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Autonomie stärken - Eine Orientierung für Mitarbeiter-/innen (2013)

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<strong>Autonomie</strong> <strong>stärken</strong><br />

<strong>Eine</strong> <strong>Orientierung</strong> <strong>für</strong> <strong>Mitarbeiter</strong><strong>innen</strong> und <strong>Mitarbeiter</strong> der Stiftung Liebenau<br />

Einleitung: Der Anlass <strong>für</strong> das Interesse am Thema<br />

Jeder Mensch soll autonom, d.h. selbstbestimmt, denken und handeln – das ist ein<br />

Prinzip unseres politischen und gesellschaftlichen Lebens. Gilt dieses Prinzip wirklich<br />

<strong>für</strong> alle Menschen? Auch <strong>für</strong> jene, die nur eingeschränkt zur Selbststeuerung fähig<br />

sind? Noch um die Mitte des 20. Jahrhunderts war die Leitidee im Umgang mit geistig<br />

behinderten Menschen die der „Verwahrung“: sie sollten in Anstalten und psychiatrischen<br />

Kliniken gepflegt, beschützt und bewahrt werden. Erst in den Jahren um 1960<br />

trat nach und nach der Gedanke der Förderung und Therapie in den Vordergrund,<br />

der schließlich zwei Jahrzehnte später mit Begriffen wie „Entpädagogisierung“,<br />

Normalisierung und Integration dem Leitbild der Selbstbestimmung auch <strong>für</strong> geistig<br />

behinderte Menschen zum Durchbruch verhalf. Mit dialogischer Begleitung sollten<br />

auch diese – so weit irgend möglich – befähigt werden, ihr eigenes Lebenskonzept zu<br />

entwerfen und zu verwirklichen.<br />

In den Einrichtungen der Stiftung Liebenau sind die Möglichkeiten und Grenzen, die<br />

Leitidee der Selbstbestimmung zu verwirklichen, jeden Tag erfahrbar. „<strong>Autonomie</strong>“<br />

ist in der Behindertenhilfe wie in der Altenhilfe, im Krankenhaus wie im Hospiz, in<br />

Bildungseinrichtungen wie in Werkstätten, in den Heimen wie in der Verwaltung als<br />

Thema allgegenwärtig – meist stillschweigend im alltäglichen Handeln, oft aber auch<br />

ausdrücklich in den Überlegungen und Entscheidungen der <strong>Mitarbeiter</strong><strong>innen</strong> und der<br />

zu Begleitenden. Die „Betreuungslandschaft“ hat sich längst über das Angebot an<br />

klassischen Hilfen <strong>für</strong> geistig behinderte Menschen hinaus erweitert. Die Fähigkeit<br />

zur Selbstbestimmung ist häufig durch Altersdemenz, durch Alkohol-, Nikotin oder<br />

Medikamentensucht beeinträchtigt. Zahlreiche Menschen haben einen besonderen<br />

Hilfebedarf. Die Pflegenden werden einerseits mit der Überzeugung vom Wert eines<br />

über Jahre andauernden Lebens im Wachkoma, andererseits aber ebenso mit dem<br />

Wunsch nach aktiver Sterbehilfe <strong>für</strong> einen schwerstbehinderten Säugling konfrontiert.<br />

In all diesen komplexen Situationen stellt sich <strong>für</strong> die <strong>Mitarbeiter</strong> die Frage: wie<br />

verhalten wir uns richtig? Und vor allem: was gilt in Konfliktfällen, wenn die Wünsche<br />

von Patienten, die Vorstellungen der Angehörigen, die Überzeugungen des Personals<br />

und die ethischen Leitsätze der Stiftung nicht in Übereinstimmung zu bringen sind?<br />

Die Ethikkommission der Stiftung Liebenau hat in mehr als zehn Sitzungen, die sich<br />

über den Zeitraum von September 2008 bis Juli 2010 erstreckten, zahlreiche Fallbeispiele<br />

aus verschiedenen Einrichtungen besprochen und vor dem Hintergrund ihres<br />

ethischen Leitbildes diskutiert. Sie will mit diesem Text die Ergebnisse ihrer Beratungen<br />

zusammenfassen und den <strong>Mitarbeiter</strong>n eine <strong>Orientierung</strong> geben, wohl wissend,<br />

dass die Praxis immer noch einmal komplizierter ist als die am „runden Tisch“ gefundene<br />

Lösung.<br />

Die Ethikkommission versteht diese Schrift als Materialsammlung, in der jede Leserin<br />

und jeder Leser das finden kann, was <strong>für</strong> sie oder ihn besonders wichtig ist. Wer<br />

Recht und Grenzen des Begriffs „<strong>Autonomie</strong>“ in theoretisch begründeten Überlegungen<br />

nachvollziehen will, kann ebenso fündig werden wie der, dem es um praktische<br />

Beispiele geht, die – kritisch kommentiert – ihm in seiner eigenen Praxis helfen; aber<br />

auch der, der nach den ethischen Maßstäben und dem Menschenbild einer Stiftung<br />

fragt, die die <strong>Autonomie</strong> der ihr anvertrauten Menschen fördern will.<br />

Im Anschluss an diese Einleitung wird daher zunächst der Begriff der „<strong>Autonomie</strong>“<br />

im Verständnis der Gegenwart geklärt. Er wird von „Fremdbestimmung“ abgegrenzt,<br />

rechtlich und ethisch vertieft und besonders im Blick auf Menschen mit eingeschränkter<br />

Fähigkeit zur Selbststeuerung erörtert (Kap. 1). Die gelingende Einlösung<br />

des Anspruchs auf <strong>Autonomie</strong>, wie sie im tagtäglichen Handeln in unseren Einrichtungen<br />

das Ziel ist, wird dann in neun Fallbeispielen vorgestellt. Dabei wird besonders<br />

auf Konfliktfälle geachtet, die die Kommission eingehend diskutierte und <strong>für</strong> die sie<br />

Lösungsvorschläge unterbreitete. <strong>Eine</strong> Geschichte, aus der exemplarisch deutlich<br />

wird, wie die <strong>Autonomie</strong> von Menschen mit eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten<br />

gestärkt werden kann, rundet die Sammlung der Beispiele ab (Kap. 2). Aus den Beispielen<br />

ergeben sich schließlich Anregungen <strong>für</strong> die Praxis, Kriterien und Leitlinien, die<br />

dazu beitragen sollen, die <strong>Autonomie</strong> der in den Einrichtungen der Stiftung Liebenau<br />

begleiteten Menschen systematisch zu <strong>stärken</strong> (Kap. 3).<br />

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