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Magazin für Stadtkultur Schlachthof / Lagerhaus HASS WUT ZORN

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HASS WUT ZORN

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9<br />

Heidi Diewald<br />

Wut im Praxistest<br />

In ihrem Buch ›Wut. Plädoyer für ein verpöntes Gefühl‹ berichtet die Gerichtspsychiaterin<br />

Heidi Kastner von unterschiedlichen Formen des Phänomens Wut,<br />

die sie durch Fallbeispiele überwiegend aus dem juristischen Bereich illustriert.<br />

W<br />

ahrnehmung und adäquates Ausleben von Wut ist wichtig, so lautet das Credo<br />

und Schlussplädoyer Kastners: ›Die Wut hat viele Funktionen, vermittelt klare<br />

Grenzen, setzt Warnsignale, befreit von Spannung, die aus Kränkung entsteht,<br />

vermittelt uns selbst präzise Einsichten in unsere Schwachstellen und fordert uns<br />

auf zu Veränderung, entweder an uns selbst oder an unseren Lebensumständen, sie<br />

fordert und fördert Lebendigkeit.‹<br />

Eingangs schildert die Autorin die weit zurückreichende und ambivalente<br />

Einschätzung dieser Emotion: Bei den antiken Philosophen ist sie umstritten, im<br />

griechischen Epos ›Ilias‹ dient sie als Motor der Handlung und im Christentum<br />

schließlich ist sie eine der Todsünden. Oft werde zwischen der individuellen Emotion<br />

Wut und dem auf größeres Unrecht zielenden Zorn unterschieden, letztlich sei diese<br />

Trennlinie jedoch nicht praktikabel, wie sich zum Beispiel an der etymologischen<br />

Herleitung der Wut vom Gott Wotan zeige, die die Wut wieder in einen göttlichen<br />

also überindividuellen Zusammenhang rücke.<br />

Es entfaltet sich aus (gerichts-)psychiatrischer Sicht ein Panoptikum der Wut.<br />

Iwan der Schreckliche dient neben aktuellen Fällen als Beispiel für Wut im Zusammenhang<br />

mit Persönlichkeitsstörungen. Das Aufwachsen in Lebensgefahr und<br />

Isolation führten bei Zar Iwan zu einer Wut-Disposition, die das Erfinden sadistischer<br />

Tötungsmethoden und den Gefallen an Massenexekutionen nach sich zogen.<br />

Zur Persönlichkeitsstörung gehört auch die Persönlichkeitsentwicklung, also im<br />

Besonderen die ›junge Wut‹. Die Zeit der Adoleszenz ist ›eine der forderndsten, die<br />

wir durchleben, in ihren Umwälzungen in körperlich-geistiger Hinsicht nur vergleichbar<br />

mit schweren Geisteskrankheiten […].‹ In dieser Zeit werde die eigene Identität<br />

in Abgrenzung zu Kernfamilie und Gesellschaft entwickelt; Defizite während dieses<br />

Prozesses drücken sich durch Dominanzverhalten oder Aggression statt Kommunikation<br />

aus. Dabei kommt es zu antisozialem Verhalten, das oft mit Beginn des<br />

Erwachsenenalters verschwindet oder sich in einer Verhaltensstörung manifestiert.<br />

Bleibt die Wut im Bauch, ist das Resultat psychosomatisch. Es gebe starke<br />

Hinweise ›auf einen Zusammenhang zwischen unterdrücktem Ärger und der<br />

verminderten Ausschüttung von Endorphinen.‹ Im passenden Fallbeispiel wird<br />

geschildert wie eine in wohlsituierten Verhältnissen lebende Hausfrau, die nach der<br />

Heirat ihre Karriere beendete, um ihrem Mann den Rücken freizuhalten, es dann<br />

aber nicht schafft, ihm bezüglich ihrer eigenen Interessen die Stirn zu bieten und als<br />

Quittung eine psychosomatische Erkrankung der Haut bekommt. Das wiederum<br />

führt dazu, dass sie ihre repräsentativen Aufgaben bei den Geschäftsterminen ihres<br />

Gatten nicht mehr erfüllen kann. Der Ehemann wendet sich von ihr ab und Liebschaften<br />

zu.<br />

Wut ist ein affekthaftes Gefühl, das sich unwillkürlich in<br />

unserem Gesichtsausdruck manifestiert: ›Wut erkennen wir<br />

weltweit an heruntergezogenen Augenbrauen, zusammengekniffenen<br />

Augen, weit geblähten Nasenflügeln und zusammengepressten<br />

Lippen.‹ Selbst wenn wir versuchen, diesen Affekt,<br />

also unsere Mimik, zu kontrollieren, bleiben Restanzeichen<br />

unserer tatsächlichen Gefühlslage zu sehen. ›Mord im Affekt‹<br />

ist ein landläufig bekannter Ausdruck. Kastner unterscheidet<br />

hier zwischen Delikten bei denen ›ein zu lange ignorierter<br />

Affekt eine entscheidende Rolle spielt‹ und Affektdelikten, die<br />

ganz und gar ohne vorherige Planung geschehen.<br />

Bei ersterem wird eine schwelende Wut zwar wahrgenommen,<br />

aber nicht ausgelebt. Bei Affekttaten fehlt schon die<br />

Wahrnehmung der Emotion, was im Anschluss oft zur Verdrängung<br />

des Gewaltakts und zu paradoxen Handlungen nach<br />

Entladung des Zorns führt. Beispielsweise habe ein Mann am<br />

Abendbrottisch – nach jahrelang still erduldeter Schmähung<br />

und Ausgrenzung seitens der Familie – auf Frau und Tochter<br />

eingestochen, im nächsten Augenblick seine Tat vergessen und<br />

versucht erste Hilfe zu leisten. Er hatte den aggressiven Teil<br />

seiner Gefühlswelt derart abgespalten, dass ihm auch während<br />

der Haft das eigene Handeln unerklärlich blieb.<br />

Neben den genannten Beispielen bebildert Kastner ihre<br />

Überlegungen mit zahlreichen, teilweise noch drastischeren,<br />

Fällen aus ihrem Arbeitsalltag. Bei der Leserin bleibt der<br />

Eindruck des erhobenen Zeigefingers: Nehmt eure Wut wahr<br />

und lebt sie angemessen aus, sonst sind am Ende alle tot, oder<br />

Schlimmeres. So ist das Buch zwar ein ›Plädoyer für ein<br />

verpöntes Gefühl‹, ausführliche positive Anekdoten – somit<br />

eine Entpathologisierung der Emotion, die das unterstreichen,<br />

bleiben allerdings aus. Wissenschaftliche und philosophische<br />

Erkenntnisse werden nach Bedarf und als Statements<br />

eingebracht und man wird an mancher Stelle neugierig auf<br />

genauere Ausführungen.<br />

Insgesamt liest sich das Buch – nicht zuletzt dank der<br />

literarischen Schreibweise – wie ein Krimi über ein Gefühl.

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