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Kooky Rooster<br />

Halbgott, Mozzarella <strong>und</strong> Tomate<br />

Gay-Romance


1| Fit mit Uwe<br />

Stöhnen. Scheppern. Ächzen. Klirren. Der Geruch von Desinfektionsmittel, Teppich <strong>und</strong><br />

Schweiß lässt mein Herz höher schlagen. Ich sitze in Shorts <strong>und</strong> Shirt auf der Hantelbank<br />

<strong>und</strong> schaue mich um. Zu meinen Knöcheln liegen Gewichte. Fünfzehn Kilo. Nicht viel für<br />

einen Kerl. Viel für mich. Aus dem Lautsprecher über mir dringt gemäßigt Musik.<br />

Hitparadenkram, unterbrochen von beschwingt-seichtem Gelaber.<br />

Unter allen Anwesenden gebe ich die mit Abstand jämmerlichste Figur ab.<br />

Dienstagvormittag sind die Profis hier. Männer, die nichts anderes zu tun haben, als ihre<br />

Körper in eine Buckelpiste zu verwandeln. Eine gebräunte, steinharte Buckelpiste. Im<br />

Vergleich zu ihnen sehe ich aus wie Mozzarella. Weiß, weich <strong>und</strong> am Ende eines mäßigen<br />

Trainings in Salzlake – nur der Kopf knallrot vom Stemmen. Tomate mit Mozzarella. Und<br />

das, obwohl ich bereits seit einem halben Jahr trainiere. Okay, trainieren ist ein starkes<br />

Wort für das, was ich hier tu. Die meiste Zeit hocke ich an einem der Geräte oder mit den<br />

Hanteln zu meinen Füßen <strong>und</strong> glotze. Als könnte ich vom reinen Zuschauen einen<br />

gestählten Körper bekommen.<br />

Es ist ein sehr kleines Fitnessstudio, verteilt auf zwei Ebenen. Ein ehemaliges<br />

Einfamilienhaus. Entsprechend familiär wirkt auch alles hier. Die Kraftkammern sehen<br />

aus wie Wohnzimmer. Eigentlich wäre mir die Anonymität einer Fitnesskette lieber, aber<br />

dort gibt es keinen Uwe.<br />

Uwe ist der Gr<strong>und</strong>, weswegen ich immer Dienstagvormittag hier herumsitze <strong>und</strong> ein<br />

schwächliches Kribbeln in den Gliedern habe. Mein Bauch schlägt seit Minuten Wellen <strong>und</strong><br />

gelegentlich schüttelt mich ein Schauer. So aufgeregt bin ich normalerweise nur, wenn ich<br />

eine Rede halten muss – weswegen ich keine Reden halte. Ich hasse diese Nervosität.<br />

Normalerweise. Aber Dienstagvormittag liebe ich sie. Oder eher: Ich nehme sie in Kauf.<br />

Und zwar gerne.<br />

In wenigen Minuten wird Uwe hier auftauchen, zusammen mit seinem Kumpel, der<br />

einen Körper hat wie eine Matratze (also wie ich) <strong>und</strong> noch nie eine Hantel oder eines der<br />

Geräte berührt hat. Siebzig Minuten verfolgt er Uwe mit der Kamera, der mit fröhlicher<br />

Laune erklärt, wie man am besten seinen Trizeps oder Bizeps oder Brustmuskel trainiert.<br />

Zu Beginn sitzt Uwe dazu lässig auf einer Bank, trägt ein Shirt mit dem Aufdruck<br />

www.fitmituwe.com <strong>und</strong> haspelt sich durch eine Reihe Versprecher, über die er selbst<br />

lachen muss. In den Augenwinkeln sammeln sich sympathische Fältchen, in seine<br />

Wangen bohren sich tiefe Grübchen, manchmal wischt er sich verlegen schmunzelnd über<br />

den M<strong>und</strong>. Eine kleine Geste, die mir jedes Mal die Knie weichmacht.<br />

Nachdem er r<strong>und</strong> zwanzig Minuten geredet hat – mit einer Stimme wie Waldhonig –<br />

kommt das nächste Highlight. Um zu demonstrieren, auf welche Muskeln es bei einer<br />

Übung ankommt, zieht er sein Shirt aus. An der Stelle umfasse ich gerne einen<br />

Gymnastikball zwischen meinen Schenkeln. Er führt die Übungen aus, streichelt über die<br />

Muskelhügel, die sich dehnen <strong>und</strong> zusammenziehen sollen, unterbricht sich, stellt sich<br />

aufrecht hin, erklärt, lacht, verspricht sich, schmunzelt, fährt sich über den M<strong>und</strong>,<br />

wiederholt die Bewegung.


Stellt er Beinübungen vor, trägt er zur Abwechslung Shorts statt einer langen<br />

Jogginghose, <strong>und</strong> schiebt den Saum auch mal bis zum Beinansatz hoch. Dabei vergesse<br />

ich meinen Unterkiefer <strong>und</strong> mein Blick verkantet sich mit seinen Leisten. Dort habe ich<br />

einmal schwarze Locken hervorblitzen sehen – <strong>und</strong> sofort die Hitze gespürt, die an dieser<br />

Stelle herrschen muss, habe den herb männlichen Duft von Erregung in der Nase gehabt<br />

<strong>und</strong> mir das weiche Fleisch vorgestellt, das nur ein Versehen von meinen Augen entfernt<br />

war.<br />

Diese tiefen Einblicke aber sieht man in den Videos nicht, die jeden Mittwoch online<br />

gehen, <strong>und</strong> die ich mir eine Woche lang in Dauerschleife ansehe. Manchmal kann man<br />

mich im Hintergr<strong>und</strong> sehen. Meistens nur mein Knie oder meinen Schuh oder meine<br />

Schultern. Ich bin der namenlose Athlet <strong>und</strong> vermutlich glauben viele Zuseher, man hätte<br />

mich nur hierher gesetzt, um zu zeigen: Jeder fängt einmal ganz unten an. Auch aus<br />

einem kalkweißen Waschbärbauch kann ein wilder, bronzefarbener Hengst werden. So<br />

wie Uwe, der im Vordergr<strong>und</strong> seinen gemeißelten Körper weiter perfektioniert.<br />

Da ertönt auch schon Gelächter <strong>und</strong> Gepolter im Treppenhaus. Mein Bauch zieht sich<br />

ganz ohne Crunches zusammen, dahinter bibbern meine Gedärme. Mein Herz hüpft,<br />

meine Ohren beginnen zu glühen <strong>und</strong> meine Finger werden eiskalt. Es wird mit jedem Mal<br />

schlimmer. Sein Lachen kommt näher. Rasch greife ich zu den Hanteln neben meinen<br />

Füßen <strong>und</strong> tu so, als wäre ich mitten im Training. Mein Gott, meine Muskeln sind<br />

Pudding. Vielleicht sollte ich mir für diese Momente Schaumstoffattrappen mitbringen<br />

wie in Hollywood. Denn natürlich möchte ich imponieren. Ich möchte, dass Uwe mich<br />

sieht, dass er anerkennt, wie ich mich Woche für Woche anstrenge. Ist ja nicht so, als<br />

hätte ich mich in den vergangenen sechs Monaten nicht verbessert. Dennoch hängen jetzt<br />

die Hanteln an meinen Armen wie an Seilen. Peinlich.<br />

Uwe betritt den wohnzimmerähnlichen Kraftraum. Sein erster Blick, ich hocke ja direkt<br />

bei der Tür, gleitet in mein Gesicht. Peng. Seine eisblauen Augen stechen direkt in meine<br />

Seele. Er nickt zum Gruß, dann graben sich schon die Lachfältchen in seine Wangen, tief<br />

wie Narben. Ich glaube, ich halte den Atem an, doch in Wahrheit japse ich nach Luft, als<br />

hätte ich soeben drei Minuten unter Wasser verbracht. Gott, er ist so … er ist so …<br />

Er marschiert an mir vorbei zur Beinpresse. Sein Shirt spannt sich um die Oberarme<br />

<strong>und</strong> Schulterblätter, liegt locker auf der Taille auf. Durch den fließenden Stoff der<br />

Jogginghose zeichnet sich sein Hintern wie ein Felsen ab. Gerade so kann ich ein Seufzen<br />

unterdrücken. Meine Schultern schmerzen <strong>und</strong> erst jetzt fällt mir wieder ein, dass ich die<br />

Hanteln halte. Da mein Blut lieber in meinem Kopf <strong>und</strong> zwischen meinen Schenkeln ist,<br />

statt in meinem Bizeps, stelle ich sie wieder neben meinen Füßen ab.<br />

Uwe hat mich angelächelt.<br />

Das Bild wird mich heute in den Schlaf begleiten.<br />

Dann reiße ich in der Mitte entzwei. Wann <strong>und</strong> wie auch immer sie den Raum betreten<br />

hat, plötzlich steht eine Frau neben Uwe. Eine richtige Fitness-Barbie. Die Haare zu einem<br />

hohen Pferdeschwanz geb<strong>und</strong>en, ihren Körper in hautenge Kleidung gepresst, die wenig<br />

der Fantasie überlässt. Sie ist die weibliche Entsprechung zu Uwe. Sie ist perfekt. Sogar<br />

ihr Lachen. Schneeweiße, gerade Zahnreihen, in ihrer Kehle ein Glockenspiel. Uwe strahlt<br />

sie an, sie strahlt Uwe an. Der Matratzenmann blickt durch die Kamera.<br />

Die nächsten Minuten hocke ich da wie vor einem Verkehrsunfall. Die Zeit verfliegt <strong>und</strong><br />

steht zugleich still. Mein Körper fühlt sich an wie Hartplastik. Mein Herz ist wie in


Bernstein gegossen. Uwe <strong>und</strong> Anne – wie sie sich dem späteren Publikum vorstellt –<br />

scherzen vor der Kamera, versprechen sich gemeinsam, lachen gemeinsam, rempeln sich<br />

an, strahlen sich an. Später lässt sich Anne in die Geräte einspannen, mal die Beine weit<br />

gegrätscht, dann der r<strong>und</strong>e Hintern herausgestreckt, während Uwes Hände über ihre<br />

R<strong>und</strong>ungen streichen. Hier müsst ihr es spüren. Hier anspannen. Das ist für die<br />

Adduktoren, den Gluteus Maximus, den Gluteus Medius …<br />

Ich bin so schockgefrostet, dass ich sogar einen Blick für den Kameramann habe, in<br />

dessen Schritt sich etwas wölbt, wenn Anne sich für das Bauch-Bein-Po-Fitness-<br />

Kamasutra streckt <strong>und</strong> reckt. Erstmals seit ich Uwe stalke, frage ich mich, ob er eine<br />

Fre<strong>und</strong>in hat. Ob das seine Fre<strong>und</strong>in ist. Optisch sind sie das perfekte Paar. Gott, sie sind<br />

zu perfekt. Ich Stümper. Ich hässlicher, blöder Idiot. Was habe ich denn geglaubt?<br />

Allwöchentlich pilgere ich hierher, schmachte Uwe an, plane tausend Möglichkeiten, mit<br />

ihm ins Gespräch zu kommen … Was habe ich denn erwartet? Dass er an einem Speckfurz<br />

wie mir Interesse haben könnte? Dass er überhaupt an Männern Interesse hat?<br />

Zugegeben, die Fragen habe ich mir gestellt, anfangs, aber ich habe sie erfolgreich<br />

verdrängt. Irgendwie habe ich es geschafft, jegliche Realität auszublenden <strong>und</strong> nur noch<br />

das zu sehen, was ich gerne hätte. Dass Uwe schwul ist, dass er nicht nur wegen seiner<br />

Internet-Videos hier auftaucht, sondern meinetwegen. Dass er mir zulächelt, weil er mich<br />

mittlerweile als alten Fitness-Kollegen sieht. Dass da was zwischen uns ist, auch wenn<br />

wir nicht miteinander reden. Eine Art metaphysische Gemeinsamkeit, die keine Worte<br />

braucht. Ich weiß es. Er weiß es. Und irgendwann, wenn die Zeit reif ist, werden wir das,<br />

was wir füreinander fühlen, in die Tat umsetzen.<br />

So habe ich gedacht. Nicht bewusst. Aber jetzt, da all diese Träume platzen, wird mir<br />

jede kleine Selbstlüge bewusst. Und dann sieht Uwe auch noch mitten während der<br />

Aufnahme zu mir her, lächelt scheu, wischt sich über den M<strong>und</strong>.<br />

Es ist zu viel.<br />

Noch nie bin ich während einer seiner Sendungen abgehauen, habe seine Anwesenheit<br />

immer bis zur letzten Sek<strong>und</strong>e ausgekostet <strong>und</strong> hernach noch minutenlang darin<br />

geschwelgt. Der Dienstagvormittag hat nicht meinen Bizeps, sondern meinen Herzmuskel<br />

trainiert, <strong>und</strong> meinen Flatterbauch. Doch heute stürze ich verfrüht aus dem Fitnessstudio<br />

<strong>und</strong> eile st<strong>und</strong>enlang durch den Herbstregen. Ich fühle mich betrogen. Hintergangen. Was<br />

für ein beschissenes Gefühl. Als wären wir zusammen gewesen. Ich Idiot.<br />

Das hier fühlt sich an wie damals mit Tim. Nur dass ich mit Tim zwei Jahre zusammen<br />

war. Ich war noch immer verliebt, als er mich mit seinem Ex betrogen hat. Entsprechend<br />

verletzt war ich. Und was war Tims kolossale Ausrede? Er hätte mir ein Geschenk machen<br />

wollen. Einen Dreier. Er, sein Ex <strong>und</strong> ich. Nur dass ich nie einen Dreier wollte, das war sein<br />

Traum. Ich bin in Liebesdingen stockkonservativ, wenn man davon absieht, dass ich<br />

schwul bin <strong>und</strong> einen Trainer stalke, der die letzte Mister-Wahl auf einer Fitnessmesse<br />

gewonnen hat.


2| Mein düsteres Herz<br />

Krafttraining für Frauen. Das ist jetzt eine neue Serie auf Uwes Fitness-Kanal.<br />

Entsprechend betatscht er Anne bereits zum siebenten Mal vor meinen Augen. Ein Mann<br />

mit Selbstachtung hätte sich dieses Martyrium nicht angetan. Er hätte eingesehen, dass<br />

er sich geirrt hat <strong>und</strong> die Konsequenzen gezogen. Ich aber hocke weiter jeden<br />

Dienstagvormittag in der Kraftkammer <strong>und</strong> knirsche mit dem Kiefer, während ich dabei<br />

zusehe, wie Uwe Anne betatscht, wie sie lachen <strong>und</strong> sich anstrahlen.<br />

Nach der ersten Trauerattacke hat Wut das Ruder übernommen. Während die beiden<br />

also vor dem Matratzenmann flirten, stemme ich Hanteln, bis mir die Adern in den<br />

Schläfen platzen. War ich nach dem, was ich bisher Training nannte, immer angenehm<br />

erwärmt, verlasse ich den Kraftraum nun nassgeschwitzt. Daher entdecke ich neuerdings<br />

auch die Duschen für mich, die ich bisher aus Scham wegen meines Mozzarellakörpers<br />

gemieden habe. Meistens warte ich nicht mehr ab, bis Uwe <strong>und</strong> Anne fertig sind, sondern<br />

verdufte, wenn ich fertig bin.<br />

Dennoch möchte ich mir nicht nehmen lassen, Uwe zumindest einmal pro Woche live<br />

zu sehen. Zumindest einmal pro Woche diesen Moment zu genießen, wenn er in den<br />

Kraftraum kommt <strong>und</strong> zuallererst mit seinen eisblauen Augen in meiner Seele<br />

herumstochert. Dieses Lächeln, das er mir schenkt – wer oder was auch immer ich in<br />

seinen Augen bin – lasse ich mir nicht nehmen.<br />

Auch schaue ich mir weiterhin seine Videos an. Vorzüglich die älteren. Mein düsteres<br />

Herz freut sich diebisch über die unqualifizierten Kommentare unter den Fitnessvideos mit<br />

Anne. Annes Arsch ist Hauptthema. Man tauscht sich untereinander aus, in welcher<br />

Minute sie sich am geilsten präsentiert, <strong>und</strong> der ein oder andere muss die Welt darüber<br />

informieren, dass es zu Samenverschwendung kommt, wenn er ihr zusieht. Gelegentlich<br />

erwacht der mitfühlende Mann in mir <strong>und</strong> fragt sich, wie es ihr mit diesem Feedback<br />

gehen muss. Dann frage ich mich, wie es Uwe damit geht, dass man seine Fre<strong>und</strong>in wie<br />

eine Pornodarstellerin feiert. In der Tat ist bereits eine Kompilation ihrer anrüchigsten<br />

Posen auf einer Pornoseite aufgetaucht. Manche Menschen haben zu viel Zeit.<br />

Wie ich. Der am Butterfly-Gerät sitzt <strong>und</strong> mit grimmigem Blick zusieht, wie Uwe Annes<br />

Po betatscht, wie sie lachen, wie ihr Pferdeschwanz lustig baumelt. Ich presse so viel<br />

Gewicht, dass es mich vom Sitz hebt. Seit Anne Mittelpunkt der Show ist, hat Uwe noch<br />

kein einziges Mal sein Shirt ausgezogen.<br />

Wieder scheint ein Hoppala passiert zu sein. Anne lacht laut auf. Uwes <strong>und</strong> mein Blick<br />

treffen sich. Mein Herz zieht sich zu einem schmerzhaften Stich zusammen. Uwe<br />

schmunzelt <strong>und</strong> wischt sich über den M<strong>und</strong>. Scheiße. Ich verzeihe dir, dass du hetero bist.<br />

Ich verzeihe dir Anne. Nur bitte, lass mich dich küssen.<br />

Mir wird schlecht vor Sehnsucht <strong>und</strong> von einer Sek<strong>und</strong>e zur anderen verlassen mich die<br />

Kräfte. Die Gewichte des Gerätes krachen lautstark, während ich regelrecht<br />

zurückgeschleudert werde. Ein Schmerz fährt durch meine Achseln <strong>und</strong> mir entkommt ein<br />

Fluch oder Schrei oder irgendwas dazwischen. Ich überkreuze die Arme vor meiner Brust,<br />

umfasse meine Schultern <strong>und</strong> krümme mich zusammen. Mit ist, als hätte mir die


Maschine beide Arme ausgerissen. Nicht nur das Brennen in den Muskeln treibt mir die<br />

Hitze in den Kopf, sondern auch das Wissen, dass ich mich gerade zum Affen gemacht<br />

habe.<br />

»Hey, alles in Ordnung?«, sagt plötzlich eine Waldhonigstimme, dann berühren mich<br />

warme Hände an den Schultern.<br />

Ich blicke hoch <strong>und</strong> merke erst jetzt, dass mir vor Schmerz die Tränen in den Augen<br />

stehen. Memme, blöde. Ich nicke.<br />

»Ein bisschen zu viel Gewicht«, stellt Uwe mit einem raschen Blick auf die Eisenklötze<br />

fest <strong>und</strong> tritt einen Schritt näher. »Lass mal sehen.« Er berührt mit einer Hand sanft<br />

meine Schulter, mit der anderen mein Handgelenk <strong>und</strong> zieht den Arm zu sich, dann<br />

vorsichtig nach außen. »Tut das weh?« Sein Blick springt zwischen meiner Achsel <strong>und</strong><br />

meinem Gesicht hin <strong>und</strong> her.<br />

»Geht so«, behaupte ich.<br />

»Wahrscheinlich nur eine Zerrung«, murmelt er. Sein Atem streift mein Gesicht. Sanft<br />

packt er meine andere Schulter, meine andere Hand, wiederholt die Bewegungen, fragt<br />

mich, ob es schmerzt. Das tut es, aber nicht so schlimm. »Kannst du das Shirt<br />

ausziehen?«, fragt er.<br />

Das … was? Ich starre in seine eisblauen Augen. Vor ihm meinen Mozzarellakörper<br />

entblößen?<br />

»Ich möchte sicherstellen, dass der Muskel nicht eingerissen ist«, erklärt er.<br />

Erst muss ich zehn Kilo abnehmen <strong>und</strong> noch ein Jahr intensiven Muskelaufbau<br />

betreiben. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Der Bauch zittert. Nach kurzem Zögern<br />

hebe ich mein Shirt am Saum an, doch als ich es über den Kopf ziehen will, schmerzen die<br />

Muskeln so heftig, dass ich auf halber Höhe aufgebe.<br />

»O je«, meint Uwe <strong>und</strong> hilft mir behutsam, mich auszuziehen.<br />

Wow. Eben noch ist Uwe in einer anderen Galaxie, schon reißt er mir die Kleider vom<br />

Leib. Jetzt bin ich Mozzarella <strong>und</strong> Tomaten. Mein Kopf brennt. Ich ziehe meinen Bauch ein,<br />

will meine Schultern straffen, doch es schmerzt.<br />

»Ganz locker lassen«, sagt Uwe sanft <strong>und</strong> dann liegen seine rauen Hände schon auf<br />

meiner Haut. Behutsam hebt er meine Arme, drückt meine Schulter vor <strong>und</strong> zurück, fragt<br />

mich immer wieder, ob dies oder jenes wehtut. Seine warme Handfläche liegt auf meiner<br />

Brust, seine Finger graben sich vorsichtig in mein Fleisch.<br />

Mein Herz poltert so heftig, dass er es hören muss. Obwohl ich mir meine Aufregung<br />

nicht anmerken lassen will, geht mein Atem heftig. Peinlich berührt stelle ich fest, dass<br />

ich schnaufe, dass mein Gesicht brennt wie Feuer, dass ich hart werde. Keine Chance,<br />

meine verräterische Erhebung zu verbergen. Uwe steht zwischen meinen Knien, hält<br />

abwechselnd meine Handgelenke <strong>und</strong> Ellenbogen fest.<br />

Genieße das hier!, mahne ich mich <strong>und</strong> bemühe mich, weniger auf meine körperlichen<br />

Reaktionen zu achten, sondern mehr auf ihn. Seine vollen Lippen, das Grübchen am Kinn,<br />

den markanten Kiefer, die dunklen Wimpern, die schwarzen, welligen Haare. Ich schließe<br />

den M<strong>und</strong>, sauge seinen Duft ein, genieße die Hitze, die sein Körper abstrahlt.<br />

Immer wieder kippt sein Blick von meinem Körper in meine Augen, <strong>und</strong> so sehr es mich<br />

drängt, aus Furcht <strong>und</strong> Verlegenheit wegzusehen, zwinge ich mich, ihm standzuhalten.<br />

Ich will dich. Ich will dich küssen. Ich schlucke den Speichel, der sich in meinem M<strong>und</strong><br />

sammelt. Sein Blick huscht leicht irritiert in mein Gesicht, hält länger Kontakt mit meinen


Augen. Er beginnt zu schmunzeln, wendet sich wieder meiner Brust zu.<br />

Scheiße, ich müsste nur ein wenig nach vorn kippen <strong>und</strong> könnte ihn küssen. Bei dem<br />

Gedanken lecke ich über meine Lippen. Ich stehe unter Strom. Als ich mich für eine<br />

Sek<strong>und</strong>e doch wieder auf meinen eigenen Körper konzentriere, registriere ich, dass ich<br />

nicht bloß etwas erregt bin. Er steht mir so heftig, dass er den Stoff meiner Shorts fast<br />

durchbohrt. Mein ganzer Unterleib pulsiert, die Hoden ziehen sich zusammen. Während<br />

mein Geist auf einem Fitnessgerät sitzt <strong>und</strong> eine medizinische Behandlung über sich<br />

ergehen lässt, glaubt mein Körper, er hätte Sex. Im Reflex öffnen sich meine Schenkel, um<br />

sich Uwe entgegenzudrängen, meine Vernunft reißt mein Becken zurück <strong>und</strong> presst die<br />

Knie zusammen. Zu heftig, ich klemme Uwes Hüften ein.<br />

Mist.<br />

Rasch öffne ich die Schenkel wieder. Uwe macht einen Schritt zurück <strong>und</strong> blickt<br />

abwärts. Ich bete, bete, bete, dass es sich nur so anfühlt, als stünde ein Turm in meinem<br />

Schritt, wage nicht, nachzusehen, lese lieber in seinem Blick. Seine Augenbrauen zucken,<br />

dann schaut er mich an, schmunzelt. Doch ehe er etwas sagen kann, oder ich etwas<br />

sagen kann, steht Anne neben ihm.<br />

»Was ist los?«<br />

Rasch klemme ich die Knie zusammen <strong>und</strong> lasse die Hände in den Schritt fallen. Nun<br />

gafft auch noch die perfekte Fitness-Barbie auf meinen käsigen Schwabbelbauch.<br />

»Alles in Ordnung«, sage ich rasch.<br />

»Na ja«, wendet Uwe ein <strong>und</strong> wiegelt den Kopf hin <strong>und</strong> her, macht mit der Hand eine<br />

abwägende Geste. Meint er meinen Brustmuskel oder meinen Schwellkörper?<br />

»Ich muss um elf los«, erinnert Anne Uwe <strong>und</strong> nickt zur Uhr an der Wand. Halb elf.<br />

Uwe blickt ein wenig ratlos zwischen mir <strong>und</strong> Anne hin <strong>und</strong> her <strong>und</strong> kratzt sich im<br />

Nacken. Dann wendet er sich an mich. »Hast du noch ein wenig Zeit?«<br />

Ich nicke <strong>und</strong> eine weitere heiße Welle fährt durch meinen Körper.<br />

»Wir machen nur schnell die Aufnahme fertig <strong>und</strong> dann sehe ich mir die Sache<br />

nochmal an.«<br />

Die Sache.<br />

Ich zucke lässig mit den Schultern. »Kein Problem. Ich hab Zeit.«<br />

Die nächsten Minuten verfolge ich, wie Uwe Anne noch ein wenig betatscht, doch nun<br />

erscheint es mir weit weniger erotisch, als noch vorhin. Es ist geschäftsmäßig, seriös,<br />

professionell. Auch in den Scherzen, die sie treiben, ihrem Lachen, der Art, wie sie sich<br />

ansehen, meine ich nun, Fre<strong>und</strong>schaft oder Kollegialität zu entdecken. Aber das ist nur<br />

mein Wunschtraum. Bloß, weil ich geil bin <strong>und</strong> noch immer Uwes Hände auf meinem<br />

Körper spüre, bloß, weil wir für hinterher verabredet sind, denke ich, alles ist möglich.<br />

Scheiß drauf. Lasst mich träumen.<br />

Wie ein Patient hocke ich da, das Shirt auf meinem Schenkel. Wenn der<br />

Matratzenmann die Kamera schwenkt, wird mein Schwabbelbauch in die<br />

Weltöffentlichkeit hinausgetragen. Aber das ist mir gerade völlig egal. Uwe will nachher<br />

noch was von mir. Er will sich um die Sache kümmern, <strong>und</strong> obwohl ich weiß, dass er<br />

damit meinen gezerrten Brustmuskel meint, denke ich frivol an den strammen Stamm<br />

zwischen meinen Beinen. Binnen Sek<strong>und</strong>en bin ich in einer wilden Sexfantasie, bei der Uwe<br />

vor mir kniet, meine Shorts auf Knöchelhöhe, sein Shirt hinter ihm auf dem Boden. Seine<br />

eisblauen Augen blicken zu mir hoch, während er den M<strong>und</strong> weit aufmacht, die Zunge


herausstreckt <strong>und</strong> ich meine schwere Eichel darauf drücke. Ohne mich aus den Augen zu<br />

lassen, schließt er den M<strong>und</strong> um meinen Schwanz <strong>und</strong> lässt zu, dass ich tiefer dringe. Er<br />

saugt, seine Wangen fallen ein <strong>und</strong> seine Augen tränen leicht, als ich in die Enge seiner<br />

Kehle stoße.<br />

Oh Gott, hör auf.<br />

Mein Schwanz schmerzt vor Erregung. Anne verabschiedet sich von Uwe mit einem<br />

Kuss auf jede Wange, drückt auch dem Kameramann zwei Küsse auf.<br />

Küsst man so seinen Fre<strong>und</strong>?<br />

Die oberste Kruste meines Herzens blättert ab.<br />

Anne winkt mir fröhlich zu, als wäre ich durch den peinlichen Zwischenfall jetzt Teil<br />

der Familie <strong>und</strong> verlässt den Raum. Nach einem kurzen Wortwechsel verschwindet auch<br />

der Matratzenmann mit seiner Kamera.<br />

Uwe <strong>und</strong> ich sind allein.<br />

Ganz allein.<br />

Ich habe nicht bemerkt, dass die anderen Lifter gegangen sind. Die meisten mögen<br />

nicht, wenn einer mit Kamera herumläuft, <strong>und</strong> suchen das Weite, sobald Uwe den Raum<br />

betritt.<br />

»Und? Wie sieht es aus?«, fragt Uwe.<br />

Ich reibe kurz meine Brust, hebe die Arme. »Scheint alles Okay zu sein.«<br />

»Du solltest als Anfänger nicht so viel Gewicht nehmen«, erklärt er mir abermals.<br />

»Ich bin kein Anfänger«, behaupte ich ungeachtet körperlicher Tatsachen. »Ich<br />

trainiere jede Woche …«<br />

»Wie oft? Wie lange?«<br />

»Okay, ich trainiere nicht so besessen … so fleißig … wie d… wie andere. Aber ich gehe<br />

seit einem halben Jahr hierher.«<br />

»Ich weiß«, meint Uwe <strong>und</strong> funkelt mich belustigt an. »Aber die meiste Zeit sitzt du<br />

nur herum <strong>und</strong> schaust den anderen zu.«<br />

Er hat mich wahrgenommen?<br />

»Gar nicht wahr«, behaupte ich. Ich sehe nur dir zu.<br />

»Wie auch immer«, meint Uwe <strong>und</strong> nickt zu meiner Brust. »Du solltest damit<br />

vorsichtig sein.«<br />

»Danke.«<br />

»Nichts zu danken …« Uwe schmunzelt, fährt sich über den M<strong>und</strong>.<br />

Wieso macht er das immer? Ich lecke mir über die Lippen, so heftig verlangt es mich<br />

nach einem Kuss.<br />

»Ich hab mir gedacht«, beginnt Uwe <strong>und</strong> unterbricht sich kopfschüttelnd.<br />

»Was denn?«<br />

»Nein … das … ist eine … blöde Idee, vielleicht.«<br />

Mir einen blasen. Mich küssen? »Vielleicht auch nicht«, meine ich.<br />

Uwe fängt meinen Blick auf, lächelt, dann mustert er mich kurz von Kopf bis Fuß,<br />

wobei er – bilde ich mir das nur ein? – einen Tick länger meinen Schritt betrachtet, <strong>und</strong><br />

sieht mir wieder in die Augen.<br />

»Ich denke schon länger darüber nach«, gesteht er.<br />

Ich schlucke. »Worüber?«<br />

Uwe setzt sich neben mich, lehnt die Ellenbogen auf die Knie <strong>und</strong> beginnt an seinen


Fingern herumzuzupfen. »Ich habe eine Internetseite, über die ich jede Woche Filme mit<br />

Übungen <strong>und</strong> Trainingsplänen hochlade.«<br />

Ich weiß, denke ich, sage aber nichts.<br />

»Du hast vielleicht schon gesehen, dass wir hier filmen.«<br />

»Ja«, krächze ich <strong>und</strong> räuspere mich. »Ist mir aufgefallen.«<br />

»Jedenfalls … mache ich immer wieder so Specials.« Über die Schulter hinweg mustert<br />

er mein Gesicht. »Wie im Moment mit Anne. Da geht es um Krafttraining für Frauen.«<br />

Ich weiß. Die eine Hälfte der Abonnenten möchte sie vögeln, die andere Hälfte denkt,<br />

ihr seid ein Paar.<br />

Uwe drückt heftiger auf seinen Fingern herum <strong>und</strong> presst nachdenklich die Lippen<br />

zusammen, mustert mich weiterhin. »Schon seit einiger Zeit schlage ich mich mit der Idee<br />

herum, eine Reihe für Anfänger zu machen. Für absolute Anfänger. Ich erkläre zwar<br />

Vieles, aber es ist nicht dasselbe, wenn ich die Übungen vormache, oder Anne, als wenn<br />

sie ein … Laie … unter meiner Anleitung versucht.« Er nickt zu meinen Brustmuskeln. »So<br />

etwas wie das hier … auf das könnte ich zum Beispiel eingehen.«<br />

»Das ist eine gute Idee.« Alles ist eine gute Idee, solange Anne nicht dabei ist.<br />

»Ich habe mir gedacht, dass …« Uwe seufzt, <strong>und</strong> schaut sich selbst beim<br />

Fingerdrücken zu. »Vielleicht hättest du Interesse …«<br />

»Interesse?«<br />

»Als Anfänger. Als mein Klient.« Uwe richtet sich auf <strong>und</strong> wendet sich mir ganz zu.<br />

»Dafür coache ich dich höchstpersönlich. Gratis.«<br />

Peng. Mein Hirn explodiert zu tausend sanft durch die Luft wirbelnden Flusen. »Was?«<br />

Heißt das, wir würden uns regelmäßig sehen? Er würde mich vor der Kamera berühren<br />

wie Anne? Wir wären ein Team?<br />

Ja. Ja. Ja.<br />

»Aber ich bin kein Anfänger«, rutscht mir stattdessen heraus.<br />

»Glaub mir«, Uwe sieht mir in die Augen, dann auf den Bauch, wieder in die Augen.<br />

»Du bist ein Anfänger.«<br />

Autsch.<br />

»Das heißt, ich spiele jede Woche vor siebzigtausend Zuschauern den Idioten?«<br />

Uwes Blick verdüstert sich. »Ein Anfänger ist kein Idiot.«<br />

»Ein Anfänger vielleicht nicht. Aber ich«, meine ich schwach scherzhaft <strong>und</strong> tippe mir<br />

gegen die Brust.<br />

»Das ist doch genau das«, meint Uwe auf einmal erregt. »Es gibt einen echten<br />

Informationsbedarf für Laien.«<br />

Laien. Anfänger. Für solche Begriffe habe ich in den letzten Wochen zu hart trainiert.<br />

»Darf ich darüber nachdenken?«, frage ich. Dabei gibt es darüber nichts nachzudenken.<br />

Ich bin fix dabei.<br />

Uwe beginnt wieder zu strahlen. »Aber natürlich.« Dann springt er auf – »warte« –,<br />

eilt zu seiner Sporttasche <strong>und</strong> kommt kurz darauf mit einer Visitenkarte <strong>und</strong> einem<br />

Kugelschreiber wieder. Er dreht die Karte um <strong>und</strong> kritzelt etwas darauf. Eine<br />

Telefonnummer. »Ruf mich jederzeit an. Auch wenn das hier« – er nickt zu meiner Brust –<br />

»Probleme macht.«<br />

Mit zitternden Händen nehme ich die Karte entgegen <strong>und</strong> betrachte seine Handschrift.<br />

Seine private Telefonnummer?


»Würde mich freuen …«, Uwe streckt mir die Hand entgegen.«<br />

Ich ergreife sie. »Ralf.«<br />

»Ralf«, wiederholt er lächelnd. »Freut mich, dich endlich kennenzulernen.« Dann<br />

schnappt er seine Tasche <strong>und</strong> stürzt aus dem Kraftraum.


3| Marshmallowmann<br />

In den nächsten Tagen sehe ich mir alle seine Videos noch einmal an, präge mir jede<br />

Erklärung ein. Ich soll zwar der Anfänger sein, dennoch möchte ich alles richtig machen.<br />

Danach gebe ich ein paar h<strong>und</strong>ert Euro für anständige Sportkleidung aus <strong>und</strong> setze mich<br />

auf Diät, um den Waschbärbauch zu verkleinern, ehe der Matratzenmann ihn ins Visier<br />

nimmt. Im Geiste lese ich schon die Kommentare unter den Videos. Marshmallowmann.<br />

Mozzarellaplauze. Bewegungslegastheniker.<br />

Egal. Ich habe mit Uwe telefoniert <strong>und</strong> er war begeistert, dass ich mitmache. So<br />

begeistert, dass ich misstrauisch wurde. Ist das nur so ein Supercoach-Gehabe? Irgend so<br />

ein neurolinguistisches Motivationsding? Ein Stewardessenlächeln? Oder freut er sich<br />

wirklich, dass ich mitmache?<br />

Die erste Einheit soll in einer Woche stattfinden. Bis dahin sitze ich ganz offiziell im<br />

Fitnessstudio herum <strong>und</strong> sehe zu, wie er eine Sendung macht, in der er selbst im<br />

Mittelpunkt steht. Ganz offiziell lache ich bei Versprechern mit <strong>und</strong> fange Uwes Blicke auf.<br />

Mein Bauch kommt aus dem Flattern kaum noch heraus, mein Herz schlägt permanent<br />

hochfrequent. In den Satzpausen rufen wir uns Scherze zu. Ich fühle mich ihm so nahe.<br />

Als wären wir seit ewig Kumpels. Ein Kumpel, den ich küssen möchte, den ich berühren<br />

möchte.<br />

Plötzlich bekomme ich Panik. Was, wenn ich vor der Kamera einen Steifen bekomme?<br />

Das wird todsicher passieren! Wenn mich Uwe überall berührt, wenn er mich anlächelt …<br />

ich werde vor siebzigtausend Leuten eine Erektion bekommen.<br />

Scheiße.<br />

Das hätte ich vor meiner Zusage bedenken sollen.<br />

»Hey«, sagt Uwe keuchend, als die Aufnahme beendet ist, <strong>und</strong> tippt mich an der<br />

Schulter an. »Schon aufgeregt wegen nächster Woche?« Der intensive Duft seines Körpers<br />

weht mir in die Nase. Heute hat er dem Publikum mal gezeigt, wie ein hartes Workout<br />

aussieht. Sein Oberkörper glänzt vom Schweiß, die Muskeln sind geschwollen.<br />

Statt einer Antwort grinse ich blöd. Oh Gott, es wird ein Desaster. Er wird mich etwas<br />

fragen, <strong>und</strong> ich werde nur dumm grinsen <strong>und</strong> die Hände vor meinen Schritt halten. Wieso<br />

nur, wieso habe ich zugesagt?<br />

Weil er ein Halbgott ist! Sieh ihn dir an! Ein keuchender, verschwitzter Halbgott. Du<br />

würdest ihm auf der Stelle das Salz vom Körper lecken, wenn er es zuließe. Du würdest<br />

ihm die Hosen runter reißen <strong>und</strong> dir seinen verschwitzten Prügel so tief in den M<strong>und</strong><br />

rammen, dass du keine Luft mehr bekommst <strong>und</strong> sein Schamhaar deine Nase kitzelt. Du<br />

willst dich in ihm verkriechen <strong>und</strong> dafür machst du dich vor der ganzen Welt zum<br />

Deppen.<br />

»Hast du Zeit?«, fragt mich Uwe.<br />

»Immer«, rutscht mir heraus.<br />

»Dann gehe ich schnell duschen <strong>und</strong> wir essen danach gemeinsam?«<br />

»Ähmp. Ja. Ja, wieso nicht.«


»Wir müssen nicht«, rudert er zurück.<br />

»Nein, nein … gerne … ich habe großen Appetit.« Ich hungere seit Tagen.<br />

»Prima!« Er lächelt mir zu <strong>und</strong> eilt schon die Treppe abwärts.<br />

Mit nervösem Bauchflattern warte ich, bis er fertig ist. Dass er gerade nackt unter der<br />

Dusche steht, lindert mein Leid nicht. Ein wenig ärgere ich mich, dass ich mich nicht, wie<br />

in den Wochen zuvor, selbst verausgabt habe. Dann würden wir jetzt zu zweit unter der<br />

Dusche stehen. Oh, besser nicht. Besser nicht.<br />

Uwe stopft den letzten Bissen runter, legt das Besteck ab <strong>und</strong> nimmt einen großen<br />

Schluck Wasser. Selten habe ich jemanden mit einem solchen Appetit essen sehen. Er hat<br />

die Mahlzeit zelebriert wie ein hungriger Löwe. Es war eine Art Rausch, während ich trotz<br />

meiner Hungerkur kaum etwas runter gebracht habe. Es ist schwer, sich aufs Essen zu<br />

konzentrieren, wenn man einen Steifen hat.<br />

Wie schon am Telefon <strong>und</strong> per E-Mail, erläutert mir Uwe, wie er sich unsere<br />

Zusammenarbeit vorstellt, erzählt dann, wie er auf die Idee mit dem Fitness-Kanal<br />

gekommen ist, warum er Fitnesstrainer geworden ist, dass er nie gedacht hätte, sich<br />

jemals einer Mister-Wahl zu stellen <strong>und</strong> sie auch noch zu gewinnen. Denn als Kind war er<br />

fett. Die klassische Karriere, meint er schmunzelnd. Gemobbt <strong>und</strong> gehänselt, weil er der<br />

Dickste in der Klasse war, sich dann voller Frust durch die Pubertät gefressen <strong>und</strong><br />

irgendwann hatte es Klick gemacht.<br />

Eigentlich wollte er nur abnehmen <strong>und</strong> ein paar Muskeln aufbauen, um sich<br />

insgesamt ein wenig wohler zu fühlen. Aber dann sah er die Erfolge <strong>und</strong> erstmals in<br />

seinem Leben hatte er etwas, auf das er Stolz sein konnte, das ihm das Gefühl von<br />

Kontrolle gab, das ihm zeigte, dass er es – sein Leben – in der Hand hatte. Was aus Not<br />

begann, wurde ein Hobby, eine Berufung, ein Beruf. Als ihn jemand darauf ansprach, dass<br />

er bei einer Mister-Wahl teilnehmen könnte, hatte er das erst für einen Witz gehalten, es<br />

aber dann aus Interesse versucht – <strong>und</strong> sofort gewonnen.<br />

Uwe schüttelt den Kopf <strong>und</strong> lächelt. »Würde ich das meinem sechzehnjährigen Ich<br />

sagen, es würde mir das nicht glauben.«<br />

Worüber Uwe in der ganzen Zeit nicht spricht, ist sein Privatleben. Aufmerksam<br />

lausche ich auf kleine Hinweise, aber nichts dergleichen. In seinen Erzählungen gibt es nur<br />

sein Studium zum Sportmediziner, seine Arbeit als Fitnesstrainer, seine Website, sein<br />

Training.<br />

»Und Anne?«, frage ich schließlich beiläufig.<br />

»Was ist mit Anne?«<br />

»Ist sie … deine … Fre<strong>und</strong>in?«<br />

Uwe mustert mich einen Moment irritiert, dann lächelt er. »Sie ist eine Fre<strong>und</strong>in.<br />

Eigentlich eine Klientin. Ich mache sie für die Bikini-Klasse fit. Es ist gute Werbung für sie,<br />

in meinen Videos aufzutreten.«<br />

»Ach so«, sage ich flach <strong>und</strong> nicke, als wäre das nur irgendeine beliebige Information.<br />

»Und … sonst? Ich meine … bist du verheiratet? Vater?« Ich lache bescheuert.<br />

»Nein … nein …« Uwe schüttelt den Kopf <strong>und</strong> – wird rot. An seinen Wangen klettern<br />

Flecken hoch <strong>und</strong> sei Lächeln bekommt eine eigenartige Verklemmtheit.<br />

»Ich auch nicht«, sage ich rasch. Meine Finger zittern. Verdammt. Gerade passiert<br />

irgendetwas.


»Ich habe mich in die Arbeit hineingesteigert … die letzten Jahre«, meint Uwe mit<br />

eigenartig beschlagener Stimme. »Keine Zeit für … diesen Kram.«<br />

»Ja, ja«, meine ich. »Meine Beziehung ist auch schon eine Weile her.«<br />

»Oh. Das tut mir leid.« Unter der Röte wird Uwe weiß. Vielleicht verträgt er das Essen<br />

nicht.<br />

»Muss es nicht«, sage ich. »Er war ein Arsch.« Mein Herz plumpst in den Keller.<br />

Uwe blinzelt zweimal, atmet bemüht unauffällig tief durch. »Ach so. Ach … so …«<br />

Mein Kopf steht in Flammen. »Ja. So … ist das.« Verlegen starre ich aufs Tischtuch<br />

<strong>und</strong> rechne schon damit, dass er mir vorschlägt, unter diesen Umständen unser Projekt<br />

sausen zu lassen. Doch Uwe sagt nichts. Vorsichtig sehe ich hoch <strong>und</strong> treffe direkt seine<br />

Augen.<br />

Rasch wendet Uwe den Blick ab, lässt ihn durch den Raum springen, scheint sich dabei<br />

selbst blöd vorzukommen <strong>und</strong> sieht mich wieder an. Er beginnt zu schmunzeln <strong>und</strong><br />

wischt sich über den M<strong>und</strong>. »Tut mir leid«, presst er hervor <strong>und</strong> scheinbar gegen seinen<br />

Willen ziehen sich seine M<strong>und</strong>winkel in die Breite. Er schüttelt den Kopf, macht mit der<br />

Hand eine abwehrende Geste, dann entkommt ihm ein eigenartig gepresster Lacher. »Es<br />

tut mir leid … ich …« Seufzend legt er sich die Hände aufs Gesicht, reibt darüber,<br />

schüttelt wieder den Kopf. Als er die Hände wegnimmt, ist er noch röter als vorhin <strong>und</strong><br />

grinst noch schiefer.<br />

»Was ist so lustig daran?«, frage ich leicht verletzt. »Noch nie eine Schwuchtel<br />

gesehen?«<br />

Beim Wort Schwuchtel zuckt er zusammen, klappt den M<strong>und</strong> auf <strong>und</strong> zu, das Lachen<br />

ist ihm aus dem Gesicht gewischt. Die Farbe auch. »Nein … das ist nicht deswegen …«<br />

»Warum dann?«<br />

Uwe schluckt, greift zu seinem Glas, stellt fest, dass es leer ist, schiebt es weg, sieht<br />

sich nach dem Kellner um. »Zahlen bitte!«, ruft er <strong>und</strong> zückt seine Geldbörse.<br />

Abwartend mustere ich ihn, sehe zu, wie er die Rechnung für uns bezahlt <strong>und</strong><br />

ordentlich Trinkgeld drauf packt. »Wenn es für dich ein Problem ist, dass ich schwul bin,<br />

dann sags«, fordere ich.<br />

»Es ist kein Problem …«, erklärt Uwe, öffnet den M<strong>und</strong>, als wolle er noch etwas<br />

sagen, aber schaffe es nicht. Sein Blick wirkt wie ein Hilferuf, dann wendet er ihn ab <strong>und</strong><br />

steht auf. »Ich schicke dir dann noch eine E-Mail mit dem Wie, Was, Wann.«


4| Fünf Mal<br />

Ich bin verschwitzt, noch ehe wir anfangen. Meine Finger zittern, meine Knie sind<br />

weich. Vermutlich müssen wir heute bei den Gewichten mit einem halben Kilo anfangen.<br />

Ich werde mich blamieren. Um eine mögliche Erektion während des Drehs zu verhindern,<br />

habe ich mir vorher einen auf dem Klo runterholen wollen. Hat nicht geklappt. Zu nervös.<br />

Zu erregt. Ist mir noch nie passiert.<br />

Ich hyperventiliere. In meinem Kopf spielen sich Katastrophen ab. Ich werde kein Wort<br />

herausbringen. Was, wenn mir irgendetwas Peinliches rausrutscht? Was, wenn ich vor der<br />

Kamera abspritze? Ich schwanke zwischen Hysterie <strong>und</strong> Panikattacke. Ist das dasselbe?<br />

Tausendmal habe ich mir den Text durchgelesen, den mir Uwe geschickt hat. Keine<br />

wortwörtliche Redeanweisung, er meint, es käme alles natürlicher <strong>und</strong> authentischer,<br />

wenn wir einfach drauflos reden. Aber es gibt einen ungefähren Rahmen, worum es im<br />

Gespräch gehen wird. Ich stelle mich kurz vor, meine Ziele, wie ich die Sache mit dem<br />

Krafttraining bisher gehandhabt habe. Dann wird mir Uwe erklären, warum es so niemals<br />

klappen wird <strong>und</strong> was ich tun muss, damit ich Erfolge erziele. Er wird ein paar Worte<br />

generell zum Thema Anfänger <strong>und</strong> Laien erzählen <strong>und</strong> einbringen, dass er diese Serie nur<br />

macht, weil er gesehen hat, wie ich mich beim Training verletzt habe. Also bin ich doch<br />

der Depp. Aber es ist authentisch. Hinterher wird mir Uwe ein paar Gr<strong>und</strong>übungen zeigen.<br />

So weit der Plan.<br />

Der Matratzenmann spielt mit den Kameraeinstellungen herum, Uwe reicht mir ein<br />

Shirt. Es ist so eines, wie er trägt, mit der Aufschrift www.fitmituwe.com. Hrmpf. Hätte ich<br />

mir mein teures Oberteil sparen können. Nach einem kurzen, prüfenden Blick, dass der<br />

Matratzenmann nicht meine Mozzarellaplauze filmt, schlüpfe ich ins Shirt. Ich sehe nicht<br />

ansatzweise so gut aus darin wie Uwe. Wieder beschleichen mich leichte Zweifel an der<br />

Sache. Ich muss an die Fitnessvideos meiner Schwester denken. Es gab immer mindestens<br />

einen Superstreber, der nicht nur mehr Kraft <strong>und</strong> Ausdauer hatte, als alle anderen,<br />

sondern auch biegsamer war <strong>und</strong> jede Ausführung bis in die kleinste Zelle perfekt<br />

beherrschte. Und auf dem anderen Ende der Skala gab es den Idioten. Er konnte den<br />

Rhythmus nicht halten, fuchtelte mit den Armen herum, stolperte, kam bei keiner Übung<br />

mit, die Puste ging ihm schon bei der Hälfte der Wiederholungen aus <strong>und</strong> er war so<br />

beweglich wie ein Schirmständer.<br />

Anne ist die Streberin, ich der Idiot.<br />

»Bereit?«, fragt Uwe.<br />

Ich nicke <strong>und</strong> dann legen wir los. Die anfängliche Anspannung legt sich rasch, als Uwe<br />

mit seinen üblichen Versprechern anfängt, lacht, mich anstrahlt. Bald verliere auch ich<br />

die Scheu vor dem Reden. Wir haben Spaß zusammen. Wir machen Witze, ein Kalauer<br />

jagt den anderen, aber es passt, es hat alles die richtige Dosis Ironie. Ich wünschte, es<br />

würde niemals aufhören. Ich möchte für allezeit mit Uwe vor der Kamera Spaß haben.<br />

Dann geht es an die Übungen. Alles ganz locker. Alles ganz leicht. Uwe tippt an<br />

meinem Körper herum, um mir zu zeigen, wo ich was spüren muss, welche Muskeln ich<br />

anspannen soll <strong>und</strong> so weiter, aber obwohl es sich himmlisch anfühlt, seine Hände auf


mir zu spüren, erregt es mich nicht. Es ist in diesen Minuten ein Job. Es hat etwas zutiefst<br />

Fre<strong>und</strong>schaftliches <strong>und</strong> ich bin geneigt, ihn ebenfalls so fre<strong>und</strong>schaftlich-kollegial<br />

überall anzufassen.<br />

Es ist viel zu schnell vorbei.<br />

»Hat gar nicht wehgetan«, sage ich zum Abschluss, als der Matratzenmann mit seiner<br />

Kamera abhaut.<br />

Uwe lacht <strong>und</strong> legt mir eine Hand in den Rücken. Gänsehaut breitet sich von dort über<br />

den ganzen Körper aus. Ich will Uwe umarmen <strong>und</strong> an mich drücken. Jetzt, wo der<br />

offizielle Teil vorbei ist, macht mich seine Nähe wieder verrückt. Das Fre<strong>und</strong>schaftliche<br />

bleibt bestehen <strong>und</strong> gesellt sich zu meinen erotischen Wünschen. Ich kenne das Gefühl.<br />

Von Tim, damals. Das heißt, ich habe mich verliebt. Nicht dieses idiotisch Verknallte, das<br />

ich bisher hatte, dieser Herzschmerz aus der Ferne, sondern die nächste Ebene. Ich fühle<br />

mich mit ihm wohl, ich spüre eine Verb<strong>und</strong>enheit <strong>und</strong> Nähe, die sich überirdisch anfühlt.<br />

Magisch. Als wäre schon seit Anbeginn der Zeit etwas zwischen uns.<br />

»Ich muss duschen«, sage ich rasch <strong>und</strong> löse mich von Uwe.<br />

»Hinterher was Essen?«, fragt er.<br />

Ich nicke <strong>und</strong> komme erst wieder zu Atem, als heißes Wasser auf meinen Nacken<br />

prasselt. Da niemand da ist, riskiere ich es <strong>und</strong> zupfe mir mit wenigen Griffen die Geilheit<br />

aus dem Schwanz. Dieses Leid ist also fürs Erste beseitigt. Bleibt noch das Herz.<br />

Beim Essen erklärt mir Uwe, dass das, was er mir vor der Kamera gesagt hat, kein<br />

Gerede war. Ab sofort sehen wir uns fünf Mal pro Woche zum Krafttraining, wobei wir<br />

immer andere Muskelgruppen trainieren. Wir werden mentale Übungen machen, um auf<br />

mein Ziel zu fokussieren, er wird mir beibringen, welches Essen gut für mich ist. Sogar,<br />

wie ich schlafen soll, sagt er mir. Geistig steige ich dort aus, wo er mir in Aussicht stellt,<br />

dass wir uns ab sofort fünf Mal pro Woche sehen werden. Ich bin im Himmel.


5| Bier <strong>und</strong> Chips<br />

Ich bin in der Hölle. Mein Blick huscht über die Kommentarzeilen unter dem Video.<br />

Zwar habe ich mich auf Postings unter der Gürtellinie eingestellt, aber mit einem solchen<br />

Shitstorm habe ich nicht gerechnet. Sie wollen Anne. Keinen Fettsack.<br />

Bisher habe ich gedacht, ich wäre kritikfähig, primitives Gerede perle an mir ab. Was<br />

soll mich das Gemauschel unreifer Vollidioten jucken? Weiß doch jeder, dass die größten<br />

Idioten am lautesten schreien.<br />

Dennoch trifft es mich bis ins Mark.<br />

Auch, wenn ich nicht aussehe wie Uwe, bin ich doch einigermaßen normal gebaut. Ein<br />

gewöhnlicher Kerl, der lieber mit Bier <strong>und</strong> Chips zu einem guten Film auf dem Sofa hockt,<br />

oder beim Computerspielen mit einer Hand in der Schokoladentafel hängt, als mir im<br />

Fitnessstudio den Arsch aufzureißen. Ich bin kein krankhafter Fettwanst, nur ein wenig<br />

aus der Form. Aber wenn man die Kommentare liest, könnte man glauben, mich hätte die<br />

Feuerwehr wie einen Wal aus dem Fenster gehievt, um mich ins Fitnessstudio zu fahren.<br />

Man bemängelt alles an mir. Meine Art zu sprechen, meine Art zu lachen, meine Art zu<br />

schauen. »Depp« ist noch eine harmlose Bezeichnung für den IQ, den man mir unterstellt.<br />

Warum? Was habe ich falsch gemacht?<br />

Ich sehe mir das Video immer <strong>und</strong> immer wieder an. Okay, ich bin nicht Uwe, ich bin<br />

nicht Anne. Die Zuseher bestehen zu einem großen Teil aus Leuten, die ähnlich wie Uwe<br />

oder Anne aussehen oder aussehen wollen. Aber so gemein? So fies? So derb?<br />

Immerhin gibt es auch viele, die mich loben, die es toll finden, dass auch mal ein<br />

»normaler« Mensch mitmacht. Dass das motivierend wäre <strong>und</strong> so weiter.<br />

Dennoch. So schmeichelhaft meine Fürsprecher sind, so verletzend <strong>und</strong> zersetzend sind<br />

die Hasskommentare. Manche scheinen nicht zu wissen, dass ich ein Mensch bin, der<br />

Gefühle hat. Meine Stimmung ist dermaßen am Tiefpunkt, dass ich erwäge, die Sache<br />

abzublasen. Keine weiteren Videos. Auf so etwas habe ich keinen Bock.<br />

Aus lauter Frust köpfe ich mir ein Bier <strong>und</strong> reiße eine Chipstüte auf, obwohl das laut<br />

meinem Ernährungsplan nicht erlaubt ist. Scheiß drauf. Wütend schalte ich den Laptop<br />

ab, das erste Mal, dass ich die Nase vom Internet gestrichen voll habe, lege mich aufs<br />

Sofa <strong>und</strong> sehe mir eine DVD an.<br />

Scheiß Welt.<br />

Warum bin ich so empfindlich? Warum tut es so weh?<br />

Gerade, als ich mich so richtig ins Selbstmitleid stürzen möchte, läutet es an der<br />

Haustür.<br />

Blick auf die Uhr. Wer kann das sein? Ich erwarte niemanden. Um der Trägheit der<br />

Masse zu frönen, warte ich ab. Manchmal läutet auch ein Nachbar, der den Schlüssel<br />

verbummelt hat. Soll dem doch jemand anderer öffnen.<br />

Nach einer halben Minute läutet es wieder.<br />

Ächzend erhebe ich mich. Mir ist nicht nach Gesellschaft. Mürrisch grapsche ich den<br />

Hörer der Gegensprechanlage von der Gabel <strong>und</strong> knurre: »Wer stört?«<br />

»Uwe.«


Rums. Mein Herz purzelt gegen die Rippen. »Uwe?«<br />

»Komm rauf«, krächze ich, drücke den Knopf für den Türöffner <strong>und</strong> gerate in Panik.<br />

Uwe. Uwe. Uwe. Rasch stürze ich ins Wohnzimmer, um Bier <strong>und</strong> Chips zu verstecken, flitze<br />

durch die Wohnung <strong>und</strong> räume in Zeitraffer auf. Mir bleiben dreißig Sek<strong>und</strong>en, die ich so<br />

optimal nutze wie nie. Noch fünf Minuten in diesem Tempo, <strong>und</strong> die Wohnung ist Blitz<br />

<strong>und</strong> blank.<br />

Dann klopft es schon an der Tür.<br />

Hastig begutachte ich mich im Spiegel, fahr mir durchs Haar <strong>und</strong> öffne.<br />

»Hey«, sagt Uwe. »Wie gehts?«<br />

»Überrascht«, gebe ich zu. »Ich hab nicht damit gerechnet, dass du kommst.«<br />

Nervös gehe ich einen Schritt zur Seite, damit er hereinkommen kann. Uwe in meiner<br />

Wohnung. Hätte mir das vor ein paar Wochen jemand gesagt, ich hätte ihm nicht<br />

geglaubt. Konzentriert schlüpft er aus Schuhen <strong>und</strong> Jacke. Mein Blick gleitet über seine<br />

Rückansicht, die in einem engen Shirt steckt. Dabei fällt mir auf, dass es nicht mehr um<br />

den geilen Körper geht, sondern darum, dass es Uwe ist.<br />

»Hast du die Kommentare gelesen?«, fragt er <strong>und</strong> sieht sich ratlos um.<br />

Küche oder Wohnzimmer? Ich hasse solche Entscheidungen. Diffus winke ich Richtung<br />

Wohnzimmer.<br />

»Ja«, gestehe ich zerknirscht.<br />

»Scheiße«, sagt er.<br />

»Was ist mit denen los?«<br />

»Mangelnde Impulskontrolle«, meint Uwe. »Wie Kleinkinder oder Psychopathen. Sie<br />

hauen ungefiltert alles raus, ohne zuvor darüber nachzudenken.«<br />

»Na, das macht es doch gleich leichter«, knurre ich.<br />

Uwe fährt herum. »Ich hätte dich darauf vorbereiten sollen. Obwohl ich selbst ein<br />

bisschen überrascht bin, welche Dimensionen das annimmt.«<br />

»Ich bin eben nicht Anne – oder du.«<br />

»Was willst du damit sagen?«<br />

»Seht euch an, seht mich an.«<br />

»Ja? Und?«<br />

»Willst du wirklich, dass ich es ausspreche?«, frage ich.<br />

»Ich will nicht mal, dass du es denkst«, murmelt Uwe <strong>und</strong> zeigt zum Sofa. »Darf ich<br />

mich setzen?«<br />

»Klar.«<br />

Ich sehe zu, wie sein Körper mein Möbel berührt. Später werde ich mich auf dieselbe<br />

Stelle setzen <strong>und</strong> nicht fassen können, dass er hier war.<br />

»Mach dich nicht fertig deswegen«, bittet Uwe.<br />

»Bist du deshalb hier? Um mich davon abzuhalten, aus dem Fenster zu springen?«<br />

Erschrocken starrt er mich an. »So schlimm?«<br />

»Schlimmer.« Ich öffne den Schrank <strong>und</strong> hole Bier <strong>und</strong> Chips hervor, die ich dort<br />

versteckt habe.<br />

Uwe kräuselt die Stirn. »Du willst aufgeben?«<br />

»Ich glaube, ich wollte nie anfangen.«<br />

»Was soll das heißen?«<br />

»Ich bin nicht … wie du, oder Anne oder all die anderen, die euch sehen. Ich will nicht


… so hart arbeiten, für einen schönen Körper. Ich meine, ich sähe gern aus wie du, aber<br />

ich will dafür nichts tun. Mit dem, wie ich jetzt bin, käme ich gut klar, im Prinzip.« Ich<br />

seufze. »Na ja, bis ich die Kommentare gelesen habe.«<br />

Uwe mustert mich aufmerksam.<br />

»Ich weiß, ich bin kein Adonis. Aber so, wie die mich beschreiben, bin ich auch wieder<br />

nicht.« Um zu zeigen, wen ich mit die meine, nicke ich zum Laptop.<br />

»Das stimmt«, meint Uwe kleinlaut. »Du bist vollkommen okay, so wie du bist.«<br />

»Mach dich nur lustig über mich.«<br />

»Ich mache mich nicht lustig über dich. Ich weiß selbst, wie viel Arbeit ein solcher<br />

Körper ist, <strong>und</strong> dass das nicht jedermanns Sache ist.« Uwe erhebt sich. »Was ich nur nicht<br />

verstehe, ist, warum du bereitwillig mitmachst, obwohl du all das nicht willst. Oder<br />

wirfst du bloß bei der ersten Schwierigkeit das Handtuch?«<br />

Ich schlucke. Mein Herz rast. Der Moment der Wahrheit?<br />

»Wenn ich … wenn ich aufhöre … was ist dann mit uns?« Fünf Mal die Woche treffen.<br />

Kann ich dafür nicht den Scheißeregen ertragen? Oder die Diät? Das Training?<br />

Alkoholverbot?<br />

»Was meinst du?«, fragt Uwe.<br />

Die Wahrheit. Jetzt.<br />

»Du weißt, dass ich schwul bin«, beginne ich.<br />

Uwe schnaubt eigenartig <strong>und</strong> nickt.<br />

»Das … erklärt eigentlich schon fast alles«, gestehe ich.<br />

»Wie … alles?«<br />

»Ich will …« Ich atmet tief ein <strong>und</strong> aus, schließe die Augen, sammle mich. »Ich will<br />

dich küssen.« Vorsichtig blicke ich ihn an. »Und noch viel mehr.«<br />

Uwe schluckt, ballt die Fäuste. »Okay.«<br />

»Tut mir leid«, würge ich hervor. »Ich hab nur mitgemacht, weil …«<br />

»Okay«, sagt er wieder.<br />

Mein Herz klopft sehr langsam, sehr schwer, reißt mir mit jedem Schlag den Brustkorb<br />

auf. »Ich glaube, es ist besser, wenn du gehst.«<br />

Er presst die Lippen zu einem Strich, nickt. Die Fäuste arbeiten. Den Blick gesenkt<br />

schlüpft er an mir vorbei aus dem Wohnzimmer <strong>und</strong> stopft die Füße in die Schuhe.<br />

»Nuschnex?«, höre ich ihn vom Flur her murmeln.<br />

»Was?«, keuche ich. Mein Atem geht so schnell, dass mir schwindelig ist. Ich bin kurz<br />

vor dem Zusammenbrechen.<br />

»Geht es nur um Sex?«, fragt er nochmal, den Blick auf die Schuhe konzentriert.<br />

Die Wahrheit, Ralf, die Wahrheit.<br />

»Nein. Ja. Ich weiß nicht.«<br />

Uwe blickt hoch. Eisblaue Augen. Dunkle Wimpern. Ein Grübchen am Kinn. Ich werde<br />

nie wieder am Dienstagvormittag ins Fitnessstudio gehen. Vielleicht schaffe ich es, auch<br />

seine Website zu meiden.<br />

»Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt«, gestehe ich ihm schließlich, weil es eh<br />

schon egal ist.<br />

Uwes Blick bekommt etwas Tragisches. Als hätte er gerade erfahren, dass jemand,<br />

den er mag, gestorben ist. Statt aus der Wohnung, eilt er in die entgegengesetzte<br />

Richtung <strong>und</strong> landet in der Küche.


Irritiert schaue ich ihm nach. Holt er jetzt ein Messer, um mich zu töten?<br />

»Uwe?«, rufe ich, nachdem ich einige Sek<strong>und</strong>en nichts gehört habe.<br />

Uwe erscheint in der Tür. Sein Haar steht zu Berge. Sein Blick ist … verwirrend. Er hebt<br />

die Hände vors Gesicht, wie damals nach dem Essen, als er erfahren hat, dass ich schwul<br />

bin. Dann kratzt er sich mit allen Fingern grob durchs Haar, wankt von einem aufs<br />

andere Bein, verschwindet wieder in der Küche.<br />

Bizarr.<br />

»Ist alles … okay?«, rufe ich <strong>und</strong> nähere mich langsam über den Flur. Kurzfristig fühle<br />

ich mich wie in einem Horrorfilm. Jeden Moment stürzt der Irre mit einer Axt oder einem<br />

Fleischerbeil aus einem der Zimmer. Als ich die Küche erreiche, lehnt Uwe am Fenster,<br />

starrt hinaus, fährt sich immer wieder übers Gesicht <strong>und</strong> den Kopf. Seine Finger zittern.<br />

»Ist alles Okay?«, frage ich nochmal, leiser.<br />

Ohne mich anzusehen, nickt er, dann schüttelt er den Kopf, nickt wieder.<br />

Schön, dass wir uns in unserer Unsicherheit so einig sind.<br />

»Es ist so … vertrackt«, flüstert er, schnaubt <strong>und</strong> wischt sich über den M<strong>und</strong>.<br />

»Ich weiß«, sage ich <strong>und</strong> lehne mich leise mit dem Hintern gegen die Arbeitsfläche, als<br />

wäre er ein scheues Tier, das ich verschrecken könnte.<br />

»Ich habe mich immer danach gesehnt«, erzählt er dem Fenster. »Als ich fett war …<br />

als ich der kleine, bleiche Fettarsch war. Aber niemand wollte mich. Alle habe mich<br />

gehasst.«<br />

Mein Herz krampft sich zusammen. Gerade kann ich sehr gut verstehen, was er meint.<br />

Ich muss an die vielen derben Sprüche unter dem Video denken. Dann wird mir klar, um<br />

wie viel schlimmer es sein muss, so etwas aus dem M<strong>und</strong> der Leute zu hören, von<br />

Angesicht zu Angesicht, noch dazu, wenn man ein verletzlicher Teenager ist.<br />

Und ich zicke herum, Mensch.<br />

»Dann setze ich alles daran, etwas zu ändern, ihnen zu gefallen, <strong>und</strong> sehe<br />

irgendwann so aus.« Uwe nickt an sich runter, als wäre es ein Makel <strong>und</strong> dreht sich um,<br />

sieht mich an. »Ich habe jahrelang nichts anderes getan, als für dieses Ziel zu kämpfen.<br />

Und jetzt bin ich Mister Fitness. Ich habe es geschafft. Aber das, weswegen ich all das<br />

gemacht habe …« Uwe schluckt. »Um den Frauen zu gefallen …«<br />

Mein Herz zieht sich noch mehr zusammen.<br />

Uwe entkommt dieses eigenartige Schmunzeln, er wischt sich über den M<strong>und</strong>,<br />

schüttelt den Kopf. »Anne …«<br />

Nein. Sag jetzt nicht, dass du heimlich in sie verknallt bist.<br />

»Sie sieht doch perfekt aus. Sie ist perfekt oder? Die perfekte Frau.« Uwe sieht mich<br />

fragend an. Schweren Herzens nicke ich <strong>und</strong> verzichte darauf, zu erklären, dass ich als<br />

schwuler Mann wohl kaum einschätzen kann, was der Traum heterosexueller Männer ist.<br />

Objektiv gesehen sieht sie perfekt aus, <strong>und</strong> den Kommentaren zufolge, scheinen das auch<br />

nicht zu wenig Heteros so zusehen. Ich mahle mit dem Kiefer.<br />

»Sie wollte … will was von mir <strong>und</strong> ich bin so kurz davor … so kurz davor, endlich zu<br />

kriegen, was ich … wofür ich all das … mache.«<br />

Moment.<br />

In meinem Kopf wirbeln ein paar Gedanken durcheinander. Uwe ist ein fetter,<br />

unbeliebter Teenager. Er steigert sich jahrelang in ein hartes Training hinein, um schön<br />

genug für die Liebe zu sein. Tragisch genug, traut er sich erst jetzt, als er Mister Fitness


ist, bei einer Frau zu landen. Einer perfekten Frau. Wie Anne.<br />

Was war bis dahin?<br />

Was war in all den Jahren?<br />

Und warum erzählt er mir das?<br />

»Und dann kann ich nicht«, presst Uwe hervor <strong>und</strong> entlässt ein eigenartig<br />

verzweifeltes Glucksen. Auf seiner Stirn bilden sich Falten. Er wischt sich über den M<strong>und</strong>,<br />

seine Augen glänzen feucht.<br />

»Na ja … du hast eben viel Druck aufgebaut«, beginne ich meine<br />

küchenpsychologische Weisheit zu Impotenz. »Da ist es ganz normal, wenn …«<br />

»Nein«, unterbricht mich Uwe. »Es liegt nicht an mir.« Er schließt die Augen, seufzt.<br />

»Das heißt, es liegt schon an mir. Aber nicht so.«<br />

»Aha«, mache ich. Dass ich mir nach einem Liebesgeständnis die Impotenzprobleme<br />

meines Augensternchens anhören muss, ist neu. Nicht, dass ich viel Erfahrung mit<br />

Liebesgeständnissen <strong>und</strong> seltsamen Reaktionen hätte, aber es ist für mich ein wenig<br />

schwierig, für Uwe ein offenes Ohr zu haben.<br />

»Rede mit ihr«, gebe ich den Ratschlag aller Ratschläge.<br />

»Ich glaube, ich steh auf … auf … M-m- …« Seine Augen werden nass.<br />

Mein Herz blutet.<br />

»Wenn die da draußen davon erfahren, kann ich einpacken«, sagt er schließlich mit<br />

piepsender Stimme. »Ich kann das doch nicht … ich kann doch nicht einfach plötzlich …«<br />

Sein Kinn bebt, Tränen kullern über seine Wangen. »… schwul sein.«<br />

Oh. Mein. Gott.<br />

»Uwe?«, frage ich <strong>und</strong> komme langsam auf ihn zu. »Habe ich das richtig verstanden?«<br />

»Ich bin geliefert«, krächzt der schönste Mann, den ich kenne, mit einem Blick, als<br />

hätte ihm jemand einen Dolch durchs Herz gestoßen.<br />

»Das ist nicht so schlimm«, sage ich sanft, mich vage daran erinnernd, wie es mir<br />

ergangen ist, als ich mir eingestehen musste, dass ich schwul bin. Ich war siebzehn, <strong>und</strong><br />

obwohl ich es irgendwie schon immer wusste, wurde es mir erst an diesem Samstag im<br />

Mai bewusst. Ungefähr zwölf St<strong>und</strong>en später hat man mir den Magen ausgepumpt. Ich<br />

kann also vage nachempfinden, wie es Uwe geht, auch wenn er …<br />

»Ich bin sechs<strong>und</strong>zwanzig«, gesteht er heiser. »Ich bin sechs<strong>und</strong>zwanzig <strong>und</strong> habe<br />

noch nie …«<br />

Oh. Mein. Gott.²<br />

Ein jungfräulicher Mister Fitness. Der Gedanke ist zu geil. Und er steht auch noch in<br />

meiner Küche <strong>und</strong> heult. Bin ich ein Schwein, dass mich das anmacht?<br />

»Hey«, sage ich, mache noch einen Schritt auf ihn zu <strong>und</strong> lege die Arme um ihn. Wow,<br />

wie fest, wie stark, wie verletzlich <strong>und</strong> unberührt. Ich könnte platzen vor Geilheit <strong>und</strong><br />

muss mich zurückhalten. Mein Herz geht über. Irgendetwas in meinem Leben muss ich<br />

verdammt richtig gemacht haben, um das hier zu verdienen.<br />

Uwe fügt sich in die Umarmung, doch er hat anders im Sinn. Sein Atem bläst<br />

stoßweise auf meinen Hals, in mein Ohr. Er ist so aufgeregt. Zittert. Oh wie himmlisch.<br />

Ein jungfräulicher, zitternder Halbgott. Mein Herz explodiert gleich. Am liebsten würde ich<br />

über ihn herfallen, aber ich lasse ihn kommen. Lasse ihn in seinem Tempo gehen. Er<br />

atmet stockend, streift mit seinem Gesicht meine Wange, seine M<strong>und</strong>winkel finden meine<br />

M<strong>und</strong>winkel. Er hält inne. Zögert. Sein Brustkorb dehnt sich, sinkt in sich zusammen,


dehnt sich, seine Schultern heben sich mit jedem Atemzug. Da ist viel in Bewegung, wenn<br />

sein Körper tobt. Seine Schläfe streift meine, seine Nasenflügel berühren meine, sein Atem<br />

sinkt in meinen M<strong>und</strong>. Ich schmecke ihn noch vor dem Kuss <strong>und</strong> möchte die Distanz<br />

überwinden, ihn gierig küssen. Doch ich harre aus, lasse ihn kommen. Welch süße Qual.<br />

Ich höre Uwe schlucken, dann treffen zitternde Lippen meine. Oh Herr im Himmel! Ein<br />

wenig unbeholfen aber bemüht beginnt mich Uwe zu küssen. Kleine, hilflose Knabbereien<br />

an meiner Ober- <strong>und</strong> Unterlippe. Er weiß nicht, wie er es anfangen soll, richtig zu küssen.<br />

Er weiß nicht, wann der Moment gekommen ist, die Zunge einzusetzen. Ich erinnere mich<br />

an meinen ersten Kuss. Ich war ein pummeliger Junge. Aber Uwe ist ein Adonis, ein Mister<br />

Fitness, ein Tier, das mit tränenverklebten Wimpern erstmals versucht, einen fremden<br />

M<strong>und</strong> zu erobern. Der gerade die Bestätigung findet, dass er schwul ist. Ein wenig öffne<br />

ich den M<strong>und</strong>, lege die Zunge auf meine Lippen, lasse sie von seiner Zunge finden. Er<br />

stöhnt auf, sein Körper zuckt, dann endlich gleitet er an meiner Zunge tiefer in meinen<br />

M<strong>und</strong>.<br />

Der Kuss gewinnt rasch an Fahrt. Minutenlang gibt es in der Küche nur das Summen<br />

des Kühlschranks <strong>und</strong> das Schmatzen unserer Lippen <strong>und</strong> Zungen. Es gibt nur unser<br />

erregtes Atmen, unser Stöhnen, unser wohliges Brummen.<br />

Abwechselnd drücken wir uns gegen die Arbeitsfläche, pressen unsere Hüften<br />

gegeneinander, reiben uns aneinander. Seine jungfräuliche Härte hinter seiner Hose macht<br />

mich fertig. Ich muss sie berühren, muss sie entblättern, muss sie befreien.<br />

Später wird mir Uwe gestehen, dass er schon lange Interesse an mir hatte. Dass er<br />

wochenlang überlegt hat, wie er mir näherkommen kann. Dass er nicht nur Angst vor<br />

einer Abfuhr hatte, sondern in erster Linie davor, sich zu outen. Dass er nicht wusste,<br />

woran er erkennen sollte, ob ich schwul bin. Dass er sich ein unvorstellbar kompliziertes<br />

Konstrukt ausgedacht hat, wie er an mich rankommen könnte. Mich zu diesen Anfänger-<br />

Videos zu überreden, war ein Teil davon, was durch meine Verletzung dann viel einfacher<br />

wurde als gedacht. Dass er, als er mich so weit hatte, nicht wusste, wie weiter, nicht<br />

zuletzt, weil er Angst hatte, mich zu verstören. Dass er innerlich fast ausgeflippt wäre,<br />

als ich mich versehentlich geoutet habe. Dass er mir da schon alles hat sagen wollen,<br />

sich aber nicht getraut hat.<br />

In einigen Wochen wird er zur Erkenntnis gelangen, dass ihm die Flucht ins<br />

Krafttraining ermöglicht hat, jahrelang die Augen vor der Tatsache zu verschließen, dass<br />

er schwul ist. Dass er nach Perfektion strebte, weil er dachte, das wäre die Ursache seiner<br />

Unfähigkeit, sich auf eine Frau einzulassen. Aber nun hat er einen mehr als unperfekten<br />

Mann <strong>und</strong> er liebt es. Liebt ihn. Liebt mich.<br />

Aber zuerst fallen wir übereinander her, denn Uwe hat keine Lust, noch einen Tag<br />

länger Jungfrau zu sein.


Tag der Veröffentlichung: 04.10.2016<br />

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