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Arno Abendschön<br />

Gay Cinema - Vierte Folge<br />

Noch mehr schwule Filme


1. SPEECHLESS, Film von Simon Chung<br />

Der Hongkong-Chinese Simon Chung war schon 2009 mit seinem Film „End of Love“<br />

auf dem Panorama der Berlinale zu sehen. „Speechless“ (chin. Wu yan), sein dritter<br />

Streifen, kam 2012 auf den internationalen Filmmarkt. Aus dem Abspann erfahren wir,<br />

dass ihn die Hongkonger Filmförderung mitfinanziert hat und wie sie sich absichert: Ja<br />

zur künstlerischen Freiheit, Distanz zu den Aussagen des Films wie zu seiner Darstellung.<br />

Eine öffentliche Vorführung in der Volksrepublik ist undenkbar, Simon Chung setzt dort<br />

auf Verbreitung über DVD.<br />

Beträchtliche Teile des Films wurden jenseits von Hongkong in Südchina gedreht, und<br />

zwar ohne staatliche Drehgenehmigung. Er erlaubt uns seltene Einblicke in das<br />

provinzielle China von heute und ist schon deshalb sehr lohnend anzusehen. Die<br />

Handlung spielt abwechselnd in einer Kleinstadt, in einem abgelegenen Dorf und in der<br />

erst 1988 in Hongkongs Nachbarprovinz Guangdong gegründeten Stadt Meizhou (heute<br />

über 300.000 Einwohner, Metropolregion fast fünf Millionen). Nacheinander betreten wir<br />

ein Polizeirevier, ein Kreiskrankenhaus, einen Imbiss, eine Dorfschule, eine christliche<br />

Kirche, einen Universitätscampus, eine große Klinik, ein Gefängnis … Die subtropische<br />

Berglandschaft ist zuweilen so schön, dass sie den Atem stocken lässt – und zugleich sind<br />

die Verwüstungen durch emsiges Wirtschaftsleben unübersehbar.<br />

Die Handlung lehnt sich zu Beginn an einen authentischen Fall aus Europa an, den<br />

des Piano-Manns. 2005 lag er hilflos an einem südenglischen Strand und seine Identität<br />

war monatelang nicht zu klären, da er nicht sprach. Der nackte westliche Ausländer im<br />

Film stellt Polizei und Krankenhauspersonal in China vor dasselbe unlösbare Problem. Er<br />

soll daher in die Psychiatrie, wird jedoch zuvor von seinem Krankenpfleger aufs Land<br />

entführt. Damit setzt eine spannende Handlung ein, deren Verlauf hier nicht im Einzelnen<br />

aufgedeckt werden soll.<br />

Die Struktur des Films kann dem nichtchinesischen Zuschauer einige Schwierigkeiten<br />

bereiten. Rückblenden sind häufig, zum Teil nur auf akustischer Ebene. Wir hören<br />

bruchstückhaft chinesisch reden und lesen dazu die Untertitel, abgelenkt durch die oft<br />

betörenden Bilder. Ein mehrmaliges Ansehen des Films wird ausdrücklich empfohlen –<br />

dann erst erschließen sich einem das ganze Drama und seine kunstvolle Darstellung. Die<br />

Leistungen der Schauspieler überzeugen dagegen schon auf den ersten Blick, und rasch<br />

entfaltet sich der spezielle Zauber des Films, seine Mischung aus Rätselhaftem und tief<br />

Berührendem, von fast Possierlichem bis hin zur Lust an Skandal und Grausamkeit.<br />

Der homosexuelle Luke (Pierre-Matthieu Vital) – das ist der nackte junge Franzose –<br />

ist in China, um Mandarin zu studieren. Er verkörpert den Typ des unschuldigen<br />

Verführers: attraktiv, mit sonnigem Gemüt und gänzlich unaggressiv. Wie dieser<br />

unkompliziert freundliche, mediterran heitere Mensch auf die ernsten, arbeitsamen,<br />

pflichtbewussten Neokonfuzianer von heute wirkt und welche Verwüstungen er ungewollt<br />

anrichtet – das ist der Hauptinhalt des Films. Die Studentin Ning (Yu Yung Yung) auf<br />

Distanz zu halten, fällt ihm nicht schwer – aber dann bindet er deren Freund und<br />

Kommilitonen Han (Jiang Jian) an sich und treibt ihn mit seiner Anziehungskraft und mit<br />

Hilfe einer fatalen Intrige Nings in den Untergang. Han hat nicht umsonst den


allerchinesischsten Namen, er verkörpert das China von heute, erfolgreich auf der Basis<br />

traditioneller Werte, intelligent, tüchtig, arbeitsam – und allzu sehr auf Harmonie<br />

bedacht. Seine Tragödie ist es, die Luke zum Verstummen bringt und einen Reifeprozess in<br />

ihm auslöst. Dabei unterstützt ihn der Krankenpfleger Jiang (Gao Qilun). Auch ihn könnte<br />

Luke aus der Bahn werfen, menschlich wie beruflich. Aber Jiang erweist sich bei weniger<br />

glänzenden Voraussetzungen im Vergleich zu Han als die viel stabilere Persönlichkeit. So<br />

endet der Film nach vorangegangener Katastrophe mit einer freundlichen Perspektive.<br />

Eine zusätzliche Komplikation in der Thematik des Films besteht darin, dass Ning und<br />

Han aktive Mitglieder einer protestantischen christlichen Gemeinde sind und der<br />

öffentliche Skandal während eines Gottesdienstes seinen Lauf nimmt. Der Film bringt so,<br />

wie andere asiatische vor ihm schon (z.B. „The Love of Siam“), die Theorie des Imports<br />

rigider Sexualmoral aus dem Westen ins Spiel. Damit stellt er ein Gleichgewicht her:<br />

China kann in der Auseinandersetzung mit fremden kulturellen Einflüssen gewinnen und<br />

verlieren, Selbstbestimmung wie Fremdbestimmung. Und der Westler, wie entwickelt er<br />

sich unter östlichem Einfluss? Jiang bezeichnet Luke einmal scherzhaft als „Buddhisten“ -<br />

Luke hat gerade die von Jiangs Onkel gefangenen Fische mitleidig ins Wasser<br />

zurückgeworfen. Jiang zu ihm: Sie sterben trotzdem … Und Luke macht insoweit später<br />

in Meizhou einen für Han tödlichen Lernprozess durch und sagt schließlich zu Ning: „Let<br />

him go!“ Er sagt es nicht auf Mandarin, sondern auf Englisch. Wie fein akzentuiert an<br />

diesem klugen Film fast alles ist …<br />

Schließen wir mit einem Detail, das den westöstlichen Zusammenhang auf etwas<br />

putzige Weise aufzeigt. Jiang fällt in der Dorfschule ein altes Lese-Übungslied ein, das sie<br />

damals im Chor gesungen haben. Als er es anstimmt, hören Luke und der abendländische<br />

Filmzuschauer, dass es nach der Weise von Frère Jacques geht … Wikipedia zählt einige<br />

Sprachen auf, in denen das alte französische Kinderlied heute gesungen wird: Afrikaans,<br />

Spanisch-Argentinisch, Berberisch, Chinesisch, Haitianisch-Kreolisch, Tamil, Hebräisch,<br />

Vietnamesisch, Türkisch, Thailändisch, Swahili, Latein, Japanisch, Indonesisch, Esperanto<br />

und noch viele mehr. Weltkultur heute: in allen Zungen singen – und filmen auch.


2. THE LOST COAST, Film von Gabriel Fleming<br />

Der US-amerikanische Film von 2008 verbindet zwei traditionelle Muster, das des<br />

Wiedersehens von Highschoolfreunden nach Jahren mit dem des erotischen Trios aus zwei<br />

Männern und einer Frau, genauer: mit dem Spezialfall, in dem einer der Männer, nicht die<br />

Frau, im Zentrum steht. Der Streifen dauert nur 74 Minuten und spielt doch auf drei<br />

Erzählebenen, der laufenden Filmgegenwart, darin eingeschobenen Sequenzen vom Ende<br />

der Highschoolzeit und dem Abfassen einer langen Email, die Jasper (Ian Scott McGregor)<br />

seiner Verlobten schickt und in der er die Verbindung zwischen den beiden erstgenannten<br />

Ebenen herstellt.<br />

Jasper besucht nach Jahren Mark (Lucas Alifano) und Lily (Lindsay Benner) in San<br />

Francisco, und zwar am Halloween-Abend. Am Ende der Schulzeit waren Mark und Lily<br />

ein Paar, jetzt wohnen sie noch zusammen. Mark ist nun offen schwul. Das Trio mischt<br />

sich unter das kostümierte, allerlei Unfug treibende Halloween-Volk auf der Castro<br />

Street. Zu ihnen stößt Caleb (Chris Yule), Marks derzeitiger Freund. Mark und Jasper<br />

verstehen sich noch immer gut, auch wenn sie wieder raufen, dann vielleicht sogar am<br />

besten. Lily verrät Caleb, dass Mark und Jasper früher ein sexuelles Verhältnis hatten,<br />

zeitgleich mit Marks Beziehung zu ihr. Caleb spricht Jasper in herabsetzender Weise<br />

darauf an, er will wissen, wer von ihnen damals the bitch gewesen ist. Jasper, der sich als<br />

heterosexuell betrachtet und demnächst Wendy (Sarah Nealis) heiraten will, zieht sich<br />

daraufhin verletzt in sich selbst zurück. Das Quartett lässt sich durch die Stadt treiben,<br />

eine unbefriedigende Nacht beginnt. Die Erinnerung an gemeinsame Tage der drei<br />

Schulfreunde in der Naturlandschaft der Lost Coast (Nordkalifornien) kehrt immer wieder.<br />

Gegen Morgen wiederholen Mark und Jasper am Strand, was sie früher oft taten. Dann<br />

rennt Jasper weg, Mark weint in Lilys Armen. Jasper weint auch, im Bus Richtung<br />

Flughafen, und schreibt Wendy, was damals war und jetzt geschehen ist und dass er sie<br />

weiterhin liebt. Schlussbild oder Vision: Wendy, so wie Jasper sie mag: sie allein auf einem<br />

Sofa, ein Buch lesend, lächelnd.<br />

Die Filmhandlung, eingebettet in großartige Landschaftsbilder und bedrückende<br />

Nachtszenen aus San Francisco, ist ein Seelenroman eigener Art, mit sparsamen Dialogen<br />

und Figuren, deren Charaktere sich erst bei intensivem Hinschauen und Hinhören wirklich<br />

enthüllen. Bei der Entschlüsselung bietet ein häufig ins Blickfeld geratendes Requisit Hilfe<br />

an – ein Mantel. Der hochgewachsene Mark trägt fast durchgehend, in San Francisco<br />

jetzt wie früher an der Lost Coast, einen langen Mantel, den er gern offen lässt. Der Ur-<br />

Mantel ist indessen kein Mantel, sondern eine Jacke. Mit ihr verbindet sich ein<br />

Schlüsselerlebnis, das nicht dargestellt wird, das Jasper indessen Wendy eindrucksvoll<br />

beschreibt: wie Mark sie beide nach einem Fußballtraining unter seiner Jacke vor dem<br />

Regen schützte und wie er, Jasper, ihm dabei sehr nahe kam, körperlich wie seelisch.<br />

Mark sei, schreibt Jasper, beim Fußball wie überall der Star gewesen, und er selbst habe<br />

sich mit ihm unter der Jacke so privilegiert gefühlt. Bald darauf an der Lost Coast lehnt<br />

Mark, nun in langem, offenem Mantel, in der für ihn typischen Pose an einem<br />

Baumstamm, auf Jaspers Annäherung nicht vergeblich wartend.<br />

Der Mantel als Symbol wie als Garant von Kraft, Schutz, Milde hat eine sehr lange<br />

Tradition. Gogols „Der Mantel“ ist ein relativ spätes Beispiel dafür. Die


Schutzmantelmadonnen der spätmittelalterlichen religiösen Kunst stehen bereits in ihr<br />

und beziehen sich auf ein schon damals altes Rechtsinstitut, den Mantelschutz. Unter<br />

dem Mantel Hochgestellter fanden Verfolgte Schutz und Asyl. Das bis in unsere Tage<br />

praktizierte Kirchenasyl hängt damit zusammen. Mit Gerald von Mayo (um 642 - 732),<br />

übrigens auch Schutzpatron gegen die Pest, hat die katholische Kirche neben Martin von<br />

Tours (um 316 – 397) einen zweiten Mantelheiligen. Der Mantelträger scheint einen<br />

Archetypus darzustellen, den auch fremde Kulturen kennen. So sehen wir z. B. in der<br />

buddhistischen Kunst Thailands, wie Buddha der Barmherzigkeit die Robe öffnet.<br />

Es gibt den Sternenmantel – und im Film, nahe angesiedelt am beglückenden<br />

Jackenerlebnis, eine Entsprechung an der Lost Coast: den Blick hinauf zu einem sehr<br />

hohen Baumwipfeldach. Schutz bietet auch das Zelt, gewissermaßen ein erweiterter<br />

Mantel, in dem die drei Freunde in der Natur übernachten. Aber am Morgen sehen wir<br />

Jasper draußen allein, missmutig hört er mit an, wie sich drinnen Mark und Lily gut<br />

verstehen. Ist es die Ur-Trennung für ihn? Jetzt ist Jasper wieder da und Mark lädt ihn<br />

ein, seinem Ankleiden beizuwohnen. Mark, mit einem Kopf, wie von Caravaggio gemalt,<br />

und einem spätrömisch-hellenistischen Körper, nicht üppig, doch von überfließender<br />

Kraft, konfrontiert ihn mit den verheißungsvollen nackten Partien von Brust und Bauch,<br />

rät vom Heiraten ab und zieht wieder den langen Mantel an.<br />

Mark hat sich verändert. Er fürchtet sich vor dem Älterwerden, er weiß, dass Lily<br />

enttäuscht ist, und er kann den tumben Caleb nicht achten. Parallel dazu hat sich die<br />

Funktion des Mantels verändert. Mark nutzt ihn für alles Mögliche – Selbstzitat,<br />

Selbstpersiflage, Provokation. Er trägt zu Halloween außer einem schmalen Slip nichts<br />

unter dem Mantel und aus dem Slip ragt ein Riesendildo. Auf der Castro Street schlägt<br />

Mark den Mantel immer wieder exhibitionistisch auseinander, ein Jux ohne Hintergrund,<br />

für Touristinnen wie für schwule Männer. Das Quartett landet fehlgeleitet auf einer<br />

fremden Party. Mark verführt sogleich den Gastgeber, doch unter dem erneut<br />

vorgeführten Kunstpenis ist wenig. Unfähig zur Erektion verlässt Mark beschämt die<br />

Wohnung. Das passiere ihm manchmal, räumt er ein.<br />

Jasper hat als Schüler bei Mark Schutz und Geborgenheit gesucht. An Halloween ist er<br />

erst reserviert und gerät dann bald ins alte Fahrwasser. Es gibt wieder die Spiele von<br />

früher: Er stellt sich auf der Straße blind, lässt sich von Mark führen. Dann die<br />

„Vertrauensfallübung“ – er lässt sich nach hinten fallen und wird von Mark aufgefangen.<br />

Erst Calebs Sticheleien erinnern ihn daran, dass er eine heterosexuelle Identität hat.<br />

Gegen Morgen wird er Mark dadurch, dass er ihm noch einmal körperlich nahe kommt,<br />

zeigen, dass die Vergangenheit nicht zurückgeholt werden kann, nicht darf. Die Lost Coast<br />

– das ist die Jugendzeit, in der noch alles möglich war. Von dieser Küste sind sie<br />

aufgebrochen und haben sich von ihr entfernt hinaus auf die schwierige offene See. Selbst<br />

nach dieser Nacht wird Jasper seiner Verlobten über Mark schreiben: Manchmal kann er<br />

großartig sein …<br />

Wendy soll die Rolle von Mark übernehmen, sie ist nun das Objekt der Anlehnung und<br />

Adoration. Jasper ist der Typ des Mannes, der bei beiden Geschlechtern vor allem<br />

Harmonie sucht, Ruhe und Frieden. Wie belastbar ist diese kontemplative Brücke der<br />

Bisexualität? Vielleicht wird Wendy im weiteren Verlauf das, was Lily schon ist, eine Fag<br />

Hag, Schutzmantelmadonna für Schwule. Aber jetzt bitte keine Fanfiction …


3. LOST IN PARADISE, Film von Vu Ngoc Dang<br />

Dieser Film aus Vietnam, gedreht 2011, hat es 2012 sogar auf die Berlinale geschafft<br />

(Panorama). Er war in Vietnam selbst ein großer Erfolg, auch geschäftlich. Den<br />

westlichen Zuschauer stellt er vor einige Probleme, deren Natur ihm bewusst werden<br />

sollte, damit er dem Film gerecht werden kann. So enthält der Streifen die für ost- und<br />

südostasiatische Filme nicht untypische Mischung aus viel Gefühl einerseits und ebenso<br />

viel Grausamkeit andererseits – Blut und Tränen also. Zu melodramatischen<br />

Höhepunkten erklingt gewöhnlich etwas, das wir leicht als schmalzige Popmusik<br />

empfinden. Dabei vertritt das Werk einen entschieden moralischen Standpunkt. Mit<br />

solchen Elementen entspricht er nicht den ästhetischen Normen eines Kunstfilms, der<br />

international anerkannt werden möchte. Dennoch ist er auch nicht das, was nach<br />

unseren Maßstäben den trivialen Kommerzfilm ausmacht. „Lost in Paradise“ bezieht sich<br />

auf reale soziale Verwerfungen im heutigen Vietnam, gewährt Einblicke in die<br />

Schattenseiten der boomenden Metropole Saigon und erörtert die psychischen Folgen<br />

sozialen Elends. Man mag sich also mit der Formel behelfen, das Werk sei ein<br />

Problemfilm, der dem Entwicklungsstand und den ästhetischen Maßstäben Vietnams<br />

angemessen sei.<br />

„Lost in Paradise“ hat ein Hauptthema: Was macht Prostitution mit Menschen, die sie<br />

ausüben, und was mit jenen, die mit Prostituierten umgehen? Es gibt zwei<br />

Handlungsstränge, die nicht inhaltlich, nur thematisch miteinander verbunden sind –<br />

alles vor der Kulisse Saigons („Ho-Chi-Minh-Stadt“), das die Kamera in immer neuen<br />

Perspektiven einfängt, von der Kathedrale Notre Dame bis zur Mekongbrücke, von den<br />

neuen Wolkenkratzern bis zu den abbruchreifen Holzbauten früherer Zeiten. Fast alles<br />

dreht sich um den Gelderwerb, beinahe wie bei Balzac. Auffallend oft werden exakte<br />

Geldsummen genannt: Wie viel kannst du bezahlen? Ist das genug? Behalten Sie die<br />

Kaution …<br />

Die Haupthandlung bevölkern Strichjungen, die, wie es scheint, in Saigon massenhaft<br />

auftreten. Das Landei Khoi (Ho Vinh Khoa), eben erst in Saigon angekommen, wird rasch<br />

Opfer von Dong (Linh Son) und Lam (Luong Manh Hai), einem Paar aus der Szene. Sie<br />

scheinen freundlich und rauben ihn dann aus; woraufhin Dong seinerseits Lam verrät und<br />

mit der 37-Millionen-Dong-Beute (etwa 1.500 Euro) entschwindet – er heißt<br />

bezeichnenderweise wie sein Geld. Lam schafft weiter an, begegnet Khoi wieder,<br />

empfindet Reue, geht eine Beziehung zu ihm ein. Aber Khoi kann es nicht akzeptieren,<br />

dass Lam sich Tag für Tag in einen professionellen Sexhändler und einen fürsorglichen<br />

Freund aufspaltet. Lam treibt seinem Untergang entgegen und Khoi, wieder daheim, so<br />

verrät uns der Abspanntext, „lernt momentan für sein Examen“. Ein wahrhaft<br />

konfuzianischer Schluss, der nicht allzu glaubwürdig wirkt – der schwule Khoi war nicht<br />

ohne Not ins Paradies Saigon aufgebrochen. („Da war kein Platz mehr für mich …“) Ist<br />

dieses Detail der Rücksicht auf staatliche Drehgenehmigung geschuldet? Der 1974<br />

geborene Regisseur war schon vor diesem Film recht erfolgreich im Film wie im Fernsehen<br />

seines Neunzig-Millionen-Landes.<br />

In der Nebenhandlung, die etwa ein Drittel der Szenen umfasst, geht es um einen<br />

stummen geistig Behinderten, der vom Altmaterialsammeln lebt und es schafft, ein


Entenei auszubrüten, und um seine Beziehungen zu einer Prostituierten sowie deren<br />

Zuhälterpaar, mit ordinär-grausamer Straßenstrichpuffmutter. Hier stehen am Ende<br />

sowohl Mord und Totschlag wie auch ein Happyend – man staunt.<br />

Der Film enthält dezente Hinweise auf die Situation des Landes, vielleicht auch<br />

Ansätze versteckter Kritik an der Entwicklung. Einmal begegnet der mit seinem Entenei<br />

und dem Schrottsammeln beschäftigte Stumme, ohne einen Blick dafür zu haben, einem<br />

alten Eisenbahnzug, auf dessen Lok-Stirnseite die Losung DOI MOI („Erneuerung“) prangt<br />

– seit 1986 das Programm für die Umwandlung der Planwirtschaft in eine sozialistische<br />

Marktwirtschaft. Und am Ende wird ein Text eingeblendet, der uns mitteilt, der<br />

Fleischmarkt der Stricher, Ort so vieler Dramen, sei inzwischen abgerissen und einem<br />

Einkaufszentrum gewichen. Vietnam zu unseren Lebzeiten - ein Land der<br />

Entwicklungssprünge: Vu Ngoc Dang vermittelt uns in „Lost in Paradise“ einen kraftvollen<br />

Eindruck davon, was die Menschen dabei mitmachen.<br />

(Notabene: Wundervolle Schauspieler, auch in den Nebenrollen, und eine perfekte<br />

Kameraarbeit, wenn auch vielleicht etwas zu konventionell schön, für unsere Begriffe.)


4. AMERICAN VAGABOND, Film von Susanna Helke<br />

Der 2013 fertiggestellte Dokumentarspielfilm ist eine finnisch-dänisch-USamerikanische<br />

Produktion mit der Finnin Susanna Helke als Regisseurin. Er hat bereits<br />

eine Reihe von Preisen in seinem Genre gewonnen und ist als DVD in englischer Sprache<br />

mit deutschen Untertiteln auf dem Markt. Was heißt Dokumentarspielfilm? Es bedeutet,<br />

dass reale Personen ihre eigene Geschichte darstellen, teils bei unmittelbaren Aufnahmen<br />

in laufender Gegenwart, teils in von ihnen selbst nachgespielten Szenen. Helkes Plan war,<br />

das Leben junger obdachloser Schwuler in San Francisco zu dokumentieren. Bei der<br />

Vorbereitung traf sie auf James und Tyler, die eben jenes Schicksal als Paar erlitten. Sie<br />

flohen aus ihrer kleinen Stadt, als der Vater des siebzehnjährigen James den wenige Jahre<br />

älteren Tyler bei der Polizei anzuzeigen drohte.<br />

Der Film will den Mythos von San Francisco als dem großen rettenden Hafen für<br />

sexuelle Minderheiten kritisch hinterfragen. James und Tyler kommen allerdings nicht von<br />

weit her. Chico liegt im oberen Sacramento-Tal, etwa 300 Kilometer nordöstlich von San<br />

Francisco. Für die beiden war es einfach die nächste Großstadt. Sie scheitern dort, da sie<br />

keine materielle Existenz aufbauen können - keine Arbeit, kein Einkommen, keine<br />

Wohnung, keine Freunde. Diese Situation leuchtet der Film einfühlsam und poetisch aus,<br />

ohne sie dabei zu verkitschen. Wir lernen die alltäglichen Stationen kennen, ihre<br />

Nachtlager im Golden Gate Park, die Armenspeisungen, den kostenlosen Friseurbesuch,<br />

erfolglose Jobsuche, Gespräche mit anderen Obdachlosen. Zwischendurch erzählt James<br />

seine bedrückende Vorgeschichte: religiös engstirnige Eltern, häusliche Gewalt,<br />

Suizidideen. James ist ein vitaler und zugleich labiler Junge. Der sanfte Tyler dagegen<br />

wirkt fast wie ein buddhistischer Mönchsnovize. Die beiden könnten in New York oder<br />

Chicago, selbst in Berlin oder Hamburg in ähnlich misslicher Lage sein. Das speziell<br />

Enttäuschende an San Francisco, die Diskrepanz zwischen lokalem Glücksversprechen und<br />

desillusionierender Realität dort, wird zwar wiederholt angesprochen, kommt aber nicht<br />

ins Bild. Die arri<strong>vierte</strong>n Schwulen bleiben unsichtbar. Wer lässt sich schon filmen, wenn er<br />

andere schlecht behandelt, sie verachtungsvoll ignoriert?<br />

Der Film wechselt im letzten Drittel die Bühne und erweitert sein Thema auf<br />

überraschende Weise. James und Tyler kehren nach Chico zurück, um wieder ein Dach<br />

über dem Kopf zu haben. Vorübergehend logieren sie bei James’ prachtvoller Oma, dann<br />

unter einer Brücke. Ist es auch in Chico? Es bleibt unklar. Susanna Helke scheint die beiden<br />

über Jahre begleitet zu haben. Gegen Ende ist James schon zwanzig und ein Fall für die<br />

Justiz geworden. Jetzt rückt ins Zentrum, wie sich das Verhältnis zu seinen Eltern<br />

weiterentwickelt, und zwar zum Guten hin. Das eben ist das Überraschende, zunächst<br />

Irritierende. Ist es der Gefängniskoller, der James sich nach dem Vaterhaus sehnen, ihn<br />

dem Vater schreiben lässt, er werde künftig gern mit ihm auf die Jagd gehen – die ihm<br />

von Kindheit an so verhasst war? Mit wahrem Drive stürzt sich die Mutter in die Sorge um<br />

den Sohn, das Opfer eines vermeintlichen oder tatsächlichen Justizirrtums. Selbst der<br />

Vater, über den so viel Übles berichtet wurde, kommt noch vor die Kamera, fast stumm,<br />

bedrückt, vielleicht schuldbewusst. Alle scheinen nun Rollen zu spielen, wie in<br />

mittelmäßigen Hollywoodfilmen. Treibt das Bewusstsein, die Verfilmung ihres Lebens zu<br />

gestalten, sie dazu, typische Klischees bedienen zu wollen? Der Film muss trotz James’


Verurteilung sein positives Ende haben: die wiederhergestellte Harmonie in der Familie als<br />

großer moralischer Sieg.<br />

Sieht man den Film öfter an, versteht man diese Motivation besser. Sie ist weniger<br />

weltlich eitel als vielmehr vor allem vom religiösen Kontext geprägt. Religiöse Begriffe<br />

sind von Anfang an mit James’ Autobiographie verbunden. Für ihn ist San Francisco the<br />

<strong>gay</strong> promised land. Bei seiner Ankunft wähnt er schwule Götter – <strong>gay</strong> gods – die Stadt<br />

segnen. Entkommt er einer Gefahr, dankt er ihnen. Das ist mehr als ironische Anspielung,<br />

ist schon bewusstes Sakrileg als Auflehnung gegen den angestammten christlichen<br />

Glauben. Verheißenes Land – das bezieht sich andererseits auf die Juden des Alten<br />

Testaments. Dementsprechend identifiziert sich James auch mit Juden, wenn er in San<br />

Francisco von Polizisten verfolgt wird - wie Juden im Zweiten Weltkrieg, meint er. Später<br />

wird er sich im Gefängnis seine Heimkehr als die eines verlorenen Sohnes ausmalen.<br />

Entschieden alttestamentarisch ging es schon bei der Reaktion des Vaters auf James’<br />

Outing zu: Er forderte den Sohn zum Beten auf, warf ihm eine Bibel ins Gesicht und sah<br />

ihn bereits in der Hölle. Dann das kaum Verzeihliche: James gestand dem Vater, an<br />

Selbstmord zu denken – und der ging zum Waffenschrank, lud ein Gewehr, gab es James:<br />

„Beweis es mir!“ Das ist die Geschichte von Abraham und Isaak in modernem Gewand.<br />

Und wo Abraham imitiert wird, ist der Gedanke an Sodom und Gomorrha nicht fern …<br />

James’ Eltern befinden sich im Gewissenskonflikt zwischen religiösen<br />

Wertvorstellungen und den sich aus der Liebe zum Sohn ergebenden Verpflichtungen. Wie<br />

es scheint, finden sie einen Ausweg, indem der Akzent am Schluss auf<br />

neutestamentarisches Verhalten gelegt wird: verzeihen, bereuen. Und zugleich erhöhen<br />

sie ihr Kind in einem religiösen Kontext noch: Sie hätten erkannt, schreibt die Mutter, dass<br />

Gott ihnen einen wundervollen Sohn geschenkt hat. Für einen säkular geprägten<br />

Europäer ist dieser Blick in die Seele eines mittleren, traditionell christlichen Amerika so<br />

befremdlich wie faszinierend.<br />

Schlussbemerkung: Susanna Helke beruft sich auf Untersuchungen, wonach bis zu<br />

vierzig Prozent der jungen Obdachlosen in den USA sexuellen Minoritäten angehören und<br />

aufgrund von Diskriminierung von zu Hause weggegangen sind. Die Geschichte von James<br />

und Tyler – mit exzellenter Kameraarbeit und eindrucksvoll stimmiger Filmmusik - ist<br />

also eine von vielen ähnlichen. Im Detail erinnert sie gelegentlich an in Portland spielende<br />

Szenen in Gus Van Sants „My Own Private Idaho“ von 1991. Auch dort wurde schon – in<br />

Nebenrollen – mit realen schwulen Obdachlosen gearbeitet.


5. FREIER FALL, Film von Stephan Lacant<br />

Gewöhnlich rezensiere ich zwei Arten von Filmen nicht, die besonders erfolgreichen<br />

und die aus meiner Sicht weniger empfehlenswerten. Die einen haben meinen Einsatz<br />

nicht nötig, den anderen will ich keine zusätzliche Aufmerksamkeit verschaffen. Bei<br />

„Freier Fall“ mache ich einmal eine Ausnahme, obwohl der Streifen sowohl ein<br />

Publikumserfolg war wie auch, nach meiner Auffassung, ein nur untermittelmäßiges<br />

Werk. Die Aufnahme des Filmes hierzulande scheint mir symptomatisch für den Zustand<br />

der deutschen Filmkultur. Die inländische Produktion ist qualitativ nicht auf dem Stand<br />

anderer bedeutender Filmländer, und das Publikum gibt sich mit dem Dargebotenen allzu<br />

leicht zufrieden.<br />

Lacants Film von 2013 schildert die Liebesbeziehung zweier Bereitschaftspolizisten in<br />

Baden-Württemberg, von denen der eine – Marc (Hanno Koffler) – verlobt ist, bald Vater<br />

wird und von seinen Eltern großzügig mit einer Haushälfte ausgestattet wurde. Nach<br />

einer Phase des Doppellebens ist Kay, sein Geliebter (Max Riemelt), geflüchtet, Marcs<br />

Beziehung zu Bettina (Katharina Schüttler) ruiniert und seine familiäre wie berufliche<br />

Situation insgesamt schwer erschüttert. Ein großer Stoff, doch wie wird dieses Drama<br />

erzählt? In vielen kleinen, meist uninspirierten Einzelszenen, die entweder seltsam<br />

kraftlos oder, im Gegensatz dazu, künstlich überdreht wirken. Die Machart des trotz<br />

geradlinig erzählter Handlung inkohärent wirkenden Filmes schwankt ständig zwischen<br />

diesen Polen, der blassen, substanzarmen Wiedergabe eines schablonenhaften<br />

Kleinbürgermilieus und unglaubwürdigen Ausbrüchen daraus. Selbst die eklektizistische<br />

Filmmusik kann sich nicht entscheiden zwischen Harmlosigkeit und Melodramatik.<br />

Der Film leidet an einer Überfülle von Personen aus Marcs Verwandtschaft wie<br />

Kollegenkreis, die sich einem kaum einprägen wollen. Durchgestaltet ist allein die Figur<br />

des Marc, die jedoch diese Zentralität nur schwer verkraftet. Hanno Kofflers<br />

Hauptdarstellungsmittel ist der bedeutungsschwangere Blick, und allzu häufig steht für<br />

ihn im Drehbuch: „Es tut mir leid, es tut mir leid …“ Die Figur des Kay ist noch skizziert,<br />

alle anderen bleiben blasse Schemen. Erkennbar spielt die Handlung in Süddeutschland,<br />

doch die Personen reden Hochdeutsch wie in Hannover. Der Streifen zitiert wiederholt in<br />

sich anbiedernder Weise Szenen aus „Brokeback Mountain“. Doch nicht jeder Kinnhaken,<br />

der nach Wyoming passt, tut das auch in Ludwigsburg. Und überhaupt, diese<br />

Bereitschaftspolizisten! Sie sind wahre Filmhelden, in denen man die echten schwulen<br />

Polizisten, die man im Lauf der Zeit kennengelernt hat, durchaus nicht wiedererkennt.<br />

Nur einige weitere Blüten aus dem üppigen Strauß von Unwahrscheinlichkeiten, den<br />

Lacant uns überreicht: Unwahrscheinlich diese mannmännliche Kopulation im<br />

strömenden Regen, gleich neben ihren parkenden Autos. Unwahrscheinlich Marcs<br />

versuchte Vergewaltigung der hochschwangeren Bettina von hinten. Unwahrscheinlich<br />

und peinlich, wie Bettina ihrerseits gegen Marc übergriffig zu werden versucht. Die<br />

Beinahe-Kollision der Pkws von Marc und Kay? Ein uraltes Muster und hier schlecht<br />

motiviert. Dann Marcs Aufbrechen der Tür zu Kays Wohnung, als dieser nicht öffnet - so<br />

gewalttätig sind wir (von der Polizei) eben alle Tage … Bezeichnend für die innere<br />

Schwäche des Drehbuchs wie sein eigenes Bewusstsein davon ist die Sache mit der Razzia<br />

in einer Schwulenbar, bei der ausgerechnet Kay von seinen Kollegen angetroffen wird.


Diese Razzia – vielleicht in Stuttgart? - ist der große Wendepunkt in der Filmerzählung,<br />

sie wird aber nicht dargestellt, nur hinterher berichtet. Und wie wahrscheinlich ist eine<br />

solche Razzia bei uns heutzutage überhaupt noch? Man gebe mal die Stichworte „razzia<br />

schwulenbar“ bei Google ein: Stonewall 1969 und kein Ende, dann noch Nigeria und<br />

Weißrussland, nur nicht Deutschland anno 2013.<br />

Fazit: „Freier Fall“ ist nicht einmal ein wirklich schlechter Film, dazu ist er zu wenig<br />

originell. Er bietet magere Fernsehspielästhetik mit Spurenelementen von Filmkunst. Ein<br />

lohnendes, problembeladenes Thema wird dabei zu Unterhaltungszwecken verhackstückt.<br />

Wem’s gefällt – nun ja … Doch dass ein derart mediokrer Film sechs Monate lang<br />

hintereinander in Berliner Kinos laufen kann, das ist deprimierend.


6. Kamera und Objekt - Über ein erotisches Video<br />

Eine Altbauwohnung, vermutlich in Amsterdam. Zwei kleine Räume, nur zum Teil im<br />

Blickfeld. Die weiß lackierte Tür zwischen ihnen hat einen geschwungenen Messinggriff<br />

und steht offen. Die weißen Wände sind kahl. Im hinteren Zimmer ist der Rand eines<br />

einfachen Bettes sichtbar.<br />

Ein Mann Anfang dreißig kommt aus dem Schlafraum, steht im Durchgang. Er hat –<br />

sonderbar genug – eine Gasmaske in der Hand. O, das falsche Requisit für diese<br />

Aufnahme … Er lässt die Maske hinter der Wand verschwinden, man spürt Bedauern. Er<br />

trägt nur blaues Unterzeug und einen Motorradhelm auf dem Kopf. Durch dessen Visier<br />

erkennen wir undeutlich die Gesichtszüge eines hellhäutigen, blonden Mannes.<br />

Er beginnt sich vor der Kamera anzukleiden, nacheinander kommen eine schwarze<br />

Motorradlederhose, eine Jacke aus gleichem Material und von gleicher Farbe, ein<br />

schwarzer Ledergürtel und schwarze Stiefel an die Reihe. Zuvor hat die Kamera einmal<br />

kurz eine Nahaufnahme der halbnackten Oberschenkel zustande gebracht. Sie sind, ohne<br />

fett zu sein, mehr fleischig als muskulös. Später werden wir, wenn er sich bückt, für<br />

Sekunden einen schmalen Streifen nackter Haut um die Leibesmitte sehen, vorn und<br />

hinten, mit den ersten Anzeichen etwas zu reichlicher Ernährung. Die Jacke endet über<br />

den Hüften, das kurze blaue Shirt wird nicht unter den Hosenbund gezogen.<br />

Er zieht sich zügig an, wie einer, der es rasch hinter sich bringen will. Es ist ein<br />

routinierter Ablauf. Sein Bewusstsein von der laufenden Kamera äußert sich nur diskret.<br />

Er posiert nicht, geht scheinbar nur zweckbestimmt hin und her. So fragt einer sich: Sind<br />

die Fenster geschlossen, ist die Heizung abgedreht? Einmal streicht er kurz mit den<br />

Händen über die Gesäßtaschen: Sitzt die Hose ordentlich? Ohne Zweifel.<br />

Der Kontrast zwischen alltäglichem Ankleiden und einer neugierigen, voyeuristischen,<br />

unersättlichen Kamera springt ins Auge, schafft erst die Dynamik des Streifens. Es<br />

geschieht nichts Ungewöhnliches, es geschieht hier nur Gewöhnliches, eben darin besteht<br />

der ungewöhnliche Reiz. Wie beobachten das Selbstverständliche, sonst nie Gezeigte –<br />

Magie des Alltags. Rein formal ist die Ankleideszene das Gegenteil eines<br />

exhibitionistischen Strips. Später wird er in einem Internet-Forum schreiben: Du wolltest<br />

mich nackt sehen?<br />

Dann vielleicht doch eine Pose? Er lehnt mit der Hüfte gegen den Türrahmen, dreht<br />

sich in der Hüfte – er tut es nur, weil er einen Handschuh überstreifen und sich dabei<br />

abstützen möchte. Wir fühlen uns ein wenig ertappt. Er verhüllt sich und wir lauern auf –<br />

ja, auf was? Jetzt scheinen die Rollen vertauscht zu sein. Werden wir mit unseren<br />

Interessen entlarvt, während er sich immer mehr bedeckt?<br />

Selbstverständlich ist alles inszeniert. Er ist gleichzeitig Darsteller, Kameramann und<br />

Regisseur und von ihm ist auch das Skript. Der Stoff: Einer gewährt Einblick in sein<br />

Privates, er ist gegenüber dem anonymen Zuschauer zuerst in der Defensive und gewinnt<br />

schließlich die Oberhand. Es ist ein kleines Lehrstück über Zurschaustellung und<br />

Ausgesetztsein, Entblößung und Verhüllung, Preisgabe und Rückgewinnung von<br />

Kontrolle. Das Interesse dafür ist beträchtlich. Als sein Video von nur zweieinhalb<br />

Minuten ein halbes Jahr im Netz steht, sind schon 50.000 Zugriffe erfolgt. Eine<br />

Kampfsportschule im Ausland hat es auf ihrer Seite verlinkt.


Hugo von Hofmannsthal, Die Wege und die Begegnungen: „Mich dünkt, es ist nicht die<br />

Umarmung, sondern die Begegnung die eigentliche erotische Pantomime … Die<br />

Begegnung verspricht mehr, als die Umarmung halten kann.“ Der Unbekannte nimmt nun<br />

doch eine eindeutige Positur vor der Kamera ein – um sie auszuschalten.


INHALT<br />

1. Speechless (Simon Chung) -------------- S. 2<br />

2. The Lost Coast (Gabriel Fleming) ---------S. 7<br />

3. Lost in Paradise (Vu Ngoc Dang) ---------S. 12<br />

4. American Vagabond (Susanna Helke) -----S. 16<br />

5. Freier Fall (Stephan Lacant) -------------S. 21<br />

6. Kamera und Objekt (Erotisches Video) -----S. 25<br />

7. Gay Sex in the 70s (Joseph Lovett) ---- S. 30<br />

8. The Delta (Ira Sachs) ----------------- S. 33<br />

9. Im Namen des ... (Malgorzata Szumowska) --- S. 36<br />

10. Zoologisches im Film - Ein Beispiel ----- S. 40<br />

11. Sleepless Knights (St. Butzmühlen, C. Diz) -- S. 44<br />

12. Mixed Kebab (Guy Lee Thys) --- S. 47<br />

13. Peyote (Omar Flores Sarabia) ---- S. 49<br />

14. Dekonstruktion von Mythos im Film --- S. 52<br />

15. La Partida (Antonio Hens) ----- S. 55<br />

16. Oben ist es still (Nanouk Leopold) ----- S. 58


7. GAY SEX IN THE 70s, Film von Joseph Lovett<br />

Dass ein Dokumentarfilm zugleich informativ und unterhaltsam sein kann, der<br />

Streifen von Joseph Lovett, 2005 produziert, beweist es. Er lässt nach und nach etwa ein<br />

Dutzend Zeitzeugen zu Wort kommen, die meisten davon wiederholt. Unter ihnen sind<br />

Schriftsteller wie Larry Kramer, Fotografen, ein Bildender Künstler und ein Architekt. Sie<br />

reden über die alten Zeiten, da sie selbst junge Männer waren. Wir sehen dazu immer<br />

wieder Ausschnitte aus alten Filmen und Fotos, bunt oder schwarzweiß, und es erklingt<br />

Musik von damals. Mal geht es humorig zu, mal eher bedenklich - oder bloß sachlich. Da<br />

wird eine Welt beschworen, die es so nur wenige Jahre gab …<br />

Zuerst ein Streiflicht über die damalige Freizügigkeit, sprich: Promiskuität in New York.<br />

(Es geht fast nur ums schwule Leben in dieser Stadt.) Dann geht es ins Detail: zu den<br />

aufgegebenen Piers am Hudson als Tag-und-Nacht-Revier und vor allem zum alten<br />

Lagerhaus am Pier 48. Und gleich daneben die Trucks, in deren Anhängern sie es damals<br />

auch toll trieben. Der Film unterbricht die Präsentation der Orte und schildert relativ breit<br />

den kulturhistorischen Hintergrund: freie Liebe und Protest gegen den Vietnamkrieg,<br />

Stonewall 1969 … Anschließend wird unverblümt über Sexpraktiken geredet, bevor die<br />

drei wichtigsten Kategorien von Treffpunkten zum Cruisen usw. abgehandelt werden: a)<br />

die Bars, b) die Saunen und c) die Discos.<br />

Nun der Ernst des Lebens – die Drogen und die Krankheiten! Zur Erholung dann ab<br />

nach Fire Island, speziell nach Fire Island Pines und Cherry Grove. Solche Sommer gab es<br />

nie wieder …Und schließlich Aids, die Epidemie, das Sterben und der Kampf dagegen. Am<br />

Schluss versucht der Film, jene Zeitzeugen eine Bilanz ziehen zu lassen – sie fällt<br />

angemessen differenziert aus. Zugleich melden sich die Jungen von heute zu Wort: Was<br />

sie über jene Zeit denken. Wer seinerzeit selbst am sündigen Hudsonufer stand und …<br />

Nun, wenn er seitdem nicht mehr da war und es jetzt im Film wieder sieht, dann<br />

erschrickt er vielleicht – sie haben da heute einen Park wie am Rheinufer von Köln oder<br />

Düsseldorf, mit Blumen und mit Joggern, nachts geschlossen.<br />

Der Film beschönigt nichts und ist dennoch problematisch. Die alten Männer, die zum<br />

Teil in stabilen Beziehungen leben, sind gereift, klug, sie haben schwierige Zeiten überlebt,<br />

sind an ihnen gewachsen. Man muss sich klar machen, dass sie eine Elite darstellen, dass<br />

die Harmonie, die ihr Rückblick schafft, keinem realistischen Abbild jener Zeit entspricht.<br />

US-Autoren wie etwa Larry Kramer oder Andrew Holleran haben das krasse Hell-Dunkel<br />

und die Nachtseiten von damals in ihren Romanen authentischer vermittelt. Oder man<br />

lese, was der Deutsche Barry Graves damals im Spiegel über die New Yorker<br />

Homosexuellen schrieb, etwa in der Nummer 51/1975: Letzte Chance einer Liebe auf<br />

Erden. Das ist scharf beobachtet, klar analysiert und pointiert formuliert – und letztlich<br />

auch einseitig gesehen aus der Perspektive eines typisch europäischen schwulen<br />

Intellektuellen seiner Zeit.<br />

Die Vergangenheit ist wie ein Schacht, über den wir uns beugen und in dem es von<br />

Figuren wimmelt, voller Leben, doch das wir so, wie es tatsächlich einmal war, nicht<br />

rekonstruieren können – aber es bleibt faszinierend, so dass wir es trotzdem immer<br />

wieder versuchen.


8. THE DELTA, Film von Ira Sachs<br />

Die Geschichte dieses Filmes ist die von Anerkennung, Vergessen und<br />

Wiederentdeckung. 1996 auf den Markt gekommen, bekam der erste Streifen des US-<br />

Amerikaners Ira Sachs zunächst manches Lob und sogar Preise, dann schien er dem<br />

Vergessen anheimgefallen, um schließlich ein zweites Leben als Klassiker des Queer<br />

Cinema zu beginnen. Seit 2013 gibt es endlich eine DVD mit deutschen Untertiteln.<br />

Der Film hat viel von ungestümem, dabei genialem Jugendwerk. Man bemerkt wohl<br />

im Hintergrund die Vorbilder: der frühe Pasolini, der früher Fassbinder. Doch ist die<br />

Atmosphäre so dicht, sind die Hauptdarsteller derart präsent und ist der Schauplatz so<br />

sehr noch fast Neuland, dass kein Eindruck von Déjà-vu aufkommt. Memphis, Tennessee<br />

ist hier eine seltsam düstere Provinzmetropole von erhabener Banalität, gelegen in einer<br />

bei aller Großartigkeit durchaus nicht einladenden Natur. Das Delta, gebildet aus den<br />

Mündungstrichtern der Nebenflüsse des Mississippi, ist eine Schwemmlandschaft, und so<br />

instabil wie die Topographie sind auch die Beziehungen der Menschen untereinander. Ihre<br />

Umgangsformen sind rau, ohne eine Spur Herzlichkeit, und wenn diese sich doch einmal<br />

einschleicht, gerät die Lage bald ins Rutschen.<br />

In den beiden jungen Männern Lincoln (Shayne Gray) und Minh (Thang Chan)<br />

konzentriert sich das Problematische des Ortes. Minh ist ein schwuler Halbvietnamese mit<br />

schwarzem US-Amerikaner als Vater – den er hasst – und einer Frau in Vietnam. So einer<br />

wird nirgendwo akzeptiert, nicht in der asiatischen Heimat, nicht in der vietnamesischen<br />

Community von Memphis. Sachs ist mit Minh die perfekte Verkörperung eines Typs<br />

gelungen, des intelligenten Schwulen von zwar einnehmendem Wesen, doch aufgrund<br />

seiner Biographie so zerrissen, dass Verhängnis ihm zwangsläufig wie Pech anhaftet. Der<br />

noch sehr junge Lincoln pendelt zwischen drei Welten. Im wohlhabenden, gefühlskalten<br />

Elternhaus ist er der gut aussehende, immerzu schweigende Sohn. Er hält sich auch in<br />

seiner Clique normaler junger Leute zurück, bei ihren billigen Vergnügungen, beim<br />

Drogenkonsum. Halt sucht er bei einer ernsthaften jungen Frau unter ihnen, die ihrerseits<br />

unter seiner Instabilität, seiner noch kaum ausgeprägten Identität leidet. Lincoln lässt<br />

sich treiben, ein unbeschriebenes Blatt. Die Orte, wo man Homosexuelle kennenlernen<br />

kann, ziehen ihn schon stark an. Er trifft dort auf Minh, dem er nicht gewachsen ist, so<br />

wie dieser der Situation insgesamt nicht. Im Ergebnis schrammen sie aneinander vorbei –<br />

und die fatale Konsequenz aus ihrer missglückten Begegnung muss ein unbeteiligter<br />

Dritter tragen.<br />

Formal reiht der Film eine Reihe starker Einzelszenen aneinander, deren suggestive<br />

Kraft bewundernswert ist. Einige von ihnen könnten auch als sehr gelungene Kurzfilme<br />

bestehen, etwa eine Hotelzimmerszene, in der fast nichts geschieht, aber gerade im<br />

Verfehlen von Handlung zwei Charaktere extrem ausgeleuchtet werden - der Gefühlstod<br />

eines Handlungsreisenden in mittleren Jahren und ein vielversprechend-anmutiger<br />

Simplicius Simplicissimus, der sich blöde entzieht, dabei Verzweiflung hervorrufend.<br />

„The Delta“ war, wie spät erst erkannt wurde, die erste große Talentprobe eines<br />

Regisseurs, dem danach noch viel mehr gelang.


9. IM NAMEN DES ..., Film von Malgorzata Szumowska<br />

Dieser polnische Spielfilm überrascht dadurch, dass er sich auf sein Thema und sein<br />

Milieu wirklich einlässt. Er präsentiert lebenswahre Figuren und Erzählstränge und<br />

vermeidet das allzu Naheliegende: Thesen, Schuldzuweisungen. Da ist ein Realismus der<br />

Tiefenschärfe am Werk, jede kleine Sequenz in diesem Bilderbogen aus der polnischen<br />

Provinz ermöglicht Entdeckungen. Dabei weisen Dorf und Landschaft noch über sich<br />

hinaus, ähneln Gegenden z.B. in Brandenburg. Es ist tiefes Hinterland mit Zeichen des<br />

Stillstands, des Niedergangs und zugleich ausgerichtet auf ferne Metropolen. Illinois oder<br />

Vancouver ist auf Textilien aufgedruckt, der Dorfladen nennt sich großspurig nach den<br />

Niagara-Fällen - die Baracke wird später abgefackelt. Das Leben verläuft zwischen den<br />

beiden Polen heimische Tradition und fremdbestimmte Modernität: Kleinbauerntum und<br />

Internet, harte Steinbruchsarbeit und Drogen …<br />

Auch Adam, der neue Pfarrer, ein Jesuit in den Vierzigern, ist einer zwischen den Zeiten<br />

und Welten. Anfangs scheint er nur Vorzüge zu haben, kann sich auf sanfte Art<br />

durchsetzen, seine intellektuell geprägte Religiosität vermitteln. Er hat ein Heim für<br />

schwierige junge Männer und Burschen aufgebaut, das er zusammen mit einem Lehrer<br />

leitet, erfolgreich, wie es scheint. Seine inneren Konflikte, seine problematische<br />

Vorgeschichte werden nur langsam enthüllt. Adam ist homosexuell, ohne es auszuleben,<br />

streng zölibatär, unter seiner Einsamkeit leidend. Er wird hier im Dorf scheitern, wie er<br />

schon in Warschau gescheitert ist, er wird wieder versetzt werden müssen. Seine Tragik<br />

liegt darin, dass ihm durchaus nichts vorzuwerfen ist, nie strafrechtlich und lange auch<br />

nicht kirchenrechtlich – es ist seine von Verzicht und geheimer Sehnsucht geprägte Aura,<br />

die die Dorfbewohner rätseln, ihn zunehmend misstrauisch beobachten lässt. Aus<br />

Rauchzeichen in der Umgebung schließen sie auf geheimes Feuer. Während der Pfarrer<br />

asexuell lebt, ist Homosexualität im Heim Praxis. Einer der jungen Männer bringt sich in<br />

diesem Zusammenhang um …<br />

Und dann ist da der junge Dorfaußenseiter Lukasz, aus einfachsten Verhältnissen, sein<br />

Bruder das, was früher Dorftrottel hieß, und er selbst als Brandstifter und Ausreißer<br />

bekannt. Lukasz nimmt als Externer am Leben, Arbeiten und Feiern des Heimes teil,<br />

versucht sich zu integrieren. Adam unterstützt das. Lukasz erweist sich als weich,<br />

anlehnungsbedürftig, sucht die Nähe des Pfarrers. Zusammengeschlagen rettet er sich<br />

nachts einmal ins Pfarrhaus. Es „passiert“ nichts, nur die Geburt der Liebe aus einem Akt<br />

karitativer Fürsorge. Später wird Lukasz dem versetzten Pfarrer hinterherfahren und das<br />

Versäumte in einer weiteren Nacht nachholen – und am Ende den Zuschauer damit<br />

verblüffen, dass er Karriere macht in einer Kirche, wie sie David Berger in „Der heilige<br />

Schein“ beschrieben hat.<br />

Der Film hat Höhepunkte, die sich tief einprägen, so originell und kraftvoll sind sie. So<br />

wie Lukasz unter Anspannung zum Zündeln neigt, greift Adam dann zum Schnaps.<br />

Großartig die Szene, in der er nachts allein im Pfarrhaus zu extrem lauter Rockmusik<br />

betrunken tanzt, ein Bild von Papa Ratzinger in den Händen. Noch besser sein<br />

alkoholisiertes Selbstouting per Skype gegenüber der Schwester im fernen Toronto. Und<br />

ein weiterer Höhepunkt, wenn Lukasz und Adam sich in einem Maisfeld verstecken,<br />

einander suchen, nur mit imitierten Affenlauten kommunizierend. Zwischen ihnen wird


sonst fast nie gesprochen. So bleiben die Fassaden erhalten, wozu auch gehört, dass der<br />

Priester nach den beiden Nächten mit Lukasz (der sittsamen wie der sündigen) sich<br />

morgens allein auf seinem Nachtlager findet. Der Film teilt vieles zwischen den Zeilen mit,<br />

noch in der Schlussszene im Garten des Priesterseminars: All die jungen Männer sind in<br />

geistlichem Schwarz, nur einer trägt Zivil, näher bei Lukasz als alle anderen, fast in<br />

Tuchfühlung.<br />

Für Adam und Lukasz sind Andrzej Chyra und Mateusz Kościukiewicz die ideale<br />

Besetzung. Was ist noch zu rühmen? Die exzellente Kameraarbeit, der kühne und<br />

kontrastreiche Einsatz der Filmmusik. Und, noch einmal, dass das Werk weder plädiert<br />

noch anklagt, auch nicht die Amtskirche, deren Problembewusstsein wie Hilflosigkeit<br />

einfühlsam herausgearbeitet werden. Der Film setzt allein auf die positive Kraft<br />

bedeutender Kunst. Dass der europäische Film noch zu solcher Leistung fähig ist, stimmt<br />

einen froh.<br />

„Im Namen des …“ nahm 2013 am Wettbewerb der Berlinale teil. Es erhielt damals<br />

den Teddy Award. Seit 2014 ist es als DVD erhältlich, sowohl in polnischer<br />

Originalfassung mit deutschen Untertiteln wie auch synchronisiert.


10. Zoologisches im Film - Ein Beispiel<br />

Die Berlinale 2015 brachte der polnischen Filmemacherin Malgorzata Szumowska<br />

einen Silbernen Bären in der Kategorie Beste Regie ein, und zwar für ihren neuesten Film<br />

„Body“. Hervorragende Regiearbeit war schon an ihrem Film davor zu bewundern: „Im<br />

Namen des …“, vorgestellt auf der Berlinale 2013. Szumowska wusste darin nicht nur<br />

ihre Darsteller optimal einzusetzen, sie verstand sich auch darauf, Tiere – sowohl<br />

Haustiere wie wilde – geschickt in die Handlung einzubeziehen. Das reicht vom bloß<br />

Atmosphärischen bis hin zur Tiersymbolik. Zum einen wird dadurch das ländliche Milieu,<br />

in dem der Film spielt, stärker betont, zum anderen er<strong>folge</strong>n so diskrete Hinweise auf<br />

sozialen oder religiösen Kontext. Einige Beispiele dafür.<br />

In einer der ersten Szenen bringt Lehrer Michal bei Tisch einen mit dem Essen<br />

unzufriedenen Zögling durch ein Sprichwort zur Raison: „Wenn ein Hund frisst, dann bellt<br />

er nicht.“ Der Gescholtene grimassiert daraufhin wie ein Hund. Ihm ist seine<br />

untergeordnete Rolle klargemacht worden, er akzeptiert sie widerwillig. Echtes<br />

Hundegebell ertönt im weiteren Verlauf dann oft wie dissonante Filmmusik, z. B. wenn<br />

die Insassen des Jugendheimes sich mit der Ortsjugend prügeln. Vergegenwärtigen wir<br />

uns, dass die Erziehungsanstalt kirchlich ist und Hunde im Alten wie Neuen Testament<br />

eine schlechte Presse haben.<br />

Lukasz, der spätere Geliebte des Pfarrers, tritt zuerst mit einer Kuhherde auf. Er treibt<br />

sie dicht an den Heimbewohnern vorbei, die gerade Fußball spielen. Er ist der Hirt, der<br />

aus seiner archaisch engen Welt ausbrechen, sich einer problematischen Moderne<br />

anschließen will. Wenig später darf er mit den anderen Fußball spielen, das ist der<br />

Anfang seiner Einbindung. Doch das Muhen und Brüllen von Kühen begleitet ihn noch<br />

und erklingt wie zum Abschied - ähnlich dem Herdenglockenklang in Mahlers Sechster,<br />

dritter Satz -, als er Mutter und Brüder verlässt und in die Welt aufbricht. Er scheint das<br />

friedvolle Geräusch mitzunehmen, man hört auch Kühe, als Adam, der erneut versetzte<br />

Pfarrer, nach seiner ersten und vielleicht einzigen Liebesnacht mit Lukasz wieder allein<br />

daliegt. Lukasz ist schon fort, aber der Frieden, den er gebracht, geblieben.<br />

Die symbolische Bedeutung einer schwarzen Katze kennt man. Hier im Film kreuzt sie<br />

die Straße, wenn Michals Auto sich rasch dem am Straßenrand parkenden Adams nähert.<br />

Michal fährt langsamer, schaut hinüber und sieht, wie sich im Wagen drüben die Köpfe<br />

des Pfarrers und Lukasz’ berühren. Er schöpft Verdacht, wendet sich an den Bischof. Die<br />

Katze kam übrigens von rechts, zum Glück nicht von links, von Adam aus gesehen. Sein<br />

Unglück hält sich tatsächlich in Grenzen. So viel von den Haustieren.<br />

Die Ameisen haben ihren ersten Auftritt gleich zu Beginn. Die Dorfkinder zwingen<br />

Lucasz` geistig behinderten Bruder Marcin, Ameisen zu essen, dann beschimpfen und<br />

schlagen sie ihn. Die Szene spielt auf einem verwahrlosten Friedhof. Ist er nicht jüdisch?<br />

Dazu gibt es antisemitische und weitere herabsetzende Sprüche. Der jüngste der drei<br />

Brüder, selbst noch Kind, tötet später Ameisen vor ihrer Haustür durch gezielte Tritte.<br />

Lukasz sitzt auf einem Stuhl daneben, die Mütze über die Augen herabgezogen. Wohl<br />

vergeblich hat er dem Kleinen vorher Achtung vor der Kreatur beizubringen versucht. Das<br />

ist eine der poetischsten Stellen des Filmes: wie sie bewundernd die Schnecken betrachten,<br />

die sich auf einer Fensterglasscheibe angesiedelt haben. Die Ameise steht schon in der


Bibel für Fleiß und Klugheit (Sprüche Salomos 6,6). Und die Schnecken? Ihr<br />

Bedeutungsradius ist weiter gezogen. Er reicht von Langsamkeit und Sensibilität über<br />

Wollust bis hin zur Verkörperung von Wiedergeburt und Erneuerung – und gerade von<br />

Letzterem spricht der Pfarrer in einer seiner autobiographisch inspirierten Predigten. Und<br />

noch ein christlicher Schlüssel: die Schnecke, im Frühjahr ihr Gehäuse sprengend, als<br />

Auferstehungssymbol. Dieses Motiv wird aufgenommen, wenn Lukasz und Adam sich<br />

endlich nahekommen und in betont langer Einstellung ihre Kleidung mühsam ablegen.<br />

Frau Szumowska setzt sogar mit Erfolg eine Stubenfliege ein, um die Handlung<br />

symbolisch aufzuladen. Dies geschieht genau viermal (- und darüber hinaus hören wir<br />

Fliegengesumm wiederholt nur als Hintergrundgeräusch, wenn tabuisierte Sexualität in<br />

der Luft liegt.) Beim ersten Mal belästigt eine Fliege den nachts wach liegenden Adam, er<br />

verscheucht sie und plötzlich steht Lukasz erstmals vor seiner Tür, nach einer Schlägerei<br />

blutend, und muss versorgt werden. Die Fliege ist wieder zur Stelle, als Lukasz später im<br />

Auto einen schüchternen Annäherungsversuch unternimmt. Und sie spaziert über Monitor<br />

und Tastatur, als Adam sich per Skype seiner Schwester in Toronto offenbart. Beim<br />

<strong>vierte</strong>n Mal – es ist am Morgen nach ihrer ersten Vereinigung – lässt sich die Fliege<br />

erstmals auf Lukasz nieder, der sie mit einer Handbewegung verjagt, wozu die beiden<br />

Männer amüsiert lächeln. Sie scheinen zu wissen, dass die Fliege in der christlichen<br />

Dämonologie traditionell als Begleiterin des Teufels angesehen wird: Beelzebub als Herr<br />

der Fliegen. Und sie setzen sich jetzt darüber hinweg: Fliegengesumm in ihren Ohren die<br />

Reste überlebter Moral. Die Reaktionen konservativ-kirchlicher Kreise in Polen auf den<br />

Film fielen dennoch oder gerade deshalb ungnädig aus.<br />

(Hinweis: Zum Film „Im Namen des …“ allgemein gibt es gesondert eine Rezension von<br />

Arno Abendschön, ebenfalls hier veröffentlicht.)


11. SLEEPLESS KNIGHTS, Film von Stefan Butzmühlen und Cristina Diz<br />

Wer sich vorab nicht für die Filmemacher interessiert und das Werk aus 2012 insoweit<br />

ohne Vorkenntnis ansieht, kann es leicht für ein rein spanisches Produkt halten. Doch nur<br />

die Co-Regisseurin und Co-Autorin Cristina Diz kommt ursprünglich aus Spanien, Stefan<br />

Butzmühlen und der Kameramann Stefan Neuberger sind Deutsche. Dafür ist die<br />

Besetzung im Wesentlichen rein spanisch, darunter viele Laiendarsteller aus der<br />

ländlichen Extremadura. Diese sommerlich ausgedörrte Binnenregion an der Grenze zu<br />

Portugal sowie ein größeres Dorf in ihr sind jedoch die eigentlichen Hauptfiguren des<br />

Films. Die Bühne selbst ist hier bedeutender als das Geschehen auf ihr. Wem das Narrative<br />

an einem Film das Wichtigste ist, kann von diesem Film enttäuscht werden. Wer aber<br />

Sinn für Atmosphäre hat, wer poetischen Realismus im Film liebt, wird hier voll auf seine<br />

Kosten kommen. Die Bildersprache ist von außerordentlicher Kraft und Schönheit.<br />

Wie die Filmemacher an ihre Arbeit herangingen, erläutern sie selbst im Presseheft des<br />

Verleihers und Produzenten (Salzgeber und Co. Medien GmbH) so: „In den Vorbereitungen<br />

hat unser Kameramann uns gefragt, ob wir uns die Szenen, die wir ihm per Skype<br />

beschrieben haben, wie Gemälde vorstellen. Wir dachten an Bilder, die für sich existieren.<br />

Wir wollten experimentieren: Sehen, was passiert, wenn wir sie nacheinander reihen,<br />

wenn wir beim Schreiben eher über konkrete Bilder als über eine Geschichte nachdenken<br />

und später diese Bilder montieren. Erst im Montageprozess haben wir uns mit der<br />

dramaturgischen Aufgabe jeder Szene innerhalb des Films auseinandergesetzt. Wir haben<br />

das Material beobachtet und uns langsam der Vorstellung angenähert, was unser Film<br />

eigentlich sein kann.“ Das Ergebnis dieses Verfahrens kann sich sehen lassen. Mit diesen<br />

Bildern kann man sich eins fühlen, so suggestiv und zugleich kontemplativ wirken sie auf<br />

den dafür aufgeschlossenen Zuschauer. Oft fühlte sich der Rezensent an Weerasethakuls<br />

„Tropical Malady“ erinnert.<br />

Die beiden jungen Hauptdarsteller wurden in Madrid engagiert. Raúl Godoy ist Carlos,<br />

er kommt 2011 für einen Sommermonat heim ins Dorf, scheint seine Arbeit in Madrid<br />

in<strong>folge</strong> der Wirtschaftskrise verloren zu haben. Denkt er ans Auswandern nach<br />

Deutschland? Sein dementer Vater und der ihm sehr fremde Bruder sind Schafzüchter.<br />

Carlos hilft ihnen ein wenig und arbeitet abends hinter dem Tresen einer Bar im Dorf. Dort<br />

begegnet er Juan (Jaime Pedruelo), einem Polizisten, der eben aus Madrid hierher versetzt<br />

wurde. Die beiden kommen sich rasch nahe, werden ein Paar. Das wird nur beiläufig<br />

erzählt, in scheinbar zufällig aneinandergereihten Szenen von großer Innigkeit.<br />

Die zweite, davon strikt losgelöste Handlung besteht im Nachspielen einer<br />

mittelalterlichen Legende durch ein gutes halbes Dutzend alter Männer aus dem Dorf. So<br />

sonderbare und zugleich lebensechte Rentner sah man lange nicht im Film. Wie sie<br />

zusammensitzen, Fische braten, Lieder singen, Gedichte vortragen – und wunderschöne,<br />

poetische! Dann binden sie Schafen Taschenlampen auf den Rücken und treiben die Herde<br />

in beginnender Nacht zur Ruine einer Burg hinauf …<br />

Eingebettet sind diese beiden im Film nur skizzierten Handlungen in Alltagsszenen aus<br />

dem Dorf. Das ist ein Mikrokosmos vom Rand Europas, seltsam fremd in unserer Zeit. Ist<br />

er ein Relikt der Vergangenheit? Oder sich abzeichnende Zukunft? Vielleicht ist er nur ein<br />

Fluchtort.


12. MIXED KEBAB, Film von Guy Lee Thys<br />

2012 drehte der Belgier Guy Lee Thys diesen Film, der angesichts der jüngsten<br />

Entwicklung in seinem Land nun verstärktes Interesse auf sich ziehen kann.<br />

Die Handlung: Ibrahim – oder flämisch: Bram – (Cem Akkanat) ist ein junger Mann<br />

aus Antwerpen mit türkischen Eltern. Er bringt sich als Halbtagskellner und<br />

Gelegenheitsdealer so eben durch. Seine Homosexualität ist sowohl der Mutter wie auch<br />

den Geschwistern bekannt, vor dem Vater wird sie geheim gehalten. Ibrahim wird<br />

genötigt, nach Anatolien zu fliegen, um eine von der Familie arrangierte Hochzeit mit<br />

einer Kusine vorzubereiten. Auf die Reise nimmt er seinen neuen flämischen Freund Kevin<br />

(Simon Van Buyten) mit. Zwangsläufig endet das Heiratsprojekt mit einem Fiasko.<br />

Parallel dazu hat sich der jüngere Sohn Furkan (Lukas De Wolf) einer religiösfundamentalistischen<br />

Gruppe angeschlossen. Die Spannungen innerhalb wie außerhalb<br />

der Familie nehmen immer mehr zu, bis es zu einer Gewalttat mit beinahe tödlichem<br />

Ausgang kommt. Die Familie rückt in der Krise zusammen – ob in Zukunft an Ibrahims<br />

Seite Platz für Kevin sein wird, bleibt fraglich.<br />

Wie wird dieser Stoff umgesetzt? Man kann dem Werk gute Fernsehspielqualität<br />

zuerkennen, mehr nicht. Die Handlung ist überladen mit Details, die Spannung erzeugen<br />

oder sie aufrechterhalten sollen. Dabei wirkt nicht Weniges davon wie aus dem<br />

Musterbaukasten der Fernsehspielästhetik, ist im Ablauf vorhersehbar. Personen wie<br />

Situationen neigen zum Plakativen, sind oft überzeichnet. Besonders gilt dies für den in<br />

der Türkei spielenden Mittelteil. Ibrahims anatolische Verwandtschaft wie die weiteren<br />

Akteure dort sind durchweg unsympathisch. Dagegen erscheinen die flämischen<br />

Protagonisten – Kevin und seine Mutter – allzu bieder. Die Kameraführung vermittelt die<br />

Atmosphäre der diversen Schauplätze gut, doch cineastisch Aufregendes hat sie nicht zu<br />

bieten. Was den Film dennoch rettet, ist Cem Akkanats hervorragendes Spiel. Leider<br />

mutet ihm das Drehbuch kurz vor Filmende noch eine unglaubwürdige innere Krise zu.<br />

Jenseits des Künstlerischen hat der Film aktuell beträchtlichen dokumentarischen<br />

Wert. Er dringt trotz seiner Neigung zu Schablonen tief in die Struktur und die<br />

Widersprüche einer türkischen Großfamilie in Westeuropa ein. Und: Er thematisiert bereits<br />

die religiös-fundamentalistische Parallelwelt in Belgiens Großstädten, ihre Strategien<br />

und Taktiken, ihre Attraktivität für junge muslimische Männer. Vor allem unter diesem<br />

Aspekt stellt der Rezensent den Film jetzt hier vor.<br />

(Geschrieben im November 2015)


13. PEYOTE, Film von Omar Flores Sarabia<br />

Wie viel Handlung von Gewicht kann man in einen Film von bloß siebzig Minuten<br />

Länge packen, zumal wenn es nur ein Zwei-Personen-Drama ist? Sehr viel, der 1986<br />

geborene Mexikaner Omar Flores Sarabia beweist es mit seinem ersten Spielfilm, gedreht<br />

2013. Zwischen den zwei Figuren findet all das statt: erste Begegnung, Entwicklung,<br />

Umschwünge, Trennung, Erinnerung - zusammengedrängt in maximal sechsunddreißig<br />

Stunden Handlung.<br />

Pablo (Joe Diazzi) ist siebzehn, geht noch zur Schule. Er ist in der prosperierenden<br />

Provinzmetropole San Luis Potosí zu Hause und stößt dort auf Marco (Carlos Luque), der<br />

wenige Jahre älter ist und gegenwärtig gar nichts tut. Pablo filmt den Herumlungernden<br />

heimlich, Marco sieht die Chance für einen Roman zwischen ihnen. Er überredet den<br />

Jüngeren zu einer Autofahrt in das ca. zweihundert Kilometer entfernte museale, halb<br />

verfallene Städtchen Real de Catorce, früher ein Ort mit ergiebigen Silberminen. Bei Real<br />

könne man Peyote-Pflanzen finden, sagt er. Ohne dass das Wort Meskalin fällt, ist klar,<br />

Marco hat ein Ziel: Pablo zu einer Art Initiation zu verhelfen.<br />

Die beiden jungen Männer gehören deutlich voneinander geschiedenen sozialen<br />

Schichten an. Pablo, ein noch relativ unbeschriebenes Blatt, ist ein Kind der oberen<br />

Mittelklasse, wenn nicht gar aus der Oberschicht. Marcos Herkunft ist eher plebejisch,<br />

allenfalls unterer Mittelstand, ökonomisch gescheitert. Seine leichte Verschlagenheit und<br />

kumpelhafte Aggressivität sind zum Teil nur Fassade, hinter der immer wieder spontan<br />

menschliche Wärme aufscheint. Er verfügt gegenüber Pablo über zwei<br />

Erziehungsmethoden. Zunächst geniert er ihn, indem er ihn als unselbständigen, allzu<br />

behüteten Sprössling aus reichem Haus charakterisiert und zunehmend auch lächerlich<br />

macht. In einer zweiten Phase schockiert er den Jüngeren zusätzlich dadurch, dass er<br />

dessen bislang diskrete homosexuelle Neigung thematisiert und sie gleichzeitig verbal<br />

herabsetzt. Allerdings schlafen sie in Real auch miteinander. Nur das Vorspiel wird<br />

gezeigt, voll von Begehren, Neckerei, Machtspiel, Entblößung der Seele, das gehört zu<br />

den Höhepunkten des Films.<br />

Nach dieser Nacht dreht die Story. Pablo entdeckt die Schwächen seines neuen<br />

Freundes, seine Instabilität, seine deprimierende Familiengeschichte, seine<br />

Perspektivlosigkeit. Sie verlassen die Stadt und je weiter sie in die sie umgebende<br />

Halbwüste vordringen, umso mehr verschärft sich die Krise zwischen ihnen und die für<br />

jeden von beiden allein. Der Jüngere erweist sich als der fürs Leben besser Vorbereitete,<br />

Pablo gewinnt in ihrer Beziehung die Oberhand. Ob sie den Peyote finden, wird hier nicht<br />

verraten. Jedenfalls kehren sie stark verändert nach Real zurück, von wo aus einer<br />

heimfährt, während der andere zunächst bleibt.<br />

Für die beiden jungen Schauspieler ist es jeweils die erste Hauptrolle in einem<br />

Spielfilm. Sie füllen sie aus, als ginge es tatsächlich um ihre Existenz, mit so viel Kraft,<br />

Frische und Präsenz, dass es eine Lust ist, sie dabei zu erleben. Sie entwerfen so zwei<br />

Charakterbilder, sie zeigen, wie Identität beschaffen ist und wie sie, indem sie scheinbar<br />

verlorengeht, erst recht gewonnen, verstärkt wird – so gesehen auch eine traurige<br />

Geschichte. Die soziale Rolle und die individuelle Psyche verweisen wechselseitig<br />

aufeinander, ohne die Magie der Persönlichkeit vollständig zu enträtseln. Das alles zeigt


uns die Kamera vor einer wahrhaft heroischen Berg- und Wüstenlandschaft,<br />

beeindruckend eingefangen. Das klug mit Leitmotiven arbeitende Drehbuch scheint mir<br />

übrigens Themen aus Francisco Francos „Quemar las naves – Burn the bridges“<br />

aufzunehmen, noch so ein wunderbarer mexikanischer Film.<br />

Dem jungen Regisseur Omar Flores Sarabia ist nach diesem überzeugenden Debüt eben<br />

so viel zuzutrauen wie auch Erfolg zu wünschen.


14. Dekonstruktion von Mythos im Film<br />

In Omar Flores Sarabias Film „Peyote“ unternehmen zwei junge Männer spontan einen<br />

Trip von San Luis Potosí nach Real de Catorce. Dort angekommen streifen sie durch die<br />

museale Kleinstadt. Marco, der Ältere der beiden, fragt Pablo nach dem Plan von San Luis<br />

Potosí – für die meisten Mexikaner Bestandteil ihres Wissens über die jüngere<br />

Landesgeschichte. Diesen Plan hat der spätere Präsident Madero (1873 – 1913) mit<br />

anderen im US-Exil verfasst, 1910 in San Luis Potosí veröffentlichen lassen und damit<br />

den Startschuss für die im Verlauf erfolgreiche mexikanische Revolution gegeben. Das<br />

Dokument spielt hagiographisch eine ähnliche Rolle wie die Erstürmung des Winterpalais<br />

für die russische Oktoberrevolution von 1917. Als bloßes Papier ist es angenehm unblutig<br />

wie jenes Ereignis in St. Petersburg und damit hervorragend zur Begründung eines<br />

Mythos geeignet, der vom in beiden Fällen später reichlich geflossenen Blut ablenkt. Die<br />

fortlaufende Erinnerung daran dient heute vor allem der Legitimation der seitdem die<br />

Macht innehabenden politischen Klasse. Dass Madero als gemäßigter Präsident schon<br />

1913 gestürzt und bald darauf ermordet wurde und sich die Revolution erst danach voll<br />

realisieren konnte, verschafft dem Plan von San Luis Potosí eine zusätzliche tragische<br />

Note.<br />

An einer solchen nationalen Reliquie vergreift man sich nicht. Doch eben das tut<br />

Marco, der mit Pablo einiges vorhat. Der erst Siebzehnjährige spult zögernd ab, was er in<br />

der Schule gelernt. Darauf Marco: Das erfindest du jetzt oder man hat es dir falsch<br />

beigebracht … Und dann macht er ihm weis, der Plan sei tatsächlich in Real entworfen<br />

worden, und zwar beim Ficken! Madero habe da einen Schatz gehabt und um ihn zu<br />

retten usw. usf. Es ist alles erfunden, doch Pablo leiht willig sein Ohr. Erst als das<br />

Geschlecht des „Schatzes“ sich als maskulin herausstellt, wird er bockig: Madero ein<br />

„maricón“?! Sie beginnen die Frage zu erörtern, ob Helden schwul sein können. Dann ein<br />

Schnitt und Marco lehnt an einer hohen Steinmauer, blickt zärtlich auf Pablo herunter,<br />

sagt: Und das Beste an der Geschichte ist, dass du sie geglaubt hast. – Pablo fühlt sich<br />

zum Widerspruch verpflichtet und er setzt an zu sagen, Madero sei kein „maricón“<br />

gewesen. Da ihm aber das Thema in der Öffentlichkeit peinlich ist, sagt er’s ihm ins Ohr<br />

und muss sich dabei recken und zu ihm hinstrecken. Es sieht ganz so aus, als ob er ihn<br />

gleich umarmen und küssen würde. Der tote Präsident ist schon nicht mehr das Thema,<br />

und am Abend hat Marco seinen eigenen Plan von San Luis Potosí in die Tat umgesetzt.<br />

Die kleine Szene ist nicht nur hübsch anzusehen, sie scheint mir wie manches schon bei<br />

dem etwas älteren Julián Hernández („Mil Nubes“) für eine Tendenz im<br />

lateinamerikanischen Film zu stehen. Es ist da eine Art von Entmythologisierung am<br />

Werk, bei der Mythen zum Zitatensteinbruch werden, aus dessen Trümmern rein private<br />

Welten neu entstehen.


15. LA PARTIDA - DAS LETZTE SPIEL, Film von Antonio Hens<br />

Der Regisseur Antonio Hens ist Spanier. Er hat sich, erfahren wir, seit den 1990er<br />

Jahren häufig auf Kuba aufgehalten, um Verwandte zu besuchen. Sein zweiter Spielfilm<br />

„La Partida“ spielt ausschließlich in Havanna, gedreht mit kubanischen Schauspielern und<br />

kubanischer Crew. Nach seiner Fertigstellung 2013 wurde er rasch hintereinander auf<br />

Filmfestivals in Sevilla, San Francisco und dann auch Havanna vorgestellt. Anlässlich<br />

dieser ersten Präsentation in Kuba interviewte ihn die linke, regierungskritische Internet-<br />

Zeitung „Havana Times“ (englisch- und spanischsprachig). Der Blog wird von Nicaragua<br />

aus betrieben, mit Autoren zumeist in Kuba. Die Aufführung des Problemfilms in Havanna<br />

ist ein Gradmesser der Liberalisierung Kubas - und Hens’ vorsichtige Antworten im<br />

Interview einer für deren Grenzen.<br />

Hens weist in diesem Gespräch ausdrücklich die Auffassung zurück, er habe mit dem<br />

Film spezifisch kubanische Probleme darstellen wollen. Es sei ihm vielmehr um ein<br />

universales Thema gegangen, um unterprivilegierte Menschen und ihre Suche nach<br />

persönlicher Freiheit – man könne solche Gestalten in der kubanischen wie in jeder<br />

anderen Gesellschaft finden. Es scheint, Hens hat hier vielleicht Rücksicht auf seine<br />

Interessen in Kuba genommen, im Hinblick auf die Vermarktung des Filmes dort und auf<br />

die Situation der Mitwirkenden. Denn zumindest der europäische Zuschauer wird in<br />

seinem Film ein recht genaues Bild der kubanischen Gesellschaft wie des Alltags in<br />

Havanna von heute erkennen. Die Szenen spielen überwiegend im heruntergekommenen<br />

Teil des Zentrums der Hauptstadt, sie zeigen die erbärmlichen Wohnverhältnisse, die<br />

Geldnöte, die teilweise schwierige Ernährungslage, den Auswanderungsdruck.<br />

Schwarzmarkt und Privilegien werden nebenbei gestreift. Als Reinier (Reinier Diaz) von<br />

seinem ersten Training in der Jugendnationalmannschaft heimkommt, berichtet er: Sie<br />

haben mir sogar Fisch und Pommes frites gegeben … Und es stellt sich für die Familie die<br />

Frage, wieso sie auf ihn verfallen sind, da doch sonst nur die Söhne von hohen Bonzen<br />

genommen würden.<br />

Reinier ist jungverheiratet, ein Kind ist schon da, alle wohnen sehr beengt bei der<br />

Schwiegermutter. Er hat keine Arbeit und Einkünfte nur, wenn ihm Fortuna im Glücksspiel<br />

gewogen – oder wenn er als Stricher erfolgreich gewesen. Er spielt Fußball in<br />

Mannschaften, die sich aus den jungen Männern des Armen<strong>vierte</strong>ls spontan bilden -<br />

dabei wird er von Talentsuchern entdeckt. Yosvani (Milton Garcia), einer der Mitspieler im<br />

Kiez, steht materiell besser da. Er lebt mit seiner Verlobten bei deren Vater und hilft ihm<br />

bei nicht immer sauberen Geschäften. Reinier und Yosvani kommen sich viel näher als<br />

sonst beim Fußball üblich. Und dann ist da noch ein spanischer Tourist, auf den sich die<br />

Hoffnungen von Reiniers Familie richten: Der junge Kubaner soll den Fremden in Spanien<br />

heiraten und die anderen dann nachholen. Hens zeigt im Film die Massen männlicher<br />

Prostituierter an der Strandpromenade von Havanna. Bei der Präsentation seines Werks<br />

berichtet er von jungen Männern, die von hier aus nach Europa gelangen und wie ihre<br />

Schicksale dort verlaufen. In der Filmhandlung scheitert der Plan, nur der Spanier<br />

verlässt dieses düstere Havanna. Der Film endet mit einer melodramatisch aufgeladenen<br />

Bluttat tragisch.<br />

Der Streifen ist professionell gut gemacht, weist relativ hohes künstlerisches Niveau


auf und stützt sich vor allem auf zwei ausgesprochen sehenswerte<br />

Nachwuchsschauspieler. Die beiden verkörpern mit ihren Rollen zwei entgegengesetzte<br />

Typen - und hier ist die Thematik tatsächlich universal und die Handlung über Kuba<br />

hinausweisend. Während Reinier im Lauf ihrer Beziehung allmählich klüger, vorsichtiger,<br />

verantwortungsvoller wird, rennt Yosvani – er hat den sympathischeren Part - mit der<br />

Unbedingtheit seiner Liebe schnurstracks ins Unglück. Wieder einmal: zum Weinen schön.


16. OBEN IST ES STILL, Film von Nanouk Leopold<br />

Auch das ist eine Geschichte von begrabnem Leben, doch anders als in Thomas Wolfes<br />

geräuschvollem Familienroman „Schau heimwärts, Engel“ ein stilles Drama, dafür zeitlich<br />

und örtlich uns viel näher. Helmer (Jeroen Willems) ist Mitte fünfzig, ledig und<br />

wirtschaftet allein auf einem kleinen Hof nahe an Hollands Südgrenze. Bei ihm lebt sein<br />

alter Vater (Henri Garcin), den er versorgen muss. Helmer war nicht als Hoferbe<br />

vorgesehen, nach dem frühen Tod des Bruders ist er eingesprungen. Hat er sich, sein<br />

autonomes Leben geopfert? Die Handlung setzt damit ein, dass er den altersschwachen<br />

Mann im Haus umquartiert – der Vater wird zum Sterben ins Dachgeschoss gebracht und<br />

dort von ihm ebenso pflichtbewusst wie unverkennbar frei von Zuneigung gepflegt.<br />

Helmer renoviert die Räume unten, die er selbst bezieht, ohne sie jedoch mit Leben<br />

ausfüllen zu können. Wir werden Zeuge einer leisen und verspäteten Midlife-Crisis, deren<br />

Substanz etwas rein Negatives ist: Helmers unterbliebenes Coming-out.<br />

Oben ist es tatsächlich still: Vater und Sohn kommunizieren kaum miteinander. Der<br />

Jüngere fühlt sich auf dem Hof seit jeher fehl am Platz, der Ältere sagt als Letztes, bevor<br />

er stirbt: „Du bist ein sonderbarer Kauz.“ Der Sohn ist Milchbauer, hält Rinder und, mehr<br />

zum Vergnügen und gegen das Alleinsein, Schafe und zwei kleine Esel. Sein Verhältnis zu<br />

den Nachbarn ist korrekt, beinahe freundschaftlich. Dagegen weicht er dem<br />

sympathischen älteren Milchfahrer (Wim Opbrouck), der ihn mag und ihm näherkommen<br />

möchte, konsequent und zugleich gegen sein eigenes Bedürfnis nach Nähe aus. Dieselbe<br />

angstvolle Abwehr alles Erotischen vertreibt auch den jungen Knecht (Martijn Lakemeier)<br />

nach wenigen Wochen wieder vom Hof. Es wird noch einsamer um Helmer: Der<br />

Viehhändler siedelt mit Familie nach Neuseeland über. Der Milchfahrer quittiert den Dienst<br />

und kehrt nach Belgien zurück. Doch dann ist er bei der Beerdigung von Helmers Vater<br />

wieder da. Die letzte Einstellung deutet eine mögliche Wende an: Helmer, nun ungewohnt<br />

ausgeglichen auf seinem eigenen Grund liegend, blickt mit einer Mischung aus Neugier<br />

und Zufriedenheit zur Seite, ohne dass uns mehr ins Blickfeld gerät.<br />

Die niederländische Regisseurin Nanouk Leopold hat den gleichnamigen, sehr<br />

erfolgreichen Roman von Gerbrand Bakker auf ihre eigene subtile Weise verfilmt,<br />

atmosphärisch dicht und stimmig, detailreich. Die eindrucksvollen Sequenzen drinnen<br />

und draußen <strong>folge</strong>n in raschem Wechsel. Über allem liegt eine Art von November-<br />

Sinnlichkeit. Es ist durchgehend winterlich, dabei feucht-mild oder leicht frostig.<br />

Gelegentlich könnte man Bezüge zur Welt der Evangelien vermuten: Helmer, wenn er<br />

seinen Vater wie sein schweres Kreuz die Treppe hinaufschleppt. Oder Helmer als der gute<br />

Hirte inmitten seiner Lämmer. Und dann bei der Beerdigung eine Art Auferstehung, nicht<br />

des Vaters, sondern des Sohnes oder des Milchfahrers, der wieder da ist, mit Wundmalen<br />

im Gesicht, die nicht erklärt werden.<br />

Je öfter man den Film, uraufgeführt auf der Berlinale 2013, jetzt ansieht, umso<br />

eindrucksvoller erscheint einem Frau Leopolds Arbeit und die ihrer Crew. Jeroen Willems<br />

ist bald nach den Dreharbeiten Ende 2012 einem Herzanfall erlegen. Hier erleben wir ihn<br />

noch ganz auf der Höhe seines Darstellungsvermögens. Sein Helmer ist die einzige<br />

Hauptrolle des Films und auf ihm liegt die Last dieses spröden Stoffs – wunderbar, wie er<br />

ihr standhält. Da wird uns ein Schicksal, wie es selbst heute noch viele geben mag,


ehutsam vor Augen geführt, eines, das von andauerndem Verzicht und stummem Leiden<br />

daran erzählt.


Tag der Veröffentlichung: 21.11.2016<br />

https://www.bookrix.de/-<strong>arno</strong>.<strong>abendschoen</strong>

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