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Autonomie stärken - Eine Orientierung für Mitarbeiter-/innen (2013)

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(7) Herr B. lernt Hilfsmaßnahmen anzunehmen<br />

Ausgangssituation:<br />

Der 42-jährige Herr B. mit einem unauffälligen Erscheinungsbild hat eine leichte geistige<br />

Behinderung. Diese wird begleitet von unberechenbaren pathologischen Erregungszuständen.<br />

Herr B. zeigt dissoziale Verhaltensstörungen, die ohne erkennbaren<br />

Anlass stattfinden und als unangemessene Zielerreichungs- oder Problemlösungsstrategien<br />

dienen. Anamnetisch bekannt sind kleine Diebereien und sexuelle Verhaltensauffälligkeiten.<br />

Die Familienangehörigen sind in dieser Lage verständlicherweise<br />

überfordert. Es kommt mehrfach zu stationären psychiatrischen Kriseninterventionen.<br />

Mehrere Versuche, eine dem individuellen Hilfebedarf des Behinderten angemessene<br />

Heimbetreuungsstruktur zu schaffen, sind gescheitert.<br />

Im Kontext einer Krisenintervention kommt Herr B. zur stationären Aufnahme in die<br />

St. Lukas-Klinik. Die abgebende Einrichtung hat zwischenzeitlich den Heimvertrag<br />

aufgekündigt; er sprenge ihre Betreuungsmöglichkeiten. Herr B. ist bezogen auf<br />

Alltagsfertigkeiten recht selbständig, ist wortgewandt und mit erstaunlicher praktischer<br />

Intelligenz ausgestattet. Dennoch braucht er eine <strong>für</strong>sorgliche Hilfsstruktur.<br />

Dies verkennt er aufgrund eines irrealen Selbstbildes. In seinen Plänen, Wünschen<br />

und Erwartungen ist er maßlos, expansiv und dreist fordernd – ohne Rücksicht auf<br />

den sozialen Kontext. Er beherrscht effiziente Druck- und Erpressungsstrategien<br />

und andere teilweise dissoziale Zielerreichungsmuster. Bisherige polizeiliche Kontakte<br />

versandeten, da von Seiten der Staatsanwaltschaft jeweils mit Verweis auf die<br />

Behinderung von strafrechtlichen Verfahren abgesehen wurde. Herr B. erlebt sich in<br />

keiner Weise als behindert, leistungseingeschränkt oder gar krank – entsprechend<br />

problematisch war im stationären Rahmen die Kooperation mit ihm. Der gesetzliche<br />

Betreuer (sein Bruder) sah anfangs keine Indikation <strong>für</strong> psychiatrische und medizinische<br />

Hilfen. Er verweigerte zunächst auch eine stringente pädagogische Struktur, die<br />

Freiheitseinschränkungen implizierte. Die Eltern – und nach deren Tod auch der Bruder<br />

– hatten <strong>für</strong> Herrn B. stets eine „Verwöhn-Atmosphäre“ geschaffen und sind den<br />

absehbaren Konflikten, die eine Grenzsetzung hervorgerufen hätte, „um des lieben<br />

Friedens willen“ stets aus dem Weg gegangen.<br />

Weil Herr B. im Gespräch mit dem Vormundschaftsrichter sich eloquent von seiner<br />

angenehmsten Seite her präsentieren konnte und da auch eine Selbstgefährdung im<br />

engeren Sinne sich nicht aufdrängte, wurden freiheitseinschränkende Maßnahmen,<br />

also die Erlaubnis, den Handlungsspielraum von Herrn B. gegebenenfalls einzugrenzen,<br />

als nicht gerechtfertigt beurteilt.<br />

Dilemma:<br />

Der geistig behinderte Herr B. ist „krankheitsuneinsichtig“. Er hat aufgrund seiner<br />

geistigen Behinderung und einer unverkennbaren Persönlichkeitsstörung ein irreales<br />

Selbstbild. Er erkennt <strong>für</strong> sich keinen Therapie- oder sonstigen Hilfebedarf. <strong>Eine</strong><br />

Entlassung in die vorherige Behinderteneinrichtung ist nicht möglich. (Der Heimvertrag<br />

wurde gekündigt, Herr B. hat bereits eine Odyssee in der Behindertenhilfe hinter<br />

sich.) <strong>Eine</strong> Entlassung nach Hause ist ebenfalls ausgeschlossen, weil die Eltern gestorben<br />

sind, der Bruder erwiesenermaßen überfordert ist und sich verweigert. Von<br />

amtlicher Seite werden heilpädagogisch-sozialtherapeutische Hilfemaßnahmen, die<br />

u. U. Freiheitseinschränkungen implizieren, als nicht gerechtfertigt erachtet. Faktisch<br />

besteht aber Therapie- und spezieller Hilfebedarf.<br />

Entscheidung:<br />

Die St. Lukas-Klinik entschied sich, <strong>für</strong> Herrn B. ein Reihe spezifisch heilpädagogischer<br />

und sozialtherapeutischer stationärer Hilfemaßnahmen zu schaffen, wohl wissend,<br />

dass, was immer an pragmatischer Hilfe angeboten wird, Kritik zur Folge haben kann.<br />

Andererseits wollte die Klinik Herrn B. nicht aufgeben, ihm vielmehr eine Zukunft<br />

öffnen, in der er sich sozial angenommen und integriert fühlen kann. Sie empfand<br />

ein Dilemma zwischen den gängigen Handlungsbegründungen <strong>für</strong> ärztlich-therapeutisches<br />

wie pädagogisch-assistierendes Handeln und der aktuellen praktischen Handlungsnotwendigkeit.<br />

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