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Gǎidào Sonderausgabe: Solidarische Ökonomie

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Gai Dào<br />

<strong>Sonderausgabe</strong> N°8: <strong>Solidarische</strong> <strong>Ökonomie</strong> ­ Sommer 2015<br />

Vergangenheit gab es andere Beispiele, wie etwa AN Maschinenbau aus<br />

Bremen (heute Siemens Wind Power) oder auch die Biria AG (Strike<br />

Bike unter Selbstverwaltung), u.a. Diese existieren allerdings nicht mehr<br />

oder nicht mehr in Selbstverwaltung. Weitere Überlegungen warum im<br />

deutschsprachigen Raum wenige Betriebe von der Belegschaft<br />

übernommen werden oder diese nicht überleben, wäre sicher Thema für<br />

einen eigenen Artikel. Rechercheergebnisse sowie ökonomische<br />

Theorien im Bereich der Wirtschaftswissenschaften existieren zur<br />

kollektiven Selbstverwaltung bereits seit den fünfziger Jahren.<br />

Wer betätigt sich nun aber in Kollektivbetrieben, wenn es nicht die<br />

nach Nützlichkeitserwägungen zusammengewürfelten Exbelegschaften<br />

ehemals traditioneller Unternehmen sind? Man könnte annehmen, dass<br />

die vom neoliberalen Kapitalismus an den Rand gedrängten Schichten<br />

am ehesten dazu neigen sich, solidarisch oder nicht, selbst zu<br />

organisieren. Dies stimmt so nur teilweise. Österreich, die Schweiz und<br />

die BRD verfügen über ein sozialstaatliches System, dass ein<br />

Existenzminimum gewährleistet, jedoch wenig Eigeninitiative fördert<br />

und die Betroffenen in einer Art administrativen Mühle beschäftigt<br />

hält. Menschen mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus ist eine<br />

ökonomische Betätigung ohnehin verwehrt, wird in illegaler Weise aber<br />

durchaus praktiziert. Insbesondere hier greift das staatliche<br />

Wohlfahrtssystem auch nicht in<br />

oben beschriebener Weise, da der<br />

Umfang deutlich unter einem ertragbaren<br />

Existenzminimum liegt.<br />

Auch treiben ökonomische Gründe<br />

nicht gerade in diese Richtung, da<br />

der Markt durch große bestehende<br />

Akteure weitestgehend gesättigt ist.<br />

Er-folgreiche Start-ups bedürfen<br />

eines hoch qualifizierten Teams<br />

(ebenso wie erfolgreiche kriminelle<br />

Konzepte), was gerade bei den<br />

Randschichten im ökonomischen<br />

Sinne im kapitalistischen System<br />

schwer aufgebaut werden kann. Anders sieht es aus bei anderen<br />

benachteiligten Gruppen, wie etwa durch Geschlecht, geschlechtliche<br />

Identität, Sexualleben, alternative Lebensführung oder körperliche<br />

Beeinträchtigungen. Hier sind Kollektivbetriebe tatsächlich eine<br />

attraktive Variante, da sie einen Raum freier von Diskriminierung<br />

bieten und viel besser auf die Bedürfnisse der Beteiligten eingehen. Die<br />

vermehrte Präsenz dieser Gruppen zeigte sich auch in den Interviews.<br />

Beispielsweise existieren dezidierte Frauenkollektive. Welche sozialen<br />

Gruppierungen auch immer in Kollektiven vertreten sind, gehört bei<br />

allen eine individuelle politische Positionierung dazu um solidarisch zu<br />

wirtschaften. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen legen es<br />

keiner Gruppe direkt nahe in dieser Richtung aktiv zu werden.<br />

Gemäß dem politischen Anspruch auf Herrschaftsfreiheit und der<br />

Beteiligung vieler Personen mit Diskriminierungserfahrungen bestehen<br />

inzwischen ein hoher Wissenstand und eine gelebte Praxis eines<br />

hierarchiekritischen Umgangs. Damit verbunden hat jedes Kollektiv<br />

unterschiedliche Entscheidungs- und Kommunikationsstrukturen sowie<br />

Konfliktbewältigungstrategien entwickelt, die von den äußeren<br />

Umständen des Betriebes, dem Lebensgefühl der Beteiligten sowie<br />

deren politischen Vorstellungen abhängen. Entsprechend unterscheiden<br />

sich die inneren Strukturen zwischen Kollektiven sehr stark. Sie sind<br />

jedoch bei fast allen Projekten, die wir kennenlernen konnten, relativ<br />

weit ausgestaltet und Thema permanenter Reflektionen. Ein typisches<br />

Spannungsfeld in diesem Bereich liegt zwischen formalisierten<br />

Strukturen und festen Methodiken auf der einen und dynamischeren,<br />

informelleren Konzepten auf der anderen Seite. Bei Konfliktfällen gibt<br />

es externe Gruppen, die speziell für herrschaftsfreie Projekte<br />

Mediationen anbieten. Viele Projekte berichten von Konflikten in ihrer<br />

Geschichte, bei denen teilweise Mitglieder das Kollektiv verlassen<br />

haben. Meinungsverschiedenheiten sind an der Tagesordnung, aber<br />

Streitereien eher eine Ausnahme.<br />

Alles in allem kann gesagt werden, dass solidarische Betriebe eine<br />

kleine Rolle im wirtschaftlichen System im deutschsprachigen Raum<br />

spielen. Auch ist ihre Sichtbarkeit sehr gering, obwohl sie in den vergangenen<br />

Jahren aufgrund von antikapitalistischen<br />

Bewegungen und<br />

Nachhaltigkeitsdebatten wieder anstieg.<br />

Obwohl nicht-hierarchische<br />

Systeme ihrem Wesen nach eine<br />

effizientere Form der Zusammenarbeit<br />

bieten, haben entsprechende<br />

Geschäftsmodelle aufgrund der politischen<br />

Rahmenbedingungen einen<br />

schweren Stand. In der Marktwirtschaft<br />

ist zudem ein solidarisches<br />

Verhältnis zur umgebenden<br />

Gesellschaft nicht umsetzbar. Alternativen<br />

zum Markt existieren in<br />

der Theorie nur rudimentär und sind praktisch gar nicht umgesetzt.<br />

Eine Ausnahme bilden Kooperativen, bei denen eine feste Partnerschaft<br />

von Konsument*innen und Produzent*innen den Markt ersetzt. Deren<br />

Modell wäre jedoch auf eine gesamtwirtschaftliche Ebene nicht ohne<br />

weiteres skalierbar. Anders als im Bereich ökonomischer Theorie und<br />

außermarktlicher Interaktion sind die Kollektive in der Entwicklung<br />

interner Strukturen frei von Herrschaft und Diskriminierung sehr weit<br />

fortgeschritten. Auch zur Lösung interner Konflikte wurden Wege<br />

gefunden, so dass diese nicht mehr dieselbe Sprengkraft für die<br />

Gruppen besitzen. Dieser besondere Fokus auf die interne<br />

Sozialstruktur mag auch daran liegen, dass viele in der normalen<br />

Arbeitswelt Benachteiligte und so Sensibilisierte sich in Kollektiven<br />

organisieren. Die im deutschsprachigen Raum aktiven Kollektive sind<br />

Neugründungen von Gruppen, die sich eine ökonomische<br />

Zusammenarbeit persönlich und fachlich vorstellen können, und keine<br />

Betriebsübernahmen wie etwa in Argentinien. Probleme und Diskurse<br />

kollektiver Neugründungen und übernommener Betriebe in kollektiver<br />

Selbstverwaltung unterscheiden sich.

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