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dräum | ausgabe 3 | 09/2015

dräum ist ein periodikum von andreas leonhard hilzensauer – dräum is a periodical by andreas leonhard hilzensauer

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Sie realisierte, dass nicht mehr viel Zeit blieb. Nur noch eine<br />

vor ihr, dann würde sie dran kommen. Einmal wollte sie es<br />

noch genießen, ehe der Arzt Hand anlegen würde, einmal<br />

noch. Nonchalant und so, als wäre es keine Absicht, hob sie<br />

den Finger unter die Nase und schob mit übertriebenem<br />

Ehrgeiz nach rechts, im Schädel sang das Aneinanderreiben<br />

der Bruchstellen und frisches Blut schwemmte ein genüssliches<br />

Lächeln auf ihre Lippen. Nachdem der Höhepunkt der<br />

Schmerzen abgeklungen war, nahm sie das Taschentuch<br />

von ihrer angewiderten Sitznachbarin, die zum Glück schon<br />

als Nächste aufgerufen wurde.<br />

Die Tür zum Behandlungszimmer ließ keine zehn Minuten<br />

mehr auf sich warten. In drei Anläufen wurde ihr Name verlesen<br />

– schon wieder eine neue Sprechstundenhilfe –, dann<br />

durfte sie zum Doktor. Was denn diesmal wieder sei, fragte<br />

er und lauschte den rhetorischen Antworten auf seine rhetorischen<br />

Fragen. Dann begab er sich ans Geraderichten der<br />

gebrochenen Nase. Wie viel wiegen Sie diesmal?, fragte er<br />

beiläufig, während er sich auf den Zustand der Nasenscheidewand<br />

konzentrierte. Noch zwei Kilo weniger, dann muss<br />

ich Sie zwangseinweisen, das wissen Sie. Natürlich, hörte sie<br />

sich automatisiert antworten – in der Gewissheit, dass der<br />

Herr Doktor bei ihr längst aufgegeben hatte, denn gewogen<br />

war sie schon lange nicht mehr worden. Während sie so tat,<br />

als täte das Geraderichten weh, plante sie hinter der Fassade<br />

den nächsten Ausflug.<br />

Heinz, der Grafiker, hatte schon vergangene Woche mit<br />

der Arbeit am neuen Teppich begonnen. Er hatte vor Ort<br />

die Bodenkacheln abfotografiert und perspektivisch so<br />

verzerrt, dass man von oben trotz Ausbuchtung gerade Fugenlinien<br />

sieht. Den Menschen, der sich unter<br />

dem Teppich am Fuße der Marmortreppe und<br />

im Schatten der umliegenden Prunkbauten<br />

verbarg, den erkannte man<br />

kaum noch. Perfekt, dachte<br />

sie, als sie die Treppe für ihr<br />

geheimes Hobby<br />

entdeckt hatte:<br />

Hunderte Pauschalurlauber und Sightseeingsüchtige<br />

strömen täglich über diese Treppe herab, und alle Blicke<br />

werden auf den Sehenswürdigkeiten kleben, niemand wird<br />

skeptisch innehalten, sondern mit vollem Gewicht und ohne<br />

Rückhalt auf den Teppich steigen.<br />

Eigentlich lustig, dachte sie, während sie dem Arzt beim Tippen<br />

zusah. Von all den Menschen, die schon auf sie getreten<br />

waren, hatte sie fast keiner zur Rede gestellt. Nicht die junge<br />

Frau, deren Stöckel ihr Aug zerstochen hatte, auch nicht<br />

der Fettkloß mit bayrischem Fußgeruch, der für ihr massiv<br />

zerschundenes Lächeln verantwortlich war – und erst recht<br />

nicht der hektische Fatzke, der heute Früh telefonierend auf<br />

ihre Nase gesprungen war. Die meisten stolpern, halten kurz<br />

inne und verstummen einen Moment, gehen dann aber<br />

recht schnell wieder weiter und tun, als wäre nichts gewesen.<br />

Gott sei Dank, dachte sie sich immer wieder, denn der<br />

Gedanke, irgendjemandem erklären zu müssen, warum<br />

sie das alles machte, sich rechtfertigen zu müssen, weshalb<br />

sie da läge unter einem getarnten Teppich am Fuße einer<br />

Treppe, welchen Reiz es für sie hätte, nicht zu wissen, wann<br />

der nächste Tritt käme und wohin, welcher Teil ihres Körpers<br />

in der folgenden Sekunde unter Schmerzen jammern und<br />

frohlocken würde, das alles in Worte fassen zu müssen ließ<br />

ihr einen kalten Schauder über den Rücken laufen.<br />

Das eine Mal, wo einer einen Anfall bekommen und sie wutentbrannt<br />

zur Rede gestellt hatte, sie mit erhobenen Fäusten<br />

gefragt hatte, ob sie es auf seine Versicherung abgesehen<br />

hätte, ob sie so eine wäre, die mit irgendeinem kranken<br />

Scheiß hinter dem Geld der rechtschaffenen Leut' her wäre,<br />

dem hatte sie in Panik ihren Teppich überlassen und war<br />

davon gesprungen. Heute bereut sie diese verpasste Gelegenheit,<br />

denn provoziert man nur genug, dann treten die<br />

Leute auch noch freiwillig auf einen ein.<br />

Für heute reichte sie dem Arzt die Hand zum Abschied, nicht<br />

wissend, dass zwar er sie, aber nicht sie ihn schon morgen<br />

wiedersehen würde.

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