arno-abendschoen-gay-cinema-vierte-folge
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
14. Dekonstruktion von Mythos im Film<br />
In Omar Flores Sarabias Film „Peyote“ unternehmen zwei junge Männer spontan einen<br />
Trip von San Luis Potosí nach Real de Catorce. Dort angekommen streifen sie durch die<br />
museale Kleinstadt. Marco, der Ältere der beiden, fragt Pablo nach dem Plan von San Luis<br />
Potosí – für die meisten Mexikaner Bestandteil ihres Wissens über die jüngere<br />
Landesgeschichte. Diesen Plan hat der spätere Präsident Madero (1873 – 1913) mit<br />
anderen im US-Exil verfasst, 1910 in San Luis Potosí veröffentlichen lassen und damit<br />
den Startschuss für die im Verlauf erfolgreiche mexikanische Revolution gegeben. Das<br />
Dokument spielt hagiographisch eine ähnliche Rolle wie die Erstürmung des Winterpalais<br />
für die russische Oktoberrevolution von 1917. Als bloßes Papier ist es angenehm unblutig<br />
wie jenes Ereignis in St. Petersburg und damit hervorragend zur Begründung eines<br />
Mythos geeignet, der vom in beiden Fällen später reichlich geflossenen Blut ablenkt. Die<br />
fortlaufende Erinnerung daran dient heute vor allem der Legitimation der seitdem die<br />
Macht innehabenden politischen Klasse. Dass Madero als gemäßigter Präsident schon<br />
1913 gestürzt und bald darauf ermordet wurde und sich die Revolution erst danach voll<br />
realisieren konnte, verschafft dem Plan von San Luis Potosí eine zusätzliche tragische<br />
Note.<br />
An einer solchen nationalen Reliquie vergreift man sich nicht. Doch eben das tut<br />
Marco, der mit Pablo einiges vorhat. Der erst Siebzehnjährige spult zögernd ab, was er in<br />
der Schule gelernt. Darauf Marco: Das erfindest du jetzt oder man hat es dir falsch<br />
beigebracht … Und dann macht er ihm weis, der Plan sei tatsächlich in Real entworfen<br />
worden, und zwar beim Ficken! Madero habe da einen Schatz gehabt und um ihn zu<br />
retten usw. usf. Es ist alles erfunden, doch Pablo leiht willig sein Ohr. Erst als das<br />
Geschlecht des „Schatzes“ sich als maskulin herausstellt, wird er bockig: Madero ein<br />
„maricón“?! Sie beginnen die Frage zu erörtern, ob Helden schwul sein können. Dann ein<br />
Schnitt und Marco lehnt an einer hohen Steinmauer, blickt zärtlich auf Pablo herunter,<br />
sagt: Und das Beste an der Geschichte ist, dass du sie geglaubt hast. – Pablo fühlt sich<br />
zum Widerspruch verpflichtet und er setzt an zu sagen, Madero sei kein „maricón“<br />
gewesen. Da ihm aber das Thema in der Öffentlichkeit peinlich ist, sagt er’s ihm ins Ohr<br />
und muss sich dabei recken und zu ihm hinstrecken. Es sieht ganz so aus, als ob er ihn<br />
gleich umarmen und küssen würde. Der tote Präsident ist schon nicht mehr das Thema,<br />
und am Abend hat Marco seinen eigenen Plan von San Luis Potosí in die Tat umgesetzt.<br />
Die kleine Szene ist nicht nur hübsch anzusehen, sie scheint mir wie manches schon bei<br />
dem etwas älteren Julián Hernández („Mil Nubes“) für eine Tendenz im<br />
lateinamerikanischen Film zu stehen. Es ist da eine Art von Entmythologisierung am<br />
Werk, bei der Mythen zum Zitatensteinbruch werden, aus dessen Trümmern rein private<br />
Welten neu entstehen.