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Gǎidào Sonderausgabe: Solidarische Ökonomie

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Gai Dào<br />

<strong>Sonderausgabe</strong> N°8: <strong>Solidarische</strong> <strong>Ökonomie</strong> ­ Sommer 2015<br />

19<br />

Parecon (Albert) und diverse Ideen aus dem neunzehnten und frühen<br />

zwanzigsten Jahrhundert, deren aktuelle Anwendbarkeit in Zweifel<br />

gezogen werden kann. Diese reichen von räterepublikanischem<br />

Gedankengut (Luxemburg, Liebknecht, etc.) über syndikalistische<br />

Konzepte (Rocker, spanische soziale Revolution, etc.), föderative<br />

Konzepte (Landauer, etc.) bis zu primitivistischen (Thoreau, indigene<br />

Gemeinden, etc.).<br />

Dieser Mangel setzt sich fort in der gesetzlichen Verankerung<br />

herrschaftsfreier, ökonomisch agierender Gruppen. Die Anforderungen<br />

an interne Strukturen und äußeres Auftreten finden keine Entsprechung<br />

in den zivilrechtlichen Konzepten des deutschsprachigen Raumes. Für<br />

die interbetriebliche, solidarische Zusammenarbeit gibt es keinen<br />

legalen Rahmen, im Gegenteil erscheint diese aus einem juristische<br />

Blickwinkel kartellrechtlich und steuerrechtlich bedenklich.<br />

Reziprozitäre Prozesse müssen entweder vertuscht werden oder<br />

umständlich in ein Konstrukt gegenseitiger Geldflüsse und<br />

Rechnungsstellungen umgemünzt werden. Sehr deutlich wird der<br />

Mangel auch in den Rechtsformen. Alleine die Genossenschaft erfasst<br />

ein Stück des solidarischen Gedankengutes, aber sie findet praktisch<br />

kaum Anwendung, da hier der Gesetzgeber hohe Hürden wie sonst nur<br />

bei Aktiengesellschaften errichtet hat. Doppelte Buchführung und<br />

externe Buchprüfungen, sowie Mitgliedschaft in einem<br />

Genossenschaftsverband sind Pflicht. Entsprechend suchen<br />

solidarökonomische Betriebe meist Zuflucht in anderen Rechtsformen<br />

wie der „Blankorechtsform“ GbR oder konstruieren ungewöhnliche<br />

Konstrukte etwa aus GbR, GmbH und Verein. Sie bleiben so trotz<br />

Legalität in aller Regel Fremdkörper im Wirtschaftssystem, denn die<br />

gesetzlichen Strukturen werden nicht mit Leben gefüllt, sondern meist<br />

von einzelnen Buchhaltungsverantwortlichen als Scheinstrukturen zur<br />

Legalisierung betrieben. Behörden wie etwa Finanzämter verhalten sich<br />

dabei unterschiedlich. Es scheint regional unterschiedlich zu sein oder<br />

sogar an den Sachbearbeiter*innen liegen, ob bürokratische Hürden aufoder<br />

abgebaut werden. Insgesamt ist das Phänomen der solidarischen<br />

<strong>Ökonomie</strong> so marginal, dass für staatliche Stellen keine Notwendigkeit<br />

einer internen Positionierung besteht. Mitunter können aus anderen<br />

Gründen erlassene Gesetzesnovellen die Strukturen stark treffen, wie<br />

etwa die Verschärfung im Bereich der Mikrokredite nach der Pleite des<br />

Windenergieanlagenbetreibers Prokon.<br />

Ob eine staatliche Integration solidarischer Zellen in ein kapitalistisches<br />

Gesamtgefüge überhaupt wünschenswert ist, steht natürlich auf einem<br />

anderen Blatt. Hierzu gehören immer auch eine starke Abhängigkeit<br />

von der herrschenden Elite, sowie klare Grenzen der eigenen<br />

Möglichkeiten, insbesondere in einer radikalen politischen Hinsicht.<br />

Diese Erfahrung hat die Jugendzentrums- und<br />

Hausbesetzungsbewegung der achtziger und neunziger Jahre des<br />

zwanzigsten Jahrhunderts zu Genüge machen müssen, wo sie sich statt<br />

einer eventuellen Räumung für Legalisierung und Institutionalisierung<br />

entschied. Die Grenzen dieser denkbaren zukünftigen Integration kann<br />

man bereits jetzt relativ gut abschätzen. Einzelne Kollektivbetriebe im<br />

kapitalistischen Gefüge sind absolut erträglich - ja sogar nützlich. Wenn<br />

abhängig Beschäftigte in Krisensituationen Fabriken übernehmen, so<br />

dämpfen sie die Krise für die Volkswirtschaft und entbinden das<br />

staatliche Sozialprogramm teilweise seiner Verantwortung. Gleichzeitig<br />

kann ein progressives, soziales Antlitz gezeigt werden, ohne dass ein<br />

Risiko einer zu großen Vorbildfunktion für die Bevölkerung entstünde.<br />

Denn die betroffenen Betriebe sind nach wie vor krisengeschüttelt,<br />

stehen unter Druck des (Welt-)Marktes und besitzen kaum finanzielle<br />

Mittel im Vergleich zu den sonstigen Playern. Für die*den Einzelne*n<br />

wird so die Arbeit im Kollektiv zumindest finanziell nicht gerade zur<br />

Befreiung.<br />

Wenn hier immer wieder die Übernahme von Betrieben durch die<br />

Beschäftigten anklingt, so sei bemerkt, dass im deutschsprachigen<br />

Raum kein uns bekannter, noch existenter Betrieb aus einer solchen<br />

Übernahme hervorgegangen ist. Sämtliche Kollektive sind<br />

Neugründungen, die von einer Gruppe eben mit dem Ziel in einem<br />

Kollektivbetrieb zu arbeiten ins Leben gerufen wurden. In der<br />

Tristeza:<br />

Branche: Gastronomie<br />

Stadt: Berlin<br />

Rechtsform: Gesellschaft bürgerlichen Rechts<br />

existiert seit: 2008<br />

Kollektivist*innen: 10 (Juli 2014)<br />

Die Kneipe im Berliner Stadtteil Neukölln bietet seit ihrer<br />

Eröffnung 2008 (Gruppenfindung: 2003) einen offenen, aber<br />

klar links-politischen Raum, mit gewissen Standards (Anti-<br />

Diskriminierung).<br />

Die Kollektivist*innen wollen über den alltäglichen Umgang<br />

Kneipenbesucher*innen politisieren, Infrastruktur für<br />

emanzipatorische Praxis (im Kiez) schaffen und sie<br />

experimentieren mit einem Bedarfslohnsystem.<br />

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