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Autonomie stärken - Eine Orientierung für Mitarbeiter-/innen (2013)

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sie). In manchen Fällen kann Mitleid ein legitimes Motiv sein, aber in vielen Fällen ist<br />

es das nicht. Das Mitleid ist zweideutig, weil der, der Hilfe leistet, seine Hilfe nicht vor<br />

der Vernunft begründet.<br />

<strong>Eine</strong> weitere Legitimation <strong>für</strong> die Einschränkung von Grundrechten wäre ein „aufgeklärter<br />

Paternalismus“, wie ihn der Sozialphilosoph John Rawls beschrieben hat. Er<br />

hält bevormundende Eingriffe in die Grundrechte sittlich nur dann <strong>für</strong> gerechtfertigt,<br />

wenn Menschen vor der Schwäche und dem Versagen ihrer Vernunft geschützt<br />

werden sollen. Nur die Gerechtigkeit und die Kenntnis der längerfristigen Bedürfnisse<br />

der Betroffenen kann also ein solches Eingreifen rechtfertigen. Mit der Beachtung<br />

dieser Kriterien ist letztlich die Menschenwürde der Beteiligten gesichert. Intervenieren<br />

gegen den Willen des Betroffenen darf man also nur, wenn der Maßstab der<br />

Menschenwürde gewahrt bleibt.<br />

Ein weiterer, ethisch legitimer Grund <strong>für</strong> Intervention gegen oder ohne den Willen<br />

des Betroffenen ist die Integrität des Menschen. Sind die Verhaltensweisen des Betroffenen<br />

derart, dass sie ihn selbst oder sein Umfeld schwer gefährden, ist ein freiheitseinschränkender<br />

Eingriff erlaubt oder sogar geboten. Um aber dem Manipulations-<br />

oder Unterdrückungsverdacht zu entgehen, muss dieser richterlich genehmigt<br />

sein. Als ethischer Maßstab hinter diesem Argument steht die unbedingte Akzeptanz<br />

der Person. Diese kann philosophisch-ethisch hergeleitet werden, sie ist aber auch<br />

theologisch mit der Gottesebenbildlichkeit begründbar. Die Achtung vor jeder Person<br />

gebietet also einen äußerst umsichtigen Umgang mit dem Eingreifen in die persönlichen<br />

Rechte eines Anderen. <strong>Eine</strong> aus der Personalität des Menschen abgeleitete<br />

Ethik der Anerkennung und der Achtsamkeit setzt damit auch die Maßstäbe <strong>für</strong> die<br />

Grenzen der Eingriffe in das selbstbestimmte Leben von Menschen mit geistiger Behinderung<br />

oder Menschen, die teilweise oder gar nicht mehr über ihr Leben souverän<br />

verfügen können.<br />

(3) Die Aufgaben von Sozialunternehmen zur Stärkung der <strong>Autonomie</strong><br />

Probleme mit der Achtung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen<br />

tauchen besonders dann auf, wenn sekundäre Abhängigkeiten zu den ohnehin schon<br />

vorhandenen Erfahrungen von Begrenztheit hinzukommen. Oft ist dies dann der Fall,<br />

wenn Menschen mit Behinderungen oder anderen Einschränkungen in einem professionellen<br />

und institutionellen Kontext betreut werden. Neben dem Versorgungs- und<br />

Betreuungsauftrag neigen soziale Einrichtungen nicht selten zu kolonisierenden Verhaltensweisen,<br />

die Menschen mit Behinderungen zusätzliche Abhängigkeitsprobleme<br />

verschaffen. Auch die Aktionen der professionellen Helfer sind nicht immer auf eine<br />

die Selbstbestimmung fördernde Interventionsstruktur aus. Menschen, die in Kontakt<br />

mit Hilfeeinrichtungen kommen, sehen sich einer spezifischen Zweischneidigkeit ausgesetzt:<br />

Der Schutz- und Schonrahmen gewährleistet – gerade den Schwächsten<br />

– einen sicheren und sichernden Lebensrahmen, stationäre Lebenswelten sind die<br />

Chance <strong>für</strong> Menschen, die genau diesen Rahmen brauchen. Dabei kann in der Regel<br />

bei Menschen mit Behinderungen nur in eingeschränktem Umfang von einer freiwilligen<br />

Entscheidung <strong>für</strong> ein Leben im stationären Kontext die Rede sein. Weil dem so ist,<br />

benötigen soziale Einrichtungen und ihre professionellen Helfer Strukturen, Reflexionsebenen<br />

und gegebenenfalls auch Qualitätskontrollen, damit sichergestellt ist, dass<br />

Menschen mit Behinderungen und ihre Stellvertretungen eine Chance haben, dass<br />

ihre Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte so weit wie möglich gewahrt bleiben.<br />

Dies gilt insbesondere in solchen Grenzfällen, die häufig durch selbst- und fremdschädigendes<br />

Verhalten auffallen. In jedem einzelnen Fall gilt es auch kritisch zu überprüfen,<br />

inwieweit das Verhalten von <strong>Mitarbeiter</strong>n oder die Strukturen der Einrichtung<br />

ursächlich zu diesem schädigendem Verhalten beigetragen haben. Wenn dies gelingt,<br />

leisten Einrichtungen und ihre <strong>Mitarbeiter</strong> einen wichtigen Beitrag zu einer Kultur der<br />

Anerkennung beschädigten Lebens. Sie dienen damit zugleich der Humanisierung des<br />

Gemeinwesens, das sich häufig zu seiner Entlastung von Menschen verabschiedet und<br />

seine Verantwortung an die Hilfeeinrichtungen delegiert hat. Soziale Einrichtungen<br />

leisten zudem durch einen sensiblen, ethisch reflektierten Umgang mit Menschen,<br />

die unter starken Willenseinschränkungen leiden, einen wichtigen Beitrag zur Teilhabe<br />

dieser Menschen am gesellschaftlichen Leben.<br />

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