Bilder sehen, die gar nicht da sind - Pony
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Verdrängung in<br />
Taubenblau<br />
Klare Linien für unklare Gemengelagen: Rutu Mo<strong>da</strong>n schildert in ihrer<br />
Graphic Novel »Blutspuren«, wie <strong>die</strong> zwei Intifa<strong>da</strong>s in Israel zu<br />
falscher Gemütlichkeit und inneren Erfrierungen geführt haben.<br />
Kerstin Cornils<br />
Tel Aviv, Januar 2002, 9 Uhr morgens: Wer <strong>die</strong> erste<br />
Seite von Rutu Mo<strong>da</strong>ns Graphic Novel »Blutspuren«<br />
aufschlägt, landet in zart kolorierten <strong>Bilder</strong>n.<br />
Eine Welt in Rosa, Ocker und Taubenblau. Geparkte<br />
Fahrräder am Straßenrand, ein vorschriftsmäßig<br />
behelmtes Paar auf einem Mofa, zwei Frauen<br />
mit vollgestopften Einkaufstaschen, ein Taxifahrer<br />
– eine harmlose Straßenszene, <strong>die</strong> sich genauso in<br />
Lissabon oder Viña del Mar abspielen könnte. Oder<br />
in Belgien: Spürbar <strong>sind</strong> Mo<strong>da</strong>ns Zeichnungen von<br />
Hergés ligne claire beeinflusst, knüpfen an dessen<br />
feine, verspielte <strong>Bilder</strong>welt ohne Schatten an. Der<br />
Brüsseler Comicautor hat den anheimelnden Retro-Charme<br />
seiner Zeichnungen eingesetzt, um dem<br />
belgischen Kolonialismus <strong>da</strong>s niedliche Gesicht eines<br />
Reporters mit knielangen Hosen, putzigem<br />
Hündchen und komischen Haaren zu verleihen. Die<br />
1966 in Israel geborene Rutu Mo<strong>da</strong>n hat mit der ligne<br />
claire nun anderes im Sinn.<br />
Die <strong>die</strong>sjährige Preisträgerin des Eisner-Comic-<br />
Awards erzählt in »Blutspuren« von einer Gesellschaft,<br />
<strong>die</strong> permanent mit der Angst leben muss,<br />
schon in den nächsten Bus könnte ein palästinensischer<br />
Selbstmor<strong>da</strong>ttentäter einsteigen. Sie berichtet<br />
von Menschen, <strong>die</strong> trotz der ungelösten Palästinafrage<br />
krampfhaft an der Illusion festhalten,<br />
es sei in einem unfriedlichen Land wie Israel möglich,<br />
ein ganz normales Leben zu führen. Auch der<br />
Tel Aviver Taxifahrer Kobi Franco, Mo<strong>da</strong>ns Held,<br />
verspürt <strong>die</strong>sen Wunsch. Und tatsächlich verläuft<br />
sein Dasein so unspektakulär, <strong>da</strong>ss ihn schon <strong>da</strong>s<br />
zweite Panel mit einem großen Gähnen präsentiert.<br />
Ob Kobi im Supermarkt einkaufen geht oder sich<br />
mit Tante Ruthi streitet, <strong>nicht</strong>s vermag ihn aus seiner<br />
Lethargie zu reißen. Dann aber geschieht etwas<br />
Unerwartetes: Ein dringender Anruf aus der Zentrale<br />
geht ein, Kobi solle sich umgehend zum Hauptquartier<br />
der Israelischen Streitkräfte begeben. Eine<br />
großgewachsene Sol<strong>da</strong>tin erwartet ihn am Straßenrand<br />
und behauptet, vor drei Wochen sei bei einem<br />
Attentat in Hadera sein Vater umgekommen.<br />
Nach dem ersten Schock gelingt es Kobi, sich<br />
ein klareres Bild von der Sachlage zu machen.<br />
Möglicherweise ist sein Vater <strong>gar</strong> <strong>nicht</strong> tot – möglicherweise<br />
ist <strong>die</strong> junge Sol<strong>da</strong>tin von Gabriels<br />
Tod nur deshalb so felsenfest überzeugt, weil sie<br />
seine Freundin ist und <strong>nicht</strong> glauben mag, <strong>da</strong>ss er<br />
sie ohne ein Wort verlassen hat. Während Numi<br />
mit Feuereifer auf einen DNA-Test und eine Exhumierung<br />
drängt, bezweifelt Kobi, <strong>da</strong>ss der unidentifizierte<br />
Tote in Hadera mit seinem Vater identisch<br />
ist. Ohnehin ist ihm <strong>da</strong>s Schicksal seines<br />
Erzeugers gleichgültig. Trotzdem gelingt es der<br />
beharrlichen jungen Frau, den Sohn an den Tatort<br />
zu lotsen, doch in Hadera kann sich niemand<br />
an den Vater erinnern. Als Kobi und Numi im januarkalten<br />
Mittelmeer baden, verlieben sie sich ineinander.<br />
Jedenfalls ein bisschen.<br />
Nach und nach verschiebt sich der Fokus von der Kriminalhandlung<br />
auf Numi und Kobi – zwei Menschen,<br />
denen in der Welt <strong>nicht</strong> sehr wohl zu sein scheint.<br />
Während <strong>die</strong> Sol<strong>da</strong>tin mit ihren Schlabberklamot-<br />
12 Materialien zu »Blutspuren«<br />
Grosse Texte 13