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De:Bug 161

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Text Sascha Kösch - illu martinkrusche.de<br />

zu schaffen. Ihr Buch ist Praxis. In den Worten der Theorie.<br />

Ihr Verhängnis: Sie glauben, dass es besser werden könnte.<br />

"Wenn sich niemand findet, der das Bessere einrichtet,<br />

wird der Eindruck entstehen, daß die im Versinken begriffene<br />

Scheinordnung dem, was sie ablösen muß, immer<br />

noch überlegen war, und dann werden Leute in gutem<br />

Glauben die Agonie des Unfugs nur verlängern."<br />

"Wir haben den Begriff<br />

Implex ausprobiert als<br />

ein Wort, das wie ein<br />

Einspruch funktioniert."<br />

Dietmar Dath und Barbara Kirchner haben<br />

sich zusammengesetzt, ein Buch geschrieben,<br />

dabei französische Postmarxisten<br />

ignoriert und sich mit ihrer Syntax angreifbar<br />

gemacht. Doch anstatt von dem Werk<br />

eine Theorie zur Problemlösung zu erwarten,<br />

sollte man darin vielmehr eine neue<br />

Romanform sehen, die dramaturgisch<br />

vorgeht und Weltverbesserer ganz neu<br />

grübeln lässt.<br />

Dietmar Dath und Barbara Kirchner haben sich mit "<strong>De</strong>r<br />

Implex" zusammengesetzt, um eine Grundlage für sich<br />

selbst und ihre Arbeit zu schaffen. Endlich. Fast könnte<br />

man sagen: eine eigene Theorie. Und begrifflich herrscht<br />

hier gelegentlich eine Strenge, der man so wirklich selten<br />

begegnet. Dabei allerdings entsteht keine Klassifizierung<br />

der Möglichkeiten des Marxismus. Keine Gleichung der<br />

Weltverbesserung. Letztendlich nicht mal ein Aufruf<br />

das Thema, die Begriffe und Bewegungen der sozialen<br />

Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts wieder produktiv<br />

zu machen, wie ein Schwert in die Hand zu nehmen.<br />

"<strong>De</strong>r Implex" ist, auch wenn seine Geste in eine ähnliche<br />

Richtung führt, kein Aufruf zu einer besseren Revolution.<br />

"Wir haben versucht, den Fortschritt ohne das Absolute,<br />

ohne die arché und ohne das Ideal zu denken. Dass man<br />

ihn je anders hat denken wollen, gehört zum Rätsel der<br />

Geschichte insgesamt. Da man nicht mit der Vernunft<br />

angefangen hat, aber ohne die Vernunft nicht weiterkommt,<br />

besteht der Fortschrittsprozess offenbar darin,<br />

aus Unvernünftigem Vernünftiges zu machen, und zwar<br />

nicht in der Theorie, sondern praktisch." Genau so versteht<br />

sich ihr Buch. Als Praxis. Als eine Praxis des Romans<br />

in Begriffen. Kein Wunder, schließlich gilt zumindest Dath<br />

als Vorzeigemarxist des Feuilletons. Und genau darauf beziehen<br />

sich auch sämtliche Kritiken, denen man bislang<br />

begegnet. Man wirft den beiden Autoren zu allererst vor,<br />

zu lange Sätze zu schreiben. Kindisch gegen nahezu alles<br />

zu sein. Hochstapler, Imponiergehabe, Anmaßung lauten<br />

die ziemlich klaren Attacken. Zu wenig Geschichte,<br />

zu viel Wurmfortsätze. Erwartet hatten wohl alle genau<br />

das, was Kirchner und Dath verweigern: eine Theorie, die<br />

man in die Hand nehmen kann, um Probleme danach mit<br />

dem Verweis auf eine Hand voll neuer Schlagworte ad<br />

acta zu legen. Es ist das Gegenteil geworden. Die beiden<br />

treiben sich gegenseitig an, Begrifflichkeiten grundsätzlich<br />

zu durchmengen, im Versuch, überall die für sie nötige<br />

Klarheit auch in ihren eigenen divergierenden Positionen<br />

Gut gelaunte Marxismen<br />

Bevor wir lange drumherum reden. <strong>De</strong>r Implex ist ein<br />

Begriff von Paul Valéry. Valéry als Person ist kein Zufall.<br />

<strong>De</strong>r hatte überall seine Finger drin. Ein, wie man so schön<br />

sagt, Universalgelehrter. Nicht gerade ein willkommenes<br />

Vorbild im Zeitalter der Hochspezialisierung. Er ging letztlich<br />

als Poet in die Geschichte ein, hätte aber ebenso als<br />

falschverstandener Misanthrop durchgehen können. Aber<br />

man sollte sich nicht wundern, dass Dath und Kirchner<br />

eben keine Theorie als Basis für ihre Praxis der Theorie<br />

gewählt haben. Implex bezeichnet bei Valéry ein Potential,<br />

aber auch den Antrieb auf einen Punkt der Instabilität<br />

zuzugehen und etwas zu verändern. Eine Art Wille zur<br />

Veränderung, zur Erneuerung, der nicht auf ein Ziel gerichtet<br />

ist, auf kein Jenseits der Produktion. Bei Dath und<br />

Kirchner weitet sich dieser Begriff jenseits des Subjektiven<br />

aus: "Wir haben den Begriff ausprobiert als ein Wort,<br />

das wie ein Einspruch funktioniert. Beim Versuch, die<br />

Geschichte nicht allein dessen, was wirklich geschehen<br />

ist, sondern auch dessen, was möglich war, zu erzählen."<br />

Das führt in "<strong>De</strong>r Implex" dazu, dass man sich einem extrem<br />

breiten Thema widmet. In immer neuen Brüchen nach<br />

einem Potential oder den Versuchen eben dieses Potential<br />

einzugrenzen sucht. Wissenschaft, Rassenideologien,<br />

Feminismus, Arbeit, Utopie, Militär, Liebe, Wissenschaft,<br />

Natur, Philosophie. Das überfordert. Nicht zuletzt Dath<br />

und Kirchner selbst, sie aber freiwillig. Stellt sie vor ein<br />

Wagnis, in dem sie den schwierigen Balanceakt nicht nur<br />

zwischen ihren eigenen Diskussionen, sondern auch den<br />

sich nur unscheinbar durchkreuzenden Wissensfeldern<br />

aushalten müssen. Und der Leser mit ihnen. Das ist für<br />

manche (mich z.B.) von Anfang bis Ende ein Genuss. Für<br />

andere eine Zumutung, nicht nur weil man ständig mit<br />

gut gelaunten Marxismen konfrontiert wird. Und es wirkt<br />

nicht zuletzt haltlos, weil es einem ständig den argumentativen<br />

Boden unter den Füßen wegzuziehen scheint und<br />

dann mit dem großen Badabum, sorry, Implex, versieht.<br />

"Es gibt überhaupt keinen festen Grund und Boden dieser<br />

Art, letzte Dinge, das Eschaton, der Durchbruch durch die<br />

Immanenz zur Transzendenz hin, Entelechie, Orthogenese.<br />

Das alles sind Wörter für Sachen mit denen man nichts<br />

machen kann. Das Wichtigste, das der Implex uns als<br />

Begriff leisten soll, ist die systematische Weigerung, dieser<br />

Reduktionsversuchung nachzugehen."<br />

Totalverweigerung<br />

Dath und Kirchner machen es sich in gewisser Weise auch<br />

selber schwer. In ihrer - da besteht eine lang gepflegte<br />

freiwillige Ignoranz, dank der Implikationen der Reduktion<br />

auf Linguistik - Auslassung sämtlicher Größen des klassischen<br />

französischen Postmarxismus, von <strong>De</strong>leuze über<br />

Foucault bis <strong>De</strong>rrida (um nur ein paar zu nennen), verweigern<br />

sie sich ein begriffliches Arsenal, das nicht selten<br />

mehr als nur eine Kongruenz zu ihrem Thema gehabt<br />

hätte. Die Diskontinuitäten und Brüche Foucaults,<br />

die <strong>De</strong>konstruktion <strong>De</strong>rridas, all das hätte gelegentlich<br />

Allianzen aufmachen können, die der Wirkung von<br />

"<strong>De</strong>r Implex" gut getan hätten. Dath und Kirchner packen<br />

es fröhlich in die Kiste der "vernunftskeptischen<br />

Philosophien". Man kann aber - das wird sowohl Dath als<br />

auch <strong>De</strong>leuze-Freunde schmerzen - rein von der Sprache,<br />

dem Gestus und der Struktur - dieses Buch lesen, wie<br />

das uneheliche Kind von Mille Plateaux und Anti-Oedipe.<br />

Und gelegentlich wirkt es auch wie aus einer Parallel-Welt<br />

dazu geschrieben: Man findet gewohnte Charaktere wie<br />

den Bastler-Philosophen (hier Begriffsingenieur) ebenso<br />

wie die alles beherrschende Praxis der Kritik. Die<br />

Totalverweigerung von Essentialismen aller Art ebenso<br />

wie die ständigen Verweise auf Naturwissenschaften.<br />

Stellt euch einen SciFi-Roman aus dem Genre "alternate<br />

History" vor, in dem Lenin die Sozialdemokratie in den USA<br />

als Weltherrschaftsparadigma etabliert hat, und ihr habt<br />

eine der eigenwilligen Schräglagen, aus der "<strong>De</strong>r Implex"<br />

gelegentlich zu sprechen scheint.<br />

Genießen oder nicht genießen<br />

<strong>De</strong>nn bei allen Ungereimtheiten, willentlicher Verkürzung,<br />

fantastischen Ausflügen, bei allem durchdachten<br />

Durchrütteln der gewohnten Sicht, sei sie philosophisch,<br />

historisch oder was immer die einzelnen Plateaus der<br />

Kapitel sonst so berühren, darf man wirklich nie die<br />

Ausgangsbasis des Buches vergessen. "<strong>De</strong>r Implex" ist<br />

ein Roman in Begriffen. Und anstatt das Romanhafte aus<br />

der Sicht der Begrifflichkeiten zu attackieren, oder ihnen<br />

die Begriffe mit albernen Unterstellungen, die nicht<br />

selten einer Art Schulhof-Psychologie eines gescheiterten<br />

Campus-Lebens zu entspringen scheinen, Dath und<br />

Kirchner wie einen Kaugummi auf die Schulbank zu kleben<br />

und dann laut "Ätsch" zu rufen, sollte man "<strong>De</strong>r Implex" zu<br />

allererst mal als grandioses Drama genießen. Eine andere<br />

Motivation bringt einen auch kaum über die 800 Seiten.<br />

Und man könnte es mit etwas Weitsicht als eine neue<br />

Romanform feiern, die voller eigentümlicher Fallstricke<br />

im Plot ist - wie dieser hier: "Manchmal ist auch das, was<br />

Marx, Engels und die von ihnen furchtbar Belehrten über<br />

den Fortschritt sagen, richtiger als das, was sie im selben<br />

Satz über die Geschichte sagen, und den Fehler findet nur,<br />

wer sieht, daß er im Zusammenfallen der beiden Aussagen<br />

liegt." Kann man "<strong>De</strong>r Implex", aus welchen Gründen auch<br />

immer, nicht genießen, und sei es nur, weil man z.B. keine<br />

Freude daran hat, die für einen selber auftauchenden<br />

Widersprüche mit einem dramatischen "J'accuse" zu versehen,<br />

oder weil man sich im Verlauf der Geschichte ständig<br />

fragt, ob man es nach der Lektüre wirklich säuberlich<br />

im Buchregal zwischen Diderot's "Jacques, le fataliste et<br />

son maitre" und "Through the Looking-Glass, and What<br />

Alice Found There" platzieren sollte, dann ist man in diesem<br />

Buch ganz offensichtlich völlig falsch aufgehoben.<br />

Will man die Welt verbessern, weiß aber nicht wie, dann<br />

wird man in "<strong>De</strong>r Implex" kein Kochrezept dazu finden,<br />

sondern bleibt noch hungriger zurück. Und das ist immer<br />

eine gute Ausgangsbasis.<br />

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