Gǎidào Sonderausgabe: Solidarische Ökonomie
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Gai Dào<br />
<strong>Sonderausgabe</strong> N°8: <strong>Solidarische</strong> <strong>Ökonomie</strong> Sommer 2015<br />
interessierten Gemeinschaft zwischen Frauen, Männern und Kindern. 7<br />
Keines der historischen Modell könnte in die Jetzt-Zeit einfach<br />
übertragen werden und doch überrascht es, wie „modern“ manche auch<br />
jetzt noch klingen. Angesichts der gebotenen Kürze will ich zwei<br />
anarchistische Theorien, den „Anarchismus der Tat“ von Gustav<br />
Landauer und das während der Aufbruchstimmung nach dem zweiten<br />
Weltkrieg entwickelte anarchosyndikalistische Modell von Rudolf<br />
Rocker vorstellen.<br />
Durch Absonderung zur Gemeinschaft, beginnend im Hier und<br />
Jetzt<br />
Für die Ideen eines emanzipatorischen Gemeinschaftsansatzes von<br />
Gustav Landauer (1870 – 1919) waren die Bekanntschaft mit den<br />
Anarchisten Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842 – 1921) und Erich<br />
Mühsam (1878 – 1934) sowie mit dem Sozialpsychologen Martin Buber<br />
prägend. Durch Landauers zentrale Vision „durch Absonderung zur<br />
Gemeinschaft“ zu<br />
gelangen, sollte<br />
Menschen mit gleicher<br />
Gesinnung der allmähliche<br />
Ausstieg aus<br />
der kapitalistischen<br />
Warengesellschaft gelingen,<br />
und zwar<br />
beginnend im „Hier<br />
und Jetzt.“<br />
Die einzelnen Elemente<br />
der Vergemeinschaftung<br />
sind:<br />
Eine Gruppe selbstbestimmter<br />
Individuen<br />
schließt sich in freier<br />
Vereinbarung zusammen<br />
und wirkt so<br />
Kibbuz 1930 in Palästina<br />
dem<br />
Verfall<br />
verbindlicher sozialer Beziehungen entgegen. Diese Gemeinschaft soll<br />
dem Individuum den notwendigen Rückhalt bieten, um seine<br />
Individualität entwickeln zu können. Sie soll aber auch Raum<br />
gewährleisten, um kollektiven Widerstand gegen herrschende<br />
Institutionen, die sich dem Vorhaben in den Weg stellen, organisieren zu<br />
können und sich Anpassungszwängen zu widersetzen. Sie soll der<br />
Uniformierung der Konsumgesellschaft entgegenwirken, indem sie<br />
Heterogenität, Flexibilität und Vielfalt schafft; soll also gleichermaßen<br />
der Verfolgung individueller und kollektiver Interessen dienen. Er rief<br />
dazu auf, mit den autoritären Vermittlern (Staat, Kirche, Kapitalismus,<br />
Führer etc.) aufzuräumen, indem er sagte: „Räumt mit den autoritären<br />
Vermittlern auf; schafft die Schmarotzer ab; sorgt für unmittelbare<br />
Verbindung der Interessen“ 8 Kommunen, Genossenschaften und<br />
sozialistische Gemeinden sollten damit – also mit dem richtigen Leben<br />
im falschen - beginnen. Durch eine Reihe von Siedlungsversuchen, an<br />
denen vor allem die Anarchistin Margarethe Hardegger (1882 – 1963)<br />
beteiligt war, wurde das Konzept erprobt. 9 Gemeinsam mit<br />
Gefährt*innen gründete sie eine Kommune mit gemeinsamer Kasse und<br />
gemeinsamer Gesinnung, mit Sofaecke und Leseclub, die Intellektuelle<br />
und Handwerker*innen ebenso vereinte wie heimatlose<br />
Kriegsdienstverweigerer; pedantisch überwacht von der Polizei. Sie<br />
plante die Gründung einer größeren anarchistischen Kolonie, scheiterte<br />
- wie öfter in ihrem Leben, gab aber gab niemals auf. Während<br />
Landauer und Mühsam nach Ende des Krieges in Bayern die Ordnung<br />
auf den Kopf stellten, startete sie einen neuen Siedlungsversuch und<br />
brach damit wieder ein. In Erinnerung an ein Zitat des Geliebten<br />
Gustav Landauer: "Sozialismus ist die Willenstendenz geeinter<br />
Menschen, um eines Ideals willen Neues zu schaffen", begann sie erneut<br />
mit dem Aufbau einer Kommune. Auch dieser dritte und letzte Versuch,<br />
im Sinne von Landauer<br />
zu siedeln, ist<br />
fehlgeschlagen. Den<br />
Kampf um eine freiere<br />
Gesell-schaft hat<br />
Margarethe Hardegger<br />
jedoch trotz vieler<br />
politischer und<br />
persönlicher Niederlagen<br />
bis zu ihrem<br />
Tode nicht aufgegeben.<br />
Durch<br />
ihre<br />
Betätigung nach<br />
außen hin neue<br />
Gebiete erschließen<br />
Nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg nahm der<br />
Anarcho-Syndikalist<br />
Rudolf Rocker (1873 –<br />
1958), der bereits in den 1920er Jahren politisch aktiv war und während<br />
des Naziregimes nach England emigrieren musste, das Konzept in<br />
ähnlicher Form wieder auf. 10 Nach seinem theoretischen Ansatz sollte<br />
der einzelne Mensch, bzw. der einzelne Betrieb, die initiierende Kraft<br />
sein, die Vereinigungen „gesinnungsverwandter, von freiheitlichem<br />
Geist getragener Menschen" gründet, die entschlossen waren, durch<br />
ihre „Betätigung nach außen hin immer weitere Gebiete zu erschließen<br />
und ihre Anschauungen in neue Kreise zu tragen, wo sie sich fruchtbar<br />
auswirken können“ 11 . Er ergänzte den basisdemokratischen Ansatz<br />
durch den ganzheitlichen Erziehungsansatz von Petr Kropotkin. 12<br />
Feldarbeit, Handwerk und dezentrale Industrie sollten eine Einheit<br />
bilden. Die jungen Menschen – Männer und Frauen – sollten zugleich<br />
in Wissenschaft und Handwerk unterrichtet werden; an die Stelle der<br />
[7] Einen Einblick in Diskussionen während verschiedener historischer Epochen findet sich in: Notz, Theorien alternativen Wirtschaftens, S. 32 ff.<br />
[8] Gustav Landauer, zit. nach RolfCantzen: Weniger Staat – mehr Gesellschaft, Frankfurt/M. 1987, S. 66.<br />
[9] Ina Boesch: Gegenleben. Die Sozialistin Margarethe Hardegger und ihre politischen Bühnen. Zürich: Chronos Verlag 2003.<br />
[10] RudolfRocker: Zur Betrachtung der Lage in Deutschland. Die Möglichkeit einer freiheitlichen Bewegung, New York/London/Stockholm 1947.<br />
[11] Ebd., S. 13.<br />
[12] Petr Kropotkin: Der moderne Staat, Berlin 1913.