03.02.2016 Aufrufe

zds#28

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

DIE ZEITSCHRIFT<br />

DER STRASSE<br />

Das Bremer Straßenmagazin<br />

nr. 28 – JUNI 2015<br />

www.zeitschrift-der-strasse.de<br />

Preis: 2 Euro<br />

Davon 1 Euro für<br />

den verkäufer<br />

PLAN<br />

TAGE<br />

MEHR IST NICHT<br />

GENUG<br />

PLÖTZLICH<br />

GALERIST<br />

POSTKARTE VOM<br />

PLANTAGENHOF<br />

AUF INS<br />

PARADIES<br />

Ein Pastor, drei<br />

Gemeinden – und<br />

viel Stress<br />

Von einem, der ein<br />

Ende suchte und<br />

einen Anfang fand<br />

Auf Trophäenjagd:<br />

die Funker aus dem<br />

Rundfunkmuseum<br />

Unser Autor will weg<br />

aus der Plantage. Per<br />

Anhalter


EDITORIAL | 3<br />

Und wieder<br />

alles anders<br />

Liebe Leserinnen<br />

und Leser,<br />

es gibt Straßen in Bremen, die wirken, als hätten sie sich seit einem<br />

Jahrhundert nicht verändert. Und es gibt die Plantage in Findorff.<br />

Vor 265 Jahren als Sommersitz eines Superreichen entstanden, wurde<br />

die Plantage Ausflugslokal der gehobenen Gesellschaft, Heimat der<br />

Eisenbahner in kleinen Reihenhäusern, nüchternes Gewerbegebiet und<br />

zuletzt Zentrum der Bremer Medien- und Designszene. Die einzige Konstante<br />

in dieser Straße ist der Wandel.<br />

Von Veränderung handeln auch die Geschichten, die unsere Autoren<br />

aufgeschrieben haben: Carolin Hoffmann beschreibt am Beispiel eines<br />

Mannes, was die moderne Arbeitswelt aus dem Beruf des Pastors machen<br />

kann: Vorbei die Zeiten, in denen Pastoren ruhender Pol der Gemeinde<br />

waren, stets ansprechbar für jeden und mit Muße zur inneren<br />

Einkehr. Stattdessen Zeitdruck, Terminhatz, Zerrissenheit (S. 8).<br />

Joschka Schmitt traf einen Künstler und Studenten, der eher zufällig<br />

zum Galeristen wurde (S. 12), während Felix Müller im Rundfunkmuseum<br />

auf eine Welt stieß, die stillzustehen scheint. Doch wippen die Finger<br />

der Funker am Morsegerät, füllt sich eine Weltkarte an der Wand mit<br />

Reißzwecken: Jede markiert einen Kontakt in andere Länder (S. 20).<br />

Wiebke Plasse versuchte, Kummer und Sorgen mit Morgenyoga zu<br />

vertreiben (S. 27), und André Beinke machte die Tankstelle in der Plantage<br />

zum Ausgangspunkt einer Reise ins Paradies. Ob und wie er dort<br />

angekommen ist, lesen Sie ab Seite 22.<br />

Viel Vergnügen wünschen<br />

Tanja Krämer, Philipp Jarke<br />

und das ganze Team der Zeitschrift der Straße<br />

Die Zeitschrift der Straße<br />

Foto Titelseite: Begüm Yücelay<br />

Seite 2: André Schmoll<br />

ist das Bremer Straßenmagazin – ein gemeinsames Projekt<br />

von Studierenden, JournalistInnen, sozial Engagierten, StreetworkerInnen,<br />

HochschullehrerInnen und von Menschen, die<br />

von Wohnungslosigkeit und Armut bedroht oder betroffen<br />

sind. Die Zeitschrift der Straße wird auf der Straße verkauft, die<br />

Hälfte des Verkaufserlöses geht an die VerkäuferInnen. Jede<br />

Ausgabe widmet sich einem anderen Ort in Bremen und erzählt<br />

Geschichten von der Straße.


Inhalt<br />

08 Mehr ist nicht genug<br />

Ein Pastor, drei Gemeinden.<br />

Und der Kampf gegen den Stress<br />

12 Plötzlich Galerist<br />

Von einem, der ein Ende<br />

suchte und einen Anfang fand<br />

14 Verbindung<br />

Bildstrecke<br />

22<br />

08<br />

20<br />

Die Liga<br />

der außergewöhnlichen Drucker<br />

UWE VANDREIER DIETMAR KOLLOSCHÉ ALEXANDRA WILKE UND ANDRÉ APPEL<br />

BERLINDRUCK UND GSG BERLIN PRÄSENTIEREN IN ZUSAMMENARBEIT MIT A1/BREMER KREUZ/A27<br />

OSKAR-SCHULZE-STR. 12 EINE CO-PRODUKTION MIT 28832 ACHIM EINE BERLINDRUCK PRODUKTION<br />

EIN FILM VON REINHARD BERLIN FRANK RÜTER CASTING HEDDA BERLIN ANKE HOLSTE HERSTELLUNGSLEITER WALTER SCHWENN KOSTÜMDESIGNER BJÖRN GERLACH<br />

VOLKER KAHLERT MARCUS LATTERMANN RONALD MICHALAK ANDREAS MINDERMANN MIKE REIMERS JOCHEN RUSTEDT THOMAS VIERKE ERHARD VOSSMEYER<br />

DIRK LELLINGER IN ZUSAMMENARBEIT MIT CHRISTIAN EWERT MARIAN KACYNA MAKE-UP IRIS KAISER-BANDMANN SCHNITT JÖRG WORTMANN PRODUKTIONSDESIGNER<br />

STEPHAN HARMS MELAHAT HALTERMANN THOMAS HARTUNG RANDERS KÄRBER OLE BRÜNS ILKA KÖNIG MONIKA PLOTTKE DENNY QUEDNAU<br />

MARLIES WELLBROCK FOTOGRAFIE-DIREKTOR CARSTEN HEIDMANN AUSFÜHRENDE PRODUZENTEN DAGMAR BAUMGARTEN SONJA CORDES KATRIN HARJES<br />

MARVIN RÖNISCH PRODUKTIONSLEITUNG KATJA LINDEMANN BEST GIRLS/BOYS TESSA WARNECKE CHEVY ORLANDO FRITSCH PRODUZENTEN KIRSTEN HINRICHS<br />

ROLF MAMMEN ANNE SWIERCZYNSKI DREHBUCH HENRIKE OTT NACH EINER IDEE VON PATRICK CALANDRUCCIO PETRA GRASHOFF REGIE ECKARD CHRISTIANI<br />

www.berlindruck.de<br />

12<br />

20 Postkarte vom Plantagenhof<br />

Auf Trophäenjagd: die Funker aus<br />

dem Rundfunkmuseum<br />

22 Auf ins Paradies<br />

Unser Autor will weg aus der Plantage.<br />

Per Anhalter. Ob ihm das gelingt?<br />

27 Yoga am Morgen<br />

Vertreibt es Kummer und Sorgen?<br />

Unsere Autorin probiert es aus<br />

28 Unterstützen<br />

29 Neuigkeiten<br />

30 Eine Woche mit … Olaf<br />

31 Impressum & Vorschau<br />

Illustration:<br />

Anna-Lena Klütz ist freie Künstlerin und freut<br />

sich, wenn aus einer scheinbar nichtssagenden<br />

Straße ein Bild voller spannender Einblicke wird.


6 | zahlEN<br />

1942<br />

PLANTAGE<br />

2015<br />

Gewerbestraße in Findorff, parallel zu den<br />

Bahngleisen. Etwa 350 Meter lang<br />

Recherche & Text: Tanja Krämer, Philipp Jarke<br />

Foto (2015): Begüm Yücelay<br />

Bau des Sommersitzes durch den Bremer Kaufmann<br />

Eberhard von Hoorn: 1750<br />

Öffnung als Ausflugslokal für die gehobene Gesellschaft:<br />

1802<br />

Bau der ersten Wohnhäuser: 1863<br />

Künstler und Kreative in der Ateliergemeinschaft<br />

Plantage 9: 30<br />

Musiker und Kreative in der Ateliergemeinschaft<br />

Plantage 13: 13<br />

Gründung des Bremer Concert-Orchesters, später<br />

Bremer Philharmoniker: 1820<br />

Musiker im Orchester: 80<br />

Zahl der Orchesterwarte: 2<br />

Mitarbeiter im Büro: 10<br />

Gewicht der Notenblätter im Archiv der Bremer<br />

Philharmoniker: 3,5 t<br />

Gummibärchenverbrauch im Orchesterbüro pro<br />

Saison: 20 kg<br />

Proben im Probensaal, pro Jahr: 80<br />

Veranstaltungen in der Musikwerkstatt auf der<br />

Plantage, pro Jahr: 300<br />

Preis für eine Tasse Kaffee an der Tankstelle in<br />

der Plantage: 1,40 Euro<br />

Preis für eine Tasse Kaffee bei Starbucks am<br />

Hauptbahnhof: 1,95 Euro<br />

Preis für das Niedersachsenticket der Bahn von<br />

Bremen nach Cuxhaven: 23 Euro<br />

Kosten für eine Mitfahrgelegenheit von Bremen<br />

nach Cuxhaven: 4 Euro<br />

Zahl der Güterzüge auf der Bahnstrecke südlich<br />

der Plantage, 2014 pro Tag: 183<br />

Lärmbelastung in der Plantage: 60 bis >75 dB(A)<br />

Lautstärke eines Rasenmähers: 70 dB(A)<br />

Hundekotbehälter in der Plantage: 0<br />

Hundehaufen: 0<br />

Es war das Jahr 1750, als sich der Bremer Leinenhändler<br />

Eberhard von Hoorn einen Traum erfüllte.<br />

Vor den Toren der Stadt schuf er einen exzentrischen<br />

Sommersitz: Er ließ Wasserläufe und Alleen<br />

anlegen, Fischteiche ausheben und exotische Gewächse<br />

pflanzen. Er selbst hofierte in einem achteckigen<br />

Landhaus und blickte über eine üppige<br />

Parklandschaft, die auch in diesen vorkolonialen<br />

Zeiten nur einen Namen tragen konnte: Plantage.<br />

1802 starb von Hoorn, und die Plantage wurde<br />

verkauft. Der neue Eigentümer Hinrich Marcks<br />

baute ein Nebengebäude zu einem Ausflugslokal<br />

um. Die Bremer Oberschicht sollte in den Gärten<br />

von „Marcks Plantage“ lustwandeln, ihren Kaffee<br />

im Schatten der Bäume trinken und einem Prager<br />

Orchester lauschen. Es kamen aber zu wenig reiche<br />

Gäste, und Marcks musste auch einfacherer Leute<br />

einlassen. Sechs Groten kostete der Eintritt, den<br />

man mit Speisen und Getränken verrechnen durfte.<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts mussten die Gärten<br />

der wachsenden Stadt weichen.<br />

Die Plantage wurde zur Urzelle der nördlichen<br />

Vorstadt und des späteren Stadtteils Findorff. 1863<br />

entstanden hier und in der Buschstraße schmale<br />

Wohnhäuser, in die überwiegend Eisenbahner und<br />

ihre Familien einzogen. Das Viertel rund um die<br />

Plantage nannten alle nur Eisenbahnervorstadt.<br />

In den Bombennächten ab 1942 wurde die Plantage<br />

vollständig zerstört. Die Wohnhäuser wurden<br />

nicht wieder aufgebaut, und es siedelten sich verschiedene<br />

Gewerbetreibende an, unter ihnen einige<br />

Modemacher, die die Plantage ab den 1950er-Jahren<br />

zu einem kleinen Modezentrum machten.<br />

Heutzutage ist die Plantage eine unsortierte Mischung<br />

aus Gewerbe- und Wohngebiet, in das sich<br />

eine Reihe Kulturschaffender gemischt hat. Nicht<br />

hübsch, aber mit einem gewissen Charme. Derart<br />

unverplante Ecken findet man nur noch selten in<br />

Citynähe. Stadtplaner arbeiten schon daran, die<br />

Plantage attraktiver zu machen. Fragt sich, für wen.<br />

Historisches Foto: Kulturhaus Walle Brodelpott


8 | REPORTAGE<br />

Text: Carolin Hoffmann<br />

Fotos: Begüm Yücelay<br />

Reportage | 9<br />

Mehr ist<br />

nicht genug<br />

Zwischen Burn-out und Beschleunigung –<br />

wie es ist, ein Pastor zu sein<br />

Lorethy Starck betreut als Pastor drei Gemeinden der protestantischen<br />

Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten.<br />

Mit seinem weißen BMW-Kombi rast er über die<br />

A 28. Neben dem Schaltknüppel liegt sein Headset,<br />

falls noch ein Anruf kommt. Es ist zehn nach vier,<br />

heute stehen noch drei Termine an. Vor zehn wird<br />

er heute Abend nicht zu Hause sein. Morgen und<br />

übermorgen das Gleiche. Mit seiner Frau verbringt<br />

er nur wenig Zeit; sie arbeitet meist zu entgegengesetzten<br />

Zeiten. Er ist gestresst, sagt er, aber es sind<br />

nur kurze Augenblicke, in denen er es sich anmerken<br />

lässt. Noch zwölf Kilometer bis zu seinem Ziel.<br />

Nach anderthalb Stunden zurück nach Bremen –<br />

nächster Termin.<br />

Lorethy Starck wurde 1967 in einem kleinen<br />

Dorf in Nordrumänien geboren. Sein Vater war<br />

Schreiner, er selbst wollte Medizin oder Kunst studieren.<br />

Heute ist er Pastor, hat Psychologie studiert<br />

und betreut drei adventistische Gemeinden gleichzeitig,<br />

keine Seltenheit in der heutigen Zeit. Auf<br />

jeden Pastor kommen etwa 200 bis 300 Gemeindemitglieder.<br />

Ansprüche und Aufgaben wachsen,<br />

aber die Zeit bleibt die gleiche. Effizienzsteigerung<br />

und Zeitdruck machen auch vor der Kirche nicht<br />

Halt. Oft arbeitet Starck bis spät in den Abend, so<br />

wie heute. Er ist auf dem Weg zu einem Bibelkreis<br />

in Hude. Sein Thema: Leid, im Gedenken an den<br />

Flugzeugabsturz vor einigen Tagen.<br />

Das Gemeindehaus der Siebenten-Tags-Adventisten<br />

in Hude ist ein Einfamilienhaus mit Garten.<br />

Es wurde angemietet, als die Hauskreise der ländlichen<br />

Gemeinde zu groß geworden waren. Die Miete<br />

zahlen die Mitglieder der Freikirche, die keine<br />

Kirchensteuer bezieht und sich durch Spenden<br />

Er hat die Gabe, die<br />

Lauten zum Schweigen<br />

und die Leisen zum<br />

Reden zu bringen<br />

finanziert. Ihren Gottesdienst halten sie samstags<br />

ab, damit der Sabbat am siebenten Tag gewürdigt<br />

wird. So erklärt sich auch der Name der weltweit<br />

verbreiteten Glaubensgemeinschaft. Starck kam<br />

durch seine Wurzeln zu den Adventisten.<br />

Er ist etwas zu früh beim Bibelkreis. Als er den<br />

Raum betritt, hält er einen Moment inne. Er betrachtet<br />

eine Reihe von Porträtfotos an der Wand.<br />

Sie zeigen Kinder und Jugendliche, die der Pastor<br />

in dieser Kirche gesegnet hat. Starck erzählt, dass<br />

einige bereits studieren würden, andere seien im<br />

Ausland. Er kann sich gut an jeden Einzelnen erinnern,<br />

weiß ihre Spitznamen, kennt ihre Eigenheiten.<br />

Er selbst hat keine Kinder, nur einen Kater.<br />

Der Pastor tritt ans Rednerpult, sofort ist alle<br />

Aufmerksamkeit bei ihm. Er strahlt etwas Autoritäres<br />

aus, wie er vor der Gemeinde steht und mit<br />

den Gläubigen über Leid und Zufriedenheit diskutiert.<br />

Er hat die Gabe, die Lauten zum Schweigen<br />

und die Leisen zum Reden zu bringen. Er


Reportage | 11<br />

Burn-out ist ein zentrales Thema für Starck: Er schreibt darüber eine Doktorarbeit<br />

und gibt Kurse zur Stressbewältigung.<br />

kennt sie alle, ihre Geschichten und unterschiedlichen<br />

Weltbilder. „In jeder Gemeinde herrscht eine<br />

ganz eigene Dynamik, auf die ich mich als Pastor<br />

immer wieder aufs Neue einstellen muss.“ Das gilt<br />

auch für die Gottesdienste. Pro Quartal versucht<br />

Starck in jeder Gemeinde mindestens einmal die<br />

Predigt zu halten. Nicht immer klappt das, denn<br />

auch Hochzeiten, Beerdigungen und Taufen stehen<br />

auf seiner Agenda.<br />

Lorethy Starcks Woche ist eng getaktet: Bibelund<br />

Seniorenkreise, Stressbewältigungskurse,<br />

Beratungsgespräche, Gottesdienste, Gemeindetreffen,<br />

Aufgaben im Landesverband und in der Weiterbildung,<br />

es bleiben nur wenige Momente zum<br />

Durchatmen. Hinzu kommt die Zeit, die der Pastor<br />

benötigt, um sich auf die Termine vorzubereiten.<br />

Für eine einzige Predigt können das bis zu 20 Stunden<br />

sein. Bei so vielen Aufgaben kann er selten alle<br />

Erwartungen erfüllen: „Irgendwer fühlt sich immer<br />

vernachlässigt.“ Starck würde sich gern mehr<br />

Zeit für die Mitglieder seiner Gemeinden nehmen,<br />

aber dafür müsste sein Tag eher 48 Stunden haben.<br />

Regelmäßige Hausbesuche, so wie früher, sind bei<br />

diesem Pensum jedenfalls kaum möglich.<br />

Seine drei Gemeinden könnten unterschiedlicher<br />

nicht sein. Trotz gleicher Konfession haben sie<br />

ganz verschiedene Vorstellungen und Anforderungen<br />

an ihn als Pastor. Hinzu kommt die Fahrerei.<br />

Bis vor zwei Jahren war Starck noch für Cuxhaven,<br />

Bremerhaven und Nordenham zuständig. In seiner<br />

Kirche ist es üblich, dass Pastoren alle acht bis<br />

neun Jahre die Gemeinde wechseln, in Anlehnung<br />

an die Wanderprediger von früher. Verantwortlich<br />

ist er nun für Findorff, Hude und Delmenhorst. Die<br />

ländlichen Gemeinden haben viel mit Fluktuation<br />

zu kämpfen. Gerade die jüngere Generation zieht<br />

es häufig in die größeren Städte.<br />

„Kirche ist heute ein Stück weit bedeutungslos<br />

geworden“, sagt Starck. „Sie sollte viel näher an den<br />

Menschen dran sein. Kirche hat zu sehr das Image<br />

einer Institution. Mittlerweile sind es oft ganz andere<br />

Medien, durch die die Menschen Spiritualität<br />

erfahren.“ In der Gemeinde Findorff findet demnächst<br />

eine Ausstellung zum Thema Gerechtigkeit<br />

statt. Starck findet es wichtig, solche Veranstaltungen<br />

und Rituale in der Kirche zu etablieren. Sie seien<br />

viel sinnstiftender und relevanter für das Leben<br />

der Einzelnen. Auch er selbst malt. Für die Ausstellung<br />

muss er noch sechs Bilder malen, die er den<br />

anderen aus der Künstlergruppe „Plantage“ zugesagt<br />

hat. Die Zeit ist knapp, er wird nachts daran<br />

arbeiten müssen.<br />

Hausbesuche, so<br />

wie früher, sind bei<br />

diesem Pensum<br />

kaum noch möglich<br />

Es ist Donnerstag. Eigentlich Starcks Forschungstag,<br />

an dem er von regulären kirchlichen<br />

Pflichten befreit ist. Er arbeitet an seiner Dissertation<br />

über Präventionsarbeit bei Burn-out-Patienten,<br />

zu denen mittlerweile auch viele Pastoren gehören.<br />

Heute ist er allerdings in Findorff und gibt einen<br />

Kurs zur inneren Stressbewältigung. Die Teilnehmer<br />

sind bunt gemischt, Männer und Frauen<br />

unterschiedlichen Alters. Burn-out ist keine Managerkrankheit<br />

mehr, Stress betrifft alle. Es ist bereits<br />

das achte Treffen in dieser Gruppe, Starck ist<br />

in seinem Element. Auch er musste in Zeiten der<br />

Beschleunigung lernen, sich abzugrenzen: „Dabei<br />

geht es nicht darum, Nein zu sagen, sondern sich<br />

einen klaren Fokus zu setzen und den deutlich zu<br />

kommunizieren.“<br />

Phasen, in denen der Stress die Überhand gewinnt,<br />

kennt der Pastor natürlich trotzdem. Dann<br />

klagt er, wie viele andere, über Migräne, Gewichtszunahme<br />

und Hautprobleme. An seinem „immensen<br />

Workload“, wie er es selbst nennt, ändert er<br />

trotzdem nichts. Er liebt die Abwechslung seiner<br />

Aufgaben, ständig mit anderen Menschen konfrontiert<br />

zu sein, neue Impulse zu bekommen, sich immer<br />

wieder selbst zu fordern. „Stressfreie Jobs gibt<br />

es heute außerdem kaum noch, das liegt an unserer<br />

Zeit. Ursprünglich wollte ich mal Chirurg werden,<br />

da habe ich es als Pastor deutlich besser getroffen.“<br />

Kraft findet er zu Hause und bei Freunden. Er plant<br />

Ruhepausen ein, versucht ganz bewusst wahrzunehmen<br />

und macht Entspannungsübungen. Was<br />

oft zu kurz kommt, sind kreative Projekte oder die<br />

Muße für Sport.<br />

Sich selbst zu überfordern, bezeichnet Starck<br />

als eine seiner großen Schwächen. Oft verlange<br />

er auch von anderen zu viel. Er wünscht, er wäre<br />

DAS GANZE JAHR LANG<br />

SPAREN<br />

DANK<br />

Einstecken, einsteigen, losfahren: Mit dem Abo-Ticket<br />

sind Sie das ganze Jahr mobil – und sparen auch noch<br />

richtig Zeit und Geld! Denn dank MIA sparen Sie jährlich<br />

126,00 € im Vergleich zum MonatsTicket.<br />

Mehr Infos unter:<br />

www.bsag.de<br />

www.vbn.de<br />

Gefördert durch:<br />

manchmal weniger sprunghaft und würde sich<br />

seltener verzetteln. Auch wenn er schon an vielen<br />

Stellen zufrieden mit sich ist, ist da immer noch ein<br />

Teil von ihm übrig, der gegen die eigene Unzulänglichkeit<br />

anzukämpfen scheint. Er sagt, er hätte gern<br />

mehr Profil, wäre gern radikaler, unabhängiger<br />

vom vorgegebenen System. Im Nachhinein hätte er<br />

sich auch gern mehr Zeit für sein Studium genommen.<br />

Ein Leben lang lernen, das ist ihm wichtig. Er<br />

möchte sinnvoll leben, seine Zeit nicht für Belangloses<br />

verschwenden. Die Routine ist dabei sein größter<br />

Feind. Und sein Handy.<br />

Wo er seine Rolle als Pastor sieht? In Zeiten der<br />

Beschleunigung möchte er Menschen ein Stück<br />

weit begleiten, Einfluss auf ihr Leben nehmen,<br />

vielleicht selbst daran wachsen – eigentlich wie<br />

wir alle. Auch ein Pastor ist zwischen Gottesdienst<br />

und Bibelkreis nur ein Mensch mit Träumen, Wünschen,<br />

Ängsten und Stresspickeln.<br />

Carolin Hoffmann studiert Internationale<br />

Journalistik und war überrascht, dass auch<br />

Pastoren Steuererklärungen machen müssen.<br />

Anzeige<br />

MIA_Sparen_Anzeige_ZdS_150x101_RZ.indd 1 08.01.2015 12:17:14


12 | PORTRAIT<br />

portrait | 13<br />

Plötzlich Galerist<br />

Gilbert Ofosu liebt die Kunst. Aber der Verstand sagt<br />

ihm, er solle etwas Vernünftiges machen.<br />

Er sucht einen Abschluss. Und findet einen Anfang<br />

Gilbert Ofosu vor einem seiner Bilder in seinem improvisierten Atelier. Zum<br />

Malen kommt er kaum noch.<br />

„Wie sieht's aus mit dem Einlass?“ – „Schlecht“,<br />

sagt Gilbert Ofosu. „Es ist einfach zu voll.“ Mehr<br />

als zwanzig Menschen stehen an diesem Abend<br />

im April vor einer improvisierten Galerie in der<br />

Friedrich-Rauers-Straße, unweit der Plantage. Sie<br />

alle wollen zu einer Vernissage mit Tanz. So viel<br />

Andrang überrascht Ofosu. Im November erst hat<br />

er das heutige „Rauer 20“ ins Leben gerufen. Dass<br />

er einmal Galerist werden würde, wenn auch nur<br />

kurz, hätte er nie gedacht. Eigentlich wollte er aufhören<br />

mit der Kunst, einen Schlussstrich ziehen.<br />

Nun wuselt der schlaksige junge Mann durch die<br />

Menschenmenge in der 450 Quadratmeter großen<br />

Halle seiner Galerie, vorbei an großflächigen Comicgesichtern<br />

und einem schwebenden weißen<br />

Quader. Bespricht etwas mit dem DJ, bringt Leergut<br />

zur Bar, schnackt mit den Gästen. Ganz Herr<br />

der Lage.<br />

Sich mit Gilbert Ofosu zum Gespräch zu verabreden,<br />

ist nicht einfach. Irgendwas ist immer.<br />

Aber er nimmt sich die Zeit. „Rauer 20“, ein Name<br />

mit Symbolcharakter, rau und ungeschliffen wie<br />

die Galerie. Karger Betonboden, Wände mit Wasserschaden.<br />

Industriecharme. Draußen lärmen<br />

Bahngleise und Verkehr. Drinnen gerät das in<br />

Vergessenheit. Im Eingangsbereich stehen Sessel<br />

und eine Couch, in der man versinkt. Kein Möbelstück<br />

passt zum anderen. Ein Tresen ragt in den<br />

lichtdurchfluteten Raum, zusammengezimmert<br />

aus Holz. Do-it-yourself-Ästhetik für einen Doit-yourself-Künstler.<br />

Auf dem Couchtisch stehen<br />

Club-Mate-Flaschen. Aus dem MacBook dringt<br />

Elektro. Plakative Inbegriffe subkultureller Kreativität.<br />

Gilbert Ofosu dreht sich eine Zigarette.<br />

Wer ist dieser Typ, der all das hochzog? Eine<br />

Kursfahrt mit der Waldorfschule wird zur Initialzündung.<br />

Museen, Skulpturen, Gemälde. Ofosu<br />

entdeckt die Kunst für sich. Er will malen, auf<br />

die Hochschule für Künste gehen. Doch dann beschleicht<br />

ihn ein mulmiges Gefühl. Ist Kunst nicht<br />

brotlos? Wird er je Geld damit verdienen können?<br />

Er jobbt im Park Hotel, malt nur nebenbei. Erst<br />

auf dem Dachboden, dann in einem Atelier in der<br />

Überseestadt. Ofosu tauscht Papier gegen Leinwand,<br />

wird abstrakt. Ein Jahr lang, 30 Arbeiten<br />

entstehen. Studieren aber will er etwas „Vernünftiges“:<br />

Systems Engineering. Um mit der Kunst abzuschließen,<br />

produziert er einen Katalog. Doch das<br />

reicht ihm nicht. Eine Ausstellung muss her.<br />

Für Leute wie ihn aber gibt es kaum Ausstellungsmöglichkeiten.<br />

Warum also nicht selbst etwas<br />

schaffen? Ofosu entdeckt eine leerstehende<br />

Billardhalle. 20 E-Mails später ist er sich mit der<br />

Text: Joschka Schmitt<br />

Foto: Begüm Yücelay<br />

Hausverwaltung einig über einen kurzfristigen<br />

Mietvertrag. „Ich war erstaunt über die Offenheit<br />

für mein Projekt“, sagt er, noch immer verwundert.<br />

Er stellt seine Bilder aus. Und wird gefragt, ob<br />

nicht auch andere mal etwas einbringen könnten.<br />

Gilbert Ofosu ist angetan. Sein Studium rückt<br />

plötzlich in die Ferne. Er habe sich wirklich reingehängt,<br />

erzählt er. Aber irgendwie zog ihn die<br />

neue Aufgabe stärker an. Er wirkt neugierig, längst<br />

nicht satt. Vielleicht ist da ein bisschen Respekt vor<br />

der Größe, die alles angenommen hat. Er spricht es<br />

nicht aus, aber etwas Ehrfurcht vor dem Apparat,<br />

den er geschaffen hat, liegt in manchen Gesten. Er<br />

verhandelt wieder mit der Hausverwaltung, über<br />

eine Verlängerung. Wieder ein Okay, diesmal bis<br />

April. Dann ist endgültig Schluss. So gelassen er<br />

sonst auch ist, in dieser Phase habe er unsicher gewirkt,<br />

sagen Freunde.<br />

Die Galerie<br />

entwickelt überregionale<br />

Strahlkraft<br />

Die Vernissage-Wochenenden sind laut und<br />

wild. Oft kommen 150 Leute. Wöchentlich wechseln<br />

Gemälde, Installationen, es gibt auch Improtheater<br />

und Konzerte. Die Galerie entwickelt<br />

überregionale Strahlkraft. Das kleine Plus aus Getränke-<br />

und Spendeneinnahmen fließt wieder ins<br />

Projekt. An der Bar unterstützen ihn Bekannte.<br />

Doch die Verantwortung bleibt stets bei Ofosu.<br />

Der dreht sich noch eine Zigarette. Ihn wurmt<br />

etwas. „Wir bereichern die Kulturlandschaft hier“,<br />

sagt er, „bewegen uns aber mit Bauchschmerzen in<br />

einer Grauzone der Legalität.“ Dabei will er nur denen<br />

eine Bühne bieten, die sonst keine finden. So<br />

wie er selbst noch vor Kurzem.<br />

Und die eigene Kunst? Beim Rundgang zeigt er<br />

sein kleines Atelier und eins seiner Gemälde – ein<br />

lebensgroßer, abstrakter Frauenkörper. Lebhaft<br />

vorstellbar, wie er hier wirbelt. Aber dafür fehlt<br />

ihm die Zeit. Sein Kunstwerk ist das „Rauer 20“.<br />

Künstlertraum und Dilemma gleichermaßen.<br />

Joschka Schmitt ist freier Journalist. Er hofft,<br />

dass subkulturelle Projekte künftig weniger<br />

Bauchschmerzen verursachen.


14 | Fotostrecke<br />

Verbindung


18 | Fotostrecke<br />

Verbindung<br />

Verbindung ist ein elementarer Bestandteil der Plantage. Sinnbild<br />

hierfür ist die Bahn, die schon seit 1863 zum Plantagenleben<br />

gehört. Heute ist die Plantage in der Hand von Kreativen<br />

und Unternehmern. Die Oberleitungen der Bahn erinnern an<br />

die Verbindungen dieser Menschen untereinander und in die<br />

ganze Welt.<br />

Fotos: André Schmoll<br />

André Schmolls Arbeiten sind geprägt von Klarheit und<br />

Ausdrucksstärke. Dabei versucht er stets, die Disziplinen<br />

Design und Kunst zu vereinen.


Postkarte vom<br />

Plantagenhof<br />

Text: Felix Müller<br />

Foto: Begüm Yücelay<br />

reportage | 21<br />

Jeden Mittwoch treffen sich im Rundfunkmuseum auf dem<br />

Plantagenhof eingeschworene Amateurfunker.<br />

Sie morsen um die ganze Welt – und zeigen so, dass sie da sind<br />

Manfred Gerken vor einem Morsegerät. Amateurfunk ist seine Leidenschaft,<br />

seit über 40 Jahren.<br />

BÜÜPBÜP. BÜPBÜPBÜÜP BÜÜP tönt es ausdauernd<br />

und unrhythmisch. „Hier funkt gerade einer<br />

aus Deutschland.“ Manfred Gerken sitzt vor dem<br />

Lautsprecher, aufrecht, eine Hand am Stift, eine<br />

am Morsegerät, das wirkt wie ein alter Kassettenrekorder<br />

ohne Einlegefach. Aufmerksam hört er zu<br />

und notiert sich etwas auf einem Blatt. „Er sendet<br />

durchgehend seine Kennung, um zu sehen, ob ihn<br />

jemand hört.“ Gerken fängt an, auf einem kleinen<br />

Wippschalter herumzutippen, es piept. „Jetzt habe<br />

ich ihm meine Kennung geschickt und gesagt, dass<br />

ich ihn höre.“<br />

Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten.<br />

BÜÜPBÜP. BÜÜP. Gerken notiert: „Gt lbr op vln<br />

dk fr call ur rst 599 name karl qth schoeneck 73“.<br />

Für Laien wirkt die Auflösung wie Zauberei: „Das<br />

heißt: ‚Guten Tag lieber Operator. Vielen Dank für<br />

die Antwort. Deine Signalstärke ist 599. Mein Name<br />

ist Karl, ich komme aus Schöneck‘, das müsste im<br />

Schwarzwald liegen. 73 ist dann einfach das Kürzel<br />

für ‚Schöne Grüße‘.“<br />

Gerken, 70 Jahre alt, ist eine ruhige und fröhliche<br />

Seele. Funken ist seine Leidenschaft, er macht<br />

das schon seit über 40 Jahren. Jeden Mittwoch trifft<br />

er sich mit einigen Gleichgesinnten im Bremer<br />

Rundfunkmuseum. Auf über 300 Quadratmetern<br />

Ausstellungsfläche stapeln sich hier mehr als 700<br />

Exponate aus 60 Jahren TV-Geschichte und 90<br />

Jahren öffentlichem Rundfunk. Der Duft von Holz<br />

liegt in der Luft und mischt sich mit dem von Elektronik,<br />

diesem Geruch, der alten Röhrenbildfernsehern<br />

entströmt, wenn sie lange angeschaltet waren.<br />

Säuberlich geordnet stehen die Geräte in Regalen,<br />

Glasvitrinen oder Möbeln, deren Alter dem der<br />

Ausstellungsstücke ebenbürtig scheint. Aus den<br />

eingeschalteten Geräten schallt das poppige Musikprogramm<br />

von Bremen Vier. Auch ein Wohnzimmer<br />

im Stil der 1950er-Jahre findet sich hier, und<br />

ein komplettes Studio von Radio Bremen, das die<br />

Museumsbetreiber damals aus dem Schrott gerettet<br />

haben. Für Gerken und seine Mitstreiter aber liegt<br />

das Paradies in einem kleinen, eher unscheinbaren<br />

Raum: dem Amateurfunkstudio.<br />

Etwa 2,5 Millionen Amateurfunker gibt es weltweit,<br />

ungefähr 60.000 in Deutschland. Fast alle sind<br />

Männer. Sie haben einen Schein gemacht, der sie<br />

zum Funken berechtigt. Vier von ihnen sitzen an<br />

diesem Tag mit Manfred Gerken zusammen. Bei<br />

Keksen und Kaffee funken und fachsimpeln die<br />

Männer fortgeschrittenen Alters, stundenlang. Sie<br />

kennen sich lange. Selten bekommen sie Besuch.<br />

Und so möchte jeder etwas zu seinem Lieblingshobby<br />

erzählen. Der Antrieb zum Funken, berichten<br />

sie, hat verschiedene Ursprünge. Den meisten geht<br />

es um den Umgang mit der Technik, darum, sich in<br />

etwas hineinzufuchsen, zu dem nicht jeder Zugang<br />

hat und das etwas ganz Besonderes ist. „Einige kommen<br />

aus der Seefahrt und haben deshalb früher viel<br />

gefunkt. Als sie mit dieser Arbeit aufhörten, fehlte<br />

ihnen das Gefühl, sie machten eine Amateurfunkprüfung<br />

und mit dem Funken als Hobby weiter“,<br />

sagt Manfred.<br />

Die Postkarten über<br />

dem Schreibtisch sind<br />

ihre Jagdtrophäen<br />

Obwohl sich die alten Freunde regelmäßig zum<br />

Funken treffen, sind sie nicht auf der Suche nach<br />

einem guten Gespräch oder relevantem Informationsaustausch.<br />

„Es geht um die Verbindung, die<br />

hergestellt wird, das ist der Witz daran, besonders<br />

beim Morsen. Manchmal redet man noch kurz über<br />

das Wetter oder über den Verkehr, wenn jemand<br />

aus dem Auto funkt, aber mehr Inhalte haben die<br />

Gespräche nicht“, so Manfred.<br />

Es geht um das Sammeln von Verbindungen<br />

rund um die Welt. Kontakt knüpfen, einfach der Sache<br />

wegen. Über dem Schreibtisch hängen zig Postkarten<br />

mit Bildern von Funkstationen, sogenannte<br />

QSO-Karten. Diese schicken sich die Funker gegenseitig<br />

zu, wenn sie einmal eine Verbindung zueinander<br />

hergestellt haben. Es sind ihre Jagdtrophäen.<br />

Demnächst kommt eine aus Schöneck dazu.<br />

Felix Müller studiert Journalistik an der<br />

Hochschule Bremen. Lange hat er in Walle<br />

neben dem Funkturm gewohnt, aber nie etwas<br />

Interessantes zu hören bekommen.


22 | Reportage<br />

Wer Trampen will, braucht Geduld. Und guten Kaffee. André Beinke<br />

hatte zum Glück beides.<br />

reportage | 23<br />

Auf ins<br />

Paradies<br />

Ein Schild, ein Handy. Unser Autor will<br />

endlich mal wieder raus. Per Anhalter, irgendwohin.<br />

Ob es ihm gelingt?<br />

Text: André Beinke<br />

Fotos: Begüm Yücelay & André Beinke<br />

Das Handy zeigt 11 Uhr. Es wird nicht der letzte<br />

Blick auf mein Smartphone sein an diesem denkwürdigen<br />

Tag. Sonnenfinsternis und Frühlingsanfang<br />

zur selben Zeit – wäre ich der Gründer des<br />

Mayakalenders, hätte ich den Weltuntergang nicht<br />

für Silvester 2013 geplant, sondern genau für diesen<br />

Moment. Aus dem verdunkelten Himmel peitscht<br />

ein apokalyptischer Wind in mein Gesicht, als ich<br />

an dem Ort ankomme, der mich heute für mehrere<br />

Stunden gefangen halten wird: die Tankstelle in<br />

der Plantage.<br />

Schwer bepackt betrete ich den Laden und genieße<br />

für einige Sekunden die schwache Wärme,<br />

die mir entgegenströmt. Doch die eisigen Blicke<br />

des in die Jahre gekommenen Mannes, der hinter<br />

der Kasse steht, lassen die netten Worte, die ich<br />

mir zurechtgelegt habe, gefrieren. Er schaut auf<br />

meinen blauen Reiserucksack und weiß genau,<br />

was ich vorhabe.<br />

„Ist es okay, wenn ich heute von Ihrer Tankstelle<br />

aus trampe?“<br />

„Nein.“<br />

Ich schlucke. So habe ich mir das nicht vorgestellt.<br />

Ich versuche, den grimmigen Verkäufer zu bearbeiten.<br />

Aber er bleibt hart. Ein Mann, ein Wort.<br />

Mist. Auch den Namen der Tankstelle dürfe ich in<br />

meiner Reportage nicht erwähnen.<br />

Ich gehe aus Du-weißt-schon-wo wieder heraus<br />

und stelle mich vor die Ausfahrt. Von diesem<br />

öffentlichen Grund kann mich niemand verscheuchen.<br />

Es kann losgehen.<br />

Also Daumen raus: Auf, auf ins Paradies. So<br />

steht es zumindest auf meinem Pappschild. Anfangs<br />

noch hoch motiviert, blicke ich den aus der<br />

Tankstelle herausfahrenden Autos hinterher. Der<br />

Ort ist besser besucht, als ich es für so eine ruhige<br />

Straße gedacht hätte. Vielleicht liegt das an den<br />

niedrigen Kaffeepreisen. Für 1,40 Euro bekommt<br />

man richtig viel und leckeren Kaffee eingeschenkt.<br />

Nach den ersten zwei Stunden des Wartens ist der<br />

auch bitter nötig.<br />

Nach einer weiteren Stunde komme ich mir<br />

mit meinem Paradies-Pappschild dumm vor. Naiv.<br />

Idealistisch. Werde ich hier heute wirklich irgendwann<br />

noch wegkommen? Ein Gedanke macht sich<br />

breit: für 4,90 Euro all die Zweifel in der Waschanlage<br />

abzuwaschen. Doch dann habe ich eine bessere<br />

Idee: Trampen 2.0! Das ist es.<br />

Ich nehme mein Handy aus der Tasche und<br />

strapazierte mein Datenvolumen, das für diesen<br />

Monat schon fast ausgereizt ist. Eine App nach der<br />

anderen saust von irgendwo da oben über Satellit<br />

und Sendemast auf mein Smartphone: Couchsurfing,<br />

BlaBlaCar, Navigator und Hitchwiki Maps.<br />

Ich fühle mich mächtig. Mit dieser geballten Handy-Power<br />

wird sich doch irgendwo eine Mitfahrgelegenheit<br />

finden lassen.<br />

Ich entscheide mich für BlaBlaCar. Eine Software,<br />

mit der man überall in Europa Mitfahrgelegenheiten<br />

finden kann. Ohne Anmeldung.<br />

Kostenlos. Praktisch. Die ersten Antworten auf<br />

meine Anfrage kommen rasch. Mein Handy hört<br />

gar nicht mehr auf zu piepen. Nach Hannover,<br />

nach Hamburg, nach Göttingen – überall hin wollen<br />

mich Leute mitnehmen. Ich entscheide mich<br />

für Lucy. Lucy und ihr Freund Julian schreiben,<br />

dass sie für ein paar Tage entspannen wollen. Einfach<br />

mal abschalten. Ihr Trip geht von Köln nach<br />

Cuxhaven, innerhalb der nächsten Stunde sind sie<br />

da. Für nur 4 Euro. Paradies, ich komme!<br />

Entspannt lehne ich mich an meinen Rucksack.<br />

Da hält plötzlich ein beiger Passat neben mir<br />

an. Werner, nettes Gesicht, kurz vor der Rente,<br />

steigt mit seiner Frau aus und geht auf mich zu.<br />

„Wenn Sie wollen, kann ich Sie ein Stück weit ins<br />

Paradies mitnehmen.“<br />

Mit großen Augen blicke ich Werner an. Er lächelt.<br />

„Sie wollen doch ins Paradies, oder?“, fragt<br />

er und deutet auf mein Schild. Werner erzählt,<br />

dass er selbst früher in Schweden und Frankreich<br />

getrampt ist. Mein Reporterherz schlägt schneller.<br />

In meinem Kopf entwickle ich schon eine Geschichte<br />

über Werner und seine Abenteuer. Aber<br />

ich kann Lucy und ihrem Freund jetzt doch nicht<br />

mehr absagen! Sie sind nur noch 15 Kilometer von<br />

Bremen entfernt. Werner fährt ohne mich weiter.<br />

Eine halbe Stunde warte ich noch. Dann erblicke<br />

ich zwischen den vorbeifahrenden VWs,<br />

Renaults und Twingos den Toyota, der mich von<br />

diesem tristen Ort wegschaffen soll. Endlich. Lucy<br />

hält mir mit breitem Lächeln die hintere Tür auf.<br />

Ich quetsche mich mit meinem Rucksack hinein.<br />

Cuxhaven, meine Perle<br />

Drinnen ist alles dicht bepackt. Rechts von<br />

mir sitzt Michaela, die heute in Findorff ihre beste<br />

Freundin besucht hat und nun wieder nach Hause<br />

will. Sie ist regelmäßig in Bremen, erzählt sie, um<br />

dort ihr Rheuma behandeln zu lassen. „In Bremen<br />

sind einfach die besseren Ärzte“, sagt sie. „Die findest<br />

du in Cuxhaven nicht. Da findest du nichts,<br />

außer Touristen. Und wenn nicht gerade Sommer<br />

ist, findest du in Cuxhaven gar nichts.“


Mein Reporterherz meldet sich wieder. Diesmal<br />

mit leichten Herzrhythmusstörungen. Eine<br />

Touri-Stadt, in der nichts los ist? Keine alten Hafenkneipen<br />

mit urigen Typen, die mit mir einen<br />

Schnack halten? Kein Kapitän, der mir Seemannsgarn<br />

auftischt? Stattdessen überteuerte Kaschemmen<br />

und ein Erotikgeschäft, was sich auf SM spezialisiert<br />

hat. Das aber hat am Freitag geschlossen.<br />

Das Paradies ist da,<br />

wo es Strand und<br />

Meer gibt<br />

Stattdessen erzählt Michaela von „viel Gewalt<br />

und vielen Dorfkindern“. Tatsächlich wurden<br />

im vergangenen Jahr um die 12.000 Straftaten in<br />

der kleinen Hafenstadt registriert. Das sind zwar<br />

2.000 Straftaten weniger als in Bremen, dafür hat<br />

Bremen aber auch 500.000 mehr Einwohner. Liebes<br />

Cuxhaven, lass mich bitte unbeschädigt wieder<br />

frei, wenn ich genug von dir habe.<br />

Schmackhaft macht Michaela mir Cuxhaven<br />

erst wieder, als sie von Sandstränden spricht – mit<br />

Blick aufs weite Meer! Julian reißt mich aus meinen<br />

Gedanken: „So ein Haus am Meer – nervt da<br />

das Meeresrauschen nicht auf die Dauer?“ Darauf<br />

Manuela: „Ich hab mal Urlaub am Meer gemacht<br />

und das Rauschen war so laut, dass ich dachte, ich<br />

muss bald in die Klappse.“<br />

Nach einer Dreiviertelstunde Autofahrt lässt<br />

mich Lucy im Hafenviertel von Cuxhaven raus.<br />

Für mich ist klar: Paradies ist da, wo es Strand und<br />

Meer gibt. Der Bus zum Strand aber ist grade weg.<br />

Also mache ich mich bei 5 Grad zu Fuß auf den<br />

Weg. Über Stock und Deich geht es, mich friert.<br />

Irgendwann sehe ich dann endlich mein Paradies<br />

am Horizont. Doch je näher ich dem Sandstrand<br />

komme, um so mehr Ernüchterung stellt sich bei<br />

mir ein. Nur knapp 250 Fußschritte breit, 80 Fußschritte<br />

lang ist der Strand, Steine umsäumen ihn.<br />

Der Blick in die Ferne allerdings lässt die Enttäuschung<br />

in den Hintergrund rücken. Ich lasse<br />

mich samt Rucksack in den Sand fallen und mache<br />

erst mal ein Selfie für meine Facebook-Seite.<br />

Die werden alle ganz schön neidisch sein! Und<br />

irgendwie habe ich das Gefühl, dass der Tankstellen-Verkäufer<br />

von heute morgen auch ganz glasige<br />

Augen bekommen würde, sähe er gerade dieses<br />

wunderschöne Stück Natur vor sich.<br />

André Beinke liebt es, bei Recherchen neue<br />

Dinge auszuprobieren. Für die nächste Ausgabe<br />

der Zeitschrift der Straße geht er Couchsurfen.<br />

Dank Smartphone und Facebook sind auch die Freunde live dabei: beim Warten,<br />

Reisen, Schiffe- und Möwengucken.<br />

30 % Rabatt auf die ersten drei Fahrten<br />

für alle Findorffer Neukunden!*<br />

Telefon 0421 - 79 27 00<br />

www.cambio-CarSharing.de/Bremen<br />

* Rabatt bis zu 20 € pro Fahrt,<br />

Angebot gilt bis zum 1. 11. 2015<br />

Anzeige<br />

neue Stationen<br />

in Findorff


26 | Anzeigen<br />

Meine Versicherung<br />

ist auch da, wenn’s<br />

hart auf hart kommt.<br />

Yoga am Morgen<br />

ÖVB<br />

Versicherungen<br />

Direktion Bremen<br />

Martinistr. 30<br />

28195 Bremen<br />

Tel. 0421 3043-0<br />

Fax 0421 3043-4733<br />

www.oevb.de<br />

Vertreibt es Kummer und Sorgen?<br />

Während Bremen schläft, testet unsere<br />

Autorin spirituelles Sadhana<br />

Text: Wiebke Plasse<br />

Foto: Begüm Yücelay<br />

Studieren? Ja! Aber was und wo?<br />

Viele Fragen schwirrten mir vor meinem Studium im Kopf herum.<br />

Ich habe mir jemanden gewünscht, der schon<br />

studiert und mir alles darüber erzählen kann.<br />

Ehrlich und offen.<br />

Dieser Jemand bin ich heute selber. Als einer von 14 Studienpaten,<br />

auf studienpaten.hs-bremerhaven.de.<br />

Deine Studienpatin<br />

Cruise Tourism Management<br />

Lisa<br />

Frag einfach die,<br />

die es wissen!<br />

Deine Studienpaten<br />

studienpaten.hs-bremerhaven.de<br />

Als am Freitagmorgen um vier Uhr der Wecker<br />

klingelt, frage ich mich, warum ich mir das eigentlich<br />

antue. Am Bahnhof volltrunkene Menschen,<br />

die sich auf dem Heimweg vom Club noch einen<br />

Burger gönnen. Ich muss grinsen, schäme mich<br />

ein bisschen. Letzte Woche war ich selbst noch<br />

hier. Und heute bin ich auf dem Weg zum Sadhana-Yoga,<br />

das noch vor Sonnenaufgang abgehalten<br />

wird. In einer Zeit, in der die Welt noch ruht, die<br />

Gedanken noch nicht auf der Arbeit und bei all den<br />

To-dos des Tages sind – so zumindest die Idee hinter<br />

der Zeremonie. Im YogaGarten in der Plantage<br />

13 ist das Licht gedimmt. Eine Kerze brennt, die<br />

großen Pflanzen werfen flackernde Schatten. Eine<br />

Buddhafigur lächelt milde. Die weiche Yogamatte<br />

im mollig-warmen Raum ist gefährlich bequem.<br />

Neben mir sitzen drei weitere Frühaufsteher. Wir<br />

beginnen mit dem Lesen des „Jap Ji Sahib“, einer<br />

Art Hymne auf den Guru Nanak Dev. Es soll uns<br />

auf die Yoga-Einheit vorbereiten. Die Übersetzung<br />

steht am Rand, es geht um Gott, an den ich nicht<br />

im weitesten Sinne glaube. Doch der Text fordert<br />

meine volle Konzentration:<br />

„Hukmee hovan aakaar,<br />

hukam na kahi-aa jaa-ee.“<br />

Dreißig Minuten lesen wir mehr schlecht als<br />

recht, synchron ist es jedenfalls nicht. Dann beginnt<br />

Yogalehrer Rüdiger mit den Übungen. Sonnengruß,<br />

Krieger, Baum – wir folgen festgelegten<br />

Bewegungsabläufen. Nun die Froschfigur: 26 Mal<br />

stehend die Hände aus voller Streckung bis an die<br />

Zehenspitzen bewegen und dabei gleichmäßig einund<br />

ausatmen. Ich zähle 15, da entspannen sich<br />

die anderen schon wieder. Sie haben ihre Augen<br />

geschlossen und sind hoch konzentriert. Ich bin<br />

immer noch müde. Todmüde. Ich höre Rüdiger:<br />

„Schließt die Augen, schaut auf euer drittes, das<br />

innere Auge.“ Ich will es verstehen. Gefühlte zehn<br />

Minuten dauert jede Übung. Nach und nach merke<br />

ich, wie mein Körper aufwacht. Nur der Kopf ist<br />

nicht bereit. Meine Gedanken drehen sich. Wie soll<br />

man da entspannen? Dann ist der anstrengende<br />

Teil geschafft. Zum Abschluss folgt das meditative<br />

Singen, siebzig Minuten lang.<br />

„Ek Ong Kar Sat Nam Siri Wa-He Guru. Ek<br />

Ong Kar Sat Nam Siri Wa-He Guru.“<br />

Ich kann das nicht, für Gott singen. Aber ich genieße<br />

es, zuzuhören.<br />

Draußen ist es mittlerweile hell. Ich bin entspannt<br />

wie lange nicht mehr. Den ganzen Tag hält<br />

meine positive Stimmung an. Am nächsten Morgen<br />

habe ich Muskelkater. Dass mich etwas derart<br />

Spirituelles mitreißen konnte, beeindruckt mich.<br />

Wie werden meine Freunde reagieren, wenn ich<br />

ihnen sage, dass ich jetzt regelmäßig zum Sadhana-Yoga<br />

gehe?


28 | UNTERSTÜTZEN<br />

Damit Sie<br />

Rot sehen<br />

Die Verkäufer der Zeitschrift der Straße<br />

erhalten ein neues Outfit<br />

Sehen ist der Ausgangspunkt vieler Beiträge in der<br />

Zeitschrift der Straße, denn es sind Beobachtungen<br />

auf der Straße, die die Autorinnen und Autoren<br />

zu ihren Texten inspirieren. Für unsere Verkäuferinnen<br />

und Verkäufer dagegen ist Gesehenwerden<br />

wichtig. Es ist die Voraussetzung für Kundenkontakte,<br />

Erfolgserlebnisse und ihren Verdienst.<br />

Damit die Verkäuferinnen und Verkäufer künftig<br />

noch besser zu erkennen sind, erhalten sie demnächst<br />

ein neues Outfit. Mit einer roten Schirmmütze<br />

wird jeder ausgestattet, der die Zeitschrift der<br />

Straße verkauft. Eine rote Weste und eine schwarze<br />

Umhängetasche gibt es für diejenigen, die schon<br />

länger dabei sind, regelmäßig verkaufen und gezeigt<br />

haben, dass sie es ernst meinen.<br />

Liebe Leserin, lieber Leser, trotz der vielen beteiligten<br />

Studierenden und freiwillig Engagierten<br />

Zeitschrift der Straße<br />

Format: Ssp 150x101mm, 4c<br />

DU: 30.01.15<br />

ET: 2.03.15<br />

Anzeige<br />

kosten Herstellung und Vertrieb der Zeitschrift der<br />

Straße viel Geld. Wir erhalten keine öffentlichen<br />

Mittel und haben keine großen Sponsoren im Rücken.<br />

Um Menschen in Not zu helfen, sich selbst zu<br />

helfen, brauchen wir Ihre Unterstützung.<br />

Sie können dazu beitragen, dass unsere Verkäuferinnen<br />

und Verkäufer noch besser gesehen werden.<br />

Spenden Sie 5 Euro für eine Mütze, 20 Euro<br />

für eine Tasche, 25 Euro für eine Weste oder 50<br />

Euro für eine komplette Verkäuferausstattung.<br />

Verein für Innere Mission,<br />

IBAN DE22 2905 0101 0001 0777 00<br />

Konto-Nr. 1 077 700<br />

Sparkasse Bremen, BLZ 290 501 01<br />

Verwendungszweck: Zeitschrift der Straße<br />

Spenden sind steuerlich absetzbar.<br />

Fotos: B. Yücelay (oben), A. Schmoll (unten)<br />

Mitarbeiterin des Monats<br />

Mit der Seefahrt haben es die<br />

Bayern nicht so, also zog Lisa<br />

Hummel aus ihrer Heimat nach<br />

Bremerhaven, wo sie an der Fachhochschule<br />

Kreuzfahrttourismus<br />

studiert. Seit einem halben Jahr<br />

arbeitet sie mit zwei Kommilitoninnen<br />

im Marketingteam der<br />

Zeitschrift der Straße.<br />

Sie wirbt um neue Verkäufer,<br />

betreut die Facebook-Seite<br />

und organisiert Veranstaltungen<br />

wie ein kostenloses Frühstück<br />

für von Armut betroffene<br />

Menschen in Bremen.<br />

In ihrem Alltag war Lisa Hummel<br />

vorher kaum in Kontakt mit<br />

Fotografin<br />

Begüm Yücelay, 25, studiert im<br />

7. Semester Kommunikationsdesign<br />

an der Kunstschule Wandsbek<br />

in Bremen. Nebenher arbeitet<br />

sie freiberuflich als Fotografin<br />

und Designerin.<br />

An der Zeitschrift der Straße begeistert<br />

sie besonders die Vielfalt<br />

der Arbeit. Die Begegnung mit<br />

unterschiedlichen Menschen<br />

und die Herausforderung der<br />

Reportagefotografie waren sehr<br />

lehrreich. Ab Herbst wird Yücelay<br />

in England Digital and Visual<br />

Communication studieren.<br />

sozial benachteiligten Menschen<br />

gekommen. Durch die Zeitschrift<br />

der Straße hat sich das geändert.<br />

In Gesprächen mit Verkäufern<br />

hat sie erfahren, wie schnell man<br />

auf die schiefe Bahn geraten und<br />

sozial abgehängt werden kann.<br />

„Es ist schön zu sehen,“ sagt<br />

Hummel, „dass sich Menschen<br />

trotz schwerer Schicksale nicht<br />

unterkriegen lassen und hart daran<br />

arbeiten, wieder zurück in ein<br />

selbstständiges Leben zu finden.“<br />

Sie freut sich, dass sie mit ihrer<br />

Arbeit für die ZdS einen Teil<br />

dazu beitragen kann.<br />

Lisa Hummel, 22 Jahre<br />

DIE ZEITSCHRIFT<br />

DER STRASSE<br />

Anzeige<br />

wir suchen ambitionierte<br />

Fotografinnen und Fotografen<br />

mit journalistischem Interesse<br />

zur verstärkung unserer<br />

ehrenamtlichen Redaktion.<br />

Mehr unter<br />

www.sharedichdrum.de<br />

#sharedichdrum<br />

Kontakt: Philipp Jarke, 0170 167 91 98<br />

redaktion@zeitschrift-der-strasse.de


30 | Protokoll<br />

Protokoll: Philipp Jarke<br />

Foto: Begüm Yücelay<br />

Eine Woche<br />

mit Olaf<br />

Seit vier Jahren gehört er<br />

zum Stadtbild Vegesacks wie<br />

Markt und Hafen<br />

Dienstag: Ohne Fernsehen wäre Olaf nie Straßenverkäufer<br />

geworden. „Ich hatte gerade einen Bericht<br />

über die Gründung der Zeitschrift der Straße<br />

gesehen“, erzählt Olaf, „als mich die Streetworkerin<br />

Gimmy Wesemann fragte, ob ich das mal ausprobieren<br />

möchte: Straßenverkäufer.“ Auf seine<br />

erste Zeitschrift hat ihm Bürgermeister Böhrnsen<br />

ein Autogramm gegeben. „Das Heft habe ich wenig<br />

später für zwölf Euro verkauft. Es ging gleich gut<br />

los, und so bin ich seit der ersten Ausgabe dabei.“<br />

Donnerstag: Olaf steht vor der Postfiliale in der<br />

Gerhard-Rohlfs-Straße, einen Steinwurf vom Sedanplatz<br />

entfernt. Sein Stammplatz. Hier verkauft<br />

er montags bis samstags die Zeitschrift der Straße, jeweils<br />

von 11 bis 17 Uhr. Olaf steht auf der einen Seite<br />

der belebten Einkaufsstraße, seine Verlobte Elisabeth<br />

auf der anderen. Acht bis zehn Hefte verkaufen<br />

sie jeweils an normalen Tagen. Seit zwei Jahren<br />

sind die beiden ein Paar, kennengelernt haben sie<br />

sich während einer Drogentherapie, der sich beide<br />

unterziehen mussten. Was er damals genommen<br />

hat? „Polytox“, sagt Olaf nur, alles durcheinander.<br />

Aber das ist nun Geschichte.<br />

Olaf Pfeiff ist ZdS-Verkäufer der ersten Stunde und<br />

Ur-Vegesacker: 1967 wurde er im Hartmannstift<br />

nahe dem Sedanplatz geboren. Abgesehen von fünf<br />

Jahren in Hessen hat Olaf sein ganzes Leben in<br />

Vegesack verbracht.<br />

Freitag: Der Winter schleudert verspätete Schneeund<br />

Hagelschauer auf Vegesack, Olaf und Lissi, wie<br />

er seine Verlobte nennt, suchen Schutz in einer Ladenpassage.<br />

Mit rot gefrorenen Händen dreht Olaf<br />

zwei Zigaretten, eine für Lissi und eine für sich. „Zigaretten<br />

drehen, das kann ich immer noch nicht“,<br />

sagt Lissi und lächelt hinüber zu Olaf. Muss sie<br />

auch nicht, sie sind schließlich ein Team. Am liebsten<br />

würden Olaf und Elisabeth zusammenziehen.<br />

„Meine Wohnung ist ja eher eine Abstellkammer“,<br />

sagt Olaf. Aber wenn er zu Elisabeth in die Grohner<br />

Düne zöge, würden ihre Sozialleistungen stark gekürzt<br />

und die beiden stünden mit weniger Geld da<br />

als zuvor, sagt Olaf. Also bleibt erst mal alles, wie<br />

es ist.<br />

Samstag: „Di-Do-Sa“, wie Olaf sagt, ist Markt auf<br />

dem Sedanplatz. Er kennt hier jeden Händler, bei<br />

einigen kann sich Olaf nützlich machen. Dem Bäcker<br />

hilft er gelegentlich beim Auf- und Abbau, als<br />

Dank darf er sich Brote und Brötchen einpacken.<br />

Und wenn eine neue Ausgabe der Zeitschrift der<br />

Straße erscheint, führt Olafs Weg direkt zum Fischhändler,<br />

einem seiner Stammkunden. Der zahlt<br />

meist nicht in bar, sondern mit einem großen, frischen<br />

Fisch.<br />

Montag: „Den Sonntag haben wir zu Hause verbracht“,<br />

sagt Olaf. „Es gibt Leute, die sind praktisch<br />

jeden Tag in der Vegesacker Fußgängerzone unterwegs,<br />

und die brauchen auch mal ’ne Pause von<br />

uns. Wir wollen ja niemanden nerven. Deshalb machen<br />

wir sonn- und feiertags frei.“<br />

Philipp Jarke ist freier Journalist und leitet die<br />

Redaktion der Zeitschrift der Straße. Olaf hat ihn<br />

vor allem mit seiner Disziplin beeindruckt.<br />

Impressum<br />

Herausgeber Verein für Innere Mission in Bremen,<br />

Blumenthalstraße 10, 28209 Bremen<br />

Partner<br />

Hochschule Bremerhaven<br />

Büro<br />

Auf der Brake 10–12, 28195 Bremen,<br />

Mo–Fr 10–13 Uhr sowie Mo + Di 16–18 Uhr,<br />

Tel. 0421/175 216 27<br />

Kontakt post@zeitschrift-der-strasse.de<br />

Internet www.zeitschrift-der-strasse.de<br />

Anzeigen Preisliste 05, gültig seit 1.12.2014<br />

Kontakt: Michael Vogel,<br />

anzeigen@zeitschrift-der-strasse.de<br />

Abo<br />

nur für Firmen, Institutionen und<br />

Nicht-BremerInnen (40 € / 10 Ausgaben):<br />

abo@zeitschrift-der-strasse.de<br />

Spendenkonto Verein für Innere Mission,<br />

IBAN DE22 2905 0101 0001 0777 00,<br />

Konto-Nr. 1 077 700,<br />

Sparkasse Bremen, BLZ 290 501 01,<br />

Verwendungszweck (wichtig!): Zeitschrift der Straße<br />

Spenden sind steuerlich absetzbar.<br />

Redaktion<br />

Fotografie<br />

Marketing<br />

Vertrieb<br />

Gesamtleitung<br />

André Beinke, Carolin Hoffmann, Felix Müller,<br />

Andreas Kuhlmann, Wiebke Plasse, Joschka<br />

Schmitt<br />

Leitung: Philipp Jarke (pj), Tanja Krämer (tak),<br />

redaktion@zeitschrift-der-strasse.de<br />

André Schmoll, Begüm Yücelay,<br />

Kunstschule Wandsbek, Bremen<br />

Katharina Brasch, Lisa Hummel, Marissa Käßhöfer<br />

Leitung: Prof. Dr. Wolfgang Lukas<br />

marketing@zeitschrift-der-strasse.de<br />

Lisa Bäuml, Angelika Biet, Conny Eybe,<br />

Tabbo Hankel, Eike Kowalewski, Georg Kruppa,<br />

Paweł Mehring, Jonas Pot d’Or, Eva Schade,<br />

Eva Schönberger, Thorsten Sander,<br />

Gimmy Wesemann, Lenert Loch<br />

sowie viele engagierte VerkäuferInnen<br />

Leitung: Rüdiger Mantei, Reinhard „Cäsar“ Spöring<br />

vertrieb@zeitschrift-der-strasse.de<br />

Bertold Reetz, Prof. Dr. Dr. Michael Vogel<br />

Gestaltung Paula Fülleborn (Werbeagentur Brandfisher),<br />

Janina Freistedt, Ottavo Oblimar, Glen Swart<br />

Anzeige U4: Annika Drichel, Ruben Lyon, Anja<br />

Segermann<br />

Lektorat Textgärtnerei, Am Dobben 51, 28203 Bremen<br />

V. i. S. d. P. Tanja Krämer / Anzeigen: Michael Vogel<br />

Druck<br />

BerlinDruck GmbH + Co KG, Achim<br />

Papier<br />

Circleoffset White, hergestellt von Arjowiggins,<br />

vertrieben durch Hansa-Papier GmbH & Co. KG,<br />

Bremen, ausgezeichnet mit dem Blauen Umweltengel<br />

und dem EU-Ecolabel<br />

Erscheint zehnmal jährlich<br />

Auflage 5.000<br />

Gerichtsstand<br />

& Erfüllungsort Bremen<br />

ISSN 2192-7324<br />

Mitglied im International Network of Street Papers (INSP).<br />

Gefördert durch den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft.<br />

Die Redaktion übernimmt keine Haftung für unverlangt eingesandte<br />

Manuskripte, Fotos und Illustrationen. Die Zeitschrift der Straße und<br />

alle in ihr enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Mit<br />

Ausnahme der gesetzlich zugelassenen Fälle ist eine Verwertung ohne<br />

Einwilligung des Verlages strafbar. Alle Anbieter von Beiträgen, Fotos<br />

und Illustrationen stimmen der Nutzung in den Ausgaben der<br />

Zeitschrift der Straße im Internet, auf DVD sowie in Datenbanken zu.<br />

GROHNER DÜNE<br />

Ein Riese mit<br />

schlechtem Ruf.<br />

Wir haken nach.<br />

Und schauen hin.<br />

Ab 06. Juli beim<br />

Straßenverkäufer<br />

Ihres Vertrauens.


„ICH ENGAGIERE MICH, WEIL<br />

BREMENS STRASSENMAGAZIN<br />

WIRKEN MIT LERNEN<br />

VERBINDET.“<br />

MICHAEL VOGEL, 47 JAHRE,<br />

IST WIRTSCHAFTSPROFESSOR IN BREMERHAVEN,<br />

WILL DIE WELT VERBESSERN UND HAT DESHALB 2009<br />

DIE ZEITSCHRIFT DER STRASSE INITIIERT.<br />

Unterstützen Sie unsere Arbeit mit einer Spende.<br />

Empfänger: Verein für Innere Mission<br />

Verwendungszweck (wichtig): Zeitschrift der Straße<br />

Spenden sind steuerlich abzugsfähig.<br />

IBAN DE22 2905 0101 0001 0777 00<br />

Konto 1 077700, BLZ 290 501 01, Sparkasse Bremen

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!