Esther Stocker Kunstheft
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<strong>Kunstheft</strong><br />
für Kinder, Jugendliche<br />
und Erwachsene<br />
Zweifel an der Geraden<br />
<strong>Esther</strong> <strong>Stocker</strong>
Der Kunstraum<br />
als Wahrnehmungslabor<br />
Die Künstlerin <strong>Esther</strong> <strong>Stocker</strong> überrascht die Besucher mit einem riesigen Gebilde. Ein überdimensionierter<br />
Papierknäuel scheint knapp über dem Boden des Kunstraums Dornbirn zu schweben.<br />
Auf der unregelmäßigen Oberfläche ist ein zerknittertes Raster zu erkennen. Sinn und Zweck der<br />
Installation erschließen sich nicht auf Anhieb, Gestaltung und Form lassen keine Rückschlüsse auf<br />
eine Funktion oder gar eine inhaltliche Botschaft zu. Das Werk stiftet Verwirrung. Dies ist beabsichtigt.<br />
Tatsächlich geht es der Künstlerin vor allem um eines: Unsere Wahrnehmung. Gewohnte<br />
Ordnungen werden verändert, gestört, befragt. Und so wird die ehemalige Montagehalle, die den<br />
Kunstraum beherbergt, zu einem Wahrnehmungslabor, in dem die Künstlerin uns Besucher anregt,<br />
sich darüber Gedanken zu machen, was und wie wir wahrnehmen, welche Rückschlüsse wir daraus<br />
ziehen und wie wir damit umgehen. Der Titel der Ausstellung ist dabei durchaus wörtlich zu nehmen.<br />
Die Montagehalle wird zu einem Experimentierfeld sinnlicher Wahrnehmung<br />
Ausgehend von der Rauminstallation, regt dieses <strong>Kunstheft</strong><br />
dazu an, über Fragen wie diese nachzudenken:<br />
Ist alles wirklich so, wie wir es sehen?<br />
Was beeinflusst unser Sehen?<br />
Erliegen wir Trugschlüssen?<br />
Welchen Sinn haben Ordnungen?<br />
Wer macht und bestimmt Ordnungen?<br />
Was passiert, wenn wir die Ordnung stören?<br />
Wie funktioniert überhaupt Wahrnehmung?<br />
Wie hängen Wahrnehmung und Denken zusammen?<br />
Welchen Bedingungen unterliegt unsere Wahrnehmung?<br />
An welches Welt-Bild glauben wir?<br />
Foto: <strong>Esther</strong> <strong>Stocker</strong><br />
Arbeitsvorschläge<br />
· Es dürfte nicht das erste Mal sein, dass du etwas Ungewohntes siehst. Beschreibe,<br />
wie es dir beim Betreten des Raumes erging und woran du gedacht hast.<br />
· Mache dir Gedanken zu den auf dieser Seite gestellten Fragen.<br />
Diskutiere mit anderen darüber.<br />
· Bist du schon einmal einer optischen Täuschung erlegen? Wenn ja, beschreibe sie.<br />
· Inwiefern entstehen manchmal aus zerstörten Ordnungen wieder neue Ordnungen?<br />
Beschreibe dies anhand des zerknüllten Rasters. Nenne weitere Beispiele,<br />
auch außerhalb der Kunst.<br />
· Überlege dir, wie sich aus anderen Materialien ähnliche Dinge dieser Größe formen<br />
lassen, die zunächst keine Rückschlüsse auf eine Funktion zu lassen.
Was nehmen wir wahr?<br />
Was ist wahr?<br />
Der griechische Philosoph Platon erzählte seinem Lehrer Sokrates folgende<br />
Geschichte. Sie wurde als „Höhlengleichnis“ berühmt:<br />
Eine Gruppe von Menschen lebte vor langer Zeit in einer Höhlenwohnung tief unter der Erde. Diese<br />
Menschen traf ein hartes Schicksal: sie waren von Geburt an so gefesselt, dass sie weder ihren<br />
Körper wenden, noch ihren Kopf drehen konnten. Diese Gefangenen durften nur in eine Richtung<br />
blicken. Ihre Augen waren starr auf eine Wand in der Höhle gerichtet. Hinter ihnen lag der Eingang<br />
der Höhle nach draußen, wo ein Weg vorbeiführte. Nichts sahen sie aber von der Welt draußen.<br />
Denn an der Wand sahen sie nur die Schatten von vorbeigehenden Leuten und die Schatten von<br />
Gegenständen, die diese Leute trugen. Hinter diesen Vorbeigehenden brannte zudem ein Feuer, das<br />
die Schatten noch verstärkte.<br />
Platon stellte nun fest und fragte:<br />
„Was haben diese Gefangenen von sich selbst und von einander anderes gesehen<br />
als ihre Schatten, die das Feuer auf die Wand der Höhle wirft? Denn sie sind ja<br />
gezwungen, ihr ganzes Leben lang den Kopf unbeweglich zu halten.“<br />
Oben abgebildet ist die als „Kanizsa-Dreieck“ bekannte Figur. Gaetano Kanizsa (1913 – 1993)<br />
war ein berühmter Forscher und Psychologe. Er war Mitbegründer der „Gestalttheorie“. Unten<br />
eine Figur, die nach ähnlichen Prinzipien wahrgenommen wird.<br />
„Ebenso würden solche Leute nur die Schatten der Dinge für wahr halten. Die echten<br />
Dinge haben sie ja noch nie gesehen; genauso wenig wie wirkliche Menschen.“<br />
„Was also halten diese Menschen für die Wirklichkeit?“<br />
„Was würde geschehen, wenn man den Gefangenen plötzlich die wahren Gegenstände<br />
zeigte?“<br />
Arbeitsvorschläge<br />
· Fasse den Text Platons mit eigenen Worten zusammen.<br />
· Betrachte die zwei Grafiken (rechte Seite). Inwiefern sehen wir etwas,<br />
was gar nicht da ist? Suche nach einer Erklärung dafür.<br />
· Diskutiere die folgende Aussage: „Die Welt ist ein Ergebnis unserer Vorstellung“.<br />
· Was können Menschen tun, um ihre Wahrnehmung zu schärfen?<br />
Abbildung: http://www.unterricht.kunstbrowser.de<br />
Verfasser: Peter Eckardt, Braunschwei
Eine kleine<br />
Wahrnehmungslehre<br />
Wie erhalten wir unser Bild von der Welt? Diese Frage versuchen Wahrnehmungsforscher zu<br />
erklären. Die Gestaltpsychologie hat ein ganzes Regelwerk entwickelt, die „Gestaltgesetze“ mit<br />
denen sich unser Sehen beschreiben lässt. Dies ist sehr spannend und oftmals überraschend. Dabei<br />
spielt die Verarbeitung im Gehirn eine entscheidende Rolle: Nur so ist es zu verstehen, warum wir<br />
in der Abbildung auf der vorherigen Seite (oben rechts) im Leerraum ein Dreieck sehen, obwohl<br />
eigentlich keines existiert. Auch die drei Winkel ergänzen wir zu einem vollständigen Dreieck, obwohl<br />
die Linien „unterbrochen“ sind. Unser Gehirn sucht stets nach einer klaren und einfachen Gestalt.<br />
Und es ergänzt notfalls etwas zu einer uns bekannten, „guten“ Form. Das Gestaltgesetz hierzu wird<br />
deshalb auch das „Gesetz der guten Gestalt“ genannt. Aus den über 100 Gestaltgesetzen findet sich<br />
auf dieser Seite eine kleine Auswahl. Wer diese Regeln kennt, kann – wie <strong>Esther</strong> <strong>Stocker</strong> es macht –<br />
diese Gesetze bei der Gestaltung von künstlerischen Arbeiten bewusst einsetzen.<br />
Gesetz der Nähe<br />
Objekte, die dichter beieinander liegen, werden als<br />
Einheit betrachtet, hier als Reihe.<br />
Gesetz der Ähnlichkeit<br />
In diesem Falle halten wir die schwarzen Punkte für<br />
eine Einheit mit Bedeutung.<br />
Das Gesetz der relativen Größe<br />
Obwohl die Punkte in der Mitte jeweils gleich groß<br />
sind, meinen wir, der rechte Mittelpunkt sei größer.<br />
Der Grund: wir setzen ihn in Bezug zu den kleineren<br />
Punkten im Umkreis.<br />
Gesetz des Vorwissens<br />
Wird uns der Begriff ´Schale´ gesagt, sehen wir zuerst<br />
eine Schale. Spricht jemand von zwei Gesichtern im Profil,<br />
sehen wir zuerst diese.
Wenn sich Räume verändern:<br />
Beispiele aus der Kunst<br />
Der italienische Künstler Gianni Colombo (1937 bis 1993) schuf zahlreiche begehbare<br />
Raumkunstwerke. Er bezog die Betrachter dabei in die von ihm geschaffenen Raumstrukturen ein.<br />
Colombo arbeitete oft mit Licht.<br />
Der in Frankreich lebende Künstler François Morellet (geboren 1926) schafft oft unendlich wirkende<br />
Räume, deren Muster sich scheinbar ewig fortsetzen.<br />
Gianni Colombo, Spazio Elastico, 1967/68<br />
Courtesy Archive Gianni Colombo, Milan<br />
Quelle: http://moussemagazine.it<br />
François Morellet, Random, 2012<br />
Courtesy the artist and Galerie Hervé Bize, Nancy, France<br />
Quelle: http://moussemagazine.it
<strong>Esther</strong> <strong>Stocker</strong><br />
<strong>Esther</strong> <strong>Stocker</strong> wurde 1974 in Schlanders/Italien geboren. Sie studierte an der Akademie der Bildenden<br />
Künste in Wien, der Accademia die Belle Arti di Brera in Mailand und am Art Center College of<br />
Design in Passadena. Sie lebt und arbeitet in Wien. <strong>Esther</strong> <strong>Stocker</strong>s Interesse gilt dem Nachdenken<br />
über unsere Wahrnehmung. In immer neuen und überraschenden Raum-Installationen spielt sie dieses<br />
Thema künstlerisch durch und ermöglicht den Besuchern stets neue Erkenntnisse. Es geht dabei<br />
um die bewusste Störung von Ordnungen. Auf dieser Seite ist ein weiteres Beispiel abgebildet.<br />
Foto: Meinrad Hofer<br />
Installation in der AR/GE Kunst Galerie Museum Bozen. 2004.<br />
Masking tape on wall, wood boxes, 13,3 x 5,6 x 3,4 m. Foto: Martin Pardatscher<br />
Arbeitsvorschläge<br />
· Mit welchen Wahrnehmungsgesetzen spielt <strong>Esther</strong> <strong>Stocker</strong><br />
in der hier abgebildeten Rauminstallation?<br />
· Inwiefern unterläuft <strong>Stocker</strong> hier unsere Seh-Erwartungen?<br />
· Entwerfe selbst solche Installationen in Form von Zeichnungen.<br />
Baue dann ein Modell und fotografiere es.
Ausstellung<br />
25. April bis 15. Juni 2014<br />
Jahngasse 9, Dornbirn<br />
Di - So, 10 - 18 Uhr<br />
Impressum<br />
Text und Gesamtkonzept: Martin Oswald,<br />
Weingarten. Herausgeber: Kunstraum Dornbirn,<br />
Thomas Häusle. Redaktion: Herta Pümpel.<br />
Gestaltung: Sägenvier, Dornbirn. Alle Rechte<br />
vorbehalten © 2014<br />
www.kunstraumdornbirn.at