Gǎidào Sonderausgabe: Solidarische Ökonomie
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Gai Dào<br />
<strong>Sonderausgabe</strong> N°8: <strong>Solidarische</strong> <strong>Ökonomie</strong> Sommer 2015<br />
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Unsicherheit und Traumatisierung. So sehr sich anarchistische<br />
Aktionsgruppen auch bemühen die individuelle Konfrontation mit dem<br />
politischen Gegner abzupuffern, wobei hierzu spätestens seit den G8-<br />
Protesten in Genua 2001 eine positive Entwicklung stattgefunden hat, so<br />
bleibt der Aktivismus doch ein Raum der Grenzüberschreitungen und<br />
Ausgrenzung. Terror in psychischer wie körperlicher Hinsicht ist immer<br />
das letzte Mittel zur Sicherung von Herrschaft und im Angesicht des<br />
Grauens, das die*der Aktivist*in jeglicher Epoche ins Gesicht steht,<br />
können nur Werte wie Leistungsbereitschaft, Geistesgegenwart und<br />
Verantwortung die Ausschlag gebenden im Kontext vieler Aktivitäten<br />
sein.<br />
In der beschriebenen Funktion als Schutzraum vor Diskriminierung<br />
kann solidarische <strong>Ökonomie</strong> eine wichtige Rolle in der anarchistischen<br />
Bewegung spielen. Sie ist wesentlich integrativer als der Aktivismus<br />
und kann viele Personen mit vielerlei Fähigkeiten für die Bewegung<br />
gewinnen und in Diskurse integrieren. Sie kann uns vor der Strapaze<br />
eines permanenten Überlebenskampfes und Diskriminierung ebenso<br />
schützen, wie uns selbst einen Raum zum Leben eines solidarischen<br />
Umgangs bieten. Ihre flexiblen auf den sozialen Umgang fokussierten<br />
Konzepte können Aktivist*innen zudem einen emotionalen wie auch<br />
strukturellen Rückhalt geben, wenn Aktionen sie an den Rande ihrer<br />
individuellen Leistungsfähigkeit bringen.<br />
So positiv eine Beteiligung politischer Aktivist*innen an solidarischökonomischen<br />
Projekten in Erscheinung treten mag, so soll hier auch<br />
auf eine Schattenseite hingewiesen werden. Wenn sich Aktivist*innen<br />
aus den Normalzuständen kapitalistischer Lebensweisen lösen, so<br />
entfernen sie sich auch aus dem kollektiven Erfahrungsschatz einer<br />
Mehrheitsbevölkerung, in die emanzipatorische Diskurse im<br />
Allgemeinen nur als Gleiche unter Gleichen hineinzutragen sind.<br />
Gewerkschaftsaktivismus als Mittel zur Übernahme der<br />
Produktionsmittel wird hierdurch verunmöglicht. Gerade aus der Sicht<br />
eines ökologischen (zum Teil auch sozialen) Diskurses ist es allerdings<br />
ebenso fragwürdig, ob eine Übernahme der Produktionsmittel eines<br />
globalisierten Kapitalismus überhaupt erstrebenswert ist. Eine<br />
Zerstörung der Produktionsstätten wiederum ist auch von extern<br />
möglich. Weiterhin hat Gewerkschaftsaktivismus in den vergangenen<br />
Jahrzehnten eine immer untergeordnetere Rolle gespielt.<br />
Im Verhältnis von Gewerkschaftsaktivismus zu solidarischen Betrieben<br />
liegt ohnehin ein Themenfeld dieses Artikels. So wurde in einem<br />
Interview auf den „Gewerkschaftlich Organisierten Betrieb“ (GOB) ein<br />
Projekt der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft FAU hingewiesen.<br />
Die FAU möchte damit zum einen ein Angebot für Beschäftigte in<br />
Kollektivbetrieben schaffen und zum anderen eine Föderation der<br />
Kollektivbetriebe ins Leben rufen. Diese soll als eine Art Lobby<br />
auftreten, die Idee des Kollektivbetriebs propagieren und gleichzeitig<br />
eine interne <strong>Ökonomie</strong> realisieren. Ähnliches leistete auch die CNT<br />
während der sozialen Revolution in Spanien. In ihrem Konzept legt sie<br />
auch sehr präzise Standards für Kollektivbetriebe fest. Besonders<br />
interessant ist hier ein Prinzip, dem zu Folge die Belegschaft<br />
mehrheitlich in der FAU organisiert sein muss. So wird die Brücke zu<br />
den in konventionellen Betrieben beschäftigten Werktätigen geschlagen.<br />
Eine Endsolidarisierung und Rolle der Kollektivbetriebe als<br />
Lohndrücker soll so vermieden werden. Aber gerade an diesem Punkt,<br />
sowie anderen Punkten einer Einmischung der Gewerkschaft in die<br />
Politik der Einzelbetriebe besteht Streitpotential. So bezeichnete ein<br />
Kollektivist in einem Einzelgespräch das GOB-Konzept als<br />
„Gewerkschaftspolizei“ innerhalb der selbstorganisierten Gruppe.<br />
Nach der Diskussion einiger Teilaspekte soll es jetzt mit einem<br />
Vorschlag zum Zusammenspiel von <strong>Solidarische</strong>r <strong>Ökonomie</strong> und<br />
Aktivismus im Sinne unserer Bewegung weiter gehen.<br />
Es scheint, dass solidarisch-ökonomische Projekte zwei<br />
grundverschiedene Wege gehen können, die fruchtbar für eine<br />
anarchistische Bewegung sind, aber für sich genommen den<br />
anarchistischen Gesamtanspruch nicht erfüllen. Der Grund hierfür liegt<br />
im Sinne der Unmöglichkeit des wahren Lebens im Falschen in einer<br />
Unvereinbarkeit von verschiedenen, erstrebenswerten Ansprüchen in<br />
einer kapitalistischen Umwelt. Anstatt Adornos weithin bekannte<br />
Warnung ernst zu nehmen und nach einem pragmatischen Ausweg<br />
jenseits der Lethargie zu suchen, antworten viele mit einem trotzigen<br />
„dennoch irgendwie“. In einer Art existentialistischen Zähigkeit<br />
nehmen sie die Niederlage vorweg und wursteln sich in bestem<br />
Gewissen durch die Niederungen der alltäglichen Geschäftsführung.<br />
Das Ergebnis dieser Herangehensweise gärt in einer Szene „netten“<br />
Wirtschaftens fröhlich vor sich hin, die überall um uns herum bigotte<br />
Blasen schlägt. Dabei beginnt die Bigotterie nicht erst bei den<br />
unideologischen Followern, die die Verwertbarkeit antikapitalistischen<br />
Lifestyles erkannt haben, sondern liegt bereits in Fehlkonzeptionen<br />
ideologisch solidarischer Projekte begründet, die ihrem Anspruch im<br />
marktwirtschaftlichen Umwelt nicht gerecht werden können, die<br />
Widersprüche jedoch durch identitäre Konstrukte zu kaschieren suchen.<br />
Ein unvereinbarer Konflikt besteht zwischen Kundenbeziehungen,<br />
Lieferantenbeziehungen und innerem Anspruch (Bedürfnisprinzip,<br />
Hierarchiekritik). Sympathische Kund*innen sind per se nicht solvent,<br />
weil sie ihr Leben nicht auf das Geldverdienen ausrichten.<br />
Sympathische Lieferant*innen sind per se teuer, weil sie soziale<br />
Standards einhalten und ökologisch vertretbare Nieschenprodukte<br />
verarbeiten. Eine sympathische Betriebsstruktur verlangt nach Arbeit in<br />
einem Maß und Abwechslungsreichtum, in welcher sie Spaß bringt.<br />
Viele Kollektive scheinen sich dieses Dilemma so nicht vor Augen zu<br />
führen. Die zermürbende stuck in the middle Situation bewirkt<br />
Scheitern oder oben genannte Bigotterie. Dann kann solidarische<br />
<strong>Ökonomie</strong> zum Synonym für Abzocke, Selbstausbeutung und<br />
Ablasshandel für wohlhabende Schichten werden. Dieser Zustand steht<br />
der anarchistischen Bewegung konträr entgegen.<br />
Welche Wege kann solidarische <strong>Ökonomie</strong> als Teil der anarchistischen<br />
Bewegung also gehen? Oben wurde bereits angedeutet, dass im<br />
wesentlichen zwei Richtungen eingeschlagen werden können.<br />
Im ersten Konzept dient der Betrieb einer Finanzierung der beteiligten<br />
Aktivist*innen oder politischer Initiativen. Damit ist sein Anspruch<br />
nach außen profitorientiert. Sein Angebot richtet sich klar an<br />
Kund*innen außerhalb der Bewegung. Zu den Kund*innen besteht kein<br />
solidarisches Verhältnis. Bei den Lieferant*innen werden solche aus<br />
dem Bereich solidarischer <strong>Ökonomie</strong> bevorzugt, falls dies mit dem<br />
eigenen Profitinteresse zu vereinbaren ist. Nach innen besteht ein