Autonomie stärken - Eine Orientierung für Mitarbeiter-/innen (2013)
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Vorwort<br />
„<strong>Autonomie</strong> <strong>stärken</strong>“<br />
Die Freiheit, über das eigene Handeln zu bestimmen, ist ein zentrales menschliches<br />
Grundanliegen und Bedürfnis. Dies gilt selbstverständlich auch <strong>für</strong> Menschen, die<br />
aufgrund von Pflegebedürftigkeit, geistiger oder seelischer Einschränkungen und<br />
Krankheiten in besonderem Maß auf Unterstützung und Hilfe durch andere Menschen<br />
angewiesen sind. Der Verlust an persönlicher Handlungsautonomie wird von den meisten<br />
Menschen als sehr schmerzlich, manchmal gar traumatisch erlebt.<br />
Unter Berücksichtigung der Goldenen Regel gilt es daher in Betreuungs- und Hilfssituationen,<br />
bei denen persönliche Handlungsautonomie aufgrund der tatsächlichen<br />
Gegebenheiten oder aber auch aufgrund sozialer Werthaltungen teilweise sehr stark<br />
eingeschränkt ist, ethisch zu reflektieren, wo jeweils die legitime Grenzziehung zwischen<br />
Aufrechterhaltung der persönlichen <strong>Autonomie</strong> und der Begrenzung derselben<br />
aus Gründen der persönlichen Schutz- und Fürsorgedimension angezeigt ist.<br />
Hierzu gibt es in der Praxis des sozialen Handelns der Stiftung Liebenau viele im Alltag<br />
vorkommende Konstellationen. <strong>Eine</strong> Reihe hiervon hat die Ethikkommission der Stiftung<br />
Liebenau in den Jahren 2009 und 2010 unter ethischen Gesichtspunkten reflektiert.<br />
Die Ergebnisse sind in dieser Broschüre wiedergegeben. Bei den jeweiligen Falldiskussionen<br />
wurden auch rechtliche Belange mit erörtert und im Zweifelsfall auch<br />
die unterschiedlichen Bewertungen in rechtlicher und ethischer Hinsicht dargestellt.<br />
Für die Stiftung Liebenau ist es höchst bedeutsam, ausgehend von ihrem Anspruch,<br />
der in ihrem christlichen Menschenbild wurzelt, die Freiheit des Menschen bestmöglich<br />
zu achten, respektieren und zu schützen. Dies bedeutet aber keinesfalls, dass sie<br />
sich damit nicht ihren Hilfe-, Schutz- und Fürsorgeaufgaben stellt und diese sehr gewissenhaft<br />
wahrnimmt. Da es nicht immer leicht ist, die Grenze zwischen den beiden<br />
bedeutenden und miteinander teilweise in Konflikt stehenden Wertebereichen auf<br />
Anhieb richtig zu erkennen und zu definieren, ist die systematische Befassung mit<br />
dieser das menschliche Grundverständnis betreffenden Frage von größter ethischer<br />
Bedeutsamkeit <strong>für</strong> die tägliche Praxis der sozialen Arbeit. Die Ethikkommission der<br />
Stiftung Liebenau liefert mit dieser Broschüre einen Beitrag zur <strong>Orientierung</strong> in der<br />
praktischen Arbeit und will auch weiterhin dieses Thema im Auge behalten.<br />
Bei zahlreichen Diskussionen zeigt es sich deutlich, wie unterschiedlich teilweise die<br />
Sichtweisen und Bewertungen zu einzelnen Fragestellungen sind und wie sehr der<br />
soziokulturelle Einfluss bei der ethischen Diskussion maßgeblich mitwirkt. Aus diesem<br />
Grund heraus haben wir uns auch darum bemüht, unterschiedliche Sichtweisen und<br />
Vorstellungen zu Wort kommen zu lassen. Die Ethikkommission der Stiftung Liebenau<br />
ist dankbar <strong>für</strong> Hinweise, Anregungen und Anstöße, die eine weitere Vertiefung<br />
dieses Themas ermöglichen.<br />
Liebenau, im September 2010<br />
Dr. Berthold Broll<br />
Vorsitzender der Ethikkommission<br />
4 5
Inhalt<br />
4<br />
Vorwort<br />
(7) Herr B. lernt Hilfsmaßnahmen anzunehmen<br />
6<br />
Einleitung: Der Anlass <strong>für</strong> das Interesse am Thema<br />
(8) Herr U. will Beifahrer werden<br />
(9) Sonjas Eltern wollen, dass sie sterben darf<br />
8<br />
1. „<strong>Autonomie</strong>“ im Verständnis der Gegenwart<br />
53<br />
2.2 <strong>Eine</strong> exemplarische Geschichte: <strong>Autonomie</strong> <strong>stärken</strong><br />
10<br />
1.1 Herkunft und elementarer Sinn von <strong>Autonomie</strong><br />
(1) Diagnosen<br />
10<br />
1.2 Der Kern des Begriffs: Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung<br />
(2) Vorgeschichte<br />
(1) <strong>Autonomie</strong> als Ausgestaltung des Personprinzips<br />
(3) Veränderungen durch ambulantes Begleiten in der eigenen Wohnung<br />
(2) Mindestvoraussetzungen <strong>für</strong> ein Recht auf <strong>Autonomie</strong><br />
(4) Hilfen des Fachdienstes „Ambulant Betreutes Wohnen“<br />
12<br />
1.3 <strong>Autonomie</strong> in rechtlicher Perspektive<br />
(5) Einbeziehen weiterer Unterstützungsmaßnahmen<br />
(1) Der <strong>Autonomie</strong>begriff im Öffentlichen Recht und im Privatrecht<br />
(2) Abgrenzung zur ethischen Sichtweise<br />
60<br />
3. Anregungen <strong>für</strong> die Praxis<br />
16<br />
1.4 <strong>Autonomie</strong> in ethischer Perspektive<br />
60<br />
3.1 Den Rechtsanspruch der Betroffenen anerkennen<br />
(1) „Ethische <strong>Autonomie</strong>“ im Kontext der Aufklärung<br />
(1) Recht auf Festlegung des Eigenwohls<br />
(2) Immanuel Kant: <strong>Autonomie</strong> als „<strong>Orientierung</strong> am allgemeinen Gesetz“<br />
(2) Recht auf Information<br />
(3) Zur Differenz von <strong>Autonomie</strong> und Selbstbestimmung<br />
(3) Recht auf möglichst geringe Einschränkung des Handlungsspielraums<br />
(4) Drei Einwände gegen <strong>Autonomie</strong><br />
(4) Recht auf Zustimmung zu oder Ablehnung von Handlungen Dritter<br />
(5) <strong>Autonomie</strong> zwischen Vernunft und Beziehung<br />
(5) Recht auf die Wahl zwischen möglichen Alternativen<br />
25<br />
1.5 <strong>Autonomie</strong> bei Menschen mit eingeschränkter Selbststeuerung<br />
61<br />
3.2 <strong>Mitarbeiter</strong><strong>innen</strong> und <strong>Mitarbeiter</strong> kompetent machen<br />
(1) Die Ambivalenz menschlichen Seins als Ausgangspunkt<br />
(1) Mit asymmetrischen Beziehungen bewusst umgehen<br />
(2) Die ethische Bewertung freiheitseinschränkenden Handelns<br />
(2) Ethische Urteilskompetenz gew<strong>innen</strong><br />
(3) Die Aufgaben von Sozialunternehmen zur Stärkung der <strong>Autonomie</strong><br />
(3) In Beratung mit dem Betroffenen und seinem Umfeld entscheiden<br />
(4) Mit der „zweitbesten Lösung“ leben lernen<br />
34<br />
2. Beispiele <strong>für</strong> das Ringen um <strong>Autonomie</strong><br />
64<br />
3.3 Leitfragen und Leitlinien zur Selbstbestimmung<br />
34<br />
2.1 Suche nach Lösungen in Dilemmasituationen<br />
(1) Verantwortung<br />
(1) Frau D. will nicht mehr essen<br />
(2) Regeln<br />
(2) Herr W. lehnt eine Nahrungssonde ab<br />
(3) Lebenschancen<br />
(3) Frau F. will sterben<br />
(4) Sensibilität und Kompetenz<br />
(4) Frau R. möchte selbständig bleiben<br />
(5) Frau S. darf nicht mehr in ihrem Zimmer rauchen<br />
68<br />
Hinweise<br />
(6) Herr A. braucht eine „Alkoholvereinbarung“<br />
Literatur<br />
6 7
<strong>Autonomie</strong> <strong>stärken</strong><br />
<strong>Eine</strong> <strong>Orientierung</strong> <strong>für</strong> <strong>Mitarbeiter</strong><strong>innen</strong> und <strong>Mitarbeiter</strong> der Stiftung Liebenau<br />
Einleitung: Der Anlass <strong>für</strong> das Interesse am Thema<br />
Jeder Mensch soll autonom, d.h. selbstbestimmt, denken und handeln – das ist ein<br />
Prinzip unseres politischen und gesellschaftlichen Lebens. Gilt dieses Prinzip wirklich<br />
<strong>für</strong> alle Menschen? Auch <strong>für</strong> jene, die nur eingeschränkt zur Selbststeuerung fähig<br />
sind? Noch um die Mitte des 20. Jahrhunderts war die Leitidee im Umgang mit geistig<br />
behinderten Menschen die der „Verwahrung“: sie sollten in Anstalten und psychiatrischen<br />
Kliniken gepflegt, beschützt und bewahrt werden. Erst in den Jahren um 1960<br />
trat nach und nach der Gedanke der Förderung und Therapie in den Vordergrund,<br />
der schließlich zwei Jahrzehnte später mit Begriffen wie „Entpädagogisierung“,<br />
Normalisierung und Integration dem Leitbild der Selbstbestimmung auch <strong>für</strong> geistig<br />
behinderte Menschen zum Durchbruch verhalf. Mit dialogischer Begleitung sollten<br />
auch diese – so weit irgend möglich – befähigt werden, ihr eigenes Lebenskonzept zu<br />
entwerfen und zu verwirklichen.<br />
In den Einrichtungen der Stiftung Liebenau sind die Möglichkeiten und Grenzen, die<br />
Leitidee der Selbstbestimmung zu verwirklichen, jeden Tag erfahrbar. „<strong>Autonomie</strong>“<br />
ist in der Behindertenhilfe wie in der Altenhilfe, im Krankenhaus wie im Hospiz, in<br />
Bildungseinrichtungen wie in Werkstätten, in den Heimen wie in der Verwaltung als<br />
Thema allgegenwärtig – meist stillschweigend im alltäglichen Handeln, oft aber auch<br />
ausdrücklich in den Überlegungen und Entscheidungen der <strong>Mitarbeiter</strong><strong>innen</strong> und der<br />
zu Begleitenden. Die „Betreuungslandschaft“ hat sich längst über das Angebot an<br />
klassischen Hilfen <strong>für</strong> geistig behinderte Menschen hinaus erweitert. Die Fähigkeit<br />
zur Selbstbestimmung ist häufig durch Altersdemenz, durch Alkohol-, Nikotin oder<br />
Medikamentensucht beeinträchtigt. Zahlreiche Menschen haben einen besonderen<br />
Hilfebedarf. Die Pflegenden werden einerseits mit der Überzeugung vom Wert eines<br />
über Jahre andauernden Lebens im Wachkoma, andererseits aber ebenso mit dem<br />
Wunsch nach aktiver Sterbehilfe <strong>für</strong> einen schwerstbehinderten Säugling konfrontiert.<br />
In all diesen komplexen Situationen stellt sich <strong>für</strong> die <strong>Mitarbeiter</strong> die Frage: wie<br />
verhalten wir uns richtig? Und vor allem: was gilt in Konfliktfällen, wenn die Wünsche<br />
von Patienten, die Vorstellungen der Angehörigen, die Überzeugungen des Personals<br />
und die ethischen Leitsätze der Stiftung nicht in Übereinstimmung zu bringen sind?<br />
Die Ethikkommission der Stiftung Liebenau hat in mehr als zehn Sitzungen, die sich<br />
über den Zeitraum von September 2008 bis Juli 2010 erstreckten, zahlreiche Fallbeispiele<br />
aus verschiedenen Einrichtungen besprochen und vor dem Hintergrund ihres<br />
ethischen Leitbildes diskutiert. Sie will mit diesem Text die Ergebnisse ihrer Beratungen<br />
zusammenfassen und den <strong>Mitarbeiter</strong>n eine <strong>Orientierung</strong> geben, wohl wissend,<br />
dass die Praxis immer noch einmal komplizierter ist als die am „runden Tisch“ gefundene<br />
Lösung.<br />
Die Ethikkommission versteht diese Schrift als Materialsammlung, in der jede Leserin<br />
und jeder Leser das finden kann, was <strong>für</strong> sie oder ihn besonders wichtig ist. Wer<br />
Recht und Grenzen des Begriffs „<strong>Autonomie</strong>“ in theoretisch begründeten Überlegungen<br />
nachvollziehen will, kann ebenso fündig werden wie der, dem es um praktische<br />
Beispiele geht, die – kritisch kommentiert – ihm in seiner eigenen Praxis helfen; aber<br />
auch der, der nach den ethischen Maßstäben und dem Menschenbild einer Stiftung<br />
fragt, die die <strong>Autonomie</strong> der ihr anvertrauten Menschen fördern will.<br />
Im Anschluss an diese Einleitung wird daher zunächst der Begriff der „<strong>Autonomie</strong>“<br />
im Verständnis der Gegenwart geklärt. Er wird von „Fremdbestimmung“ abgegrenzt,<br />
rechtlich und ethisch vertieft und besonders im Blick auf Menschen mit eingeschränkter<br />
Fähigkeit zur Selbststeuerung erörtert (Kap. 1). Die gelingende Einlösung<br />
des Anspruchs auf <strong>Autonomie</strong>, wie sie im tagtäglichen Handeln in unseren Einrichtungen<br />
das Ziel ist, wird dann in neun Fallbeispielen vorgestellt. Dabei wird besonders<br />
auf Konfliktfälle geachtet, die die Kommission eingehend diskutierte und <strong>für</strong> die sie<br />
Lösungsvorschläge unterbreitete. <strong>Eine</strong> Geschichte, aus der exemplarisch deutlich<br />
wird, wie die <strong>Autonomie</strong> von Menschen mit eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten<br />
gestärkt werden kann, rundet die Sammlung der Beispiele ab (Kap. 2). Aus den Beispielen<br />
ergeben sich schließlich Anregungen <strong>für</strong> die Praxis, Kriterien und Leitlinien, die<br />
dazu beitragen sollen, die <strong>Autonomie</strong> der in den Einrichtungen der Stiftung Liebenau<br />
begleiteten Menschen systematisch zu <strong>stärken</strong> (Kap. 3).<br />
8 9
1 „<strong>Autonomie</strong>“ im Verständnis der Gegenwart<br />
1.1 Herkunft und elementarer Sinn von <strong>Autonomie</strong><br />
<strong>Autonomie</strong> kann als Leitidee der Moderne, als einer der zentralen Begriffe zur Kennzeichnung<br />
des Selbstverständnisses der Neuzeit gelten. Staaten, Gruppen und Einzelne<br />
wollen selbstbestimmt handeln. Dabei tritt neben die politische Dimension des<br />
Begriffs, die seit dem Altertum im Vordergrund stand, die Dimension der <strong>Autonomie</strong><br />
des Individuums, die sich insbesondere rechtlich und ethisch entfaltet.<br />
Das Wort <strong>Autonomie</strong> kommt aus dem Griechischen; es setzt sich zusammen aus<br />
autos = selbst und nomos = Gesetz. Der elementare Sinn des Wortes bedeutet also<br />
Selbstgesetzgebung, d.h. jemand gibt (oder ist) sich selbst (das) Gesetz. Schon diese<br />
Herkunft des Wortes lässt erkennen, dass der Begriff einerseits Sachverhalte<br />
beschreibt (deskriptiver Aspekt), andererseits Zusammenhänge regelt (normativer<br />
Aspekt). Übersetzt bzw. umschrieben wird er meist mit Worten wie Selbständigkeit,<br />
Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstbestimmung oder Selbstverantwortung. Die darin<br />
zum Ausdruck kommende Bandbreite von Bedeutungen lässt sich durch unterschiedliche<br />
Anwendungsbereiche hindurch verfolgen: Wir wollen über uns selbst bestimmen<br />
im politischen Raum wie auch im rechtlichen und im gesundheitlichen Bereich, im<br />
wirtschaftlichen, kulturellen oder religiösen Leben.<br />
1.2 Der Kern des Begriffs: Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung<br />
Der den verschiedenen Anwendungsbereichen gemeinsame Kern des Begriffs <strong>Autonomie</strong><br />
liegt darin, dass er <strong>für</strong> Selbstbestimmung und Selbstständigkeit steht; sein<br />
Gegensatz ist Fremdbestimmung (Bestimmtwerden durch eine fremde Macht) und<br />
Abhängigkeit von Anderen. Von Fremdbestimmung - sei sie naturhafter, sozialer<br />
oder politischer Art – unabhängig zu sein, bedeutet positiv, selbst seinem Tun den<br />
bestimmten Inhalt zu geben.<br />
(1) <strong>Autonomie</strong> als Ausgestaltung des Personprinzips<br />
Dort, wo Menschen in besonderer Weise der Verfügungsmacht von anderen Menschen<br />
oder von Institutionen unterliegen, gewinnt der Begriff der <strong>Autonomie</strong> heute<br />
Aktualität. Dies gilt gerade in den Bereichen des Gesundheitswesens, der Pflege und<br />
Betreuung. Die Selbstbestimmung, die <strong>für</strong> die Kranken, Betreuten und zu Versorgenden<br />
gefordert wird, meint zunächst ein einfaches Recht auf Selbstbestimmung gegenüber<br />
den Personen und Institutionen, mit denen sie tagtäglich zu tun haben.<br />
Insofern stützt sich die Forderung nach <strong>Autonomie</strong> des Individuums auf die Grundund<br />
Menschenrechte. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember<br />
1948 spricht in ihrer Präambel von der „Anerkennung der angeborenen Würde<br />
und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der<br />
Menschen“, die durch die Herrschaft des Rechts zu schützen seien. Sie bekennt sich<br />
zum „Glauben an die grundlegenden Menschenrechte, an die Würde und den Wert der<br />
menschlichen Person“.<br />
Das Grundgesetz <strong>für</strong> die Bundesrepublik Deutschland entfaltet die Grundrechte in<br />
den Artikeln 1 – 19. Als Persönlichkeitsrechte nennt der Artikel 2:<br />
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht<br />
die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder<br />
das Sittengesetz verstößt.<br />
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der<br />
Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen<br />
werden.<br />
Es liegt nahe, das Recht des kranken und einer Betreuung bedürftigen Menschen im<br />
Sinne eines inhaltlich ausgestalteten Personprinzips zu verstehen, d.h. als Anerkennung<br />
der Würde und des Werts seiner Person. Das bedeutet umgekehrt, dass sich<br />
die Fürsorge nicht von den guten Absichten des Helfers, sondern nur vom Recht des<br />
Betreuten auf Achtung seiner <strong>Autonomie</strong> bestimmen lassen darf.<br />
(2) Mindestvoraussetzungen <strong>für</strong> ein Recht auf <strong>Autonomie</strong><br />
Damit eine solche <strong>Autonomie</strong> verwirklicht werden kann, müssen nach Meinung der<br />
theologischen Ethikerin und Psychologin Monika Bobbert beim betreuten Menschen<br />
mindestens zwei Bedingungen erfüllt sein:<br />
10 11
1. Er muss über Freiheit bzw. Freiwilligkeit im Sinne einer gewissen Unabhängigkeit<br />
von kontrollierenden Einflüssen verfügen. Mit dieser sehr vorsichtigen Formulierung<br />
wird anerkannt, dass es eine absolute Unabhängigkeit eines Menschen nicht gibt,<br />
wohl aber eine relative, die umgekehrt davon ausgeht, dass jemand nicht völlig von<br />
außen bestimmt ist, sondern einen gewissen Spielraum eigener Entscheidungsfreiheit<br />
besitzt. Die Einwände gegen diese Sicht werden später noch zu diskutieren sein.<br />
2. Er muss die Fähigkeit besitzen, bestimmte Ziele zu setzen und zu verfolgen. Diese<br />
zweite Bedingung steht in Wechselbeziehung zur ersten: Während jene den Blick nach<br />
außen richtet, beleuchtet diese die Innenseite von Entscheidungsvorgängen. Wer<br />
selbst Ziele setzen und verfolgen kann, realisiert den Spielraum der eigenen Entscheidungsfreiheit.<br />
Beide Bedingungen müssen im Blick auf die Situation der in den Einrichtungen der<br />
Stiftung Liebenau betreuten Menschen mit eingeschränkter Fähigkeit zur Selbststeuerung<br />
weiter unten noch eigens erörtert werden.<br />
Das Recht des betreuten Menschen auf Achtung seiner <strong>Autonomie</strong> lässt sich zusammenfassend<br />
sowohl als negatives wie als positives Recht fassen:<br />
Als negatives bzw. Abwehrrecht bedeutet es, über den eigenen Leib zu bestimmen<br />
und vor Eingriffen in die körperliche und seelische Integrität geschützt zu sein.<br />
Als positives Recht bedeutet es, <strong>für</strong> sich und seine Lebensführung wichtige Wünsche<br />
und Ziele selbst bestimmen zu können. Hierzu gehören besonders das Recht auf<br />
Informationen und das Recht auf Alternativen.<br />
1.3 <strong>Autonomie</strong> in rechtlicher Perspektive<br />
(1) Der <strong>Autonomie</strong>begriff im Öffentlichen Recht und im Privatrecht<br />
Der Begriff der <strong>Autonomie</strong> wird im Wesentlichen in zwei Teilbereichen des Rechts<br />
verwendet. Er findet sich im Öffentlichen Recht, das sich mit den Rechtsbeziehungen<br />
zwischen Hoheitsträgern und den ihnen unterworfenen Individuen wie mit den<br />
Rechtsbeziehungen zwischen den verschiedenen Hoheitsträgern befasst. Er spielt<br />
auch eine Rolle im Privatrecht, das die Beziehungen gleichgeordneter natürlicher wie<br />
juristischer Personen regelt. Er begegnet somit in unterschiedlicher Weise als Schutzgegenstand<br />
von Verfassungsrechtssätzen. Im Bereich der Grundrechte bezeichnet er<br />
sowohl die geschützte Freiheit privatrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Gestalt<br />
als auch die grundsätzliche Staatsfreiheit schutzbedürftiger Einrichtungen oder Körperschaften<br />
im Dienste gesellschaftswichtiger Selbstverwaltungsbereiche, ebenso<br />
die Selbstbestimmung des Einzelnen im Rechtsleben.<br />
Die Privatautonomie stellt damit eines der grundlegenden Ordnungsprinzipien der<br />
geltenden Rechtsordnung dar, weil sie den Menschen als selbständig handelndes<br />
Wesen anerkennt und es ihm ermöglicht, seine Rechtsbeziehungen mitzugestalten<br />
und selbst eine Regelung seiner Lebensverhältnisse zu treffen. Sie wird deshalb als<br />
Entsprechung zur Anerkennung der menschlichen Freiheit bezeichnet. Der Mensch,<br />
der in ständiger Kommunikation mit anderen lebt, bedarf der Privatautonomie, um<br />
in den ihn unmittelbar angehenden Angelegenheiten frei entscheiden, sie in eigener<br />
Verantwortung gestalten zu können. Denn nur wenn er dazu in der Lage ist, vermag<br />
er sich als Person zu entfalten und zu behaupten.<br />
<strong>Autonomie</strong> steht auch aus rechtlicher Perspektive <strong>für</strong> Selbstbestimmung und<br />
Selbständigkeit und lässt sich aus dem „Nichtvorhandensein“ von Fremdbestimmung<br />
definieren. Fremdbestimmung wird aber nicht nur als Bestimmtwerden durch eine<br />
fremde Autorität und Abhängigkeit von anderen verstanden, sondern auch als Bestimmtwerden<br />
durch einen an sich gleich geordneten Anderen, der sein faktisches<br />
– nicht rechtliches - Übergewicht durchsetzt. Weder das öffentliche Recht noch das<br />
Privatrecht fragen danach, ob die Selbstbestimmung „ethisch qualifiziert“ im Sinne<br />
des kategorischen Imperativs von Kant ist, um als <strong>Autonomie</strong> anerkannt zu werden.<br />
(2) Abgrenzung zur ethischen Sichtweise<br />
Im Öffentlichen Recht umschreibt <strong>Autonomie</strong> eine bestimmte Qualität von Organisationsformen.<br />
Im Privatrecht wird nicht die Qualität der Willensbildung des selbstbestimmt<br />
Handelnden betrachtet wird; so ist auch die Unabhängigkeit des Willens von<br />
jeglichen materialen Bestimmungsgründen im Sinne des kantischen <strong>Autonomie</strong>be-<br />
12 13
griffs nicht Voraussetzung <strong>für</strong> Selbstbestimmung und <strong>Autonomie</strong>. Deshalb wird hier<br />
(mit Ausnahme der Irrtumslehre in § 119 ff BGB) nicht nach den Bedingungen der<br />
Möglichkeit moralischen Handelns gefragt.<br />
Folgendes Beispiel möge dies verdeutlichen: <strong>Eine</strong> Ehefrau verbürgt sich gegenüber<br />
der Bank ihres Mannes zur Sicherung eines ihm gewährten Darlehens, obwohl sie als<br />
Hausfrau und Mutter zweier Kinder im Zeitpunkt der Bürgschaftsübernahme ohne<br />
Einkommen und Vermögen ist und auch später nach Aufnahme einer zumutbaren<br />
Erwerbstätigkeit nie in der Lage sein wird, sich von der real gewordenen Bürgschaftsschuld<br />
zu befreien. Wenn die Bank nicht zur Übernahme der Bürgschaft gedrängt<br />
oder auf andere Weise die Entscheidungsfreiheit der Frau beeinträchtigt hat,<br />
Auskunftspflichten nicht verletzt und das Haftungsrisiko nicht beschönigt hat, hat<br />
die Frau autonom „aus rechtlicher Perspektive“ gehandelt. Ob sie allerdings, weil sie<br />
sich aus – von ihr möglicherweise missverstandenen – religiösen oder moralischen<br />
Beweggründen veranlasst sah, die Erklärung gegenüber der Bank abzugeben, dem<br />
kategorischen Imperativ von Kant folgend „ethisch qualifiziert“ selbstbestimmt gehandelt<br />
hat, mag die ethische Sicht des <strong>Autonomie</strong>begriffs beantworten. Dieser wird<br />
es möglicherweise gelingen, die Frage nach dem „ethisch qualifiziert selbstbestimmten“<br />
Handeln zu beantworten, wenn die einzelnen Beweggründe (Hilfestellung <strong>für</strong><br />
den Ehepartner, Verantwortung <strong>für</strong> die übrigen Familienmitglieder u.a.m.) <strong>für</strong> das<br />
vormalige Tun (Übernahme der Bürgschaft <strong>für</strong> den Mann) abgewogen werden.<br />
Moral und Recht sind zwar begrifflich und vor allem im Bezugspunkt zu trennen;<br />
zwischen beiden besteht aber dennoch eine Beziehung. Denn Recht lässt sich nach<br />
dem Verständnis des Grundgesetzes in weiten Bereichen nicht ohne jeden Bezug auf<br />
sog. „überpositive Rechtsgrundsätze“ definieren. Das Grundgesetz vollzieht hier eine<br />
bewusste Abkehr vom Rechtspositivismus, d.h. die Geltung von Rechtsnormen ist<br />
nicht allein darauf zurückzuführen, dass sie von einer rechtsetzenden Institution erlassen<br />
wurden. Während sich aber die Moral an die Gesinnung des Menschen richtet,<br />
bezieht sich das Recht auf das äußere Verhalten des Menschen und knüpft an dieses<br />
an. Besonders deutlich wird dies an der Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag<br />
nach den §§ 211 und 212 des Strafgesetzbuchs sowie an der Begründung <strong>für</strong> die<br />
Strafbarkeit des Versuchs.<br />
Das Recht unterscheidet sich von der Moral auch durch die Art, wie es Geltung fordert<br />
und in einem normierten Verfahren durch von der Gemeinschaft autorisierte<br />
Organe zwangsweise durchgesetzt wird. Moralisches Verhalten ist in der Gemeinschaft<br />
nur erzwingbar, soweit es durch das Recht gefordert wird. Es ist zudem in der<br />
Regel auch nur mittelbar zu erzwingen durch das Aussetzen von Sanktionen <strong>für</strong> den<br />
Fall „unmoralischen“ Verhaltens. In diesem Zusammenhang ist dann als „Recht“ nicht<br />
nur die Gesamtheit der von rechtsetzenden Institutionen geschaffenen Rechtsregeln<br />
anzusehen, sondern auch der Vertrag, der – wie beispielsweise derjenige zwischen<br />
Patient oder betreuter Person und beschützender Einrichtung – zwischen natürlichen<br />
und auch juristischen Personen geschlossen wird und der sowohl Verhaltensmaßregeln<br />
als auch Sanktionen vorsehen kann.<br />
Recht entstammt auch oft moralischen und ethischen Bewertungen, benötigt diese<br />
aber nicht immer. Ob sich das gesetzgebende Organ einer Gemeinschaft dazu entschließt,<br />
im Straßenverkehr den Rechts- oder Linksverkehr einzuführen, unterliegt<br />
keiner Wertung nach ethischen oder moralischen Gesichtspunkten. Inwieweit der<br />
staatliche Gesetzgeber überpositiven Rechtsgrundsätzen (abgeleitet aus den Zehn<br />
Geboten oder aus anderen Quellen) beispielsweise durch die Strafgesetzgebung Geltung<br />
verschafft, ist jedoch Ergebnis einer ethischen Bewertung.<br />
Weitere Beispiele mögen die unterschiedlichen Sichtweisen offen legen:<br />
1. Der aus der Ehe ausbrechende Ehepartner verstößt weder mit dem gedachten<br />
noch mit dem versuchten noch mit dem vollendeten Ehebruch gegen weltliche<br />
Rechtsregeln und handelt aus rechtlicher Perspektive auch autonom, weil nicht<br />
fremd bestimmt. Das moralische und ethische Verdikt - auch im Sinne des<br />
Kant’schen Ethikbegriffs - liegt allerdings nahe, zumal wenn die Auswirkungen auf<br />
andere Familienmitglieder, insbesondere Kinder, in die Bewertung mit einbezogen<br />
werden.<br />
14 15
2. Der kettenrauchende Patient und Familienvater, bei dem bereits ein Lungenkarzinom<br />
diagnostiziert wurde, der sich gleichwohl aber nicht zur Beendigung des<br />
augenfällig gewordenen selbstschädigenden Verhaltens entschließen kann, verstößt<br />
gegen keine Rechtsregeln und handelt - vom Gesichtspunkt der möglicherweise<br />
auch schon pathologischen Sucht abgesehen - autonom im Rechtssinn. Die<br />
in diesem Verhalten zum Ausdruck kommende Verantwortungslosigkeit mag aber<br />
im Sinne des kategorischen Imperativs von Kant wohl kaum jemand „zu der Maxime<br />
erheben, von der gewollt sei, sie solle ein allgemeines Gesetz sein“.<br />
3. Der in eine beschützende Einrichtung aufgenommene Patient oder Betreute,<br />
der leidenschaftlich gerne raucht, handelt aus rechtlicher Sicht autonom, auch<br />
wenn er um die selbstschädigende Wirkung des Rauchens weiß. Er handelt auch<br />
dann noch aus rechtlicher Sicht autonom, wenn er mit seinem Tun andere Patienten<br />
oder Betreute oder/und <strong>Mitarbeiter</strong> der Einrichtung belästigt, gefährdet<br />
oder gar schädigt. Seine <strong>Autonomie</strong> bedarf aber einer Begrenzung, die zu einem<br />
Ausgleich zwischen den widerstreitenden Grundrechten führt. Dies kann durch<br />
vertraglich vereinbarte Verhaltensmaßregeln geschehen oder auch durch vertraglich<br />
(bis hin zur Kündigung im Extremfall) oder gesetzlich (staatliche Strafe im Fall<br />
der Brandstiftung) vorgesehene Sanktionen.<br />
1.4 <strong>Autonomie</strong> in ethischer Perspektive<br />
(1) „Ethische <strong>Autonomie</strong>“ im Kontext der Aufklärung<br />
Der Gedanke der ethischen <strong>Autonomie</strong> erhielt seine Prägung im Kontext der Aufklärung<br />
des 18. Jahrhunderts. Ursache war zum einen die Erfahrung der durch die<br />
Reformation ausgelösten religiösen Gegensätze bis hin zu den Konfessionskriegen,<br />
die zur Anfrage an den Absolutheitsanspruch der Religionen und zur Religionskritik<br />
führte. <strong>Eine</strong> zweite Ursache, die tiefer greift und die vielleicht überhaupt erst zum<br />
Ende des Mittelalters führte, war die Renaissance mit ihrer <strong>Orientierung</strong> am griechischen<br />
Menschenbild und der natürlichen Würde des Menschen. Jedenfalls wird durch<br />
die Aufklärung der Mensch zum ethischen Subjekt, d.h. er selbst fragt nach dem Guten,<br />
ohne sich dabei von anderen Instanzen als seiner Vernunft leiten zu lassen. Das<br />
berühmte Wort Immanuel Kants (1724 – 1804), Aufklärung sei der „Ausgang des<br />
Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“, und ihr Leitspruch sei<br />
„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, umreißen das neue Programm.<br />
Der Gegensatz zwischen <strong>Autonomie</strong> und Fremdbestimmung hebt in diesem<br />
Zusammenhang vor allem darauf ab, dass im Zustand der Fremdbestimmung andere<br />
Autoritäten mir sagen, was ich zu tun habe, nicht aber die Autorität meiner eigenen<br />
(praktischen) Vernunft.<br />
(2) Immanuel Kant: <strong>Autonomie</strong> als „<strong>Orientierung</strong> am allgemeinen Gesetz“<br />
Kant hat der Ethik mit dieser Berufung auf die praktische Vernunft neue Grundlagen<br />
gegeben, indem er den Begriff des Guten als Maßstab <strong>für</strong> das Handeln neu fasst. In<br />
seiner Schrift „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ sagt er, „allein ein guter Wille“<br />
könne „ohne Einschränkung <strong>für</strong> gut“ gehalten werden. Denn gute Eigenschaften wie<br />
Verstand, Mut, Entschlossenheit, Beharrlichkeit können „ohne Grundsätze eines guten<br />
Willens (...) höchst böse werden“. Ein guter Wille ist dadurch bestimmt, dass er sich<br />
an Grundsätzen des Handelns orientiert, die ihrerseits dem objektiven Prinzip des<br />
Wollens, dem Gesetz, entsprechen. Der berühmte „kategorische Imperativ“ Kants sagt<br />
also: Sittlich gut ist das Handeln nach einem Grundsatz, von dem ich wollen kann, er<br />
solle „ein allgemeines Gesetz“ werden. Wer in seinem Handeln diesem Gesetz folgt<br />
und nicht seinen Neigungen, handelt aus Pflicht.<br />
In einer anderen Fassung seines „kategorischen Imperativs“ fordert Kant: „Handle so,<br />
dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern,<br />
jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ Zugleich sichert<br />
Kant durch die erste Fassung des „kategorischen Imperativs“ die universale Form<br />
dieses Anspruchs: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen<br />
kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“. Der Gedanke der Gleichheit aller, dem<br />
schon Aristoteles durch die verteilende und die ausgleichende Funktion der besonderen<br />
Gerechtigkeit Beachtung schenkte, wird bei Kant formalisiert, damit rational<br />
16 17
egründet und universalisiert.<br />
Das Gute anzustreben heißt nach Kant also, den Willen am allgemeinen Gesetz auszurichten,<br />
das mich absolut verpflichtet. In diesem Sinne ist das rechte Ethos <strong>für</strong> Kant<br />
„autonom“: es unterliegt nicht äußeren Bestimmungen, sondern dem Anspruch der<br />
eigenen Vernunft. Selbstbestimmung, ethische <strong>Autonomie</strong> und damit Freiheit bestehen<br />
darin, sich an dem als vernünftig und deshalb verpflichtend erkannten allgemeinen<br />
Gesetz zu orientieren. Bis heute folgt die Ethik diesem Kant’schen Begriff von<br />
<strong>Autonomie</strong>.<br />
(3) Zur Differenz von <strong>Autonomie</strong> und Selbstbestimmung<br />
In unserer Gesellschaft wird <strong>Autonomie</strong> oft anders verstanden, nämlich als Möglichkeit<br />
und Entschlossenheit, dem eigenen Willen zu folgen. Dabei wird jedoch übersehen,<br />
dass ethisch verstanden nicht einfach jede Art von Selbstbestimmung <strong>Autonomie</strong><br />
bedeutet, sondern nur eine ethisch qualifizierte Selbstbestimmung. Mit „ethisch<br />
qualifiziert“ ist gemeint, dass die Ausrichtung des Wollens den von Kant genannten,<br />
oben dargelegten Kriterien folgt.<br />
Drei verbreitete Verständnisse von <strong>Autonomie</strong> erweisen sich im Sinne Kants als Missverständnisse,<br />
da sie diesen ethischen Kriterien nicht gerecht werden:<br />
Ein Missverständnis, das leicht zu widerlegen ist, sieht <strong>Autonomie</strong> dort gegeben,<br />
wo man den jeweiligen Launen, Einfällen oder Stimmungen folgt. Dass solches Verhalten<br />
nicht <strong>Autonomie</strong>, sondern Willkür ist, das nicht zur Freiheit, sondern letztlich<br />
zum Selbstwiderspruch führt, lehrt uns das Nachdenken über uns selbst. Solches<br />
Verhalten ist in Wahrheit „Heteronomie“ - wörtlich: Fremdbestimmung. Diese gibt<br />
es in vielerlei Formen. So gut, wie mich die Person eines Anderen – eines Stars oder<br />
Idols - fremdbestimmen kann, so gut kann ich auch der Herrschaft der Werbung, des<br />
Konsums, der Sucht verfallen – oder einfach der Laune des Augenblicks.<br />
In den Medien ist gelegentlich von „autonomen Gruppen“ die Rede, die sich bei<br />
Demonstrationen durch Gewaltanwendung gegenüber Polizeibeamten kennzeichnen.<br />
Ihre „<strong>Autonomie</strong>“ besteht in der Absage an die Gesetze – zumindest an die bei uns<br />
geltenden Gesetze. Wo dies nicht bloßer Lust am Chaos entspringt, steht eine (oft<br />
nebulöse) Vorstellung von einer besseren, gerechteren Ordnung dahinter, die sich jedoch<br />
allein schon durch ihren Umgang mit der Gewalt, mit dem Leben und Eigentum<br />
Anderer als ethisch nicht legitimierbar erweist.<br />
Kann aber <strong>Autonomie</strong> – eine dritte Variante – nicht darin bestehen, dass man sich<br />
dem Lebensmotto vieler Menschen in unserer „Spaßgesellschaft“ anschließt? „Das Leben<br />
soll Spaß machen“, lautet ihre Maxime; anspruchsvoller formuliert: „Der Mensch<br />
folgt von Natur aus seinem je eigenen Vergnügen und sollte daran weder gehindert<br />
noch aus diesem Grunde mit einem schlechten Gewissen belastet werden“. Ob eine<br />
solche Maxime hinreicht, auch die moralischen Krisensituationen des Lebens, das eigene<br />
Misslingen oder das Scheitern von Beziehungen, zu verarbeiten, muss bezweifelt<br />
werden.<br />
(4) Drei Einwände gegen <strong>Autonomie</strong><br />
Vor allem drei Einwände werden gegen die <strong>Autonomie</strong> als Prinzip ethischen Denkens<br />
und Handelns erhoben. Sie erweisen sich bei näherer Betrachtung jedoch als nicht<br />
stichhaltig.<br />
Der erste, derzeit häufig diskutierte Einwand kommt aus neurobiologischer Sicht.<br />
Einige Vertreter der Hirnforschung stellen die <strong>Autonomie</strong> des Bewusstseins in Frage;<br />
sie bestreiten damit auch die Willensfreiheit und letztlich die Verantwortungs- und<br />
Schuldfähigkeit des Menschen. Gerhard Roth und Wolf Singer, die gegenwärtig bekanntesten<br />
Vertreter dieser Position, berufen sich auf experimentelle Ergebnisse,<br />
wonach Vorgänge wie etwa das Bewusstsein, eine freie Entscheidung zu treffen, in<br />
Wahrheit durch vorangehende neurobiologische, d.h. in den Nervenzellen des Gehirns<br />
ablaufende Prozesse, verursacht seien. Die „Letztentscheidung“, so Roth, fällt ein bis<br />
zwei Sekunden, bevor wir diese Entscheidung bewusst wahrnehmen und den Willen<br />
haben, die Handlung auszuführen. Die Vorstellung einer freien Willensentscheidung<br />
erscheint also nach diesen Ergebnissen der Hirnforscher als Täuschung. Das Freiheitsbewusstsein,<br />
sagen Roth und Singer, ist nur ein nachgeordneter Reflex von Vorgän-<br />
18 19
gen in den Nervenzellen des Gehirns.<br />
Gegen diese These wird aus philosophischer Sicht, etwa von Jürgen Habermas, geltend<br />
gemacht, sie missachte, dass wir <strong>für</strong> das Verstehen menschlicher Lebensäußerungen<br />
(z.B. der Entscheidung <strong>für</strong> ein bestimmtes Handeln) andere Kategorien brauchen<br />
als <strong>für</strong> das Erklären physikalischer Vorgänge. <strong>Eine</strong> Denkweise, die die gesamte<br />
Wirklichkeit – also auch Phänomene wie Freiheit, Liebe, Hoffnung – nach dem Muster<br />
von mechanischen, naturhaften Vorgängen erklären wolle, greife zu kurz. Deshalb,<br />
so Habermas, können diese menschlichen Verständigungsprozesse (wie etwa das Bewusstsein:<br />
ich handle aus Freiheit) selbst nicht im Ganzen als „objektive“, physikalische<br />
Vorgänge, beschrieben werden. Aus diesem Grunde kann auch eine rein physikalische<br />
Sicht auf die Welt nur eine eingeschränkte Geltung beanspruchen.<br />
Die Philosophie spricht freilich hinsichtlich der Vorstellung von <strong>Autonomie</strong> nicht<br />
mit einer Stimme. Denn der zweite Einwand gegen das Vorhandensein von <strong>Autonomie</strong><br />
kommt aus philosophischer Sicht. Aus dem Blickwinkel mancher Vertreter moderner<br />
Theorien des Menschseins, auch der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule wird<br />
eingewandt, <strong>Autonomie</strong> sei eine Illusion. Die Fremdbestimmung, die Ohnmacht gegenüber<br />
all den Zwängen sei in unserer Lebenswelt so groß, dass das Subjekt nicht<br />
wirklich Herr seiner ethischen Urteile sei. Je näher man nämlich an die Bestimmungsmöglichkeiten<br />
des erkennenden Bewusstseins oder des handelnden Subjekts gelange,<br />
umso zwielichtiger werde deren autonomer Zustand.<br />
Darauf ist zu erwidern, dass die Einschränkungen der <strong>Autonomie</strong> von den Vertretern<br />
einer Ethik der <strong>Autonomie</strong> durchaus wahrgenommen und nicht geleugnet werden.<br />
Ähnlich wie die Ethik aber an der Freiheit des Menschen festhält, obwohl diese durch<br />
viele Faktoren – Erbanlagen, Erziehung, Milieu u.a. – begrenzt ist, ähnlich ist auch die<br />
<strong>Autonomie</strong> begrenzt – und dennoch gegeben. <strong>Autonomie</strong> ist keine absolute Selbstbestimmung.<br />
Selbstbestimmung und Fremdbestimmung existieren niemals als reale<br />
Alternativen, sie treffen in unserem Bewusstsein dauernd aufeinander und relativieren<br />
sich gegenseitig.<br />
Der dritte Einwand kommt aus theologischer Sicht. <strong>Eine</strong> „autonome Ethik“, so<br />
sagen manche Theologen, missachte die notwendige <strong>Orientierung</strong> des Menschen an<br />
Gott („Theonomie“) und rechtfertige die gegen Gott gerichtete Selbstherrlichkeit des<br />
Menschen. Die Frage ist, ob hier nicht von vorneherein ein Gegensatz von Glaube und<br />
Vernunft vorausgesetzt wird, der sich dann auch in einem autoritätsfixierten Kirchen-<br />
und Gesellschaftsbild, in einer Absage an Partizipation und Mitverantwortung<br />
spiegelt.<br />
Zweifellos sind Glaube und Vernunft nicht einfach identisch. Aber heißt das, dass sich<br />
der Glaube im Gegensatz zur Vernunft profilieren muss? Kann er sich nicht ebenso<br />
gut als Vertiefung und Erweiterung der Vernunft auswirken? Der Philosoph Kant<br />
hat das besser verstanden als manche Theologen. Bei ihm wird <strong>Autonomie</strong> nicht<br />
durch Theonomie überboten, vielmehr ist Theonomie der Idealfall von <strong>Autonomie</strong>;<br />
die göttlichen Gebote können als Idealfall des moralischen Gesetzes gedacht werden.<br />
Insofern ist der Gedanke der <strong>Autonomie</strong>, auch wenn er in der Neuzeit vorrangig von<br />
Philosophen vorgetragen wurde, der christlichen Ethik nicht fremd. Sie will die in<br />
Gottes Schöpfung angelegte Ordnung der menschlichen Lebensbereiche mit Hilfe der<br />
Vernunft gestalten. Auch die Botschaft Jesu bedeutet Ermunterung zur Freiheit.<br />
„Autonome Moral“ ist also ein ethischer Ansatz, der die Moral denkt von der Freiheit<br />
und Eigenverantwortlichkeit des Menschen her. Die Bindung des Menschen an das<br />
Gute kann demnach nur auf Grund einer Selbstbindung der menschlichen Freiheit<br />
geschehen. <strong>Eine</strong> solche Selbstbindung ist an die eigene Einsicht gebunden, die der<br />
ethischen Reflexionsweise bedarf.<br />
(5) <strong>Autonomie</strong> zwischen Vernunft und Beziehung<br />
Angesichts der fehlenden Überzeugungskraft der besprochenen Einwände ist die<br />
Frage also offensichtlich nicht, ob der Ansatz bei der <strong>Autonomie</strong> des Menschen ein<br />
gültiger Ansatz der Ethik ist, sondern eher, ob er der einzig mögliche Ansatz ist.<br />
Auch wenn sich die von der Aufklärung bestimmte neuzeitliche Ethik weitestgehend<br />
auf Kant und seine mit dem <strong>Autonomie</strong>gedanken verbundene Begründung der Ethik<br />
stützt, dürfen wir die Schattenseiten der aufgeklärten Vernunft nicht übersehen. Sie<br />
20 21
zwingen uns, eine Grundlegung der Ethik aus anderen Ansätzen heraus zu prüfen.<br />
1. Herkömmliche Dominanz des Merkmals „Vernunft“ <strong>für</strong> die Ethik<br />
Kant unterscheidet zwischen „vernunftlosen Wesen“, die „Sachen“ heißen und als<br />
Mittel „nur einen relativen Wert haben“, und „vernünftigen Wesen“, die „Personen<br />
genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst (…) auszeichnet“.<br />
Damit gibt er eine Grundlegung der Moral vor, die jedoch bei näherer Betrachtung<br />
nicht hinreicht. Zum einen, weil der Status der Tiere so nicht eindeutig geklärt werden<br />
kann, zum andern, weil der Status der Person bei strenger Auslegung Kleinkindern,<br />
geistig behinderten oder dementen Menschen nicht zukommt. Zwar hat Kant<br />
sie dennoch in seine Ethik integriert aus der Überzeugung heraus, dass mit dem<br />
Menschsein das Personsein gegeben sei. Doch zeigt die inzwischen heftig entbrannte<br />
Diskussion um die Frage, ob der Personstatus eines Lebewesens sich allein auf den<br />
Vernunftbesitz gründe, die Gefahr einer Engführung. Als Beispiel einer solchen Engführung<br />
lässt sich die Argumentation des australisch-amerikanischen Ethikers Peter<br />
Singer anführen. „Personen“ sind <strong>für</strong> Singer nur Lebewesen, die aktuell Rationalität<br />
und Selbstbewusstsein besitzen. Und nur diese dürfen, weil sie Präferenzen äußern<br />
können, nicht getötet werden.<br />
Den Besitz der Vernunft (Rationalität, Selbstbewusstsein) als dominantes Merkmal des<br />
Menschseins zu bezeichnen und mit <strong>Autonomie</strong> zu identifizieren, wie es Singer tut,<br />
hat eine lange Tradition. Die Formel vom Menschen als „animal rationale“ (Lebewesen,<br />
das mit Vernunft begabt ist) ist eine der ältesten und zugleich wirkmächtigsten<br />
Bestimmungen des Menschseins. Sie geht schon auf die klassische griechische Philosophie<br />
zurück. Allerdings findet sich bei Aristoteles als Charakteristik des Menschen<br />
neben dem Prädikat „zoon logon echon“ (Lebewesen, das Vernunft besitzt) gleichrangig<br />
und im selben Atemzug das Prädikat „zoon politikon“ (Lebewesen, das gesellschaftlich<br />
lebt). Man kann daraus folgern, dass wesentlich <strong>für</strong> den Menschen neben<br />
der Vernunft auch das Soziale ist, das „In der Gemeinschaft leben“, noch allgemeiner:<br />
das „In Beziehungen leben“.<br />
2. Der Ansatz beim „dialogischen Prinzip“ (Martin Buber)<br />
In den philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts kam es zu Neuansätzen, die<br />
auch <strong>für</strong> die Ethik den Akzent auf das „Leben in Beziehung“ setzten. Hier ist zunächst<br />
der 1878 in Wien geborene, 1938 nach Jerusalem emigrierte und 1965 dort gestorbene<br />
jüdische Philosoph Martin Buber zu nennen. Von Kant und Nietzsche beeinflusst,<br />
sieht er sich im Gegensatz zu Descartes, dessen Ausgang vom „Ich“ die Welt als<br />
Subjekt-Objekt-Verhältnis deutet.<br />
Im Zentrum von Bubers philosophischem Denken steht hingegen die Wirklichkeit der<br />
Beziehung zum anderen Menschen, kurz: „das Zwischenmenschliche“ oder „das Dialogische“.<br />
„Nicht durch ein Verhältnis zu seinem Selbst, sondern nur durch ein Verhältnis<br />
zu einem anderen Selbst kann der Mensch ganz werden“, sagt Buber. „Dieses andere<br />
Selbst mag ebenso begrenzt und bedingt sein wie er, im Miteinander wird Unbegrenztes<br />
und Unbedingtes erfahren.“<br />
Bubers philosophisches Hauptwerk „Ich und Du“ entfaltet diese Grundlinien <strong>für</strong> das<br />
„Verhältnis des Zwischen“. Gleich zu Beginn werden hier zwei „Grundworte“ unterschieden,<br />
die der Menschen sprechen kann: „Ich - Du“ und „Ich - Es“. Sie benennen<br />
die beiden Grundhaltungen des Menschen gegenüber der Welt. Dabei bezeichnet<br />
das Grundwort „Ich - Du“ eine „Beziehung“, das Grundwort „Ich - Es“ hingegen ein<br />
„Verhältnis“. Die Beziehung von Ich und Du meint den Punkt, an dem sich zwei Menschen<br />
wirklich begegnen. Dieser Gedanke ist der Hauptaspekt von Bubers Schaffen.<br />
Der Mensch ist auf ein Du hin ausgerichtet und kann erst in der Begegnung mit dem<br />
Gegenüber zu sich selbst, zum Ich, finden: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“<br />
<strong>Autonomie</strong> erwächst also <strong>für</strong> Buber – anders als <strong>für</strong> Kant – nicht nur aus der Vernunft,<br />
sondern auch aus der Vertrauensbeziehung. Ohne Zweifel ist die <strong>Autonomie</strong>,<br />
die ein Mensch gewinnt, oft bewirkt durch das Vertrauen, das er zu Anderen hat und<br />
das Andere zu ihm haben. <strong>Autonomie</strong> ist nicht nur bedingt dadurch, dass wir uns von<br />
der Vernunft leiten lassen, die den Anderen als Selbstzweck anerkennt; sie hängt<br />
auch ab von Beziehungsstärke und Ichstärke, von der Wertschätzung der Anderen<br />
und vom Selbstwertgefühl, vom Vertrauen in Andere und vom Selbstvertrauen. Dies<br />
22 23
kann von besonderer Bedeutung werden bei einer Beziehung, in der Betreuende etwa<br />
sich um Menschen bemühen, die nur eingeschränkt zur Selbststeuerung fähig sind.<br />
Für diese Menschen kann die Beziehung zu dem Du dessen, der sie betreut, Grundlage<br />
ihres Vertrauens zur Welt werden, die sie zu moralischem Handeln ermutigt. Diese<br />
Vertrauensbeziehung kann bei ihnen an die Stelle eines „kategorischen Imperativs“ im<br />
Sinne Kants treten.<br />
3. Die Bedeutung des Anderen <strong>für</strong> die <strong>Autonomie</strong><br />
Neben Martin Buber haben eine Reihe weiterer Philosophen des 20. Jahrhunderts<br />
<strong>Autonomie</strong> aus der Beziehung zum Anderen heraus begründet. Exemplarisch sollen<br />
hier Emmanuel Lévinas und Paul Ricoeur genannt werden.<br />
Emmanuel Lévinas (1906 – 1995), der aus einem jüdischen Elternhaus in Litauen<br />
stammt, entwickelt seine Philosophie wie Buber im Kontext der jüdischen Tradition,<br />
er will die Andersheit des Anderen aber radikaler fassen als dieser. Die <strong>Autonomie</strong><br />
des freien Subjekts im Sinne Kants wird von Lévinas verworfen, da sie behaupte, das<br />
Subjekt könne nur in der Rückkehr zu sich ein Selbst werden. Er fordert vielmehr eine<br />
neue Art von “Fremdbestimmung“, die den Anderen als Freien bestehen lässt, sich<br />
dessen Anderssein unterwirft und auf die eigene Souveränität verzichtet. Dies ist<br />
freilich eine diametrale Umkehrung des Kant’schen Ansatzes. Die Grundlage der Ethik<br />
ist <strong>für</strong> Lévinas nicht die <strong>Autonomie</strong>, sondern eine sozialethisch begründete „Fremdbestimmung“,<br />
die dem Gedanken der Gerechtigkeit verpflichtet ist und sich aus<br />
diesem Grund vom Fremden bestimmen lässt. Für die Arbeit mit Menschen, die nur<br />
eingeschränkt zur Selbststeuerung fähig sind, heißt dies, das in der herkömmlichen<br />
Ethik verankerte Ziel der <strong>Autonomie</strong> kritisch zu prüfen angesichts der Forderung der<br />
Gerechtigkeit. Gerechtigkeit verlangt von uns, den Hilflosen in ihrer beschädigten<br />
Identität Hilfe zu gewähren auch dort, wo sie zur <strong>Autonomie</strong> im Sinne Kants nicht<br />
fähig sind.<br />
Paul Ricoeur (1913 – 2005), als Sohn protestantischer Eltern in der Bretagne geboren,<br />
hat ein breites Lebenswerk vorgelegt, das sich mit einer Vielfalt philosophischer<br />
Fragen befasst. In den späten Werken tritt das Problem der Beziehung zum Anderen<br />
in den Vordergrund: Die Schrift „Das Selbst als ein Anderer“ handelt von der Stimme<br />
des Gewissens, aus der <strong>für</strong> Ricoeur nicht ein dunkles „Sein“ spricht, das uns zum<br />
Selbst-Sein aufruft. Vielmehr kommt hier der „Andere“ zu Wort. Erst das Gewissen<br />
eröffnet die „innerste Möglichkeit“, das Gegenüber wahrzunehmen und die Aufforderung<br />
zu vernehmen, die von ihm her an uns ergeht. <strong>Autonomie</strong> ist demnach <strong>für</strong><br />
Ricoeur nicht nur „individuelle Souveränität“, sondern zugleich „Selbstbeschränkung“.<br />
Nicht allein der handelnde, sondern nur der zugleich verletzliche, der leidende, der<br />
kranke, kurz: der zerbrechliche Mensch, der seine Grenzen kennt, kann dazu berufen<br />
sein, autonom zu werden.<br />
1.5 <strong>Autonomie</strong> bei Menschen mit eingeschränkter Selbststeuerung<br />
„Menschen mit eingeschränkter Fähigkeit zur Selbststeuerung“ leben unter uns:<br />
als Familienmitglieder, die dement geworden sind, als Dauerpatienten mit einem<br />
Wachkoma im Krankenhaus oder mit schweren seelisch-geistigen Einschränkungen<br />
in Psychiatrien und Behindertenheimen. Sie stellen eine ständige Herausforderung<br />
dar, weil Vieles an ihrem Verhalten so anders, gar nicht verständlich und nachvollziehbar<br />
oder gar tolerierbar erscheint. Die folgenden Überlegungen versuchen in die<br />
häufigen Irritationen im Umgang mit merkwürdigen und – manchmal – gefährlichen<br />
Verhaltensweisen eine nüchtern-reflektierende Nuance zu bringen. Dabei ist zunächst<br />
die Grundlage zu klären, die ein integriertes Menschenbild beinhaltet, das Leben mit<br />
Behinderung und Einschränkung als akzeptabel aufweist. Von diesem Ausgangspunkt<br />
ist zu bedenken, wie denn fremdbestimmtes Handeln ethisch legitimiert werden kann,<br />
ohne dabei die Menschenwürde der Betroffenen zu verletzen. Und schließlich ist zu<br />
fragen, welche Rolle und Aufgabe soziale Einrichtungen im Umgang mit Menschen<br />
haben, deren Vernunftvermögen nur noch eingeschränkt verfügbar ist.<br />
(1) Die Ambivalenz menschlichen Seins als Ausgangspunkt<br />
<strong>Autonomie</strong>, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung als Ausdruck des menschli-<br />
24 25
chen Selbst-Seins, seines Selbst-Sein-Könnens und seines Selbst-Sein Wollens sind die<br />
eine Seite menschlicher Selbst- und Welterfahrung und -gestaltung. Zum Menschsein<br />
gehören aber – ganz in der Spur von Ricoeurs Denken - auch Erfahrungen<br />
der Begrenztheit: Menschen sind bedürftig, störanfällig, sterblich und unterliegen<br />
unterschiedlichen Lebensphasen. Die Erfahrung zeigt: Beides - die Stärken und die<br />
Schwächen - macht menschliches Leben aus. Vor diesem Hintergrund führt eine<br />
Selbstbestimmung ohne die Wahrnehmung der Endlichkeit des Daseins in einen<br />
Größenwahn, der nur auf das eigene Ich fixiert ist. Wird andererseits die Erfahrung<br />
der Begrenztheit zum alleinigen Bezugspunkt menschlicher Lebensdeutung, hat dies<br />
meist ein starkes Maß an Depressivität zur Folge.<br />
Der Hinweis auf die Ambivalenz menschlicher Existenz darf als eine erste Annäherung<br />
an die Frage gelten, wie denn <strong>Autonomie</strong> im Kontext eingeschränkter Denk-, Fühlund<br />
Handlungskompetenz wie z.B. bei chronischer Krankheit oder Behinderung einzuordnen<br />
ist. Der Heilpädagoge Martin Hahn hat darauf hingewiesen, dass Behinderung<br />
eine zusätzliche Form des Abhängigseins darstellt. Sie ist je nach kultureller Umgebung<br />
mehr oder weniger stark ausgeprägt. Zusätzlich zu seiner körperlichen, sein<br />
Handeln und seine Teilhabe einschränkenden Grundbeeinträchtigung machen nämlich<br />
die umgebende Kultur und die Selbst- und Fremddefinition den Menschen erst zu<br />
einem Behinderten. Gemäß dem Verständnis der Weltgesundheitsorganisation kann<br />
von Behinderung dann gesprochen werden, wenn es zwischen der Person, der Umwelt<br />
und den Gesundheitspotentialen zu negativen Auswirkungen kommt und wenn<br />
Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Person mit den an sie gerichteten Erwartungen<br />
und den Umweltbedingungen nur unzureichend zusammenpassen. Die Möglichkeiten<br />
von Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen werden also in<br />
der Interaktion von Menschen mit Beeinträchtigungen und ihrer Umwelt definiert.<br />
Das Spektrum der Verhältnisbestimmung von Menschen mit und ohne Behinderung<br />
reicht von der Selektion der Menschen mit Behinderungen, um sie zu bestrafen oder<br />
zu „erziehen“, über eine mehr oder weniger freiwillige Anpassung „der“ Behinderten<br />
an „die“ Normalität bis hin zur jüngsten Ausrichtung, behinderten Menschen gestützt<br />
durch gesetzlichen Vorgaben (SGB IX und die UN-Konvention der Rechte Behinderter)<br />
das Recht auf selbstbestimmte Teilhabe zu garantieren. Inklusion lautet das Programm,<br />
an dem sich die Umwelt an Menschen mit Behinderung ausrichten soll, die<br />
schon qua Gattung als Menschen zum Gemeinwesen dazugehören und denen – mit<br />
passender Unterstützung von Menschen, Institutionen, Gesellschaft und Staat – Möglichkeiten<br />
<strong>für</strong> das Dabeibleiben-Können gegeben werden sollen.<br />
Diese Unterstützung folgt dem Konzept der „möglichst optimalen Passung“. Dies besagt,<br />
dass dem Menschen mit Behinderung nur soviel Hilfe bei der Überwindung der<br />
Barrieren zu Teil werden soll, wie er benötigt. Damit ist eine bedarfsgerechte „Hilfe<br />
nach Maß“ definiert: Wer viel Hilfebedarf hat, um möglichst selbstbestimmt leben zu<br />
können, bekommt viel Unterstützung, wer wenig oder keinen Bedarf an selbst bestimmter<br />
Lebensweise mehr hat, erhält wenig oder keine Hilfe. Implizit enthält dieses<br />
(alte) pädagogische Hilfemodell eine Vorstellung einer abgestuften Selbstbestimmung:<br />
Je stärker die eigenen Fähigkeiten fehlen, umso mehr Hilfe wird nötig sein, dass die eigenen<br />
Ressourcen (wieder) hergestellt werden. Je mehr eigene Potenz verfügbar ist,<br />
umso geringer wird die Hilfe ausfallen. Grafisch lässt sich dieses Konzept so darstellen:<br />
Da menschliches Leben nicht linear verläuft, hat die Diagonale einen je individuellen<br />
Verlauf. Damit sind im Lebenslauf Rückfälle und Entwicklungssprünge im Verhältnis<br />
von Hilfebedarf und Hilfe selbstverständlich. Damit wird es auch möglich, der Indivi-<br />
26 27
dualität des Helfenden und des Hilfebedürftigen gerecht zu werden. Den untenstehenden<br />
Skizzen ist auch zu entnehmen, dass Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen<br />
einen unterschiedlichen Hilfebedarf haben und damit auch unterschiedlich<br />
„fremdbestimmt“ bei gleichzeitigem <strong>Autonomie</strong>anspruch sind.<br />
(2) Die ethische Bewertung freiheitseinschränkenden Handelns<br />
In der Regel wird das Verhältnis von Unterstützungsbedürftigen und Unterstützern<br />
zwischen mündigen Subjekten ausgehandelt. Jede soziale und medizinische Dienstleistung<br />
– sei sie formell oder informell erbracht – geht von einer stillen oder förmlichen<br />
Übereinkunft zwischen autonom handelnden Personen aus. Ethisch kann hier von<br />
einer wechselseitigen Tauschgerechtigkeit ausgegangen werden. Diese funktioniert<br />
nach folgenden Regeln: Ich gebe dir etwas, was du brauchst und willst, und ich erhalte<br />
da<strong>für</strong> eine materielle oder immaterielle Gegenleistung. Ich kann auch davon ausgehen,<br />
dass du den Vertrag auf Gegenseitigkeit einhältst. Bei Vertragsbruch setzt sich<br />
der falsch oder zu wenig oder zu viel Helfende einer moralischen Verurteilung aus,<br />
die auch bei unpassender oder gefährlicher Hilfe eingeklagt und rechtlich verfolgt<br />
werden kann. Im umgekehrten Fall setzt sich der potentiell Hilfsfähige, der eine Hilfe<br />
nicht gibt, dem Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung aus.<br />
Ethisch brisant wird es, wenn in das Leben von Betroffenen derart von außen eingegriffen<br />
wird, dass dabei Grundrechte wie beispielsweise die Unversehrtheit des Körpers<br />
oder der Wohnung oder die Bewegungsfreiheit verletzt werden. Inwiefern sind<br />
Angehörige, professionelle Helfer und Assistenten im ethischen Sinn dazu berechtigt,<br />
in das Leben von Menschen mit Behinderungen freiheitsbeschränkend einzugreifen?<br />
Und wenn dies berechtigt sein soll: Wie kann die Berechtigung der Intervention begründet<br />
werden?<br />
Grundsätzlich geht es dabei zunächst um die Frage der Gestaltung ungleicher (asymmetrischer)<br />
Beziehungen, die von einer vorübergehenden oder dauerhaften Abhängigkeit<br />
des <strong>Eine</strong>n vom Anderen geprägt sind. In jedem Fall ist dabei zunächst zu<br />
fragen, ob dieses Abhängigkeitsverhältnis auf Freiwilligkeit beruht oder nicht. Ist ersteres<br />
der Fall, wie etwa bei einer postoperativen Intensivpflege, besteht eine Chance<br />
auf Auflösung der Asymmetrie. Es bedarf in diesem Fall sogar einer ausdrücklichen<br />
Zustimmung des zu Pflegenden <strong>für</strong> das Zustandekommen dieses Pflegeverhältnisses.<br />
Die Fremdbestimmung hat einen definierten Anfang und ein definiertes Ende.<br />
Abhängigkeit im Sinne einer Fremdbestimmung ist dann also nützlich und dient der<br />
Heilung. Die von Fremdbestimmung geprägte Asymmetrie folgt also dem Kriterium<br />
eines „höheren Gutes“, in unserem Fall dem Gesundwerden. Da<strong>für</strong> nehme ich als zu<br />
Pflegender eine zeitlich begrenzte Abhängigkeit billigend in Kauf.<br />
Schwieriger wird es, wenn eine uneingeschränkte Fremdbestimmung ohne vorherige<br />
oder nachträgliche Zustimmung des Beeinträchtigten vorliegt. Entweder wird der Betroffene<br />
willkürlich und unter Zwang in dieser Lage gehalten, dann ist das Verhalten<br />
– von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen – unsittlich. Ansonsten bedarf es eines<br />
zureichenden Grundes. Folgende Gründe und Beweggründe kommen in Frage: Oft<br />
wird das Mitleid mit dem Betroffenen als Interventionsgrund genannt. Ich helfe, weil<br />
ich mit dem Leid des Anderen mitfühle. Mitleid hat also vor allem ein gefühlsbetontes<br />
Motiv zur Intervention, aber es ist zwiespältig. Aus Mitleid kann gegen den Willen der<br />
Betroffenen Gutes getan werden (Zwangsernährung bei Unterernährung), aber es<br />
kann auch Schreckliches bis hin zur Tötung und Ermordung geschehen (NS-Euthana-<br />
28 29
sie). In manchen Fällen kann Mitleid ein legitimes Motiv sein, aber in vielen Fällen ist<br />
es das nicht. Das Mitleid ist zweideutig, weil der, der Hilfe leistet, seine Hilfe nicht vor<br />
der Vernunft begründet.<br />
<strong>Eine</strong> weitere Legitimation <strong>für</strong> die Einschränkung von Grundrechten wäre ein „aufgeklärter<br />
Paternalismus“, wie ihn der Sozialphilosoph John Rawls beschrieben hat. Er<br />
hält bevormundende Eingriffe in die Grundrechte sittlich nur dann <strong>für</strong> gerechtfertigt,<br />
wenn Menschen vor der Schwäche und dem Versagen ihrer Vernunft geschützt<br />
werden sollen. Nur die Gerechtigkeit und die Kenntnis der längerfristigen Bedürfnisse<br />
der Betroffenen kann also ein solches Eingreifen rechtfertigen. Mit der Beachtung<br />
dieser Kriterien ist letztlich die Menschenwürde der Beteiligten gesichert. Intervenieren<br />
gegen den Willen des Betroffenen darf man also nur, wenn der Maßstab der<br />
Menschenwürde gewahrt bleibt.<br />
Ein weiterer, ethisch legitimer Grund <strong>für</strong> Intervention gegen oder ohne den Willen<br />
des Betroffenen ist die Integrität des Menschen. Sind die Verhaltensweisen des Betroffenen<br />
derart, dass sie ihn selbst oder sein Umfeld schwer gefährden, ist ein freiheitseinschränkender<br />
Eingriff erlaubt oder sogar geboten. Um aber dem Manipulations-<br />
oder Unterdrückungsverdacht zu entgehen, muss dieser richterlich genehmigt<br />
sein. Als ethischer Maßstab hinter diesem Argument steht die unbedingte Akzeptanz<br />
der Person. Diese kann philosophisch-ethisch hergeleitet werden, sie ist aber auch<br />
theologisch mit der Gottesebenbildlichkeit begründbar. Die Achtung vor jeder Person<br />
gebietet also einen äußerst umsichtigen Umgang mit dem Eingreifen in die persönlichen<br />
Rechte eines Anderen. <strong>Eine</strong> aus der Personalität des Menschen abgeleitete<br />
Ethik der Anerkennung und der Achtsamkeit setzt damit auch die Maßstäbe <strong>für</strong> die<br />
Grenzen der Eingriffe in das selbstbestimmte Leben von Menschen mit geistiger Behinderung<br />
oder Menschen, die teilweise oder gar nicht mehr über ihr Leben souverän<br />
verfügen können.<br />
(3) Die Aufgaben von Sozialunternehmen zur Stärkung der <strong>Autonomie</strong><br />
Probleme mit der Achtung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen<br />
tauchen besonders dann auf, wenn sekundäre Abhängigkeiten zu den ohnehin schon<br />
vorhandenen Erfahrungen von Begrenztheit hinzukommen. Oft ist dies dann der Fall,<br />
wenn Menschen mit Behinderungen oder anderen Einschränkungen in einem professionellen<br />
und institutionellen Kontext betreut werden. Neben dem Versorgungs- und<br />
Betreuungsauftrag neigen soziale Einrichtungen nicht selten zu kolonisierenden Verhaltensweisen,<br />
die Menschen mit Behinderungen zusätzliche Abhängigkeitsprobleme<br />
verschaffen. Auch die Aktionen der professionellen Helfer sind nicht immer auf eine<br />
die Selbstbestimmung fördernde Interventionsstruktur aus. Menschen, die in Kontakt<br />
mit Hilfeeinrichtungen kommen, sehen sich einer spezifischen Zweischneidigkeit ausgesetzt:<br />
Der Schutz- und Schonrahmen gewährleistet – gerade den Schwächsten<br />
– einen sicheren und sichernden Lebensrahmen, stationäre Lebenswelten sind die<br />
Chance <strong>für</strong> Menschen, die genau diesen Rahmen brauchen. Dabei kann in der Regel<br />
bei Menschen mit Behinderungen nur in eingeschränktem Umfang von einer freiwilligen<br />
Entscheidung <strong>für</strong> ein Leben im stationären Kontext die Rede sein. Weil dem so ist,<br />
benötigen soziale Einrichtungen und ihre professionellen Helfer Strukturen, Reflexionsebenen<br />
und gegebenenfalls auch Qualitätskontrollen, damit sichergestellt ist, dass<br />
Menschen mit Behinderungen und ihre Stellvertretungen eine Chance haben, dass<br />
ihre Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte so weit wie möglich gewahrt bleiben.<br />
Dies gilt insbesondere in solchen Grenzfällen, die häufig durch selbst- und fremdschädigendes<br />
Verhalten auffallen. In jedem einzelnen Fall gilt es auch kritisch zu überprüfen,<br />
inwieweit das Verhalten von <strong>Mitarbeiter</strong>n oder die Strukturen der Einrichtung<br />
ursächlich zu diesem schädigendem Verhalten beigetragen haben. Wenn dies gelingt,<br />
leisten Einrichtungen und ihre <strong>Mitarbeiter</strong> einen wichtigen Beitrag zu einer Kultur der<br />
Anerkennung beschädigten Lebens. Sie dienen damit zugleich der Humanisierung des<br />
Gemeinwesens, das sich häufig zu seiner Entlastung von Menschen verabschiedet und<br />
seine Verantwortung an die Hilfeeinrichtungen delegiert hat. Soziale Einrichtungen<br />
leisten zudem durch einen sensiblen, ethisch reflektierten Umgang mit Menschen,<br />
die unter starken Willenseinschränkungen leiden, einen wichtigen Beitrag zur Teilhabe<br />
dieser Menschen am gesellschaftlichen Leben.<br />
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2 Beispiele <strong>für</strong> das Ringen um <strong>Autonomie</strong><br />
2.1 Suche nach Lösungen in Dilemmasituationen<br />
Die folgenden Beispiele stammen aus verschiedenen Einrichtungen und Betreuungsverhältnissen<br />
der Stiftung Liebenau. Allen gemeinsam ist das Streben der Klienten<br />
nach <strong>Autonomie</strong> der eigenen Lebensführung im Kontext professionell organisierter<br />
Lebenswelten. Alle Beispiele waren Gegenstand einer eingehenden Falldiskussion. In<br />
einigen Fällen war die Ethikkommission gefragt, nachdem schon entschieden war, wie<br />
es weitergeht. In anderen Fällen waren die Situationen so aktuell, dass die Diskussion<br />
in der Ethikkommission noch Einfluss auf die Entscheidungsfindung nehmen konnte.<br />
Die Darstellung der Fälle entspricht der Methodik ihrer Bearbeitung in der Ethikkommission:<br />
Der Schilderung der Ausgangssituation folgt die Beschreibung des Dilemmas.<br />
In der Regel werden sodann verschiedene Handlungsoptionen vorgestellt, bevor die<br />
Entscheidung <strong>für</strong> eine Lösung mit Begründung präsentiert wird.<br />
Die Beispiele zeigen, dass mehr oder weniger weite Entscheidungsspielräume da sind<br />
und von den Klienten auch genutzt werden, um ihren Willen kundzutun. Alle Fälle<br />
stellen das Pflegepersonal vor diverse Dilemmata, also Situationen, die sehr widersprüchliche<br />
Anforderungen an die Beziehung zu den Klienten aufzeigen. Die Lösungen,<br />
die im Folgenden aufgezeigt werden, sind mögliche Lösungen. Dabei wurden<br />
und konnten nicht in allen Fallbeispielen die ökonomischen und rechtlichen Schranken<br />
der Lösungsmöglichkeiten umschrieben und interpretiert werden. Außenstehende<br />
kommen vielleicht zu anderen Lösungen, auch Betroffene können sich anders entscheiden.<br />
Wichtig ist, dass entschieden wurde und dass jede Entscheidung begründet<br />
erfolgt ist. Die Beispiele sollen zeigen, dass es auch im stationären Rahmen gelingen<br />
kann, den <strong>Autonomie</strong>anspruch der Klienten so gut es geht zu berücksichtigen. Sie<br />
zeigen zugleich auf, dass es zur Professionalität des Pflegens und Helfens gehört,<br />
sich ethisch reflektiert ein Urteil zu bilden.<br />
(1) Frau D. will nicht mehr essen<br />
Ausgangssituation:<br />
Die 84jährige Frau D. wird mit einem Gewicht von 30 kg in ein Pflegeheim der St. Anna-Hilfe<br />
aufgenommen. Orale Nahrungsaufnahme lehnt sie vollständig ab und nimmt<br />
nur Flüssigkeit zu sich. Aufgrund ihres geringen Körpergewichts kann sie nur liegen<br />
und hat sich beim Einzug ins Pflegeheim schon aufgegeben. Durch aufmerksame Pflege<br />
bemühen sich die <strong>Mitarbeiter</strong>, ein Wundliegen zu verhindern. Auch versuchen sie<br />
Frau D. zu aktivieren. Über frühere Lieblingsspeisen gelingt es den <strong>Mitarbeiter</strong>n, Frau<br />
D. zum Essen zu motivieren. Ihre Stimmung wird besser und sie kann wieder lachen.<br />
Geistig ist sie die überwiegende Zeit orientiert.<br />
Dilemma:<br />
Obwohl Frau D. wieder Nahrung zu sich nimmt, isst sie nicht so viel, wie sie bräuchte.<br />
Die Pflegedienstleitung führt mit dem Betreuer ein Beratungsgespräch, in dem<br />
sie vorschlägt, Frau D. vorübergehend eine Sonde zu legen, damit sie an Gewicht<br />
zunimmt. Durch die Sonde hätte Frau D. die Möglichkeit, Folgeerscheinungen einer<br />
Mangelernährung zu vermeiden. Mit mehr Gewicht könnte Frau D. im Rollstuhl sitzen,<br />
an Aktivitäten teilnehmen, Kontakt zu anderen Bewohnern bekommen und ihre<br />
Lebensqualität würde steigen. Mit einer vorübergehenden Sonde ist der Betreuer<br />
einverstanden. Der Arzt lehnt eine Sonde jedoch ab, mit der Begründung, „alte<br />
Leute sollen sterben dürfen“. Der Betreuer vertraut dem, was der Arzt sagt. Frau D.<br />
bekommt keine Sonde.<br />
Mögliche Lösung:<br />
Die <strong>Mitarbeiter</strong> müssen die Entscheidung des Betreuers und die ärztliche Meinung akzeptieren.<br />
Im Rahmen ihrer Möglichkeiten bieten sie Frau D. weiterhin Wunschkost an<br />
und versorgen sie mit hochkalorischer Trinknahrung. Über Biografiearbeit versuchen<br />
sie ihren Zustand zu stabilisieren. In der pflegerischen Versorgung passen sie besonders<br />
auf gerötete Stellen auf und beobachten den Gewichtsverlauf sehr genau.<br />
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Sollte sich der Zustand von Frau D. nicht verbessern, ziehen sie eine Entscheidung<br />
des Vormundschaftsgerichts in Erwägung.<br />
(2) Herr W. lehnt eine Nahrungssonde ab<br />
Ausgangssituation:<br />
Herr W. ist 76 Jahre alt und lebt seit 4 Jahren in einem Pflegeheim der St. Anna-Hilfe.<br />
Er hat eine schwere Parkinsonerkrankung mit extremen Schluckstörungen, so dass<br />
er kaum ausreichend Nahrung zu sich nehmen kann. Auch leidet er unter starken<br />
Bewegungseinschränkungen, kann sich kaum artikulieren und ist vor zwei Jahren<br />
erblindet. Er war Geschäftsmann mit einer eigenen Firma, aus der er sich aufgrund<br />
seiner Erkrankung zurückziehen musste, und ist sehr wohlhabend. Anfangs hat er<br />
noch versucht, in seiner Firma mitzubestimmen. Inzwischen hat die Tochter die Firma<br />
aufgelöst.<br />
Er ist zeitlich und örtlich voll orientiert und setzt sich geistig mit seiner Krankheit<br />
auseinander.<br />
Aufgrund der erheblichen Schluckbeschwerden hat Herr W. stark an Gewicht verloren.<br />
Die hinzugezogene Ernährungsberaterin schlägt das Legen einer Nahrungssonde<br />
vor. Herr W. willigt ein. Damit hält er zwar sein Gewicht, kann sich aber mit dieser<br />
Form der Nahrungsaufnahme nicht abfinden und will nur noch Flüssigkeit über die<br />
Sonde aufnehmen, da er der Meinung ist, dass seine Übelkeit von der Sondennahrung<br />
kommt. Die Pflegekräfte versuchen, ihn von der Wichtigkeit der Sondennahrung zu<br />
überzeugen, und erklären ihm, dass seine Übelkeit von den Parkinsonmedikamenten<br />
kommt. Herr W. will aber keine Nahrungssonde mehr.<br />
Er bekommt zweimal wöchentlich Logopädie und Krankengymnastik, die er auch<br />
wünscht.<br />
Mögliche Lösung:<br />
Die Pflegemitarbeiter initiieren eine Fallbesprechung zusammen mit Arzt, Ernährungsberaterin<br />
und Angehörigen. Sie vereinbaren, Herrn W. jetzt zu wiegen und nach<br />
4 Wochen zu entscheiden, wie es weitergeht. Herr W. besteht darauf, die Mahlzeiten<br />
trotz Sonde noch zu bekommen, lehnt aber passierte Kost ab, da er den Geschmack<br />
des Essens haben möchte und auch noch kauen will. Die Wohnbereichsleitung weist<br />
ihn auf Risiken und Folgen fester Nahrungsaufnahme bei seiner Erkrankung hin. Herr<br />
W. ist sich der Risiken bewusst, <strong>für</strong> ihn bedeutet Nahrungsaufnahme aber Lebensqualität,<br />
die er nicht aufgeben will. Deshalb gibt ihm ein <strong>Mitarbeiter</strong> mittags das Essen<br />
ein, was aufgrund seiner Kau- und Schluckbeschwerden mindestens 45 Minuten<br />
dauert. Die <strong>Mitarbeiter</strong> tragen diese zusätzliche zeitliche Belastung mit, da <strong>für</strong> sie der<br />
Wille des Bewohners zählt und sie ihm dadurch die von ihm gewünschte Lebensqualität<br />
geben können.<br />
(3) Frau F. will sterben<br />
Ausgangssituation:<br />
Die 91jährige Frau F. wohnte bis zum Tod ihres Mannes in Mecklenburg-Vorpommern.<br />
Ihre Angehörigen, die in Süddeutschland leben, holen sie zu sich und bringen sie zur<br />
Kurzzeitpflege in ein Haus der St. Anna-Hilfe. Frau F. verkraftet den Tod ihres Mannes<br />
nicht und sagt immer wieder, dass sie nicht mehr leben mag und sterben will. Diesen<br />
Wunsch äußerte sie auch schon in ihrer gewohnten Umgebung in Mecklenburg–Vorpommern.<br />
Sie ist zeitlich und örtlich überwiegend orientiert.<br />
Sie lehnt Nahrung ab und spuckt sie auch aus. Trinknahrung nimmt sie teilweise zu<br />
sich. Auch durch ihre Körperhaltung drückt sie aus, dass sie mit dem Leben abgeschlossen<br />
hat.<br />
Dilemma:<br />
Verliert Herr W. weiterhin an Gewicht, so nehmen seine Abwehrkräfte ab und es<br />
besteht die Gefahr von Folgeerkrankungen.<br />
Dilemma:<br />
Durch die Verweigerung der Nahrung nimmt Frau F. rasant ab. Konnte sie anfangs<br />
noch mit Hilfe ihres Rollators laufen, geht dies nach kurzer Zeit nicht mehr, da sie zu<br />
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schwach ist. Trotz ärztlich verordneter Infusionen und Ergänzungsnahrung nimmt sie<br />
täglich ab. Sie macht weiterhin entschieden deutlich, dass sie nicht mehr essen will.<br />
zu ihrem Stammtisch oder unternimmt Ausflüge. Sie entscheidet, was und wann sie<br />
etwas macht.<br />
Mögliche Lösung:<br />
Die Pflegedienstleitung initiiert mit den Angehörigen und dem Arzt ein Gespräch. Es<br />
wird vereinbart, dass man ihr Nahrung anbietet, die sie gerne mag, und versucht, ob<br />
Wunschkost sie zum Essen animieren kann.<br />
Sie wird nicht zur Nahrungsaufnahme gezwungen. Aufgrund ihrer klaren Willensäußerung<br />
wird ihr keine Sonde gelegt. Es werden ihr aber weiterführende Hilfen, wie<br />
seelsorgliche Gespräche, angeboten.<br />
(4) Frau R. möchte selbstständig bleiben<br />
Ausgangssituation:<br />
Frau R. ist 96 Jahre alt. Sie lebt bisher alleine in ihrem Haus und entschließt sich nun,<br />
in ein Pflegeheim einzuziehen. Da sie vielfältige Ansprüche an ihre zukünftige Wohnform<br />
stellt, prüft sie mehrere Einrichtungen zusammen mit ihrem Enkel. Sie wählt ein<br />
Pflegeheim der St. Anna–Hilfe in ihrem Wohnort aus, weil sie überzeugt ist, das es<br />
ihren Bedürfnissen entspricht. Außerdem wohnen dort schon Bekannte von ihr.<br />
Für Frau R. ist es sehr wichtig, wie und wo sie ihre letzten Lebensjahre verbringt. Sie<br />
möchte unter keinen Umständen plötzlich in die Situation kommen, in der sie nicht<br />
bestimmen kann, wo sie lebt. Sie ist zeitlich und örtlich voll orientiert.<br />
Sie wartet mit ihrem Einzug ins Pflegeheim, bis ein Zimmer frei wird, das ihren Vorstellungen<br />
im Bezug auf Ausstattung und Lage entspricht. Nach dem Einzug legt sie<br />
großen Wert darauf, ihr bisheriges Leben soweit wie möglich weiter zu führen. Sie<br />
lehnt jede pflegerische Hilfe ab und möchte auch ihr offenes Bein niemandem zeigen.<br />
Sie verbindet es täglich selbst. Auch kümmert sie sich weiterhin um ihre Wäsche,<br />
die sie selbständig zur Reinigung bringt. Sie nimmt an Angeboten im Haus und in der<br />
Stadt teil, trifft sich mit ihren Freund<strong>innen</strong> zum Essen in einem Hotel, geht weiter<br />
Dilemma:<br />
Die <strong>Mitarbeiter</strong> auf ihrem Wohnbereich wissen häufig nicht, wo Frau R. ist. Die Wunde<br />
am Bein scheint Probleme zu bereiten und heilt nicht, aber sie will sie auch dem<br />
Hautarzt nicht zeigen. Im Gegenteil, immer wenn dieser ins Haus kommt, ist sie nicht<br />
anwesend.<br />
Der medizinische Dienst hat sie in Pflegestufe 1 eingruppiert, da sie durchaus eine<br />
pflegerische Versorgung benötigt, die sie aber nicht möchte. Auch leidet Frau R.<br />
immer wieder an Schwindelanfällen, von denen sie den <strong>Mitarbeiter</strong>n nichts sagt.<br />
Mögliche Lösung:<br />
Die <strong>Mitarbeiter</strong> des Wohnbereichs vereinbaren mit Frau R., dass sie Bescheid gibt,<br />
wenn sie das Haus verlässt, und sich auch abmeldet, wenn sie zu den Mahlzeiten nicht<br />
da ist. Frau R. ist damit einverstanden.<br />
Sie führen ein Beratungsgespräch mit Frau R., in dem sie sie auf mögliche Folgen<br />
und Risiken einer nicht heilenden Wunde am Bein hinweisen. Außerdem bieten ihr die<br />
<strong>Mitarbeiter</strong> weiterhin pflegerische Hilfestellung an, unterstützen sie in ihrer Lebensführung<br />
und beobachten ihre Schwindelanfälle, um im Notfall reagieren zu können.<br />
Ansonsten kann Frau R. ihr gewohntes Leben weiter so führen, wie sie es möchte.<br />
(5) Frau S. darf nicht mehr in ihrem Zimmer rauchen<br />
Ausgangssituation:<br />
Die 50-jährige Frau S. leidet an einem organischen Psychosyndrom, ist in ihrer Bewegungsfähigkeit<br />
stark eingeschränkt und dauerhaft auf die Benutzung eines Rollstuhls<br />
angewiesen. Sie ist regelmäßig auffällig aufgrund ihres Medikamenten- und Alkoholmissbrauchs<br />
und ist in hohem Ausmaße auf laufende pflegerische und betreuerische<br />
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Hilfe angewiesen. Mangels geeigneter Alternativangebote <strong>für</strong> eine Frau dieses Alters<br />
ist sie seit etwa fünf Jahren in einem Pflegeheim der St. Anna-Hilfe in Österreich<br />
wohnhaft.<br />
Frau S. ist eine außergewöhnlich starke Raucherin. Zu dem Zeitpunkt, in dem sich der<br />
im Folgenden geschilderte Sachverhalt abspielte, war die brandschutztechnische Ausstattung<br />
des Pflegeheims noch nicht vollständig auf dem neuesten Standard. Frau S.<br />
rauchte sowohl im Eingangsbereich als auch im eigenen Zimmer. Sie schlief dabei insbesondere<br />
im Zimmer mehrfach mit brennender Zigarette ein und versengte Kleider,<br />
Haut und auch Bettwäsche. Versuche der im Heim verantwortlichen <strong>Mitarbeiter</strong>, sie in<br />
irgendeiner Weise zu motivieren, zumindest im Zimmer nicht zu rauchen, fruchteten<br />
nicht. Auch Versuche, den Nachschub an Zigaretten zu unterbinden, scheiterten, da<br />
die Bewohnerin es geschickt verstand, sowohl <strong>für</strong> Zigarettennachschub zu sorgen<br />
als auch diesen vor eventuellen Abnahmen durch das Pflegepersonal zu schützen.<br />
Deutliche Hinweise, den Heimvertrag zu kündigen, wenn sie das <strong>für</strong> das Zimmer<br />
ausgesprochene Rauchverbot nicht einhalte, nützten wenig, da Frau S. insbesondere<br />
nach Alkohol- und Medikamentengebrauch kaum über die erforderliche Einsichts- und<br />
Kontrollfähigkeit verfügte. Zudem stand keine andere geeignete Unterbringungsmöglichkeit<br />
zur Verfügung; daher hätte eine Beendigung des Heimvertrages allenfalls zu<br />
einer Verlagerung des Problems in eine andere Einrichtung geführt.<br />
Dilemma:<br />
Das Rauchen von Frau S. führt nicht nur zu der üblichen Belästigungssituation <strong>für</strong><br />
andere Menschen, wie etwa Rauchen im Eingangsbereich, sondern erzeugt aufgrund<br />
ihrer Erkrankung auch eine erhebliche Selbst- und Fremdgefährdung. Da Frau S. beim<br />
Rauchen immer wieder einschläft, besteht die erhebliche Gefahr, dass sie Kleider oder<br />
Bett in Brand setzt. Dadurch könnte leicht ein Zimmerbrand entstehen, der auf andere<br />
Zimmer übergreift. Auch nach der inzwischen erfolgten Umsetzung brandschutztechnischer<br />
Vorgaben können Zimmerbrände nicht ausgeschlossen werden, so dass<br />
weiterhin ein hohes Risiko <strong>für</strong> die Frau selbst und auch die Bewohner anderer Zimmer<br />
und die <strong>Mitarbeiter</strong> des Hauses besteht.<br />
Das Rauchen hat <strong>für</strong> Frau S. einen hohen Stellenwert, dem sie viele andere Bedürfnisse<br />
unterordnet. Zu berücksichtigen ist auch, dass allen anderen Bewohnern im Pflegeheim<br />
erlaubt ist, sowohl im Eingangsbereich als auch im eigenen Zimmer zu rauchen.<br />
Gefundene Lösungen und deren Beurteilung durch die Ethikkommission:<br />
Nach mehreren Gesprächen, bei denen auch der behandelnde Arzt, der gesetzliche<br />
Bewohnervertreter sowie eine ehrenamtlich <strong>für</strong> Frau S. engagierte Besucherin eingeschaltet<br />
wurden, wurde Frau S. letztlich eine Vereinbarung „aufgezwungen“, nach der<br />
es ihr nicht mehr erlaubt ist, im eigenen Zimmer zu rauchen. Zur Umsetzung dieser<br />
Vorgabe wurde vereinbart, dass Frau S. keine Zigaretten bei sich führen darf, sondern<br />
jede einzelne Zigarette vom Pflegepersonal zugeteilt erhält. Damit diese Vereinbarung<br />
nicht unterlaufen werden kann, wurde vereinbart, dass es den <strong>Mitarbeiter</strong>n jederzeit<br />
zusteht, das gesamte Zimmer von Frau S. sowie ihre persönliche Sachen und<br />
Kleidungsstücke zu durchsuchen und alle bei ihr vorgefunden Zigaretten abzunehmen<br />
und zu verwahren.<br />
Die Ethikkommission war sich in diesem Fall von Anfang an einig, dass sowohl die<br />
Herangehensweise als auch die Lösung interessengerecht war. Die Bewohnerin nimmt<br />
<strong>für</strong> die Möglichkeit, weiterhin im Pflegeheim wohnen bleiben und – eingeschränkt –<br />
weiterhin rauchen zu können, eine erhebliche Einschränkung ihrer Privatsphäre und<br />
Selbstbestimmungsmöglichkeiten in Kauf. Die <strong>Mitarbeiter</strong> des Heimes dagegen nehmen<br />
einen erhöhten Kontroll- und Verwaltungsaufwand auf sich, um der Bewohnerin<br />
den weiteren Verbleib im Heim (inklusive der Möglichkeit zu rauchen) zu ermöglichen.<br />
Die Ethikkommission nimmt in diesem Fall auch zur Kenntnis, dass die Lösung erst<br />
durch eine massive Außensteuerung erreicht wurde, die einen erpresserischen Charakter<br />
trägt, aber als ultima ratio nach Abwägen anderer Lösungswege (Einweisung in<br />
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die Langzeitpsychiatrie und ungewisse Zukunftsperspektive) letztlich als einzig mögliche<br />
gewählt wurde. Jedenfalls könne das <strong>Autonomie</strong>streben einzelner Menschen in<br />
keinem Falle soweit hingenommen werden, dass andere Menschen erheblich gefährdet<br />
werden. Nach Abwägung der Risiken anderer und des Selbstbestimmungsrechtes<br />
der Bewohnerin wäre im vorliegenden Falle grundsätzlich immer einem Rauchverbot<br />
<strong>für</strong> die Bewohnerin (was letztlich einer Kündigung des Heimvertrages gleichkäme)<br />
und damit einer Reduzierung der Fremdgefährdung der Vorzug zu geben. Daher<br />
bedeuten die Durchsuchungsmöglichkeiten und die Möglichkeiten der Wegnahme von<br />
Zigaretten zwar eine höhere Einschränkung der körperlichen und räumlichen Integrität,<br />
als sie normalerweise Menschen im Kontext einer <strong>für</strong> viele Menschen gemeinsam<br />
organisierten Pflege und Betreuung in einem Pflegeheim zugemutet wird, müssen<br />
aber von Frau S. als „bessere“ Alternative zu einer Beendigung des Heimaufenthaltes<br />
hingenommen werden.<br />
Wichtig war der Ethikkommission in diesem Fall auch die Transparenz des Entscheidungsvorganges.<br />
Die Einbeziehung von Außenstehenden (Stadtarzt, Heimbewohnervertreter)<br />
in das gewählte Schutzarrangement erhöht die Akzeptanz der Entscheidung<br />
sowohl gegenüber Frau S. als auch gegenüber sonstigen Dritten.<br />
(6) Herr A. braucht eine „Alkoholvereinbarung“<br />
Ausgangssituation:<br />
Herr A. wurde 1958 in Ostberlin geboren. Zu einer leichten geistigen Behinderung hinzu<br />
kam durch einen Arbeitsunfall ein Schädel-Hirn-Trauma. Er leidet seit Jahrzehnten<br />
an einer chronischen Alkoholabhängigkeit. Auch beide Elternteile hatten bzw. haben<br />
Alkoholprobleme.<br />
Im Jahr 2001 kam er von der Langzeit-Suchtstation des Zentrums <strong>für</strong> Psychiatrie<br />
(ZfP) als „therapiert“ auf eine Wohngruppe der St. Gallus-Hilfe. Das Zentrum <strong>für</strong><br />
Psychiatrie hatte im Blick auf seine Abhängigkeit einen geregelten Tagesablauf und<br />
eine sinnstiftende und auslastende Tagesbeschäftigung empfohlen. Das Leben in der<br />
Gruppe in Kombination mit einer Tätigkeit in der Werkstatt <strong>für</strong> behinderte Menschen<br />
(WfbM) ging mehrere Jahre gut. Kleinere Rückfälle konnten vom Team mit Hilfe der<br />
heimärztlichen Ambulanz aufgefangen werden, wenn auch unter hohem zeitlichen<br />
und persönlichem Einsatz.<br />
Im Jahr 2005 wurde im Zuge der Ambulantisierung die Auflösung von Herrn A.s<br />
Wohngruppe angekündigt. Er interessierte sich sehr <strong>für</strong> eine selbstständigere Lebensweise<br />
im eigenen Apartment. Trotz enger Begleitung durch Fachkräfte, die die<br />
Alkoholproblematik ansprachen, trotz Abstimmung mit der WfbM und Anbindung an<br />
die Anonyme-Alkoholiker-Gruppe in der Gemeinde gelang es ihm nicht, sich in dieser<br />
Wohnform zurechtzufinden. Nach drei Monaten scheiterte er an den Anforderungen.<br />
Sein Alkoholkonsum wurde exzessiv. Die Folgen waren eine körperliche Verwahrlosung,<br />
die seine Gesundheit gefährdete, und häufiges Fehlen am Arbeitsplatz. Er<br />
wurde wieder in der Wohngruppe aufgenommen.<br />
Später – im Jahr 2006 – scheiterte auch das Begleitete Wohnen in der Familie seines<br />
Bruders nach nur wenigen Monaten. Und dies trotz intensiver Begleitung durch Sozialarbeiter<br />
und die örtliche Suchtberatung. Auch diese Wohnphase war durch exzessiven<br />
Alkoholkonsum gekennzeichnet. Charakteristisch waren auch massive Probleme<br />
in der Familie sowie kleinere Betrügereien und Straffälligkeiten. Die Therapeuten der<br />
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Suchtstation des ZfP fragten erneut nach einem Heimplatz im stationären Bereich,<br />
da weder die Krankenkasse noch der Rentenversicherungsträger bereit waren, eine<br />
längerfristige Entziehung zu finanzieren. Mittlerweile wohnt Herr A. – nach zwei Aufenthalten<br />
im ZfP – wieder in der ursprünglichen stationären Wohngruppe. Grundlage<br />
<strong>für</strong> das Zusammenleben bildet die „Alkoholvereinbarung“.<br />
Entscheidung:<br />
Es wurde entschieden, Herrn A. wieder auf einer stationären Gruppe aufzunehmen.<br />
Bedingung <strong>für</strong> den Einzug ist eine so genannte Alkoholvereinbarung. Diese ist mit ihm<br />
exakt durchgesprochen und regelt detailliert die Rechte und Pflichten, sowohl seine<br />
eigenen als auch die der Wohngruppe.<br />
Dilemma:<br />
Herr A. tut sich schwer mit der Einschätzung seiner Behinderung, seiner Defizite<br />
und seines Alkoholproblems, aber auch mit einer realistischen Wahrnehmung seiner<br />
eigenen Wünsche nach mehr Selbstständigkeit. Paradox ist in seinem Fall, dass er<br />
bezogen auf lebenspraktische Fähigkeiten und seine individuelle Motivation durchaus<br />
mehr Freiheiten haben könnte. Da er diese Spielräume nur eingeschränkt <strong>für</strong> sich<br />
nutzen kann, leidet er oft unter Spannungen und ist unzufrieden, was in der Folge zu<br />
Konflikten führt.<br />
Seine chronische Alkoholproblematik mit jahrelanger Erfahrung in Institutionen<br />
bringt es mit sich, dass er stets die Grenzen der <strong>Mitarbeiter</strong> „austestet“, kommunikative<br />
Schwächen im Team aufspürt und <strong>für</strong> seine Zwecke und Interessen zu nutzen<br />
sucht. Dies führt zusätzlich zu Ambivalenzen im Team.<br />
Für die <strong>Mitarbeiter</strong> erfordert es einen sehr hohen Einsatz, ständig den Spielraum<br />
auszuloten zwischen einem Eingreifen in die persönliche <strong>Autonomie</strong> einerseits und<br />
der Ermöglichung von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung andererseits.<br />
Um die Situation zu normalisieren, muss das Team aufmerksam die Äußerungen und<br />
Verhaltensweisen von Herrn A. verfolgen und abwägen. Um die übrigen Bewohner zu<br />
schützen, müssen die <strong>Mitarbeiter</strong> deutliche Grenzen setzen. Andererseits wollen sie<br />
eine empathische, fördernde und Freiräume schaffende Atmosphäre bieten.<br />
Der paradigmatische Anspruch in der Behindertenhilfe nach Selbstbestimmung, Eigenverantwortlichkeit,<br />
Normalisierung, Assistenz und Kundenorientierung stellt eine<br />
hohe Anforderung an die Arbeitsweise der <strong>Mitarbeiter</strong>.<br />
Begründung:<br />
Nur so sah das Team eine Chance, bei einem abermaligen exzessiven Rückfall legitimierte<br />
Handlungsmöglichkeiten bis hin zu Sanktionen zu haben. Dazu gehören etwa<br />
die Zimmerkontrolle und die Wegnahme von alkoholischen Getränken, der Verzicht<br />
auf den Kontakt zur Mutter, die sein Suchtverhalten fördert, oder ein Supermarktverbot.<br />
Mit Hilfe der Vereinbarung weiß Herr A., worauf er sich „eingelassen“ hat. <strong>Mitarbeiter</strong><br />
reglementieren ihn nach Einschätzung der Situation, um ein Zusammenleben<br />
in der Gruppe zu ermöglichen. Vom Team erfordert dies einen Spagat, da die anderen<br />
Mitbewohner diese Reglementierung nicht brauchen. Herr A. muss sich explizit an<br />
Vereinbarungen halten.<br />
Zusätzlich holten sich die <strong>Mitarbeiter</strong> qualifizierte Hilfe in Form einer Teamberatung<br />
durch einen professionellen Suchtberater der regionalen Psychosozialen Beratungsstelle<br />
der ökumenischen Diakonie. So sollen die <strong>Mitarbeiter</strong> Verhaltensweisen oder<br />
Anzeichen <strong>für</strong> einen steigenden Suchtdruck besser erkennen, um rechtzeitig reagieren<br />
zu können. Außerdem erhalten sie Hilfe dabei, leichter eine professionelle Distanz<br />
in dem Beziehungsverhältnis aufbauen zu können.<br />
44 45
(7) Herr B. lernt Hilfsmaßnahmen anzunehmen<br />
Ausgangssituation:<br />
Der 42-jährige Herr B. mit einem unauffälligen Erscheinungsbild hat eine leichte geistige<br />
Behinderung. Diese wird begleitet von unberechenbaren pathologischen Erregungszuständen.<br />
Herr B. zeigt dissoziale Verhaltensstörungen, die ohne erkennbaren<br />
Anlass stattfinden und als unangemessene Zielerreichungs- oder Problemlösungsstrategien<br />
dienen. Anamnetisch bekannt sind kleine Diebereien und sexuelle Verhaltensauffälligkeiten.<br />
Die Familienangehörigen sind in dieser Lage verständlicherweise<br />
überfordert. Es kommt mehrfach zu stationären psychiatrischen Kriseninterventionen.<br />
Mehrere Versuche, eine dem individuellen Hilfebedarf des Behinderten angemessene<br />
Heimbetreuungsstruktur zu schaffen, sind gescheitert.<br />
Im Kontext einer Krisenintervention kommt Herr B. zur stationären Aufnahme in die<br />
St. Lukas-Klinik. Die abgebende Einrichtung hat zwischenzeitlich den Heimvertrag<br />
aufgekündigt; er sprenge ihre Betreuungsmöglichkeiten. Herr B. ist bezogen auf<br />
Alltagsfertigkeiten recht selbständig, ist wortgewandt und mit erstaunlicher praktischer<br />
Intelligenz ausgestattet. Dennoch braucht er eine <strong>für</strong>sorgliche Hilfsstruktur.<br />
Dies verkennt er aufgrund eines irrealen Selbstbildes. In seinen Plänen, Wünschen<br />
und Erwartungen ist er maßlos, expansiv und dreist fordernd – ohne Rücksicht auf<br />
den sozialen Kontext. Er beherrscht effiziente Druck- und Erpressungsstrategien<br />
und andere teilweise dissoziale Zielerreichungsmuster. Bisherige polizeiliche Kontakte<br />
versandeten, da von Seiten der Staatsanwaltschaft jeweils mit Verweis auf die<br />
Behinderung von strafrechtlichen Verfahren abgesehen wurde. Herr B. erlebt sich in<br />
keiner Weise als behindert, leistungseingeschränkt oder gar krank – entsprechend<br />
problematisch war im stationären Rahmen die Kooperation mit ihm. Der gesetzliche<br />
Betreuer (sein Bruder) sah anfangs keine Indikation <strong>für</strong> psychiatrische und medizinische<br />
Hilfen. Er verweigerte zunächst auch eine stringente pädagogische Struktur, die<br />
Freiheitseinschränkungen implizierte. Die Eltern – und nach deren Tod auch der Bruder<br />
– hatten <strong>für</strong> Herrn B. stets eine „Verwöhn-Atmosphäre“ geschaffen und sind den<br />
absehbaren Konflikten, die eine Grenzsetzung hervorgerufen hätte, „um des lieben<br />
Friedens willen“ stets aus dem Weg gegangen.<br />
Weil Herr B. im Gespräch mit dem Vormundschaftsrichter sich eloquent von seiner<br />
angenehmsten Seite her präsentieren konnte und da auch eine Selbstgefährdung im<br />
engeren Sinne sich nicht aufdrängte, wurden freiheitseinschränkende Maßnahmen,<br />
also die Erlaubnis, den Handlungsspielraum von Herrn B. gegebenenfalls einzugrenzen,<br />
als nicht gerechtfertigt beurteilt.<br />
Dilemma:<br />
Der geistig behinderte Herr B. ist „krankheitsuneinsichtig“. Er hat aufgrund seiner<br />
geistigen Behinderung und einer unverkennbaren Persönlichkeitsstörung ein irreales<br />
Selbstbild. Er erkennt <strong>für</strong> sich keinen Therapie- oder sonstigen Hilfebedarf. <strong>Eine</strong><br />
Entlassung in die vorherige Behinderteneinrichtung ist nicht möglich. (Der Heimvertrag<br />
wurde gekündigt, Herr B. hat bereits eine Odyssee in der Behindertenhilfe hinter<br />
sich.) <strong>Eine</strong> Entlassung nach Hause ist ebenfalls ausgeschlossen, weil die Eltern gestorben<br />
sind, der Bruder erwiesenermaßen überfordert ist und sich verweigert. Von<br />
amtlicher Seite werden heilpädagogisch-sozialtherapeutische Hilfemaßnahmen, die<br />
u. U. Freiheitseinschränkungen implizieren, als nicht gerechtfertigt erachtet. Faktisch<br />
besteht aber Therapie- und spezieller Hilfebedarf.<br />
Entscheidung:<br />
Die St. Lukas-Klinik entschied sich, <strong>für</strong> Herrn B. ein Reihe spezifisch heilpädagogischer<br />
und sozialtherapeutischer stationärer Hilfemaßnahmen zu schaffen, wohl wissend,<br />
dass, was immer an pragmatischer Hilfe angeboten wird, Kritik zur Folge haben kann.<br />
Andererseits wollte die Klinik Herrn B. nicht aufgeben, ihm vielmehr eine Zukunft<br />
öffnen, in der er sich sozial angenommen und integriert fühlen kann. Sie empfand<br />
ein Dilemma zwischen den gängigen Handlungsbegründungen <strong>für</strong> ärztlich-therapeutisches<br />
wie pädagogisch-assistierendes Handeln und der aktuellen praktischen Handlungsnotwendigkeit.<br />
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Begründung:<br />
Die Klinik sah keine Handlungsalternative, die in der Sache und auch ethisch als bessere<br />
Problemlösung überzeugt hätte. Sie empfand es als besondere Herausforderung,<br />
im Sinne des Stiftungsauftrags auch <strong>für</strong> „schwierige“ Menschen mit besonderem<br />
Hilfebedarf „da zu sein“ und mit den vorhandenen Rahmenbedingungen <strong>für</strong> ihn und<br />
in seinem Sinne eine passende Hilfe zu organisieren. Der gewählte Lösungspfad zeigt<br />
sich als zielführend. Herr B. fühlt sich wohl, er ist im neuen Gruppenverbund gut<br />
integriert und findet Anerkennung. Das Problemverhalten ist quantitativ wie qualitativ<br />
deutlich abgemildert – ein stringenter sozialtherapeutischer Kontext ist allerdings<br />
noch immer hilfreich und mittlerweile von Herrn B. als echte Hilfe akzeptiert und<br />
anerkannt.<br />
(8) Herr U. will Beifahrer werden<br />
Ausgangssituation:<br />
Herr U. ist 30 Jahre alt, arbeitet im Lager der Liebenau Service GmbH und wohnt<br />
vollstationär auf einer Wohngruppe der St. Gallus-Hilfe. Seine Mutter ist gesetzliche<br />
Betreuerin. Herr U. hat eine geistige Behinderung und ist Epileptiker. Er bekommt<br />
etwa ein bis zwei Anfälle in der Woche. <strong>Eine</strong>n Schutzhelm zu tragen lehnt er strikt ab.<br />
Herr U. hat den Wunsch, als Beifahrer auf dem Lkw zu arbeiten.<br />
Sein Verhalten und seine Beschäftigung im Lager sind als sehr schwierig zu bezeichnen.<br />
Er lässt sich schnell von seiner Arbeit ablenken, ist unmotiviert und verlässt<br />
öfters ohne Begründung seinen Arbeitsplatz. Auch lenkt er gerne seine Arbeitskollegen<br />
von der Arbeit ab und stichelt oder provoziert andere verbal. Er hofft, dass er<br />
sich mit seinem negativen Verhalten unbeliebt macht und dadurch schneller auf den<br />
Lkw-Arbeitsplatz wechseln darf.<br />
Beteiligte Personen:<br />
Mutter als gesetzliche Betreuerin:<br />
Die gesetzliche Betreuerin stimmt nicht zu, dass ihr Sohn auf dem Lkw arbeitet, da<br />
dieser Arbeitsplatz <strong>für</strong> Herrn U. aufgrund seiner Epilepsie gefährlicher ist als die<br />
bisherige Tätigkeit im Lager.<br />
Arzt:<br />
Ein Gespräch mit dem Arzt fand statt. Die Medikation wurde überprüft. Herr U. wurde<br />
auf die Gefahren eines epileptischen Anfalles hingewiesen und über das erhöhte Risiko<br />
aufgeklärt, wenn er keinen Schutzhelm trägt. Von Seiten des Arztes besteht <strong>für</strong><br />
Herrn U. überall ein Unfallrisiko. Er informiert Herrn U. über dieses Risiko.<br />
Arbeitsbereich/Wohnbereich:<br />
<strong>Eine</strong>rseits ist Herr U. Epileptiker mit häufigen Anfällen, <strong>für</strong> die sich vorher keine<br />
Anzeichen ergeben. Das heißt, er fällt bei einem epileptischen Anfall ohne vorherige<br />
Warnung oder Veränderung seines Verhaltens um. Die Gefahr, dass auf dem Lkw<br />
etwas passiert bzw. dass er sich beim Ein- und Aussteigen verletzt, ist groß. <strong>Eine</strong>n<br />
Schutzhelm will er aber nicht tragen.<br />
Auf der anderen Seite ist es der größte Wunsch des behinderten Menschen, auf dem<br />
Lkw mitzuarbeiten. Er bringt auch die Fähigkeiten/Fertigkeiten mit, diese Tätigkeit<br />
auszuführen.<br />
Dilemma:<br />
Darf ein <strong>Mitarbeiter</strong> mit einer epileptischen Erkrankung als Beifahrer auf einem Lkw<br />
trotz potentiellem Anfallsrisiko mitfahren, womöglich verbunden mit dem Risiko der<br />
Gefährdung Dritter?<br />
Zu entscheiden ist zwischen dem ausdrücklichen Wunsch von Herrn U. nach einem<br />
Arbeitsplatz als Beifahrer und dem davon ausgehenden Gefahrenrisiko, das bei einem<br />
Anfall <strong>für</strong> Herrn U. und eventuelle Dritte entsteht.<br />
Lösungsweg:<br />
Da der gesetzliche Betreuer nach Aufklärung der Lage nicht schriftlich zustimmte,<br />
dass Herr U. auf dem Lkw als Beifahrer ohne Schutzhelm arbeiten darf, wurde er<br />
zunächst weiter im Lager beschäftigt. Die neue Einstellung der Medikation durch<br />
48 49
den Wohnbereich wurde angegangen. Die epileptischen Anfälle von Herrn U. konnten<br />
durch Veränderung der Medikamente auf etwa einen Anfall im Monat verringert<br />
werden. Die Umstellung der Medikation erstreckte sich über mehrere Wochen. Herr<br />
U. wurde vom Arzt ausführlich belehrt, welche Gefahren bestehen, wenn er keinen<br />
Schutzhelm trägt, und was ihm passieren kann.<br />
Im Verlauf eines Jahres fanden mehrere Gespräche von Seiten des Sozialdienstes<br />
und der Fachkräfte <strong>für</strong> Arbeits- und Berufsförderung (FAB) mit Herrn U. statt, um<br />
herauszufinden, warum er strikt das Tragen eines Helmes ablehnt. Ihm wurde gesagt,<br />
dass er den Arbeitsplatz wechseln dürfe, wenn er den Schutzhelm trage. Auch die<br />
gesetzliche Betreuung hat <strong>für</strong> diesen Fall ihre Zustimmung angekündigt.<br />
Nach vielen Gesprächen stellte sich unter anderem heraus, dass Herr U. sehr große<br />
Angst davor hat, mit einem Helm auf dem Kopf von Anderen ausgelacht und beschimpft<br />
zu werden. Hier konnte dann angesetzt werden. Durch Information und Gespräche<br />
mit ihm und seinem Arbeitsumfeld konnte ihm die Angst vor dem Tragen des<br />
Schutzhelmes genommen werden.<br />
Es wurden interne Schutzmaßnahmen getroffen, die am Arbeitsplatz <strong>für</strong> Herrn U.<br />
berücksichtigt werden. So sitzt z.B. Herr U. im Lkw nicht neben dem Fahrer, sondern<br />
am Fensterplatz, damit er bei einem Anfall während der Fahrt nicht ins Lenkrad fällt;<br />
die Fahrer wurden im Umgang mit Epilepsie geschult etc.<br />
Die gesetzliche Betreuung von Herrn U. wurde informiert und ist nun mit dem Arbeitsplatzwechsel<br />
einverstanden.<br />
Meinungsbild in der Ethikkommission:<br />
Welche objektiven Entscheidungsverfahren sind dem Fall angemessen?<br />
Es hat sich als sinnvoll erwiesen, den Sachverhalt aus den verschiedenen Perspektiven<br />
der am Fall Beteiligten zu bedenken. Dieser Reflexionsprozess scheint wichtig und<br />
zentral. Wichtig war auch die Entscheidung, zu konkreten Vereinbarungen und Verpflichtungen<br />
<strong>für</strong> den betroffenen Menschen mit Behinderung zu gelangen. Ebenso<br />
wichtig war die Kontrollfrage, ob alle Chancen <strong>für</strong> ein eigenverantwortliches Handeln<br />
des Betroffenen genutzt wurden.<br />
(9) Sonjas Eltern wollen, dass sie sterben darf<br />
Ausgangssituation:<br />
Die einjährige Sonja (Name geändert) wird ins Kinderhospiz verlegt. Nach Geburtskomplikationen<br />
mit Sauerstoffmangel war es zu einer schwersten Hirnschädigung<br />
gekommen. Das Kind atmet selbständig, es wird vollständig über eine Magensonde<br />
ernährt, zeigt keinerlei Reaktionen und erfüllt letztendlich die Kriterien der irreversiblen<br />
Bewusstlosigkeit. Die Eltern erwarten das komplette Absetzen der künstlichen<br />
Ernährung im Kinderhospiz und wünschen, dass „ihr Kind endlich sterben darf“.<br />
Das Dilemma:<br />
Bei diesem extremen Fall weicht <strong>Autonomie</strong> gänzlich totaler Fremdbestimmung. Das<br />
Kind konnte sich selbst nie äußern, die Eltern sind als Verantwortliche die alleinigen<br />
Ansprechpartner. Sie sind verpflichtet, ihre Entscheidung im Interesse des Kindswohls<br />
zu treffen.<br />
„Hirntod“ ist nach der Richtlinie der Bundesärztekammer strikt definiert – dem gegenüber<br />
ist „irreversible Bewusstlosigkeit“ etwas anderes. Ist irreversible Bewusstlosigkeit<br />
wirklich irreversibel? Irreversible Bewusstlosigkeit per se bedeutet nicht unbedingt<br />
lebensbegrenzt erkrankt. Erniedrigt nicht die unbedingte Lebenserhaltung den<br />
Betroffenen zum Objekt medizinischer und pflegerischer Kunstfertigkeit? Was dient<br />
dem Wohl des Patienten? Kann aus dem Grundrecht „Jeder Mensch hat ein Recht zu<br />
leben“ auch zwingend eine „Pflicht zu leben“ abgeleitet werden?<br />
Der Arzt steht zwischen der Pflicht, Leben zu erhalten, und der Pflicht, Leiden zu<br />
mindern, wobei die Schwere des Leidens hier nicht gemessen/objektiviert werden<br />
kann. Inwieweit darf das Wohl der Angehörigen in die Entscheidung einfließen? Aus<br />
juristischer Sicht sind Magensonde und künstliche Ernährung Eingriffe in die körperliche<br />
Integrität eines Menschen und bedürfen der Einwilligung. In der Regel beziehen<br />
sich gerichtliche Urteile und vergleichbare Fälle mit Absetzen der künstlichen Ernäh-<br />
50 51
ung in der Erwachsenenmedizin auf Menschen, deren mutmaßlicher Wille aus früheren<br />
Äußerungen oder mit Hilfe von Patientenverfügungen erhoben werden konnte.<br />
Was macht das Menschsein aus? Nur die Rationalität und das Selbstbewusstsein oder<br />
das Potential, grundsätzlich zu Rationalität und Selbstbewusstsein fähig zu sein? Ist<br />
die Maßnahme des Absetzens der künstlichen Ernährung dem Pflegepersonal zumutbar?<br />
Soll ein Familiengericht eingeschaltet werden?<br />
Die Entscheidung:<br />
Im Kinderhospiz findet ein Gespräch aller Beteiligten (Eltern, Ärzte, Pflegepersonal)<br />
statt, es werden Handlungsalternativen aufgezeigt. Einvernehmlich wird ein passives<br />
Vorgehen besprochen: Versuchsweise nonverbale Schmerzerfassung mit palliativer<br />
Sedierung bei u.a. Schmerzen bzw. Atemnot, keine sonstige Medikamentengabe bei<br />
allerdings gesicherter Grundpflege und Beibehaltung der Nahrungszufuhr über Magensonde.<br />
Das Personal im Kinderhospiz versucht in den darauf folgenden vier Wochen eine Atmosphäre<br />
des vertrauensvollen Miteinanders zu schaffen und den schwierigen Weg<br />
der Eltern durch fachlich-menschliche Unterstützung zu begleiten.<br />
Das Kind wird schließlich mit einem Notfall-Behandlungsplan und enger telefonischer<br />
Anbindung der Eltern an die Ärzte im Kinderhospiz nach Hause entlassen. Den Eltern<br />
wird bei Verschlechterung des Allgemeinzustandes ihres Kindes eine jederzeitige<br />
Aufnahme des Kindes ins Kinderhospiz angeboten.<br />
Die Begründung:<br />
Es wurden Pro und Contra der Frage diskutiert: „Darf die Nahrungszufuhr über<br />
Magensonde (eine pflegerisch einfache Maßnahme bei einem Säugling) abgesetzt<br />
werden?“<br />
Nach dem Tübinger Medizinethiker Georg Marckmann kann sich die Entscheidung bei<br />
völligem Fehlen des Patientenwillens/der <strong>Autonomie</strong> nur an allgemeinen Wertvorstellungen,<br />
d.h. am „objektiven Wohl“ des Patienten orientieren.<br />
In der Ethikkommission werden unterschiedliche Perspektiven diskutiert. Nach rein<br />
rechtlichen (und medizinischen) Aspekten könnte die Frage mit „ja“ beantwortet<br />
werden. Empfohlen wird jedoch, die Nahrungszufuhr beizubehalten. Die wichtigsten<br />
Argumente zur Antwort „nein“: <strong>Eine</strong> Willenserklärung des Kindes liegt nicht vor. Den<br />
Eltern steht kein Verfügungsrecht über Leben und Tod ihres Kindes zu. Das Recht auf<br />
Selbstbestimmung kann in diesem speziellen Fall um die Dimension der Fürsorge erweitert<br />
werden. Aus dieser Fürsorge entstehen ethische Pflichten, die mindestens zu<br />
einer Grundversorgung verpflichten. Passive Sterbehilfe sollte auf Fälle eingegrenzt<br />
werden, wo der Sterbeprozess irreversibel begonnen hat. <strong>Eine</strong> schwerwiegende Schädigung<br />
kann nicht per se als Verlust des Lebenswerts betrachtet werden. Und: wenn<br />
wir uns in einem solchen Fall anmaßen über Leben und Tod zu entscheiden, besteht<br />
die Gefahr eines Dammbruchs.<br />
2.2 <strong>Eine</strong> exemplarische Geschichte: <strong>Autonomie</strong> <strong>stärken</strong><br />
Die folgende Fallgeschichte erzählt von dem Weg zweier Menschen, die seit November<br />
2009 vom Fachdienst „Ambulant Betreutes Wohnen“ (ABW) der Stiftung Liebenau<br />
begleitet werden. Ihr Weg zeigt, wie es gelingen kann, <strong>Autonomie</strong> zu <strong>stärken</strong>.<br />
(1) Diagnosen<br />
Frau D. (32 Jahre) und Herr B. (41 Jahre) sind mehrfachbehindert und beide Rollstuhlfahrer.<br />
Bei Frau D. lautet die Diagnose auf Dysarthrie (motorisch bedingte Sprechstörung),<br />
Epilepsie, Lernbehinderung, Persönlichkeitsstörung mit depressiven Episoden,<br />
selbstverletzendes Verhalten und spastische Tetraparese. Bei Herrn B. wurde 1988<br />
eine beidseitige Oberschenkelamputation durchgeführt; er leidet an arterieller Hypertonie,<br />
Depression, Sigmoidostomie und Urostoma, Spina bifida mit Paraplegie („offener<br />
Rücken“), Subileus bei Verwachsungsbauch und einem suprapubischen Hauttumor.<br />
52 53
(2) Vorgeschichte<br />
Frau D. und Herr B. lebten seit Januar 2006 in einem Behindertenheim in M. im Großraum<br />
Stuttgart, waren aber auch schon davor vollstationär in verschiedenen Heimen<br />
untergebracht. Das Heim in M. ist nicht gemeindenah, sondern in der Peripherie<br />
gelegen.<br />
Frau D. und Herr B. sind seit 20 Jahren befreundet und seit August 2009 ein Paar<br />
mit der Absicht, zu heiraten. Im Heimbereich bewohnten die beiden zwei getrennte<br />
Zimmer. Arbeiten und Wohnen waren räumlich nicht getrennt, sondern lagen innerhalb<br />
des Heimgeländes. Durch den stationären Kontext war nur ein geringes Maß an<br />
<strong>Autonomie</strong> gegeben; zum Beispiel war selbstständiges Einkaufen oder Essenszubereitung<br />
kaum möglich. In nahezu allen Lebensbereichen erfolgte eine vollstationäre<br />
Versorgung. Für die <strong>Mitarbeiter</strong> war es nicht vorstellbar, dass Menschen mit diesen<br />
Behinderungen in einer Wohnung selbständig zusammen leben und ambulant begleitet<br />
werden können.<br />
Frau D. arbeitete ganztags in der Werkstatt <strong>für</strong> behinderte Menschen (WfbM), Herr B.<br />
halbtags. Beide haben keine gesetzlichen Betreuer und sind voll geschäftsfähig. Frau<br />
D. lebte bis vor ca. zehn Jahren schon hier in Oberschwaben (im Körper-Behinderten-<br />
Zentrum Oberschwaben), aus diesem Grund war der Wunschwohnort der Kreis<br />
Ravensburg.<br />
(3) Veränderungen durch ambulantes Begleiten in der eigenen Wohnung<br />
Durch die „Aufnahme ins Ambulant Betreute Wohnen“ ergab sich <strong>für</strong> die beiden Rollstuhlfahrer<br />
im Vergleich zum stationären Heimbereich in M. ein erheblicher Zuwachs<br />
an <strong>Autonomie</strong> und Teilhabe und somit an Lebensqualität. Im Einzelnen handelt es sich<br />
um folgende Veränderungen:<br />
Sie wohnen jetzt als eigenständige Mieter in einer 66 qm großen, barrierefreien<br />
2-Zimmer-Neubauwohnung in G., etwa 5 km von Ravensburg, mit schöner Aussicht<br />
(Normalität der Wohnverhältnisse). Sie können also als Paar in einer Wohnung zusammenleben.<br />
Ihr Anteil an der Selbstversorgung ist stark gestiegen, sie bereiten sich<br />
beispielsweise alle drei Mahlzeiten täglich selbstständig zu (wann, was und wie sie<br />
wollen). Die Wohnung wurde nach ihren eigenen Vorstellungen und Wünschen gestaltet,<br />
wie z. B. die Auswahl der Möbel oder das Zusammenstellen der Einzelbetten<br />
(elektrisches Bett und Pflegebett) ins gemeinsame Schlafzimmer. Beide sind sehr<br />
stolz auf ihre eigenen Haustürschlüssel. Sie schätzen das Vorhandensein von Nachbarschaftsbeziehungen.<br />
Sie begrüßen die Freiheit zu ihrem eigenen Tag-/Nachtrhythmus<br />
vor allem am Wochenende. Für die individuelle Unterhaltung haben sie zwei Fernsehgeräte<br />
angeschafft.<br />
Herr B. übernimmt deutlich mehr Verantwortung <strong>für</strong> die Pflege seiner Partnerin,<br />
auch die Verantwortung im Notfall (z. B. bei einem epileptischen Anfall) telefonisch<br />
Hilfe anzufordern. Termine mit dem ABW, der Sozialstation, dem Arzt, der Krankengymnastik<br />
vereinbaren sie eigenverantwortlich. Sie genießen die gute Infrastruktur<br />
durch Gemeindenähe, d. h. Einkaufsmöglichkeiten, Bank, Arzt, Apotheke, Krankengymnast.<br />
Das Halten von Tieren (zwei Kaninchen) ist möglich.<br />
Wichtig ist vor allem: Der Arbeitsplatz ist getrennt vom Wohnen. Durch die neue<br />
Lebensform hat sich bei Herrn B. der Wunsch nach einer Vollzeitbeschäftigung in<br />
einer WfbM verstärkt. Die Hospitation in einer WfbM hat zum Aufbau erster Kontakte<br />
geführt.<br />
(4) Hilfen des Fachdienstes „Ambulant Betreutes Wohnen“<br />
Der Assistenzvertrag beschreibt u. a. die individuellen Betreuungsleistungen des ABW<br />
(und die Gegenleistungen des Klienten) und ist von Frau D. und Herrn B. selbstständig<br />
unterschrieben, da beide keine gesetzliche Betreuung haben.<br />
Folgende Leistungen werden aktuell bzw. wurden schon erbracht: Unterstützung bei<br />
der Beantragung der Kostenübernahme und bei der Gewährung der Erstausstattung<br />
<strong>für</strong> die Wohnung; Wohnungssuche (barrierefrei) und Mithilfe bei der Ausstattung, wie<br />
rollstuhlgerechte Küche, Beleuchtung, Waschmaschine, Hilfsmittel wie Pflegebett und<br />
54 55
elektrisches Bett, elektrischer Lifter, Duschstuhl (über Krankenkasse und Sanitätshaus);<br />
Unterstützung beim Einzug; Spendenakquise über den Förderverein der St.<br />
Gallus-Hilfe <strong>für</strong> die Küche, da der Betrag der Erstausstattung viel zu gering war und<br />
ohne Küche der Einzug in die Wohnung gefährdet war; Mithilfe bei der Sicherung<br />
des Lebensunterhalts, d.h . Beantragung von Grundsicherung und Erwerbsminderungsrente,<br />
Klärung von Zuständigkeiten; <strong>Orientierung</strong>shilfe im nahen Umfeld, d.h.<br />
Anmeldung bei der Gemeinde, Kennenlernen der Hausgemeinschaft, Ärzteauswahl<br />
und Vorstellung (rollstuhlgerechter Eingang der Praxis), Organisation einer Krankengymnastik<br />
mit Hausbesuchen <strong>für</strong> Frau D., Zeigen der Einkaufsmöglichkeiten, Eröffnen<br />
eines Bankkontos und Kautionssparbuchs, Organisation der Abfalltonnen <strong>für</strong> Restmüll<br />
und Zusatzbehälter <strong>für</strong> den Inkontinenzbedarf, Ummeldung der Krankenkassen, Änderung<br />
der Schwerbehindertenausweise…; Vermittlung der Sozialstation <strong>für</strong> den pflegerischen<br />
Bedarf von Frau D. und den hauswirtschaftlichen Bedarf; Unterstützung<br />
bei der Suche nach einem Sanitätshaus als Ansprechpartner <strong>für</strong> die Hilfsmittelversorgung<br />
allgemein und Stomaversorgung von Herrn B.; Organisation der Tagesstruktur,<br />
d.h. Hospitationen in verschiedenen Werkstätten mit dem Ziel der baldigen Eingliederung<br />
in einen geeigneten WfbM-Arbeitsplatz; Organisation von Freifahrten über<br />
das Landratsamt Ravensburg zur Möglichkeit der Teilnahme an der Gemeinschaft, zur<br />
Teilhabe an kulturellen Veranstaltungen, zur Freizeitgestaltung, sowie von Krankentransportfahrten<br />
über den Malteser-Hilfsdienst zu Ärzten außerhalb des Wohnortes<br />
(z.B. rollstuhlgerechter Zahnarzt in Ravensburg); Unterstützung bei der Geldeinteilung;<br />
teilweise Übernahme von Behördenangelegenheiten über Vollmachten; Unterstützung<br />
bei jeglichem Schriftverkehr; Hilfe bei der Haushaltsplanung; Unterstützung<br />
bei Einkäufen; Führen von intensiven Gesprächen über die gemeinsame Beziehung<br />
und bei ersten Krisen; regelmäßige Überprüfung des Unterstützungsbedarfs; gute<br />
Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern und gemeinsame Absprachen sowie<br />
Austausch.<br />
(5) Einbeziehen weiterer Unterstützungsmaßnahmen<br />
Ohne die Einbeziehung verschiedener Kooperationspartner würde die ambulante<br />
Begleitung im Rahmen des ABW aufgrund des hohen Unterstützungsbedarfs nicht<br />
funktionieren: Ein Hilfemix ist notwendig.<br />
Er besteht aus folgenden Komponenten:<br />
- <strong>Mitarbeiter</strong> des Ambulant Betreuten Wohnens (mit Case Management-Funktion);<br />
- Sozialstation <strong>für</strong> Pflege und hauswirtschaftliche Unterstützung und Training;<br />
- Medikamentenherrichtung;<br />
- Krankengymnast/Physiotherapie;<br />
- Gesprächstherapie/Psychotherapeut;<br />
- Stomaberaterin übers Sanitätshaus;<br />
- Fahrdienst der Malteser;<br />
- Für Frau D. ist ihr Lebensgefährte, Herr B., ein wichtiger Teil im Unterstützungsmix,<br />
sie ist in einigen Bereichen auf seine Hilfe angewiesen, weil sie beispielsweise<br />
nicht alleine die Wohnungstüre aufschließen und öffnen kann.<br />
56 57
58 59
3 Anregungen <strong>für</strong> die Praxis<br />
Auf dem Hintergrund der Klärungen dessen, was <strong>Autonomie</strong> überhaupt und <strong>für</strong> Menschen<br />
mit Einschränkungen heißen kann, und unter dem Eindruck einiger Falldarstellungen,<br />
die die Entscheidung in schwierigen Situationen zugunsten von möglichst viel<br />
<strong>Autonomie</strong> in den Mittelpunkt stellen, geht es nun um Anregungen <strong>für</strong> eine autonomie<strong>stärken</strong>de<br />
Praxis in den Einrichtungen der Stiftung Liebenau. Sie sind an die<br />
Klienten, <strong>Mitarbeiter</strong> und die Stiftung Liebenau mit ihren Einrichtungen und Diensten<br />
adressiert. Sie sollen dazu dienen, konkrete Hinweise <strong>für</strong> eine professionelle und institutionell<br />
eingebundene Praxis zu geben, die das Stärken der <strong>Autonomie</strong> der Klienten<br />
zum Ziel hat. Am Schluss stehen Stichworte und damit verbundene Fragen, die allen<br />
Betroffenen als Prüfkriterien hier<strong>für</strong> dienen sollen.<br />
3.1 Den Rechtsanspruch der Betroffenen anerkennen<br />
Das Recht auf Achtung der <strong>Autonomie</strong> lässt sich <strong>für</strong> das alltägliche Handeln von<br />
Betreuern nach Monika Bobbert konkretisieren in fünf Elementen, die damit zusammenhängende<br />
Rechtsansprüche beinhalten.<br />
(1 ) Recht auf Festlegung des Eigenwohls<br />
Jedem Betreuten muss zugestanden werden, <strong>für</strong> sich selbst festzulegen, worin seine<br />
Vorstellung vom „guten Leben“ besteht. Er muss äußern dürfen, was ihm gut tut,<br />
und davon ausgehen dürfen, dass Andere seinen Wünschen und Zielen Rechnung<br />
tragen und er – soweit möglich – nach seinen eigenen Vorstellungen sein Leben<br />
gestalten kann.<br />
(2) Recht auf Information<br />
Keinem Betreuten dürfen die Informationen, etwa über seinen gesundheitlichen<br />
Zustand, die er <strong>für</strong> eine Entscheidung braucht, vorenthalten werden. Dazu gehören<br />
insbesondere Informationen über die Vor- und Nachteile einer Behandlung, die ihm<br />
vorgeschlagen wird.<br />
(3) Recht auf möglichst geringe Einschränkung des Handlungsspielraums<br />
Der individuelle Freiheitsraum eines Betreuten darf so wenig wie möglich durch so<br />
genannte „institutionelle Sachzwänge“ eingeschränkt werden. In den Einrichtungen<br />
des Gesundheitswesens und der Pflege liegt hier <strong>für</strong> die <strong>Mitarbeiter</strong> - sowohl <strong>für</strong> die<br />
auf der Leitungsebene wie <strong>für</strong> die auf der Ebene der konkreten medizinischen und<br />
pflegerischen Versorgung – eine große Herausforderung, die Praxis der Vergangenheit<br />
aufzuarbeiten und Handlungsleitlinien zu erarbeiten, die ein möglichst selbstbestimmtes<br />
Leben in den Einrichtungen ermöglichen.<br />
(4) Recht auf Zustimmung zu oder Ablehnung von Handlungen Dritter<br />
Jeder Betreute muss als Subjekt betrachtet werden, dem ein möglichst großes Maß<br />
an Mitsprache eingeräumt wird, vor allem bei Entscheidungen, die etwa die Gesundheitsvorsorge<br />
oder die Pflege betreffen. Er darf nicht als Objekt behandelt werden,<br />
an dem Entscheidungen der Pflegeleitung und des Pflegepersonals „vollzogen“ werden.<br />
Das gilt in besonderem Maß dort, wo durch solche Handlungen intime leibliche<br />
oder seelische Belange des Betreuten berührt werden.<br />
(5) Recht auf die Wahl zwischen möglichen Alternativen<br />
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das unter (2) und (4) schon angesprochen<br />
wurde, soll in der Weise konkretisiert werden, dass dem Betreuten die<br />
Wahl zwischen Alternativen eröffnet wird. Das Fachpersonal darf beraten, soll aber<br />
möglichst wenige Vorentscheidungen treffen. Damit vergrößert sich – so die in den<br />
letzten Jahren gewonnene Einsicht – die Chance, dass der Betreute seine individuellen<br />
Präferenzen verfolgen kann.<br />
5.2 <strong>Mitarbeiter</strong><strong>innen</strong> und <strong>Mitarbeiter</strong> kompetent machen<br />
(1) Mit asymmetrischen Beziehungen bewusst umgehen<br />
Da es beim Recht auf <strong>Autonomie</strong> nicht nur um ein bloßes Abwehrrecht geht, son-<br />
60 61
dern auch darum, eine Willensbildung zu ermöglichen über Sachverhalte, die den<br />
Betreuten zum großen Teil fremd sind, muss die Asymmetrie zwischen Betreuten und<br />
Helfern soweit wie möglich verringert werden. Monika Bobbert spricht von „vier großen<br />
Asymmetrien“, die die Situation im Krankenhaus kennzeichnen, die aber unseres<br />
Erachtens wohl ebenso <strong>für</strong> den Pflege- und Betreuungsbereich gelten:<br />
1. Die professionellen Helfer haben einen fachlichen Wissensvorsprung gegenüber<br />
den Betreuten<br />
2. Sie bewegen sich innerhalb der Institution in einer ihnen vertrauten Rolle, die<br />
ihnen Sicherheit gibt<br />
3. Sie leiden im Unterschied zu denen, die sie betreuen, nicht unter gesundheitlichen<br />
Beeinträchtigungen<br />
4. Sie stehen nicht in Abhängigkeit von den Betreuten und unterliegen damit<br />
nicht dem Druck, deren Erwartungen zu entsprechen.<br />
Um die <strong>Autonomie</strong> der betreuten Menschen zu fördern, ist es notwendig, diese<br />
Asymmetrien abzubauen bzw. dort, wo sie nicht verringert werden können, zumindest<br />
bewusst mit ihnen umzugehen.<br />
(2) Ethische Urteilskompetenz gew<strong>innen</strong><br />
Die Fallbeispiele haben gezeigt, dass in oft schwierigen Situationen Entscheidungen<br />
getroffen werden mussten. Das verlangt von den Betreuer<strong>innen</strong> die Fähigkeit einer<br />
sorgfältigen Wahrnehmung und Beobachtung sowohl der Klienten als auch der eigenen<br />
Verhaltensweisen im Konfliktfall. Notwendig ist auch die Kompetenz zur Analyse<br />
der Zusammenhänge, in denen <strong>Autonomie</strong> gefährdet ist bzw. gefördert werden kann.<br />
Ebenso wichtig ist die <strong>Orientierung</strong> der <strong>Mitarbeiter</strong> an Leitwerten, die dem Professionsethos<br />
und dem Leitbild der Betreuungsorganisation entsprechen. Erforderlich<br />
ist die Fähigkeit, in Verhaltensalternativen angesichts von <strong>Autonomie</strong>wünschen zu<br />
denken. Zudem ist es bei dilemmatischen Situationen notwendig, dass Entscheidungen<br />
klar, transparent und nachvollziehbar begründet werden. Zur Professionalität<br />
ethischer Urteilskompetenz zählt schließlich die Überprüfung der gefällten Entscheidung<br />
und deren eventuelle Revision oder Abänderung, wenn das Ziel einer gestärkten<br />
<strong>Autonomie</strong> nicht (mehr) erreichbar scheint.<br />
(3) In Beratung mit dem Betroffenen und seinem Umfeld entscheiden<br />
In allen Fallbeispielen ist auch deutlich geworden, dass es keine einsamen Entscheidungen<br />
von professionellen Helfern über die <strong>Autonomie</strong>chancen der Betroffenen<br />
geben darf. Entscheidungen in brisanten Situationen bedürfen der Einbeziehung des<br />
Betroffenen oder eines Stellvertreters, der die (mutmaßlichen) Anliegen des nicht<br />
(mehr) entscheidungsfähigen Betreuten vertritt. Bewährt hat sich auch das Prinzip<br />
der Interdisziplinarität, weil verschiedene Fachperspektiven den Fall in seiner Vielschichtigkeit<br />
offen legen und die Kreativität in der Lösungsfindung befördern. Das<br />
hat zwar den Nachteil einer zeitlichen Verzögerung in der Entscheidungsfindung,<br />
macht aber gemeinsam gefundene Lösungen tragfähiger. Je nach Situation ist es<br />
auch hilfreich, wenn das verwandtschaftliche und soziale Umfeld in die Entscheidungsbildung<br />
integriert wird. Auch dieser Schritt kann „lästig“ sein, birgt aber den<br />
Vorteil, dass die Ressourcen des Umfelds in die Lösungssuche produktiv eingebracht<br />
werden können.<br />
(4) Mit der „zweitbesten Lösung“ leben lernen<br />
In den Fallbeispielen wurde erkennbar, dass selten „glatte“ und ideale Lösungen<br />
gefunden werden konnten. Immer musste zwischen den verschiedenen Ansprüchen<br />
ein tragfähiger Kompromiss gefunden werden. In der Regel kann sich bei der Auflösung<br />
von dilemmatischen Situationen nicht eine Seite allein durchsetzen. Es bedarf<br />
also auch des Mutes, zu so genannten „zweitbesten Lösungen“ zu stehen. Oft ist<br />
eine „möglichst gute“, aber praktikable Lösung besser als die optimale, die sich in der<br />
Praxis als nicht realisierbar erweist.<br />
62 63
5.3 Leitfragen und Leitlinien zur Selbstbestimmung<br />
(1) Verantwortung<br />
Zu klären ist die Frage, wer die Verantwortung <strong>für</strong> das eigene Verhalten oder das<br />
Verhalten anderer trägt. Wie stark sind der eigene Wille und die Vernunftfähigkeit<br />
des Einzelnen eingeschränkt? Wie viel Unterstützung benötigt er? Welche Grenzziehungen<br />
und Einschränkungen sind nötig, welche erlaubt?<br />
Die Leitlinie <strong>für</strong> die Beantwortung dieser Fragen könnte heißen: So viel Raum <strong>für</strong><br />
Eigenverantwortung wie möglich, so viel Begrenzung wie nötig!<br />
(2) Regeln<br />
In schwierigen Situationen, die Grenzziehungen nötig machen, ist zu fragen, ob es<br />
<strong>für</strong> ein bestimmtes Verhalten, das den Betroffenen selbst oder andere schädigen<br />
kann, Verfahrensregeln gibt. Welcher Ablauf ist geplant bei riskantem Verhalten?<br />
Sind die Regeln allen Beteiligten bekannt? Wurden sie vom Betroffenen und dessen<br />
gesetzlichen Betreuern akzeptiert? Stehen die Regeln im Einklang mit dem geltenden<br />
Strafrecht? Wie kann Missbrauch ausgeschlossen werden?<br />
<strong>Eine</strong> Leitlinie könnte heißen: Interventionen, die Freiheit einschränken, sind nur mit<br />
akzeptierten Regeln erlaubt.<br />
(4) Sensibilität und Kompetenz<br />
Wie kann erreicht werden, dass <strong>Mitarbeiter</strong> und soziale Einrichtungen, die mit dauerhaft<br />
handlungseingeschränkten Menschen umgehen, sensibel bleiben <strong>für</strong> das Recht<br />
der Betroffenen auf möglichst viel Eigen- und Mitverantwortung und Teilhabe am<br />
Leben? Welche Reflexionsebenen und Fortbildungen sind nötig, um in schwierigen<br />
Situationen möglichst richtig zu handeln?<br />
<strong>Eine</strong> mögliche Leitlinie: Für den institutionellen und professionellen Umgang mit<br />
autonomieeingeschränkten Menschen bedarf es institutionell gestützter Formen der<br />
Bewältigung und der Entscheidungsfindung in schwierigen Grenzsituationen.<br />
(3) Lebenschancen<br />
Zu fragen ist bei (häufigen) freiheitseinschränkenden Maßnahmen, ob und inwieweit<br />
nach der Intervention eine Chance <strong>für</strong> den Betroffenen auf ein gutes Miteinander<br />
besteht. Wie kann ein Teufelskreis von Aktion und einschränkender Reaktion zugunsten<br />
einer fähigkeitsorientierten Umgangsform durchbrochen werden? Wie können<br />
die (verschütteten) Ressourcen der Betroffenen erkannt und entwickelt werden?<br />
<strong>Eine</strong> mögliche Leitlinie dazu: Freiheitseinschränkende Aktionen sind ethisch nur dann<br />
gerechtfertigt, wenn sie in ein ressourcenorientiertes Milieu eingebunden sind.<br />
64 65
66 67
Hinweise<br />
Im Blick auf die bessere Lesbarkeit des Textes wird häufig allein die männliche Form<br />
auch dort verwendet, wo beide Geschlechter gemeint sind.<br />
In den Teilkapiteln 1.2, 3.1 und 3.2 (1) stützen wir uns auf die grundlegende Untersuchung<br />
von Monika Bobbert: Patientenautonomie und Pflege. Begründung und Anwendung<br />
eines moralischen Rechts. Frankfurt am Main: Campus 2002, 130 - 144.<br />
Literatur<br />
Bielefeldt, Heiner: <strong>Autonomie</strong>. In: Handbuch Ethik, hrsg. von Marcus Düwell,<br />
Hübenthal Christoph und Werner Micha H.. Stuttgart; Weimar 2002, 305 -308.<br />
Bobbert, Monika: Patientenautonomie und Pflege.<br />
Begründung und Anwendung eines moralischen Rechts. Frankfurt am Main 2002.<br />
Brüll, Hans-Martin/Schmid, Bruno (Hrsg.): Leben zwischen <strong>Autonomie</strong> und Fürsorge.<br />
Beiträge zu einer anwaltschaftlichen Ethik. Freiburg 2008.<br />
Buber, Martin: Ich und Du. Erstmals Leipzig 1923; aufgenommen in:<br />
Ders.: Werke, Band I, München/Heidelberg 1962, 77 – 170.<br />
Habermas, Jürgen: Freiheit und Determinismus, in:<br />
Deutsche Zeitschrift <strong>für</strong> Philosophie, Band 52 (2004), Heft 6, 871-890.<br />
Hahn, Martin: Anthropologische Aspekte der Selbstbestimmung. In:<br />
Wilken, Etta/Vahsen, Friedhelm (Hrsg.):Sonderpädagogik und Soziale Arbeit.<br />
Rehabilitation und soziale Integration als gemeinsame Aufgabe. Neuwied, Berlin 1999.<br />
Hoffmann, Johannes: Moralpädagogik. Band I: Moraltheologische und moralpädagogische<br />
Grundlegung. Düsseldorf 1979.<br />
Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von<br />
Isensee Josef und Kirchhof Paul. 7 Bände, 3., völlig neu bearb. und erw. Aufl..<br />
Heidelberg 2003 – 2009.<br />
Höffe, Otfried: Freiheit. In: Ders.: Lexikon der Ethik. München 6. Aufl. 2002, 67 - 70.<br />
Huber, Norbert: Der Mensch – ein König und ein Bettler. Mensch sein mit Behinderung.<br />
In: Broch, Thomas/Tripp, Wolfgang (Hrsg.): Ihr sollt euch kein Bildnis machen. Predigten<br />
und Besinnungen zu Grundfragen des Lebens. Ostfildern 2002, 116 – 120.<br />
Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage „Was ist Aufklärung?“ In: Karl Vorländer:<br />
Philosophie der Neuzeit (Geschichte der Philosophie V, rde 281/282). Reinbek 1967,<br />
246 - 252.<br />
Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Werke in 10 Bänden,<br />
hrsg. von Wilhelm Weischedel, Band 6, Darmstadt 1981, 7 - 102.<br />
Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und<br />
Sozialphilosophie. Freiburg 1983.<br />
Marckmann, Georg: Lebensverlängerung um jeden Preis? Ethische Entscheidungskonflikte<br />
bei der passiven Sterbehilfe. In: Ärzteblatt Baden-Württemberg 2004, Heft 9,<br />
379 – 382.<br />
Merks, Karl-Wilhelm: <strong>Autonomie</strong>. In: Wils Jean-Pierre/Mieth Dietmar: Grundbegriffe<br />
der christlichen Ethik. Paderborn 1992, 254 - 281.<br />
Meyer-Drawe, Käthe: Illusionen von <strong>Autonomie</strong>. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht<br />
des Ich. München 1990.<br />
Pohlmann, Rosemarie: <strong>Autonomie</strong>. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie<br />
(HWdPh), hrsg. von Ritter Joachim, Band 1, Darmstadt 1971, Sp. 701 - 720.<br />
Rawls, John: <strong>Eine</strong> Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 1979.<br />
Ricoeur, Paul: Das Selbst als ein Anderer. München 1996.<br />
Roth, Gerhard: Willenfreiheit und Schuldfähigkeit aus der Sicht der Hirnforschung,<br />
in: Ders./Grün Klaus-Jürgen (Hrsg.): Das Gehirn und seine Freiheit. Göttingen 2. Aufl.<br />
2006, 9 - 28.<br />
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Impressum<br />
Herausgeber<br />
Ethikkomitee (vormals Ethikkommission)<br />
der Stiftung Liebenau<br />
1. Auflage 2010<br />
2. Auflage <strong>2013</strong><br />
Redaktion<br />
Hans-Martin Brüll, Fortbildner, Wissenschaftlicher <strong>Mitarbeiter</strong> am Zentrum <strong>für</strong> politisch-ökonomische<br />
und ethische Bildung in der PH Weingarten und Mitglied der Ethikkommission<br />
Prof. Dr. Bruno Schmid Ehemaliger Professor <strong>für</strong> katholische Theologie/Religionspädagogik (Schwerpunkt<br />
Religionspädagogik und theologische Ethik), PH Weingarten<br />
Unter Mitarbeit der Ethikkommission<br />
Dr. Berthold Broll, Vorstand der Stiftung Liebenau und Vorsitzender der Ethikkommission<br />
Wolf-Peter Bischoff, Leiter der Stabstelle Grundsatzfragen & Marketing<br />
Hans-Martin Brüll, Fortbildner, Wissenschaftlicher <strong>Mitarbeiter</strong> am Zentrum <strong>für</strong> politisch-ökonomische<br />
und ethische Bildung in der PH Weingarten<br />
Dr. Georg Fröhlich, Kinderarzt, Kinderklinik Memmingen<br />
Matthias Haag, Vizepräsident des Landgerichts Ravensburg<br />
Frank Moscherosch, Geschäftsführer Liebenau Service GmbH<br />
Klaus Müller, Geschäftsführer St. Anna-Hilfe gGmbH, Österreich<br />
Dr. Helmut Schädler, ehemaliger Geschäftsführer St. Lukas-Klinik gGmbH<br />
Gerhard Schiele, Geschäftsführer St. Anna-Hilfe gGmbH, Deutschland<br />
Prof. Dr. Bruno Schmid Ehemaliger Professor <strong>für</strong> katholische Theologie/Religionspädagogik (Schwerpunkt<br />
Religionspädagogik und theologische Ethik), PH Weingarten<br />
Ulrike Stutzmüller, Stabstelle Synergie-Management in der St. Gallus-Hilfe gGmbH<br />
Pfarrer Dieter Worrings, Vorstand i.R. Stiftung Liebenau<br />
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<strong>Autonomie</strong> <strong>stärken</strong><br />
<strong>Eine</strong> <strong>Orientierung</strong> <strong>für</strong> <strong>Mitarbeiter</strong><strong>innen</strong> und <strong>Mitarbeiter</strong>,<br />
erstellt von der Ethikkommission der Stiftung Liebenau<br />
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