das Haus Nr. 15 am<br />

Ende des Barfußgäßchens, in dem sich das<br />

„H<strong>und</strong>ertwassercafé“ befindet. Das Objekt ist<br />

Teil des sogenannten „Trifugiums“ (erbaut 1904<br />

bis 1906). Zu Sanierungsbeginn bestand es,<br />

bedingt durch Kriegsschäden, nur noch aus Erd<strong>und</strong><br />

Zwischengeschoss. Es musste komplett<br />

wieder aufgebaut werden – aber eben detailgetreu<br />

im alten Stil.<br />

Die Touristen, fast immer von der Schönheit<br />

Leipzigs begeistert, würden dann viel zu DDR-<br />

Geschichte, persönlichen Wende-Erlebnissen,<br />

dem Baulöwen Schneider <strong>und</strong> enormen Nebenkosten<br />

aufgr<strong>und</strong> der großen Wohnungen wissen<br />

wollen. Qualifizierte Fragen zum Denkmalschutz<br />

<strong>und</strong> zu der erhaltenen Menge an alter Bausubstanz<br />

gebe es jedoch eher selten.<br />

> GEGENWART<br />

Unter den zahlreichen Neubauten der Zeit nach 1990<br />

ragt die Neue Messe am Nordrand der Stadt heraus.<br />

Nach Plänen des Architekturbüros Gerkan, Marg &<br />

Partner in den Jahren 1993 bis 1996 erbaut, gilt sie<br />

als besondere architektonische Leistung der Gegenwart.<br />

So bekam die älteste Mustermesse der Welt<br />

das modernste Messegelände Europas.<br />

Folke von Köding erlebt<br />

als Gästeführerin sehr oft<br />

Touristen, die von der Schönheit<br />

Leipzigs begeistert sind.<br />

„Ich nehme heute alte Gebäude durch die Führungen<br />

insgesamt ganz anders wahr. Früher<br />

habe ich da nie so genau hingeguckt. Ich bin auf<br />

jeden Fall für den Denkmalschutz. Um den<br />

Charme dieser Stadt zu bewahren. Man sollte<br />

alles, was irgend geht, erhalten.“<br />

Schlimm seien Entscheidungen wie beispielsweise<br />

der Abbruch des Henriette-Goldschmidt-<br />

Hauses oder der Funkenburg, nur um Straßen zu<br />

verbreitern. So markante Gebäude dürften einfach<br />

nicht abgerissen werden. Das gelte auch für<br />

Eckpunkte an Kreuzungen, Areale, die<br />

besonders ins Blickfeld fallen. „Einzelne Lücken<br />

in den Straßenzügen können ruhig auch mal<br />

anders kreativ gefüllt werden. Das ist mitunter<br />

Ermessenssache.“<br />

Unvorstellbar ist für sie im Nachhinein auch der<br />

noch zu DDR-Zeiten geplante Abriss des Waldstraßenviertels,<br />

Ende der 80er-Jahre. „Damals<br />

dachte man, die Wohnbedürfnisse des sozialistischen<br />

Menschen seien ganz andere. Aber<br />

diese w<strong>und</strong>erschönen alten Gründerzeithäuser<br />

sind doch immer Neubauten vorzuziehen.“<br />

Um denkbar viel historische Bausubstanz<br />

bewahren zu können, befürwortet Folke von<br />

Köding Modelle, die es jungen Familien ermöglichen,<br />

sich alte Häuser zu günstigen Bedingungen<br />

selbst zu sanieren. Gut seien auch Sanierungskonzepte<br />

wie das des Schokoladenpalais<br />

oder der Buntgarnwerke. „Wenn die Nachfrage<br />

groß genug ist, kommt es häufig zu einer Art<br />

positiver Sogwirkung. Dann werden auch umliegende<br />

Gebäude saniert.“ Letztlich halte sie es<br />

für zielgerichteter, mehr in Plattenbaugebieten<br />

wie in Grünau abzureißen <strong>und</strong> die Leute dort zu<br />

animieren, in die alten innerstädtischen Häuser<br />

zu ziehen.<br />

FORUM DREI | NOVEMBER 2006<br />

IMPRESSUM<br />

Herausgeber:<br />

<strong>Leipziger</strong> <strong>Wohnungs</strong>- <strong>und</strong><br />

<strong>Baugesellschaft</strong> <strong>mbH</strong> (LWB)<br />

Presse- <strong>und</strong> Öffentlichkeitsarbeit<br />

Prager Straße 21, 04103 Leipzig<br />

Telefon: 0341 – 9 92 42 01<br />

E-Mail: presse@lwb.de<br />

Internet: > www.lwb.de<br />

Idee, Konzept, Koordination:<br />

Gregor Hoffmann, Andreas Nowotny (LWB)<br />

Texte:<br />

Martin Bräuer<br />

Dr. Dieter Bartetzko<br />

Peter Stubbe (LWB)<br />

Gregor Hoffmann (LWB)<br />

Sibylle Kölmel<br />

idea Kommunikation<br />

Grafik & Produktion:<br />

idea Kommunikation<br />

Fotos:<br />

Klaus Sonntag, LWB, LTS, Punctum,<br />

<strong>Leipziger</strong> Messe<br />

© LWB 2006

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