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Kunstheft: Chiharu Shiota

Zur Ausstellung „Who am I Tomorrow?“ von Chiharu Shiota veröffentlicht der Kunstraum Dornbirn das beliebte Kunstheft. Das Kunstheft bietet allen Besuchern*innen interessante Zugänge zum Werk der polnischen Künstlerin. Für Lehrer*innen hat der Autor Prof. Martin Oswald wertvolle Tipps und Querverweise für den Unterricht bereitgestellt.

Zur Ausstellung „Who am I Tomorrow?“ von Chiharu Shiota veröffentlicht der Kunstraum Dornbirn das beliebte Kunstheft. Das Kunstheft bietet allen Besuchern*innen interessante Zugänge zum Werk der polnischen Künstlerin. Für Lehrer*innen hat der Autor Prof. Martin Oswald wertvolle Tipps und Querverweise für den Unterricht bereitgestellt.

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<strong>Chiharu</strong><br />

Begleitheft<br />

zur Ausstellung<br />

<strong>Shiota</strong><br />

Who am I<br />

Tomorrow?


Who am I Tomorrow?<br />

<strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong><br />

Wer die ehemalige Montagehalle des Kunstraum Dornbirn<br />

betritt, hat das Gefühl, in einen lebenden Körper einzutauchen.<br />

Ein Gewirr von mit roter Flüssigkeit gefüllten<br />

Schläuchen vermittelt den Eindruck eines Blutkreislaufs,<br />

durch den wir uns hindurchbewegen. Die von der Decke<br />

tief herabhängenden Schläuche bilden die Form einer<br />

großen Wolke, deren Wirkung sich niemand entziehen<br />

kann. Einzelne Schläuche ragen zudem in Glasgefäße, die<br />

auf mehreren Sockeln im Raum verteilt sind. Solche, nach<br />

unten breiter werdende Gefäße nennt man Erlenmayerkolben.<br />

Sie finden in der Chemie und Medizin Verwendung.<br />

Im Kunstraum sind sie mit Pumpen verbunden, die den<br />

Kreislauf der Flüssigkeit in Bewegung halten.<br />

Die Installation der in Berlin lebenden, international<br />

bekannten Künstlerin <strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong> (geboren 1972 in<br />

Japan) wirft viele Fragen auf und ruft zugleich eine Reihe<br />

von inneren Bildern wach, an die wir beim Rundgang durch<br />

den Kunstraum denken.<br />

<strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong>: „Wall“, 2010, video still<br />

Steht das Rot für das Leben? Erinnert der Kreislauf aus<br />

Schläuchen an unseren Körper und an dessen Endlichkeit?<br />

Manche denken vielleicht sogar an Nabelschnüre. Für<br />

andere bedeuten die Schläuche, dass alles mit allem zusammenhängt<br />

und miteinander verbunden ist.


Tatsächlich stellt auch die Künstlerin solche grundlegenden<br />

Fragen: Was macht uns aus? Sind wir nicht alle gefangen<br />

in unserer Haut und von Geburt an Teil einer bestimmten<br />

Gesellschaft, Familie, Religion, Nationalität und Kultur?<br />

Haben wir (k)eine Wahl? Ist nicht alles schon festgelegt in<br />

unserem Blut, wenn wir geboren werden? Alles bindet uns,<br />

legt uns fest, und es ist nicht leicht, diese Grenzen zu überwinden.<br />

Denn Körper und Geist bedingen sich gegenseitig,<br />

eines ist ohne das andere nicht denkbar. Und weiter fragt<br />

die Künstlerin: Wo ist dann die Brücke zwischen mir und<br />

der Welt? Und wo ist gar die Seele, falls es eine solche gibt?<br />

Wohin geht sie, wenn unser Körper verschwindet, wenn<br />

der Kreislauf irgendwann still steht? Wo gehe ich hin, wenn<br />

mein Körper aufgehört hat da zu sein? Wer also bin ich<br />

morgen? Who am I Tomorrow?<br />

Arbeitsanregungen<br />

» Beschreibe die Wirkung der Installation beim Umherschreiten im Raum.<br />

» Der Titel „Who am I Tomorrow?“ stellt eine zentrale Frage, über die<br />

wir Menschen uns immer wieder Gedanken machen. Tausche dich mit<br />

anderen darüber aus: Was sind deine Wünsche, was deine Hoffnungen,<br />

was deine Ängste? Wer möchtest du in Zukunft sein? Was erwartest du<br />

vom Leben?<br />

» Mit welchen künstlerischen Mitteln (Zeichnung, Malerei, Skulptur,<br />

Installation, Video...) ließe sich die Frage „Who am I Tomorrow?“ beantworten?<br />

Überlege dir Möglichkeiten und skizziere die Ideen.


Becoming Painting<br />

Das Ich und die Kunst werden Eins<br />

<strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong> handelt als Künstlerin stets radikal und<br />

kompromisslos. Dies zu wissen ist wichtig für das Verständnis<br />

ihres Gesamtwerks. In ihrem Studium bemerkte<br />

sie früh, dass ihr die Malerei als Mittel des Ausdrucks nicht<br />

entsprach. Deshalb wählte sie einen anderen Weg. Sie<br />

übergoss sich im Jahr 1994 in einer Kunstaktion (Performance)<br />

mit dem Titel „Becoming Painting“ selbst mit<br />

roter Farbe, um zu demonstrieren: Ich selbst werde zur<br />

Malerei. Die gewählte blutrote Emaillefarbe ist zudem giftig<br />

und greift die Haut an. Das betont zusätzlich die Radikalität<br />

ihres Handelns. Körper und Kunst werden dabei eins.<br />

Gedankenimpulse<br />

» Gibt es Bereiche im Leben, in denen auch du keinen Kompromiss zulässt?<br />

» Wofür würdest du dich gerne mit Leib und Seele einsetzen?<br />

Wo hat diese Einstellung Grenzen? Diskutiere darüber mit Freunden.<br />

<strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong>: „Becoming Painting“, 1994, Performance


Im Atelier<br />

von <strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong><br />

<strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong> lebt seit dem Jahr 1998 in Berlin. Sie stammt<br />

aus der japanischen Region Osaka. Ihre eigentliche Heimat<br />

aber ist die Kunst. Zunächst studierte sie ab 1992 an der<br />

Seika-Universität in Kyoto, danach wechselte sie an die<br />

Hochschule für bildende Künste nach Hamburg, außerdem<br />

studierte sie in Braunschweig und schließlich an der Universität<br />

der Künste in Berlin. In zahlreichen Gruppen- und<br />

Einzelausstellungen zeigte sie ihr Werk, im Jahr 2015 vertrat<br />

sie ihr Herkunftsland Japan auf der 56. Internationalen<br />

Biennale für Kunst in Venedig.<br />

„Ich brauche so etwa zwei bis drei Wochen, um meine<br />

Arbeiten zu realisieren, das kommt natürlich auf die Größe<br />

des Raumes an. Es macht mir Spaß, zu reisen und zu arbeiten,<br />

ich mache das sehr gerne.“ <strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong><br />

<strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong>, 2019<br />

<strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong> empfängt ihre Anregungen meist aus einer<br />

persönlichen Erfahrung, die sie berührt. Daraus leitet sie<br />

Aussagen über das Leben, den Tod und zwischenmenschliche<br />

Beziehungen ab, die uns alle betreffen können. Immer<br />

wieder geht es um Bewusstsein und unsere Erinnerung, die<br />

sich oft mit bestimmten Gegenständen verbindet. Diese<br />

Dinge sammelt sie und zeigt sie in ihren Installationen,<br />

Skulpturen, Zeichnungen und Videos.


Bekannt wurde <strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong> mit ihren raumfüllenden<br />

Fadenverspannungen, die wie Linien im Raum wirken und<br />

eine starke zeichnerische Wirkung entfalten.<br />

Für die Installation „Over the Continents“ (2008) hat sie<br />

Menschen gebeten ihre alten Schuhe mitzubringen und<br />

kleine Zettel hineinzulegen, auf denen die Beteiligten<br />

aufgeschrieben haben, was sie mit dem Schuh erlebten.<br />

Jeder Schuh wurde mit einem roten Wollfaden an der Wand<br />

befestigt. Das Geschriebene wurde zum Teil vorgetragen.<br />

„Viele Besucher haben die Zettel gelesen. So konnten wir<br />

uns gemeinsam erinnern“, berichtet die Künstlerin.<br />

Arbeitsanregungen<br />

<strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong>: „Over the Continents“, 2008<br />

» Welche Gegenstände aus deinem persönlichen Umfeld würdest du<br />

gerne sammeln, in ein Fadengeflecht einspinnen und ausstellen?<br />

» Experimentiere mit farbigen Schnüren im Raum. Erprobe verschiedene<br />

Anordnungen und beziehe dabei die Möbel als Objekte mit ein. Falls<br />

sich der Raum abdunkeln lässt, kannst du mit Lichtstrahlern weitere<br />

Effekte erzeugen.


Seven Dresses<br />

Die Verschmelzung von Körper,<br />

Objekt und Raum<br />

„Ein Faden kann menschliche Beziehungen ausdrücken.<br />

Wenn ich ihn verwende, kann ich nichts verbergen (...).<br />

Kommt etwas Hässliches, Wirres oder Verknotetes dabei<br />

heraus, dann müssen auch meine Gefühle so gewesen sein,<br />

während ich gearbeitet habe.“ <strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong><br />

<strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong>: „Seven Dresses“, 2015<br />

Arbeitsanregungen<br />

<strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong> wurde bekannt für ihre Verknüpfung<br />

von Objekt, Körper und Raum mittels raffinierter Fadeninstallationen.<br />

Dabei bezieht sie häufig Dinge wie Schuhe,<br />

Kleider, Betten oder sogar Klaviere mit ein. Für ihre<br />

Rauminstallation „Seven Dresses“ (2015) entwickelte<br />

sie tunnelartige Gänge, die sich über zwei Etagen eines<br />

Ausstellungsgebäudes erstreckten. An deren Ende fällt der<br />

Blick auf sieben Kleider, die inmitten des Fadengewebes<br />

geisterhaft zu schweben scheinen. Die unterschiedlich<br />

großen Baumwollkleider ähneln abgelegten Hüllen entschwundener<br />

Körper.<br />

» Die sieben Kleider könnten auch für die Mitglieder einer Familie, für Freunde oder die<br />

sieben Lebensalter stehen. Mit welchen Personen würdest du die Kleider in Gedanken<br />

„füllen“?<br />

» Versuche die durch die Fadenverspannung und das Licht erzielte Wirkung zu beschreiben.<br />

» Suche nach interessanten Motiven in der Installation im Kunstraum Dornbirn und fotografiere<br />

diese mit der Handykamera.


The Key in the Hand<br />

Schlüssel als Zugang zu uns selbst<br />

„Schlüssel haben vielfältige Bedeutungen, aber alle beziehen<br />

sich auf das Leben einer Person. Die Schlüssel speichern<br />

Erinnerungen aus unserem alltäglichen Leben. Wenn wir<br />

einen Schlüssel in der Hand haben, dann steht er sowohl für<br />

Sicherheit als auch für neue Möglichkeiten. Die Zukunft liegt<br />

gleichsam in unseren Händen.“ <strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong><br />

<strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong>: „The Key in the Hand“, 2015<br />

Arbeitsanregungen<br />

Die Künstlerin nutzt die Bedeutung der Dinge, um mittels<br />

ihrer Installationen ein Nachdenken über historische und<br />

gesellschaftliche Zusammenhänge anzuregen. Auf der<br />

56. Biennale in Venedig, einer internationalen Kunstschau,<br />

arbeitete <strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong> mit einer Unzahl von 50.000<br />

Schlüsseln, die von der Decke herabhingen und durch die ein<br />

großes Boot hindurch zu gleiten schien. Schlüssel sind ein<br />

starkes Symbol, denn sie sind für uns alle wichtig im Alltag:<br />

Sie schließen Häuser, Tagebücher, Tresore, sie stehen für<br />

Sicherheit, Schutz, für Privatheit und Besitz. Wir tragen sie<br />

wie einen Schatz mit uns, sie bergen viele Erinnerungen. Wir<br />

reichen sie weiter, vertrauen sie Menschen an. Ein Verlust<br />

schmerzt uns. Niemand wirft einen Schlüssel einfach weg.<br />

» Was verbindest du persönlich mit Schlüsseln? Verfasse eine kleine<br />

Geschichte. Überlege, welche weiteren Alltagsgegenstände für dich<br />

eine große Bedeutung haben.


Ausstellung<br />

<strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong><br />

Who am I Tomorrow?<br />

7. Juli – 12. November 2023<br />

Täglich 10 – 18 Uhr<br />

Impressum<br />

Vermittlungsheft für Kinder, Jugendliche und Erwachsene<br />

Inhalt und Gesamtkonzept: Martin Oswald, Weingarten<br />

Herausgeber: Kunstraum Dornbirn, Thomas Häusle<br />

Redaktion: Sina Wagner<br />

Gestaltung: proxi.me<br />

Alle Rechte vorbehalten © 2023<br />

Abbildungsverzeichnis<br />

Seite 2: <strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong>s „Wall“, 2010, video still. Seite 6: <strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong> „Becoming Painting“, 1994, The<br />

Australian National University School of Art, Canberra, Australia, Foto Ben Stone. Seite 8: Ana Mendieta<br />

„Silueta Works in Mexico“, 1973–77/1991, Courtesy Galerie Lelong, © The Estate of Ana Mendieta<br />

Collection, LLC. Seite 10: Louise Bourgeois „Legs“, 2001, © The Easton Foundation. Seite 12: <strong>Chiharu</strong><br />

<strong>Shiota</strong>, 2019, Foto Sunghi Mang|. Seite 14/15: <strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong> „Over the Continents“, 2008, The National<br />

Museum of Art, Osaka, Japan, Foto Sunhi Mang. Seite 16: <strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong> „Seven Dresses“, 2015,<br />

Stadtgalerie Saarbrücken, Foto Sunhi Mang. Seite 18: <strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong> „The Key in the Hand“, 2015,<br />

Japanischer Pavillon auf der 56. Biennale Venedig, Foto Sunhi Mang. Alle Abbildungen von <strong>Chiharu</strong><br />

<strong>Shiota</strong>: © die Künstlerin / Bildrecht Wien 2023<br />

Quellenangaben<br />

Seite 9, 13, 15: Katrin Schirner: „<strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong> – Eine Künstlerin zwischen Japan und Berlin“, Link<br />

abgerufen am 30.5.2023: www.artberlin.de/kuenstler/chiharu-shiota. Seite 11: „Louise Bourgeois.<br />

Suspension“, 2014, Meer Magazin, Link abgerufen am 6.6.2023: https://www.meer.com/en/11891-<br />

louise-bourgeois-suspension, © The Easton Foundation. Seite 16: „<strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong>: Seven Dresses“,<br />

hg. v. Andrea Jahn / Stadtgalerie Saarbrücken, Link abgerufen am 30.5.2023: https://stadtgalerie.<br />

saarbruecken.de/media/download- 61e972492b85e. Seite 19: Andrea Jahn: „A Conversation with<br />

<strong>Chiharu</strong> <strong>Shiota</strong>“, in: „The Soul Trembles“, Taipei Fine Arts Museum, 2021, S. 248-49.<br />

Kunstraum Dornbirn<br />

Montagehalle · Jahngasse 9<br />

6850 Dornbirn<br />

Österreich<br />

www.kunstraumdornbirn.at<br />

@kunstraumdornbirn

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