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Magazin für Stadtkultur Schlachthof / Lagerhaus HASS WUT ZORN
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HASS WUT ZORN
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Heidi Diewald<br />
Wut im Praxistest<br />
In ihrem Buch ›Wut. Plädoyer für ein verpöntes Gefühl‹ berichtet die Gerichtspsychiaterin<br />
Heidi Kastner von unterschiedlichen Formen des Phänomens Wut,<br />
die sie durch Fallbeispiele überwiegend aus dem juristischen Bereich illustriert.<br />
W<br />
ahrnehmung und adäquates Ausleben von Wut ist wichtig, so lautet das Credo<br />
und Schlussplädoyer Kastners: ›Die Wut hat viele Funktionen, vermittelt klare<br />
Grenzen, setzt Warnsignale, befreit von Spannung, die aus Kränkung entsteht,<br />
vermittelt uns selbst präzise Einsichten in unsere Schwachstellen und fordert uns<br />
auf zu Veränderung, entweder an uns selbst oder an unseren Lebensumständen, sie<br />
fordert und fördert Lebendigkeit.‹<br />
Eingangs schildert die Autorin die weit zurückreichende und ambivalente<br />
Einschätzung dieser Emotion: Bei den antiken Philosophen ist sie umstritten, im<br />
griechischen Epos ›Ilias‹ dient sie als Motor der Handlung und im Christentum<br />
schließlich ist sie eine der Todsünden. Oft werde zwischen der individuellen Emotion<br />
Wut und dem auf größeres Unrecht zielenden Zorn unterschieden, letztlich sei diese<br />
Trennlinie jedoch nicht praktikabel, wie sich zum Beispiel an der etymologischen<br />
Herleitung der Wut vom Gott Wotan zeige, die die Wut wieder in einen göttlichen<br />
also überindividuellen Zusammenhang rücke.<br />
Es entfaltet sich aus (gerichts-)psychiatrischer Sicht ein Panoptikum der Wut.<br />
Iwan der Schreckliche dient neben aktuellen Fällen als Beispiel für Wut im Zusammenhang<br />
mit Persönlichkeitsstörungen. Das Aufwachsen in Lebensgefahr und<br />
Isolation führten bei Zar Iwan zu einer Wut-Disposition, die das Erfinden sadistischer<br />
Tötungsmethoden und den Gefallen an Massenexekutionen nach sich zogen.<br />
Zur Persönlichkeitsstörung gehört auch die Persönlichkeitsentwicklung, also im<br />
Besonderen die ›junge Wut‹. Die Zeit der Adoleszenz ist ›eine der forderndsten, die<br />
wir durchleben, in ihren Umwälzungen in körperlich-geistiger Hinsicht nur vergleichbar<br />
mit schweren Geisteskrankheiten […].‹ In dieser Zeit werde die eigene Identität<br />
in Abgrenzung zu Kernfamilie und Gesellschaft entwickelt; Defizite während dieses<br />
Prozesses drücken sich durch Dominanzverhalten oder Aggression statt Kommunikation<br />
aus. Dabei kommt es zu antisozialem Verhalten, das oft mit Beginn des<br />
Erwachsenenalters verschwindet oder sich in einer Verhaltensstörung manifestiert.<br />
Bleibt die Wut im Bauch, ist das Resultat psychosomatisch. Es gebe starke<br />
Hinweise ›auf einen Zusammenhang zwischen unterdrücktem Ärger und der<br />
verminderten Ausschüttung von Endorphinen.‹ Im passenden Fallbeispiel wird<br />
geschildert wie eine in wohlsituierten Verhältnissen lebende Hausfrau, die nach der<br />
Heirat ihre Karriere beendete, um ihrem Mann den Rücken freizuhalten, es dann<br />
aber nicht schafft, ihm bezüglich ihrer eigenen Interessen die Stirn zu bieten und als<br />
Quittung eine psychosomatische Erkrankung der Haut bekommt. Das wiederum<br />
führt dazu, dass sie ihre repräsentativen Aufgaben bei den Geschäftsterminen ihres<br />
Gatten nicht mehr erfüllen kann. Der Ehemann wendet sich von ihr ab und Liebschaften<br />
zu.<br />
Wut ist ein affekthaftes Gefühl, das sich unwillkürlich in<br />
unserem Gesichtsausdruck manifestiert: ›Wut erkennen wir<br />
weltweit an heruntergezogenen Augenbrauen, zusammengekniffenen<br />
Augen, weit geblähten Nasenflügeln und zusammengepressten<br />
Lippen.‹ Selbst wenn wir versuchen, diesen Affekt,<br />
also unsere Mimik, zu kontrollieren, bleiben Restanzeichen<br />
unserer tatsächlichen Gefühlslage zu sehen. ›Mord im Affekt‹<br />
ist ein landläufig bekannter Ausdruck. Kastner unterscheidet<br />
hier zwischen Delikten bei denen ›ein zu lange ignorierter<br />
Affekt eine entscheidende Rolle spielt‹ und Affektdelikten, die<br />
ganz und gar ohne vorherige Planung geschehen.<br />
Bei ersterem wird eine schwelende Wut zwar wahrgenommen,<br />
aber nicht ausgelebt. Bei Affekttaten fehlt schon die<br />
Wahrnehmung der Emotion, was im Anschluss oft zur Verdrängung<br />
des Gewaltakts und zu paradoxen Handlungen nach<br />
Entladung des Zorns führt. Beispielsweise habe ein Mann am<br />
Abendbrottisch – nach jahrelang still erduldeter Schmähung<br />
und Ausgrenzung seitens der Familie – auf Frau und Tochter<br />
eingestochen, im nächsten Augenblick seine Tat vergessen und<br />
versucht erste Hilfe zu leisten. Er hatte den aggressiven Teil<br />
seiner Gefühlswelt derart abgespalten, dass ihm auch während<br />
der Haft das eigene Handeln unerklärlich blieb.<br />
Neben den genannten Beispielen bebildert Kastner ihre<br />
Überlegungen mit zahlreichen, teilweise noch drastischeren,<br />
Fällen aus ihrem Arbeitsalltag. Bei der Leserin bleibt der<br />
Eindruck des erhobenen Zeigefingers: Nehmt eure Wut wahr<br />
und lebt sie angemessen aus, sonst sind am Ende alle tot, oder<br />
Schlimmeres. So ist das Buch zwar ein ›Plädoyer für ein<br />
verpöntes Gefühl‹, ausführliche positive Anekdoten – somit<br />
eine Entpathologisierung der Emotion, die das unterstreichen,<br />
bleiben allerdings aus. Wissenschaftliche und philosophische<br />
Erkenntnisse werden nach Bedarf und als Statements<br />
eingebracht und man wird an mancher Stelle neugierig auf<br />
genauere Ausführungen.<br />
Insgesamt liest sich das Buch – nicht zuletzt dank der<br />
literarischen Schreibweise – wie ein Krimi über ein Gefühl.