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COMPACT-Magazin 12-2016

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<strong>COMPACT</strong> Leben<br />

Der Moment<br />

des Abschieds<br />

62<br />

Mein Augenblick, als es Klick<br />

gemacht hat, war in einem<br />

Seminar zur politischen Theorie,<br />

das sich mit Auslassungen<br />

in den Kategorien Klasse, Rasse<br />

und Geschlecht in den Werken<br />

der Klassiker beschäftigte. Eine<br />

Studentin behandelte Kant und<br />

wollte nachweisen, dass dieser<br />

ein Sexist gewesen sei, weil er<br />

etwa «schön» als weiblich und<br />

«erhaben» als männlich assoziiert<br />

hatte. Die Professorin nickte<br />

zufrieden, aber irgendwie war<br />

es ihr dann doch ein bisschen<br />

zu blöd, in einem Grundlagen-<br />

Seminar zur politischen Theorie<br />

Kant nur als Sexisten und Rassisten<br />

dargestellt zu bekommen.<br />

Also sagte sie zu der Studentin:<br />

Das haben Sie alles sehr gut<br />

gemacht, aber ergänzen wir vielleicht<br />

noch etwas von der allgemeinen<br />

Theorie Kants. Wofür<br />

steht er, was ist sein zentraler<br />

Gedanke? Die Studentin sah<br />

etwas unglücklich aus, sagte<br />

schließlich: «Also, ähm, das<br />

habe ich nicht recherchiert.» Ab<br />

dem Zeitpunkt war ich für dieses<br />

ganze Projekt der geistigen<br />

Moderne für immer verloren…<br />

(Stefan Leiner)<br />

Immanuel Kant<br />

Foto: Public domain, Wikimedia<br />

Commons<br />

Bild oben rechts: Der Philospoh<br />

Martin Heidegger (1889–1976)<br />

war Dossierthema in <strong>COMPACT</strong><br />

9/2014.. Foto: Renaud Camus, CC<br />

BY 2.0, flickr.com<br />

_ Stefan Leiner arbeitet als Lektor<br />

und Übersetzer unter anderem für<br />

den Verlag Antaios.<br />

pagne eines Großkonzerns mit den üblichen Hautfarben-Collagen<br />

betrachte – oder einen FIFA-Werbespot,<br />

der gegen Rassismus ist und natürlich nur<br />

eines meint: den vorgeblichen weißen Rassismus,<br />

der der glücklichen Menschheitsfamilie die Suppe<br />

versalzt. Sie wollen die Totalherrschaft der Gegenwart,<br />

weil jedes Erinnerungs-Spezifikum – und sei<br />

es nur die Art des Handschlags, der zur Begrüßung<br />

angewandt wird – dazu führen könnte, dass sich Gesellschaften<br />

ihrer Andersartigkeit bewusst werden.<br />

Es ist eine Illusion zu glauben,<br />

dass jede Gruppe mit jeder anderen<br />

in Frieden leben könnte.<br />

Als ich in Brünn lebte, habe ich viele Leute aus<br />

verschiedenen Minderheiten kennengelernt: Leute<br />

aus der ungarischen Minderheit in der Slowakei,<br />

der russischen Minderheit in Litauen, der persischen<br />

Minderheit in England, der russischen Minderheit<br />

in der Ostukraine, der slowakischen Minderheit in<br />

Tschechien, der polnischen Minderheit in Tschechien.<br />

Alle haben sie mir samt und sonders erzählt,<br />

dass sie sich zu einem gewissen Grad immer verloren<br />

gefühlt haben in der Wirtsgesellschaft; dass<br />

sie es hassen, wenn sie in der Südslowakei am Gemeindeamt<br />

nicht Ungarisch reden können, dass<br />

ihnen das Herz aufgeht, wenn sie von Riga rüber<br />

nach St.Petersburg fahren und endlich wieder überall<br />

Russisch hören, wie verwundbar sie als polnische<br />

Kassiererinnen in Cesky Tesin sind, wie wunderbar<br />

sie es finden, wenn sie als Ukrainer in Wien eine<br />

orthodoxe Kirche finden, in der sie sich zu Hause<br />

fühlen. In all diesen Beispielen beziehe ich keine<br />

moralische Position, ich weiß nicht, wer in welcher<br />

Situation recht hat und welche Verpflichtungen für<br />

welche Seite erwachsen, aber ich weiß, dass es verdammt<br />

noch mal brandgefährlich ist, solche Situationen<br />

bewusst in großem Stil herbeizuführen. Was<br />

wir für die nächsten 500 Jahre importieren, ist Hass,<br />

Misstrauen, Verwundbarkeit – nicht nur zwischen<br />

den Kulturen, sondern auch innerhalb der derselben.<br />

Es geht ein gewaltiger Riss durch die Gesellschaft,<br />

und selbst wenn ich mich für keine der Seiten entscheide,<br />

so weiß ich zumindest, dass die Verpestung<br />

der Atmosphäre überhaupt erst durch den Import<br />

der Dritten Welt ermöglicht wurde.<br />

Das System fordert das Mitmachen seiner öffentlichen<br />

Träger bei diesem Wahnsinn, und das<br />

mittlerweile ziemlich offensiv. Es ist ein bisschen<br />

so wie in den 1930er Jahren: Es gab nicht gerade<br />

eine Vorschrift, dass man «Guten Tag» durch «Heil<br />

Hitler!» ersetzen musste, es war nicht illegal, aber<br />

es war deiner Karriere im öffentlichen Raum sicher<br />

nicht dienlich.<br />

Ich fühle mich wie in einem Albtraum. Ich sehe<br />

um mich Menschen, die wie Lemminge auf einen Abgrund<br />

zulaufen, Leute, die ich wirklich gerne mag, denen<br />

ich aber nicht einmal zurufen kann: «Bitte mach‘s<br />

nicht!», weil ich Angst habe, mit sozialer Ausgrenzung<br />

bestraft zu werden. Es ist mir bereits mit ein<br />

paar Personen passiert und hat verdammt weh getan,<br />

aber mehr und mehr regen sich der Trotz und Widerwille<br />

in mir, noch so zu tun, als würde ich mitgehen.

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