De:Bug 167
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GESTOCHEN SCHARF<br />
TATTOO-TATA<br />
BUCH<br />
TEXT MAXIMILIAN BEST & TIMO FELDHAUS<br />
Die älteste bekannte Farbtätowierung Europas gehört<br />
der 1991 entdeckten Gletschermumie Ötzi.<br />
Dieser hatte bekanntlich wohl um 32 v. Chr. gelebt.<br />
Das Tattoo hat eine lange, gut gestochene Historie.<br />
Drei neue Bücher erzählen die Geschichten der<br />
Körperbilder auf opulente Art und Weise.<br />
Es ist schon eine ganze Weile her, da schlichen wir uns<br />
in den achten Stock des gerade eröffneten Privathotels<br />
Soho House in Berlin, um dort am kleinen Pool die Welt<br />
der Reichen, Schönen und Kreativen zu erkunden. Wir hingen<br />
eine Weile möglichst lässig dort herum, als plötzlich<br />
wie aus dem Nichts ein David-Lynchhafter Zwerg neben<br />
uns stand, kaum hörbar zieselte dieser in die megatrockene<br />
Sommerluft: "Darf ich Sie hinausbegleiten?" Es war eine<br />
rhetorische Frage. Er brachte uns zurück zum Fahrstuhl,<br />
drückte E und verabschiedete sich mit einem Diener. Wir<br />
hielten dann in der 4. und Christiane Arp, die mächtigste<br />
Modefrau <strong>De</strong>utschlands, stieg dazu. Und was für eine<br />
Überraschung! Die Chefin der Vogue drehte sich leicht und<br />
wir erkannten ein Tattoo in Form einer runden Sonne, eines<br />
Mondes oder so etwas in ihrem Nacken. Verblüfft ließ<br />
sie uns zurück. Einige Zeit später erschien der 27-jährige<br />
Zombie Boy auf der medialen Bildfläche. Bürgerlich Rick<br />
Genest, wurde der Kanadier im letzten Jahr als Model für<br />
Thierry Muglers Männerkollektion entdeckt. Danach durfte<br />
er sogar mit Lady Gaga rumhängen - Und alles nur, weil<br />
sein kompletter Körper ein Tattoo-Kunstwerk ziert, eines<br />
nämlich, das einen menschlichen Leichnam von innen<br />
darstellt.<br />
Ornamente des Arschgeweihs<br />
Ein Tattoo ist schon per <strong>De</strong>finition ein Stück Mode, denn<br />
es bezeichnet Körperschmuck in Reinform, das mit Tinte<br />
in die Haut gestochen wird. Das Tolle an der Tätowierung:<br />
Es umweht sie ein Mythos, den alle Modedesigner ständig<br />
herstellen wollen. <strong>De</strong>n Mythos der Bedeutung. Es<br />
ist Mitgliedszeichen, rituelles oder sakrales Symbol,<br />
Ausdrucksmöglichkeit für Exklusivität, Selbstdarstellung,<br />
Geltungssucht und Abgrenzung, auch Mittel zur Verstärkung<br />
sexueller Reize, Schmuck und Marker politischen Protests.<br />
Wir kennen Knast-Tätowierungen, etwa die Träne als<br />
Ausweis des Ganoven, und es gibt sogar sogenannte Geekoder<br />
Nerd-Tattoos - man kann im Grunde fast nichts nicht<br />
durch ein Tattoo ausdrücken. In der westlichen Kultur war<br />
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das Hautzeichen lange mit dem Ruch des Außenseitertums<br />
behaftet, heute halten es die meisten mit ihrem Mal wie<br />
Bettina Wulf, die für die erste Tätowierung in der Berliner<br />
Republik in die Analen ebenjener eingehen wird. "Mein<br />
Tattoo hat keine bestimmte Bedeutung", verrät Bettina<br />
Wulff in ihrem schrecklichen Buch und steht mit dieser<br />
Aussage im Zenit einer Spaßgesellschaft, deren Herrschaft<br />
des Gewöhnlichen womöglich nirgends genauer ein Bild<br />
findet als in den massenhaft unter die Epidermis gebrachten<br />
Ornamenten des Arschgeweihs. Die geschasste Blonde<br />
wählte, wie der konservative Poptheoretiker Ulf Poschardt<br />
es kürzlich beschrieb, jenes Genre, "das damals nur mehr<br />
im ländlichen Raum mit Begeisterung gestochen wurde:<br />
ein Tribal-Tattoo. Einst ein Hinweis über die Herkunft des<br />
Stammes, dem man sich mit Haut und Haaren verpflichtete,<br />
heute, in der postmodernen Absurdität des 'anything goes'<br />
zum Sinnbild hoffnungsloser Entwurzelung geworden." Sich<br />
unter Schmerzen etwas für immer auf den Körper und unter<br />
die Haut zu foltern, was einem schlicht "nichts" bedeutet,<br />
das ist natürlich schon ziemlich Punk eigentlich.<br />
Sich unter Schmerzen etwas<br />
für immer auf den Körper und<br />
unter die Haut zu foltern, was<br />
einem schlicht "nichts" bedeutet,<br />
das ist natürlich schon<br />
ziemlich Punk.<br />
Für immer<br />
Mit der guten Tätowierung verhält es sich allerdings wie<br />
mit guter Musik. Dass sie im Mainstream ausgeschlachtet<br />
wird, schadet nur dem an sich schon schlechten Produkt.<br />
Man muss Kenny Goldsmith zitieren, er fragt in dieser<br />
Ausgabe ob der Unordnung und Massen an Texten und<br />
Musikstücken, die im Netz und in der Wirklichkeit florieren:<br />
"Es gibt bekanntlich immer noch gute und schlechte<br />
DJs, nicht wahr?" Wir möchten nun drei herausragende<br />
Mix-CDs (aka Buchbände) der Tatöwierkunst vorstellen.<br />
<strong>De</strong>nn es gibt sie natürlich noch, die Künstler, Liebhaber und<br />
Bewahrer dieses so fantastisch unmodernen Ereignisses<br />
Tätowierung, das so altmodische Dinge behauptet wie: "Für<br />
immer", "das gehört zu mir", "das bin ich", "ich bin anders".<br />
Als Gegenpol der inflationär auftauchenden Lotusblütenauf-Füßen-Schwemme<br />
haben sich diverse Künstler wieder<br />
einen Namen gemacht, für die das Tattoo mehr als nur<br />
ein Service und Zierde ist, sondern das Hervorbringen des<br />
Innersten auf die Haut.<br />
Das erste Buch kommt aus dem Hause des Gestalten<br />
Verlag und trägt den Titel "Forever - The new tattoo". <strong>De</strong>r<br />
Fokus dieses knapp 3 Seiten starken Buches liegt auf<br />
der Vorstellung von Künstlern aus aller Welt. Leute wie<br />
Duke Riley etwa, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, originalgetreue<br />
Werke wie aus dem 19. Jahrhundert zu tätowieren<br />
und damit eine lang anhaltende Tradition aufrecht<br />
erhalten möchte. Weiter sind Größen wie Mike Giant, Scott<br />
Campbell, Thomas Hooper, Guy Le Tatooer und Duncan X<br />
vertreten. Zudem steht die Veröffentlichung der kommenden<br />
Ausgabe des Sang Bleu Magazins des Schweizers<br />
Maxime Büchi ins Haus. Sang Bleu geht mittlerweile in die<br />
sechste und nun auch dickste Auflage. Die im Oktober erscheinende<br />
Ausgabe wird ca. 7 Seiten fassen und auch<br />
nur über ein spezielles Vorbestell-System erhältlich sein,<br />
da das komplette Heft keine Werbung enthält und gänzlich<br />
in Eigenregie veröffentlicht wurde. Ausgewählte Händler<br />
werden sicher dennoch die ein oder andere Ausgabe vorrätig<br />
haben. Tattoo-Kunst wird hier sehr abstrakt behandelt<br />
und als Ausgangspunkt verstanden, um mit vielen<br />
Themen und kontemporären Kunst- und Modewelten in<br />
Verbindung zu treten. In der kommenden Ausgabe werden<br />
unter anderem ein fotografisches Essay von Berghain-<br />
Türsteher Sven Marquardt, ein Interview mit DJ Lil Sprite<br />
und bereits erwähntem Tattoo-Künstler Duke Riley zu finden<br />
sein.<br />
Wer zudem ein paar wirklich interessante Geschichten<br />
über Tätowierungen und die seit Jahrhunderten daran<br />
anknüpfenden Diskurse wissen möchte, der greife<br />
zu Ulrike Landfesters just erschienenem Buch<br />
"Stichworte". Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin<br />
spannt dort einen Bogen von benanntem Ötzi zu Kafkas<br />
"Strafkolonie", Petronius' "Satyricon" (um 6 n. Chr.)<br />
und der Nummerntätowierung in Auschwitz. Landfester<br />
findet auch den Weg zur aktuellen Digitalkultur, in der<br />
die Tätowierung unter dem Einfluss technologischen<br />
Fortschritts scheinbar ebenso beliebig löschbar zu werden<br />
beginnt wie die traditionelle Materialhaftung des alphabetarischen<br />
Schreibens selbst. Die Tätowierung zum Anlass<br />
zu nehmen, über das Wesen von Schrift und Schreiben<br />
nachzudenken, ist eine gute Sache. Oder wusstet ihr, dass<br />
die Griechen (damals im Krieg gegen die Perser), um eine<br />
verschlüsselte Nachricht über die feindlichen Linien zu<br />
bringen, einem Sklaven die Kopfhaare rasierten, um dann<br />
die Botschaft auf die Schädelhaut zu tätowieren und den<br />
armen Mann losschickten, sobald seine Haare nachgewachsen<br />
waren? Eben.