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Autonomie stärken - Eine Orientierung für Mitarbeiter-/innen (2013)

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den Wohnbereich wurde angegangen. Die epileptischen Anfälle von Herrn U. konnten<br />

durch Veränderung der Medikamente auf etwa einen Anfall im Monat verringert<br />

werden. Die Umstellung der Medikation erstreckte sich über mehrere Wochen. Herr<br />

U. wurde vom Arzt ausführlich belehrt, welche Gefahren bestehen, wenn er keinen<br />

Schutzhelm trägt, und was ihm passieren kann.<br />

Im Verlauf eines Jahres fanden mehrere Gespräche von Seiten des Sozialdienstes<br />

und der Fachkräfte <strong>für</strong> Arbeits- und Berufsförderung (FAB) mit Herrn U. statt, um<br />

herauszufinden, warum er strikt das Tragen eines Helmes ablehnt. Ihm wurde gesagt,<br />

dass er den Arbeitsplatz wechseln dürfe, wenn er den Schutzhelm trage. Auch die<br />

gesetzliche Betreuung hat <strong>für</strong> diesen Fall ihre Zustimmung angekündigt.<br />

Nach vielen Gesprächen stellte sich unter anderem heraus, dass Herr U. sehr große<br />

Angst davor hat, mit einem Helm auf dem Kopf von Anderen ausgelacht und beschimpft<br />

zu werden. Hier konnte dann angesetzt werden. Durch Information und Gespräche<br />

mit ihm und seinem Arbeitsumfeld konnte ihm die Angst vor dem Tragen des<br />

Schutzhelmes genommen werden.<br />

Es wurden interne Schutzmaßnahmen getroffen, die am Arbeitsplatz <strong>für</strong> Herrn U.<br />

berücksichtigt werden. So sitzt z.B. Herr U. im Lkw nicht neben dem Fahrer, sondern<br />

am Fensterplatz, damit er bei einem Anfall während der Fahrt nicht ins Lenkrad fällt;<br />

die Fahrer wurden im Umgang mit Epilepsie geschult etc.<br />

Die gesetzliche Betreuung von Herrn U. wurde informiert und ist nun mit dem Arbeitsplatzwechsel<br />

einverstanden.<br />

Meinungsbild in der Ethikkommission:<br />

Welche objektiven Entscheidungsverfahren sind dem Fall angemessen?<br />

Es hat sich als sinnvoll erwiesen, den Sachverhalt aus den verschiedenen Perspektiven<br />

der am Fall Beteiligten zu bedenken. Dieser Reflexionsprozess scheint wichtig und<br />

zentral. Wichtig war auch die Entscheidung, zu konkreten Vereinbarungen und Verpflichtungen<br />

<strong>für</strong> den betroffenen Menschen mit Behinderung zu gelangen. Ebenso<br />

wichtig war die Kontrollfrage, ob alle Chancen <strong>für</strong> ein eigenverantwortliches Handeln<br />

des Betroffenen genutzt wurden.<br />

(9) Sonjas Eltern wollen, dass sie sterben darf<br />

Ausgangssituation:<br />

Die einjährige Sonja (Name geändert) wird ins Kinderhospiz verlegt. Nach Geburtskomplikationen<br />

mit Sauerstoffmangel war es zu einer schwersten Hirnschädigung<br />

gekommen. Das Kind atmet selbständig, es wird vollständig über eine Magensonde<br />

ernährt, zeigt keinerlei Reaktionen und erfüllt letztendlich die Kriterien der irreversiblen<br />

Bewusstlosigkeit. Die Eltern erwarten das komplette Absetzen der künstlichen<br />

Ernährung im Kinderhospiz und wünschen, dass „ihr Kind endlich sterben darf“.<br />

Das Dilemma:<br />

Bei diesem extremen Fall weicht <strong>Autonomie</strong> gänzlich totaler Fremdbestimmung. Das<br />

Kind konnte sich selbst nie äußern, die Eltern sind als Verantwortliche die alleinigen<br />

Ansprechpartner. Sie sind verpflichtet, ihre Entscheidung im Interesse des Kindswohls<br />

zu treffen.<br />

„Hirntod“ ist nach der Richtlinie der Bundesärztekammer strikt definiert – dem gegenüber<br />

ist „irreversible Bewusstlosigkeit“ etwas anderes. Ist irreversible Bewusstlosigkeit<br />

wirklich irreversibel? Irreversible Bewusstlosigkeit per se bedeutet nicht unbedingt<br />

lebensbegrenzt erkrankt. Erniedrigt nicht die unbedingte Lebenserhaltung den<br />

Betroffenen zum Objekt medizinischer und pflegerischer Kunstfertigkeit? Was dient<br />

dem Wohl des Patienten? Kann aus dem Grundrecht „Jeder Mensch hat ein Recht zu<br />

leben“ auch zwingend eine „Pflicht zu leben“ abgeleitet werden?<br />

Der Arzt steht zwischen der Pflicht, Leben zu erhalten, und der Pflicht, Leiden zu<br />

mindern, wobei die Schwere des Leidens hier nicht gemessen/objektiviert werden<br />

kann. Inwieweit darf das Wohl der Angehörigen in die Entscheidung einfließen? Aus<br />

juristischer Sicht sind Magensonde und künstliche Ernährung Eingriffe in die körperliche<br />

Integrität eines Menschen und bedürfen der Einwilligung. In der Regel beziehen<br />

sich gerichtliche Urteile und vergleichbare Fälle mit Absetzen der künstlichen Ernäh-<br />

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