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Text Sascha Kösch - illu martinkrusche.de<br />
zu schaffen. Ihr Buch ist Praxis. In den Worten der Theorie.<br />
Ihr Verhängnis: Sie glauben, dass es besser werden könnte.<br />
"Wenn sich niemand findet, der das Bessere einrichtet,<br />
wird der Eindruck entstehen, daß die im Versinken begriffene<br />
Scheinordnung dem, was sie ablösen muß, immer<br />
noch überlegen war, und dann werden Leute in gutem<br />
Glauben die Agonie des Unfugs nur verlängern."<br />
"Wir haben den Begriff<br />
Implex ausprobiert als<br />
ein Wort, das wie ein<br />
Einspruch funktioniert."<br />
Dietmar Dath und Barbara Kirchner haben<br />
sich zusammengesetzt, ein Buch geschrieben,<br />
dabei französische Postmarxisten<br />
ignoriert und sich mit ihrer Syntax angreifbar<br />
gemacht. Doch anstatt von dem Werk<br />
eine Theorie zur Problemlösung zu erwarten,<br />
sollte man darin vielmehr eine neue<br />
Romanform sehen, die dramaturgisch<br />
vorgeht und Weltverbesserer ganz neu<br />
grübeln lässt.<br />
Dietmar Dath und Barbara Kirchner haben sich mit "<strong>De</strong>r<br />
Implex" zusammengesetzt, um eine Grundlage für sich<br />
selbst und ihre Arbeit zu schaffen. Endlich. Fast könnte<br />
man sagen: eine eigene Theorie. Und begrifflich herrscht<br />
hier gelegentlich eine Strenge, der man so wirklich selten<br />
begegnet. Dabei allerdings entsteht keine Klassifizierung<br />
der Möglichkeiten des Marxismus. Keine Gleichung der<br />
Weltverbesserung. Letztendlich nicht mal ein Aufruf<br />
das Thema, die Begriffe und Bewegungen der sozialen<br />
Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts wieder produktiv<br />
zu machen, wie ein Schwert in die Hand zu nehmen.<br />
"<strong>De</strong>r Implex" ist, auch wenn seine Geste in eine ähnliche<br />
Richtung führt, kein Aufruf zu einer besseren Revolution.<br />
"Wir haben versucht, den Fortschritt ohne das Absolute,<br />
ohne die arché und ohne das Ideal zu denken. Dass man<br />
ihn je anders hat denken wollen, gehört zum Rätsel der<br />
Geschichte insgesamt. Da man nicht mit der Vernunft<br />
angefangen hat, aber ohne die Vernunft nicht weiterkommt,<br />
besteht der Fortschrittsprozess offenbar darin,<br />
aus Unvernünftigem Vernünftiges zu machen, und zwar<br />
nicht in der Theorie, sondern praktisch." Genau so versteht<br />
sich ihr Buch. Als Praxis. Als eine Praxis des Romans<br />
in Begriffen. Kein Wunder, schließlich gilt zumindest Dath<br />
als Vorzeigemarxist des Feuilletons. Und genau darauf beziehen<br />
sich auch sämtliche Kritiken, denen man bislang<br />
begegnet. Man wirft den beiden Autoren zu allererst vor,<br />
zu lange Sätze zu schreiben. Kindisch gegen nahezu alles<br />
zu sein. Hochstapler, Imponiergehabe, Anmaßung lauten<br />
die ziemlich klaren Attacken. Zu wenig Geschichte,<br />
zu viel Wurmfortsätze. Erwartet hatten wohl alle genau<br />
das, was Kirchner und Dath verweigern: eine Theorie, die<br />
man in die Hand nehmen kann, um Probleme danach mit<br />
dem Verweis auf eine Hand voll neuer Schlagworte ad<br />
acta zu legen. Es ist das Gegenteil geworden. Die beiden<br />
treiben sich gegenseitig an, Begrifflichkeiten grundsätzlich<br />
zu durchmengen, im Versuch, überall die für sie nötige<br />
Klarheit auch in ihren eigenen divergierenden Positionen<br />
Gut gelaunte Marxismen<br />
Bevor wir lange drumherum reden. <strong>De</strong>r Implex ist ein<br />
Begriff von Paul Valéry. Valéry als Person ist kein Zufall.<br />
<strong>De</strong>r hatte überall seine Finger drin. Ein, wie man so schön<br />
sagt, Universalgelehrter. Nicht gerade ein willkommenes<br />
Vorbild im Zeitalter der Hochspezialisierung. Er ging letztlich<br />
als Poet in die Geschichte ein, hätte aber ebenso als<br />
falschverstandener Misanthrop durchgehen können. Aber<br />
man sollte sich nicht wundern, dass Dath und Kirchner<br />
eben keine Theorie als Basis für ihre Praxis der Theorie<br />
gewählt haben. Implex bezeichnet bei Valéry ein Potential,<br />
aber auch den Antrieb auf einen Punkt der Instabilität<br />
zuzugehen und etwas zu verändern. Eine Art Wille zur<br />
Veränderung, zur Erneuerung, der nicht auf ein Ziel gerichtet<br />
ist, auf kein Jenseits der Produktion. Bei Dath und<br />
Kirchner weitet sich dieser Begriff jenseits des Subjektiven<br />
aus: "Wir haben den Begriff ausprobiert als ein Wort,<br />
das wie ein Einspruch funktioniert. Beim Versuch, die<br />
Geschichte nicht allein dessen, was wirklich geschehen<br />
ist, sondern auch dessen, was möglich war, zu erzählen."<br />
Das führt in "<strong>De</strong>r Implex" dazu, dass man sich einem extrem<br />
breiten Thema widmet. In immer neuen Brüchen nach<br />
einem Potential oder den Versuchen eben dieses Potential<br />
einzugrenzen sucht. Wissenschaft, Rassenideologien,<br />
Feminismus, Arbeit, Utopie, Militär, Liebe, Wissenschaft,<br />
Natur, Philosophie. Das überfordert. Nicht zuletzt Dath<br />
und Kirchner selbst, sie aber freiwillig. Stellt sie vor ein<br />
Wagnis, in dem sie den schwierigen Balanceakt nicht nur<br />
zwischen ihren eigenen Diskussionen, sondern auch den<br />
sich nur unscheinbar durchkreuzenden Wissensfeldern<br />
aushalten müssen. Und der Leser mit ihnen. Das ist für<br />
manche (mich z.B.) von Anfang bis Ende ein Genuss. Für<br />
andere eine Zumutung, nicht nur weil man ständig mit<br />
gut gelaunten Marxismen konfrontiert wird. Und es wirkt<br />
nicht zuletzt haltlos, weil es einem ständig den argumentativen<br />
Boden unter den Füßen wegzuziehen scheint und<br />
dann mit dem großen Badabum, sorry, Implex, versieht.<br />
"Es gibt überhaupt keinen festen Grund und Boden dieser<br />
Art, letzte Dinge, das Eschaton, der Durchbruch durch die<br />
Immanenz zur Transzendenz hin, Entelechie, Orthogenese.<br />
Das alles sind Wörter für Sachen mit denen man nichts<br />
machen kann. Das Wichtigste, das der Implex uns als<br />
Begriff leisten soll, ist die systematische Weigerung, dieser<br />
Reduktionsversuchung nachzugehen."<br />
Totalverweigerung<br />
Dath und Kirchner machen es sich in gewisser Weise auch<br />
selber schwer. In ihrer - da besteht eine lang gepflegte<br />
freiwillige Ignoranz, dank der Implikationen der Reduktion<br />
auf Linguistik - Auslassung sämtlicher Größen des klassischen<br />
französischen Postmarxismus, von <strong>De</strong>leuze über<br />
Foucault bis <strong>De</strong>rrida (um nur ein paar zu nennen), verweigern<br />
sie sich ein begriffliches Arsenal, das nicht selten<br />
mehr als nur eine Kongruenz zu ihrem Thema gehabt<br />
hätte. Die Diskontinuitäten und Brüche Foucaults,<br />
die <strong>De</strong>konstruktion <strong>De</strong>rridas, all das hätte gelegentlich<br />
Allianzen aufmachen können, die der Wirkung von<br />
"<strong>De</strong>r Implex" gut getan hätten. Dath und Kirchner packen<br />
es fröhlich in die Kiste der "vernunftskeptischen<br />
Philosophien". Man kann aber - das wird sowohl Dath als<br />
auch <strong>De</strong>leuze-Freunde schmerzen - rein von der Sprache,<br />
dem Gestus und der Struktur - dieses Buch lesen, wie<br />
das uneheliche Kind von Mille Plateaux und Anti-Oedipe.<br />
Und gelegentlich wirkt es auch wie aus einer Parallel-Welt<br />
dazu geschrieben: Man findet gewohnte Charaktere wie<br />
den Bastler-Philosophen (hier Begriffsingenieur) ebenso<br />
wie die alles beherrschende Praxis der Kritik. Die<br />
Totalverweigerung von Essentialismen aller Art ebenso<br />
wie die ständigen Verweise auf Naturwissenschaften.<br />
Stellt euch einen SciFi-Roman aus dem Genre "alternate<br />
History" vor, in dem Lenin die Sozialdemokratie in den USA<br />
als Weltherrschaftsparadigma etabliert hat, und ihr habt<br />
eine der eigenwilligen Schräglagen, aus der "<strong>De</strong>r Implex"<br />
gelegentlich zu sprechen scheint.<br />
Genießen oder nicht genießen<br />
<strong>De</strong>nn bei allen Ungereimtheiten, willentlicher Verkürzung,<br />
fantastischen Ausflügen, bei allem durchdachten<br />
Durchrütteln der gewohnten Sicht, sei sie philosophisch,<br />
historisch oder was immer die einzelnen Plateaus der<br />
Kapitel sonst so berühren, darf man wirklich nie die<br />
Ausgangsbasis des Buches vergessen. "<strong>De</strong>r Implex" ist<br />
ein Roman in Begriffen. Und anstatt das Romanhafte aus<br />
der Sicht der Begrifflichkeiten zu attackieren, oder ihnen<br />
die Begriffe mit albernen Unterstellungen, die nicht<br />
selten einer Art Schulhof-Psychologie eines gescheiterten<br />
Campus-Lebens zu entspringen scheinen, Dath und<br />
Kirchner wie einen Kaugummi auf die Schulbank zu kleben<br />
und dann laut "Ätsch" zu rufen, sollte man "<strong>De</strong>r Implex" zu<br />
allererst mal als grandioses Drama genießen. Eine andere<br />
Motivation bringt einen auch kaum über die 800 Seiten.<br />
Und man könnte es mit etwas Weitsicht als eine neue<br />
Romanform feiern, die voller eigentümlicher Fallstricke<br />
im Plot ist - wie dieser hier: "Manchmal ist auch das, was<br />
Marx, Engels und die von ihnen furchtbar Belehrten über<br />
den Fortschritt sagen, richtiger als das, was sie im selben<br />
Satz über die Geschichte sagen, und den Fehler findet nur,<br />
wer sieht, daß er im Zusammenfallen der beiden Aussagen<br />
liegt." Kann man "<strong>De</strong>r Implex", aus welchen Gründen auch<br />
immer, nicht genießen, und sei es nur, weil man z.B. keine<br />
Freude daran hat, die für einen selber auftauchenden<br />
Widersprüche mit einem dramatischen "J'accuse" zu versehen,<br />
oder weil man sich im Verlauf der Geschichte ständig<br />
fragt, ob man es nach der Lektüre wirklich säuberlich<br />
im Buchregal zwischen Diderot's "Jacques, le fataliste et<br />
son maitre" und "Through the Looking-Glass, and What<br />
Alice Found There" platzieren sollte, dann ist man in diesem<br />
Buch ganz offensichtlich völlig falsch aufgehoben.<br />
Will man die Welt verbessern, weiß aber nicht wie, dann<br />
wird man in "<strong>De</strong>r Implex" kein Kochrezept dazu finden,<br />
sondern bleibt noch hungriger zurück. Und das ist immer<br />
eine gute Ausgangsbasis.<br />
<strong>161</strong>–41