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2 Beispiele <strong>für</strong> das Ringen um <strong>Autonomie</strong> 2.1 Suche nach Lösungen in Dilemmasituationen Die folgenden Beispiele stammen aus verschiedenen Einrichtungen und Betreuungsverhältnissen der Stiftung Liebenau. Allen gemeinsam ist das Streben der Klienten nach <strong>Autonomie</strong> der eigenen Lebensführung im Kontext professionell organisierter Lebenswelten. Alle Beispiele waren Gegenstand einer eingehenden Falldiskussion. In einigen Fällen war die Ethikkommission gefragt, nachdem schon entschieden war, wie es weitergeht. In anderen Fällen waren die Situationen so aktuell, dass die Diskussion in der Ethikkommission noch Einfluss auf die Entscheidungsfindung nehmen konnte. Die Darstellung der Fälle entspricht der Methodik ihrer Bearbeitung in der Ethikkommission: Der Schilderung der Ausgangssituation folgt die Beschreibung des Dilemmas. In der Regel werden sodann verschiedene Handlungsoptionen vorgestellt, bevor die Entscheidung <strong>für</strong> eine Lösung mit Begründung präsentiert wird. Die Beispiele zeigen, dass mehr oder weniger weite Entscheidungsspielräume da sind und von den Klienten auch genutzt werden, um ihren Willen kundzutun. Alle Fälle stellen das Pflegepersonal vor diverse Dilemmata, also Situationen, die sehr widersprüchliche Anforderungen an die Beziehung zu den Klienten aufzeigen. Die Lösungen, die im Folgenden aufgezeigt werden, sind mögliche Lösungen. Dabei wurden und konnten nicht in allen Fallbeispielen die ökonomischen und rechtlichen Schranken der Lösungsmöglichkeiten umschrieben und interpretiert werden. Außenstehende kommen vielleicht zu anderen Lösungen, auch Betroffene können sich anders entscheiden. Wichtig ist, dass entschieden wurde und dass jede Entscheidung begründet erfolgt ist. Die Beispiele sollen zeigen, dass es auch im stationären Rahmen gelingen kann, den <strong>Autonomie</strong>anspruch der Klienten so gut es geht zu berücksichtigen. Sie zeigen zugleich auf, dass es zur Professionalität des Pflegens und Helfens gehört, sich ethisch reflektiert ein Urteil zu bilden. (1) Frau D. will nicht mehr essen Ausgangssituation: Die 84jährige Frau D. wird mit einem Gewicht von 30 kg in ein Pflegeheim der St. Anna-Hilfe aufgenommen. Orale Nahrungsaufnahme lehnt sie vollständig ab und nimmt nur Flüssigkeit zu sich. Aufgrund ihres geringen Körpergewichts kann sie nur liegen und hat sich beim Einzug ins Pflegeheim schon aufgegeben. Durch aufmerksame Pflege bemühen sich die <strong>Mitarbeiter</strong>, ein Wundliegen zu verhindern. Auch versuchen sie Frau D. zu aktivieren. Über frühere Lieblingsspeisen gelingt es den <strong>Mitarbeiter</strong>n, Frau D. zum Essen zu motivieren. Ihre Stimmung wird besser und sie kann wieder lachen. Geistig ist sie die überwiegende Zeit orientiert. Dilemma: Obwohl Frau D. wieder Nahrung zu sich nimmt, isst sie nicht so viel, wie sie bräuchte. Die Pflegedienstleitung führt mit dem Betreuer ein Beratungsgespräch, in dem sie vorschlägt, Frau D. vorübergehend eine Sonde zu legen, damit sie an Gewicht zunimmt. Durch die Sonde hätte Frau D. die Möglichkeit, Folgeerscheinungen einer Mangelernährung zu vermeiden. Mit mehr Gewicht könnte Frau D. im Rollstuhl sitzen, an Aktivitäten teilnehmen, Kontakt zu anderen Bewohnern bekommen und ihre Lebensqualität würde steigen. Mit einer vorübergehenden Sonde ist der Betreuer einverstanden. Der Arzt lehnt eine Sonde jedoch ab, mit der Begründung, „alte Leute sollen sterben dürfen“. Der Betreuer vertraut dem, was der Arzt sagt. Frau D. bekommt keine Sonde. Mögliche Lösung: Die <strong>Mitarbeiter</strong> müssen die Entscheidung des Betreuers und die ärztliche Meinung akzeptieren. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten bieten sie Frau D. weiterhin Wunschkost an und versorgen sie mit hochkalorischer Trinknahrung. Über Biografiearbeit versuchen sie ihren Zustand zu stabilisieren. In der pflegerischen Versorgung passen sie besonders auf gerötete Stellen auf und beobachten den Gewichtsverlauf sehr genau. 34 35