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Autonomie stärken - Eine Orientierung für Mitarbeiter-/innen (2013)

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griffs nicht Voraussetzung <strong>für</strong> Selbstbestimmung und <strong>Autonomie</strong>. Deshalb wird hier<br />

(mit Ausnahme der Irrtumslehre in § 119 ff BGB) nicht nach den Bedingungen der<br />

Möglichkeit moralischen Handelns gefragt.<br />

Folgendes Beispiel möge dies verdeutlichen: <strong>Eine</strong> Ehefrau verbürgt sich gegenüber<br />

der Bank ihres Mannes zur Sicherung eines ihm gewährten Darlehens, obwohl sie als<br />

Hausfrau und Mutter zweier Kinder im Zeitpunkt der Bürgschaftsübernahme ohne<br />

Einkommen und Vermögen ist und auch später nach Aufnahme einer zumutbaren<br />

Erwerbstätigkeit nie in der Lage sein wird, sich von der real gewordenen Bürgschaftsschuld<br />

zu befreien. Wenn die Bank nicht zur Übernahme der Bürgschaft gedrängt<br />

oder auf andere Weise die Entscheidungsfreiheit der Frau beeinträchtigt hat,<br />

Auskunftspflichten nicht verletzt und das Haftungsrisiko nicht beschönigt hat, hat<br />

die Frau autonom „aus rechtlicher Perspektive“ gehandelt. Ob sie allerdings, weil sie<br />

sich aus – von ihr möglicherweise missverstandenen – religiösen oder moralischen<br />

Beweggründen veranlasst sah, die Erklärung gegenüber der Bank abzugeben, dem<br />

kategorischen Imperativ von Kant folgend „ethisch qualifiziert“ selbstbestimmt gehandelt<br />

hat, mag die ethische Sicht des <strong>Autonomie</strong>begriffs beantworten. Dieser wird<br />

es möglicherweise gelingen, die Frage nach dem „ethisch qualifiziert selbstbestimmten“<br />

Handeln zu beantworten, wenn die einzelnen Beweggründe (Hilfestellung <strong>für</strong><br />

den Ehepartner, Verantwortung <strong>für</strong> die übrigen Familienmitglieder u.a.m.) <strong>für</strong> das<br />

vormalige Tun (Übernahme der Bürgschaft <strong>für</strong> den Mann) abgewogen werden.<br />

Moral und Recht sind zwar begrifflich und vor allem im Bezugspunkt zu trennen;<br />

zwischen beiden besteht aber dennoch eine Beziehung. Denn Recht lässt sich nach<br />

dem Verständnis des Grundgesetzes in weiten Bereichen nicht ohne jeden Bezug auf<br />

sog. „überpositive Rechtsgrundsätze“ definieren. Das Grundgesetz vollzieht hier eine<br />

bewusste Abkehr vom Rechtspositivismus, d.h. die Geltung von Rechtsnormen ist<br />

nicht allein darauf zurückzuführen, dass sie von einer rechtsetzenden Institution erlassen<br />

wurden. Während sich aber die Moral an die Gesinnung des Menschen richtet,<br />

bezieht sich das Recht auf das äußere Verhalten des Menschen und knüpft an dieses<br />

an. Besonders deutlich wird dies an der Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag<br />

nach den §§ 211 und 212 des Strafgesetzbuchs sowie an der Begründung <strong>für</strong> die<br />

Strafbarkeit des Versuchs.<br />

Das Recht unterscheidet sich von der Moral auch durch die Art, wie es Geltung fordert<br />

und in einem normierten Verfahren durch von der Gemeinschaft autorisierte<br />

Organe zwangsweise durchgesetzt wird. Moralisches Verhalten ist in der Gemeinschaft<br />

nur erzwingbar, soweit es durch das Recht gefordert wird. Es ist zudem in der<br />

Regel auch nur mittelbar zu erzwingen durch das Aussetzen von Sanktionen <strong>für</strong> den<br />

Fall „unmoralischen“ Verhaltens. In diesem Zusammenhang ist dann als „Recht“ nicht<br />

nur die Gesamtheit der von rechtsetzenden Institutionen geschaffenen Rechtsregeln<br />

anzusehen, sondern auch der Vertrag, der – wie beispielsweise derjenige zwischen<br />

Patient oder betreuter Person und beschützender Einrichtung – zwischen natürlichen<br />

und auch juristischen Personen geschlossen wird und der sowohl Verhaltensmaßregeln<br />

als auch Sanktionen vorsehen kann.<br />

Recht entstammt auch oft moralischen und ethischen Bewertungen, benötigt diese<br />

aber nicht immer. Ob sich das gesetzgebende Organ einer Gemeinschaft dazu entschließt,<br />

im Straßenverkehr den Rechts- oder Linksverkehr einzuführen, unterliegt<br />

keiner Wertung nach ethischen oder moralischen Gesichtspunkten. Inwieweit der<br />

staatliche Gesetzgeber überpositiven Rechtsgrundsätzen (abgeleitet aus den Zehn<br />

Geboten oder aus anderen Quellen) beispielsweise durch die Strafgesetzgebung Geltung<br />

verschafft, ist jedoch Ergebnis einer ethischen Bewertung.<br />

Weitere Beispiele mögen die unterschiedlichen Sichtweisen offen legen:<br />

1. Der aus der Ehe ausbrechende Ehepartner verstößt weder mit dem gedachten<br />

noch mit dem versuchten noch mit dem vollendeten Ehebruch gegen weltliche<br />

Rechtsregeln und handelt aus rechtlicher Perspektive auch autonom, weil nicht<br />

fremd bestimmt. Das moralische und ethische Verdikt - auch im Sinne des<br />

Kant’schen Ethikbegriffs - liegt allerdings nahe, zumal wenn die Auswirkungen auf<br />

andere Familienmitglieder, insbesondere Kinder, in die Bewertung mit einbezogen<br />

werden.<br />

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