Gǎidào Sonderausgabe: Solidarische Ökonomie
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Gai Dào<br />
<strong>Sonderausgabe</strong> N°8: <strong>Solidarische</strong> <strong>Ökonomie</strong> Sommer 2015<br />
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Parecon (Albert) und diverse Ideen aus dem neunzehnten und frühen<br />
zwanzigsten Jahrhundert, deren aktuelle Anwendbarkeit in Zweifel<br />
gezogen werden kann. Diese reichen von räterepublikanischem<br />
Gedankengut (Luxemburg, Liebknecht, etc.) über syndikalistische<br />
Konzepte (Rocker, spanische soziale Revolution, etc.), föderative<br />
Konzepte (Landauer, etc.) bis zu primitivistischen (Thoreau, indigene<br />
Gemeinden, etc.).<br />
Dieser Mangel setzt sich fort in der gesetzlichen Verankerung<br />
herrschaftsfreier, ökonomisch agierender Gruppen. Die Anforderungen<br />
an interne Strukturen und äußeres Auftreten finden keine Entsprechung<br />
in den zivilrechtlichen Konzepten des deutschsprachigen Raumes. Für<br />
die interbetriebliche, solidarische Zusammenarbeit gibt es keinen<br />
legalen Rahmen, im Gegenteil erscheint diese aus einem juristische<br />
Blickwinkel kartellrechtlich und steuerrechtlich bedenklich.<br />
Reziprozitäre Prozesse müssen entweder vertuscht werden oder<br />
umständlich in ein Konstrukt gegenseitiger Geldflüsse und<br />
Rechnungsstellungen umgemünzt werden. Sehr deutlich wird der<br />
Mangel auch in den Rechtsformen. Alleine die Genossenschaft erfasst<br />
ein Stück des solidarischen Gedankengutes, aber sie findet praktisch<br />
kaum Anwendung, da hier der Gesetzgeber hohe Hürden wie sonst nur<br />
bei Aktiengesellschaften errichtet hat. Doppelte Buchführung und<br />
externe Buchprüfungen, sowie Mitgliedschaft in einem<br />
Genossenschaftsverband sind Pflicht. Entsprechend suchen<br />
solidarökonomische Betriebe meist Zuflucht in anderen Rechtsformen<br />
wie der „Blankorechtsform“ GbR oder konstruieren ungewöhnliche<br />
Konstrukte etwa aus GbR, GmbH und Verein. Sie bleiben so trotz<br />
Legalität in aller Regel Fremdkörper im Wirtschaftssystem, denn die<br />
gesetzlichen Strukturen werden nicht mit Leben gefüllt, sondern meist<br />
von einzelnen Buchhaltungsverantwortlichen als Scheinstrukturen zur<br />
Legalisierung betrieben. Behörden wie etwa Finanzämter verhalten sich<br />
dabei unterschiedlich. Es scheint regional unterschiedlich zu sein oder<br />
sogar an den Sachbearbeiter*innen liegen, ob bürokratische Hürden aufoder<br />
abgebaut werden. Insgesamt ist das Phänomen der solidarischen<br />
<strong>Ökonomie</strong> so marginal, dass für staatliche Stellen keine Notwendigkeit<br />
einer internen Positionierung besteht. Mitunter können aus anderen<br />
Gründen erlassene Gesetzesnovellen die Strukturen stark treffen, wie<br />
etwa die Verschärfung im Bereich der Mikrokredite nach der Pleite des<br />
Windenergieanlagenbetreibers Prokon.<br />
Ob eine staatliche Integration solidarischer Zellen in ein kapitalistisches<br />
Gesamtgefüge überhaupt wünschenswert ist, steht natürlich auf einem<br />
anderen Blatt. Hierzu gehören immer auch eine starke Abhängigkeit<br />
von der herrschenden Elite, sowie klare Grenzen der eigenen<br />
Möglichkeiten, insbesondere in einer radikalen politischen Hinsicht.<br />
Diese Erfahrung hat die Jugendzentrums- und<br />
Hausbesetzungsbewegung der achtziger und neunziger Jahre des<br />
zwanzigsten Jahrhunderts zu Genüge machen müssen, wo sie sich statt<br />
einer eventuellen Räumung für Legalisierung und Institutionalisierung<br />
entschied. Die Grenzen dieser denkbaren zukünftigen Integration kann<br />
man bereits jetzt relativ gut abschätzen. Einzelne Kollektivbetriebe im<br />
kapitalistischen Gefüge sind absolut erträglich - ja sogar nützlich. Wenn<br />
abhängig Beschäftigte in Krisensituationen Fabriken übernehmen, so<br />
dämpfen sie die Krise für die Volkswirtschaft und entbinden das<br />
staatliche Sozialprogramm teilweise seiner Verantwortung. Gleichzeitig<br />
kann ein progressives, soziales Antlitz gezeigt werden, ohne dass ein<br />
Risiko einer zu großen Vorbildfunktion für die Bevölkerung entstünde.<br />
Denn die betroffenen Betriebe sind nach wie vor krisengeschüttelt,<br />
stehen unter Druck des (Welt-)Marktes und besitzen kaum finanzielle<br />
Mittel im Vergleich zu den sonstigen Playern. Für die*den Einzelne*n<br />
wird so die Arbeit im Kollektiv zumindest finanziell nicht gerade zur<br />
Befreiung.<br />
Wenn hier immer wieder die Übernahme von Betrieben durch die<br />
Beschäftigten anklingt, so sei bemerkt, dass im deutschsprachigen<br />
Raum kein uns bekannter, noch existenter Betrieb aus einer solchen<br />
Übernahme hervorgegangen ist. Sämtliche Kollektive sind<br />
Neugründungen, die von einer Gruppe eben mit dem Ziel in einem<br />
Kollektivbetrieb zu arbeiten ins Leben gerufen wurden. In der<br />
Tristeza:<br />
Branche: Gastronomie<br />
Stadt: Berlin<br />
Rechtsform: Gesellschaft bürgerlichen Rechts<br />
existiert seit: 2008<br />
Kollektivist*innen: 10 (Juli 2014)<br />
Die Kneipe im Berliner Stadtteil Neukölln bietet seit ihrer<br />
Eröffnung 2008 (Gruppenfindung: 2003) einen offenen, aber<br />
klar links-politischen Raum, mit gewissen Standards (Anti-<br />
Diskriminierung).<br />
Die Kollektivist*innen wollen über den alltäglichen Umgang<br />
Kneipenbesucher*innen politisieren, Infrastruktur für<br />
emanzipatorische Praxis (im Kiez) schaffen und sie<br />
experimentieren mit einem Bedarfslohnsystem.<br />
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