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Modulbereich Handeln MB H 2 Theorieprojekt - Heilpädagogische ...

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<strong>Modulbereich</strong> <strong>Handeln</strong><br />

<strong>MB</strong> H 2<br />

<strong>Theorieprojekt</strong><br />

<strong>Theorieprojekt</strong><br />

im Bachelorstudiengang Soziale Arbeit<br />

(basa- online)<br />

der Hochschule München<br />

Thema:<br />

Effektive Interventionen<br />

in der sozialen Arbeit mit suchtkranken Menschen<br />

mittels systemischer Therapie/ Beratung<br />

Leistungsnachweis Vorgelegt von:<br />

Im Modul <strong>MB</strong> H 2<br />

<strong>Theorieprojekt</strong> Jürgen Baumgartner<br />

Bei Prof. Dr. Patricia Arnold Matrikelnr: 843647<br />

Hochschule München<br />

Fakultät 11 für angewandte Kirchenweg 3<br />

Sozialwissenschaften 85276 Pfaffenhofen/ Ilm<br />

Am Stadtpark 20<br />

81243 München am 26.08.2009


Basa- online, <strong>Theorieprojekt</strong> <strong>MB</strong> H 2, Prof. Dr. Arnold<br />

Inhaltsangabe: Seite<br />

Inhaltsverzeichnis 1<br />

Abbildungsverzeichnis 2<br />

Abkürzungsverzeichnis 2<br />

1 Hilft systemische Therapie denn wirklich bei Sucht? 3<br />

2 Definitionen 4<br />

2.1 Sucht 4<br />

2.2 Systemische Therapie/ Beratung 5<br />

2.3 Effektivität 6<br />

3 Wesentliche Begriffsinhalte 6<br />

3.1 Die Sucht 6<br />

3.1.1 Verschiedene Suchttheorien 6<br />

3.1.2 Lebensweltbeschreibungen suchtkranker Menschen 12<br />

3.1.3 Vergleich von subjektivem Erleben und Theorie 14<br />

3.1.4 Wesensbegriff 16<br />

3.1.5 Wesen der Sucht 16<br />

3.2 Systemische Therapie in der sozialen Arbeit 17<br />

3.2.1 Wesentliche theoretische Inhalte 18<br />

3.2.2 Beschreibung verwendeter Methoden 19<br />

3.3 Effektivität 21<br />

3.3.1 Effektivität als Begriff in der Therapieforschung 22<br />

3.3.2 Vergleich verschiedener Therapieformen bezüglich ihrer 22<br />

Effektstärke<br />

4 Synthese 24<br />

4.1 Sucht und systemische Intervention 24<br />

4.2 Hinzuziehung des Effektivitätsaspektes 25<br />

4.3 Vergleiche mit den Ergebnissen von Studien 25<br />

5 Resümee 26<br />

6 Abschließende Gedanken 27<br />

Quellenverzeichnisse<br />

Baumgartner Jürgen, SS 09 1


Basa- online, <strong>Theorieprojekt</strong> <strong>MB</strong> H 2, Prof. Dr. Arnold<br />

Abbildungsverzeichnis:<br />

Abb. 1: Das Rewardsystem des menschlichen Gehirns auf: 9<br />

http://thebrain.mcgill.ca/flash/i/i_03/i_03_cr/i_03_cr_que/i_03_cr_que.html<br />

Abb. 2: Integratives Ursachenmodell für die Praxis (Nach Tretter 2000: S.26) 10<br />

Abb. 3.: systemisches Modell der Bedingungen des Trinkens 11<br />

(Nach Tretter 2000: S.28)<br />

Tab. 1: Ergebnisse der Meta-Analyse von Smith, Glass und Miller (1980) 23<br />

(Nach Walter 2009)<br />

Tab. 2: Ergebnisse der Meta-Analysen von Leichsenring und Kollegen 23<br />

(Nach Walter 2009)<br />

Abkürzungsverzeichnis:<br />

DHS Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen<br />

DSM Diagnistic and Statistic Manual (of Mental Disorders)<br />

f. folgende Seite<br />

ff. folgende Seiten<br />

FT Familientherapie<br />

et al. und andere (et alii (Maskulinum), et aliae (Femininum))<br />

HT Humanistische Psychotherapie<br />

ICD International Classification of Deseases<br />

PT Paartherapie<br />

ST Systemische Therapie<br />

TP Tiefenpsychologische Psychotherapie<br />

vgl. vergleiche<br />

VT Verhaltenstherapie<br />

WBP Wissenschaftlicher Beirat für Psychotherapie<br />

z. B. zum Beispiel<br />

Baumgartner Jürgen, SS 09 2


Basa- online, <strong>Theorieprojekt</strong> <strong>MB</strong> H 2, Prof. Dr. Arnold<br />

1. Hilft systemische Therapie denn wirklich bei Sucht?<br />

In der Einladung der deutschen Hauptstelle für Suchtfragen für ihren 49. DHS- Fachkonferenz<br />

SUCHT in Potsdam vom 16. – 18. November 2009 heißt es:<br />

„Kinder und Jugendliche stehen in diesem Jahr im Mittelpunkt der Fachkonferenz SUCHT.<br />

Jedoch richtet sich der Blick nicht auf die medienwirksamen Aspekte des jugendlichen<br />

Suchtmittelkonsums – „das Immerfrüher, Immermehr, Immerriskanter“. Es geht vielmehr<br />

um die Entstehungsbedingungen von Sucht und Konsum psychotroper Substanzen. Zu selten<br />

werden Belastungen und Bewältigungsverfahren von Kinder und Jugendlichen als<br />

Angehörige von Suchtmittelkonsumenten diskutiert. Zu selten werden die Praktiken ins<br />

Visier genommen, die auf junge Menschen als Konsumentengruppe abzielen. Nicht zuletzt<br />

werden die Jugendlichen selbst zu selten als Peers und Gestalter ihres Lebens mit all<br />

seinen positiven und negativen Rahmenbedingungen wahrgenommen.<br />

… Darüber hinaus beschäftigen sie sich mit den Fragen, wie wirksame Präventions- und<br />

Hilfeangebote gestaltet sein müssen. Es gibt viele Schnittstellen zwischen den Hilfesystemen<br />

Jugend, Sucht, Medizin und den Lebenswelten Schule, Arbeit, Freizeit. Welche Kooperationen<br />

zwischen welchen Berufsgruppen und Behandlungssystemen sind erforderlich, um adäquat<br />

für das Kind, für den Jugendlichen handeln zu können, wenn Probleme auftreten?“ (DHS<br />

2009)<br />

Entstehungsbedingungen, Kinder und Jugendliche als Angehörige von Suchtmittel-<br />

Konsumenten, die Jugendlichen selbst als Gestalter ihres Lebens, Hilfesysteme, Lebenswelten<br />

- diese Stichworte lassen Assoziationen mit Systemischer Therapie/ Beratung in meinen<br />

Gedanken als Interventionsform entstehen.<br />

Und weiter die Frage: Hilft die Systemische Therapie/ Beratung bei Suchtproblemen denn<br />

überhaupt effektiv?<br />

Diese Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt, diese Frage zu beantworten. Dazu werden zuerst<br />

dafür wichtige Begriffe und Inhalte skizziert, die dann, miteinander verknüpft, zu einer klaren<br />

Antwort führen sollen.<br />

Meine Erwartungen sind, dass Sucht und Systemische Therapie theoretisch sehr gut vereinbar<br />

sind und dass ST besser als andere Therapierichtungen wirkt.<br />

Lassen wir den Prozess beginnen:<br />

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Basa- online, <strong>Theorieprojekt</strong> <strong>MB</strong> H 2, Prof. Dr. Arnold<br />

2. Definitionen<br />

2.1 Sucht<br />

„Sucht ist ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand, dem die<br />

Kräfte des Verstandes untergeordnet werden. Es verhindert die freie Entfaltung der<br />

Persönlichkeit und zerstört die sozialen Bedingungen und die sozialen Chancen eines<br />

Individuums.“ (Definition nach (Anm. des Stud.) Wanke 1985, S. 20 in Tretter 1998: S.128)<br />

„Sucht. Definition. Sucht … wird definiert als ein psychischer und manchmal auch physischer<br />

Zustand, der aus der Interaktion zwischen einem lebenden Organismus und einer Droge<br />

resultiert und gekennzeichnet ist durch Verhaltensweisen und andere Reaktionen, die immer<br />

mit einem Zwang verbunden sind, die Droge ständig oder in periodischen Abständen<br />

einzunehmen, um ihre psychischen Auswirkungen zu erleben und manchmal um den<br />

unangenehmen Zustand zu vermeiden, der auftritt, wenn die Droge längere Zeit nicht<br />

genommen wird. ´Ein Mensch kann von mehr als nur einer Droge abhängig werden´(World<br />

Health Organization Expert Commitee, 1969, S. 6).“ (Arnold 1993: S. 2246)<br />

Diese Definitionen aus der Suchtmedizin und der Psychologie sollen genügen, denn in der<br />

modernen medizinisch- psychiatrischen Diagnostik wird meist die konkrete<br />

Erscheinungsform festgehalten. Im ICD 10 ist das z.B. für stoffgebundene Süchte:<br />

Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F10-F19) :<br />

„Dieser Abschnitt enthält ein breites Spektrum von Störungen, deren Schweregrad von einer<br />

unkomplizierten Intoxikation und schädlichem Gebrauch bis zu eindeutig psychotischen<br />

Störungen und Demenz reicht, die aber alle auf dem Gebrauch einer oder mehrerer<br />

psychotroper Substanzen (mit oder ohne ärztlicher Verordnung) beruhen.“(ICD 10 Kap. V:<br />

2005: S.89)<br />

Dabei werden zur Klassifizierung der Substanz die zweite und dritte Stelle der Codierung, zur<br />

Zuordnung des klinischen Erscheinungsbildes die vierte und für Komplikationen die fünfte<br />

Stelle verwandt. “(Vgl.: ICD 10 Kap. V: 2005: S.89 f.)<br />

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2.2 Systemische Therapie/ Beratung<br />

Vorneweg gestatte ich mir die Anmerkung, dass ich im weiteren Verlauf der Arbeit den<br />

Begriff Systemische Therapie (ST) verwenden werde, da er entsprechend fundierte Aus- und<br />

Weiterbildungen voraussetzt (Vgl.: v. Sydow et al. 2007: S.130 f.).<br />

Systemische Therapie ist … ein psychotherapeutisches Verfahren, dessen Fokus auf dem<br />

sozialen Kontext psychischer Störungen liegt und das zusätzlich zu einem oder mehreren<br />

Patienten („Indexpatienten“) weitere Mitglieder des für den/ die Patienten bedeutsamen<br />

sozialen Systems einbezieht und/ oder fokussiert ist auf die Interaktionen zwischen<br />

Familienmitgliedern und deren sozialer Umwelt (vgl. Pinsof & Wynne,1995, S.586).<br />

Psychische Stärungen werden zirkulär verstanden und behandelt. ´Zirkulär´ bedeutet: Statt<br />

einseitiger Ursache- Wirkungsbetrachtungen von Krankheitsprozessen … oder von<br />

Beziehungsprozessen (entspricht der Kybernetik 1. Ordnung, Anm. Stud.) werden konsequent<br />

die Wechselbeziehungen … zwischen zwei und mehr Menschen, ihren Symptomen sowie ihrer<br />

weiteren Umwelt zum Gegenstand des Verstehens und der Veränderung gemacht (entspricht<br />

der Kybernetik 2. Ordnung: Vorstellungen vom und Meinungen, Einstellungen zum Problem,<br />

Thema; Anm. Stud.) … Orientiert am internationalen Forschungsstand (Shadish et al., 1997;<br />

Nichols & Schwartz, 2004; Wisching, 2002) verwenden wir den Begriff `systemisch´ nicht zur<br />

Kennzeichnung einer einzelnen Orientierung …, sondern gehen von einem breiten<br />

Verständnis von ´Systemischer Therapie/ Familientherapie´ aus.“ (V. Sydow et al. 2007:<br />

S. 15)<br />

„Bislang liegen aber für systemische Beratung allenfalls verschieden Ansätze vor.<br />

Exemplarisch seien die Modelle von BORWICK 1990, HARGENS & GRAU 1992, WIMMER<br />

(1991, 1993) und SLUPETZKY (1994) genannt. Bei näherer Betrachtung dieser Arbeiten<br />

zeigt sich ein durchaus uneinheitliches Bild (vgl. KÖNIG & VOLMER 1994). Sowohl auf<br />

theoretischer, wie auf methodischer Ebene finden sich Unterschiede in den einzelnen<br />

Konzeptionen. WIMMER (1993) kommt in seinen Ausführungen zu dem Ergebnis, dass der<br />

systemische Ansatz gespeist wird aus `interessanten Denkansätzen in verschiedenen<br />

Wissenschaftsdisziplinen, die sich wechselseitig enorm befruchten und in ihrer Gesamtheit<br />

eine geänderte Auffassung von Wirklichkeit, ein neues Weltbild entstehen lassen.“ (Institut für<br />

systemische Beratung, S.67)<br />

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Basa- online, <strong>Theorieprojekt</strong> <strong>MB</strong> H 2, Prof. Dr. Arnold<br />

Der Unterscheidung zum etwas indifferenten Beratungsbegriff bewusst, benutze ich den<br />

Terminus „Systemische Therapie“ im Weiteren auch zur Erklärung grundlegender<br />

Sachverhalte systemischer Arbeit.<br />

2.3 Effektivität<br />

Hierzu findet sich im Online- Methodenlexikon der Hochschule Esslingen eine am<br />

Qualitätsmanagement orientierte, m.E. gut passende, Definition: „Effektivität wird als Grad<br />

der Zielerreichung definiert und ist dementsprechend eine Maßgröße für den Output (´Die<br />

richtigen Dinge tun´). Die Effizienz als mögliches Unterziel der Effektivität stellt eine Relation<br />

von Input und Output dar und kann als Maßstab für die Ressourcenwirtschaftlichkeit dienen<br />

(´Die Dinge, die getan werden, richtig tun´).“ (HS – Esslingen)<br />

3. Wesentliche Begriffsinhalte<br />

Dieses Kapitel soll wesentliche Inhalte der zentralen Begriffe vermitteln.<br />

3.1 Die Sucht<br />

Prinzipiell geht es in diesem Abschnitt darum, zentrale Merkmale süchtigen Verhaltens zu<br />

erfassen, um Anknüpfungspunkte zur Verbindung mit den systemischen Interventionen<br />

herstellen zu können.<br />

3.1.1 Verschiedene Suchttheorien<br />

In diesem Abschnitt werden verschiedene Theorien der Sucht vorgestellt.<br />

Lernpsychologisches Modell<br />

Das wichtigste Modell der Entwicklung von Sucht in therapeutischer Hinsicht ist das<br />

lerntheoretische Modell. Dessen wichtigstes Grundprinzip ist das Lernen am Erfolg<br />

(operantes Konditionieren): Verhalten, das unmittelbar positive Effekte nach zieht, wird<br />

wiederholt, Verhalten, das unmittelbar aversive Effekte nach zieht, wird vermieden.<br />

Nach dem Grundmodell der modernen Verhaltensanalyse nach Kanfer und Saslow (1965)<br />

beruht die Entwicklung einer Sucht auf dem Mechanismus des SORKC- Modells.<br />

(Vgl.: Tretter 2000: S. 15 f.)<br />

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Kognitive Modelle<br />

Kognitive Modelle der Sucht sehen die Bedeutung von kognitiven Mechanismen wie<br />

Wahrnehmung, automatisierte Denkabläufe, Bewertungsprozesse, Erwartungen und<br />

intentionales <strong>Handeln</strong> (Handlungspläne) bei der Entwicklung von süchtigem Verhalten als<br />

zentrales Thema.<br />

Hier sei als Beispiel Bandura (1977) genannt, der der „Selbstwirksamkeitserwartung“ große<br />

Bedeutung zumisst. Weitere kognitive Mechanismen sind „ internale oder externale<br />

Attributionsprozesse“.<br />

Nach dem Suchtmodell von Beck et al. (1997) ist dies ein prozessuales, von mehreren<br />

kognitiven Faktoren beeinflusstes Geschehen: es gibt kognitive Grundannahmen (z.B. das<br />

Selbstbild: „Ich tauge nichts“). Diese erhalten ihre besondere funktionelle Bedeutung durch<br />

Sollregeln, die bei Nichterreichen emotional belasten (z.B. die Anderen sollen mich<br />

akzeptieren). Dazu kommen konditionale Annahmen (z.B.: wenn ich mich perfekt verhalte,<br />

mögen mich die anderen). Die einzelnen Ereignisse werden von automatischen Gedanken<br />

begleitet, die bei diesen typischen Ereignissen auftreten (z.B.: „Egal, was ich tue, ich kann es<br />

doch nicht“). Kompensatorische Strategien tauchen an dieser Stelle auf (z.B. „ein Bier<br />

verschafft mir Erleichterung“). Diese spezifischen Gedanken erzeugen das Verlangen und<br />

wenn jetzt noch erlaubende Gedanken (z.B.: ein Bier schadet nicht) auftreten, steht der<br />

instrumentellen Handlung (Konsum) nichts mehr im Weg. (Vgl.: Tretter 2000: S. 16 ff.)<br />

Psychoanalytische Modellvorstellungen<br />

Stellt man das grundlegende Konstrukt psychoanalytischer Vorstellungsmodelle der<br />

menschlichen Psyche dar, so entsteht das seelische Geschehen aus dem Resultat des<br />

Kräftespiels zwischen Es (Triebe, Gefühle), Ich (zentraler Organisator der Erfahrungen und<br />

Erlebnisse; stellt ein Gleichgewicht zur äußeren Realität her) und Über- Ich (soziokulturell<br />

vermittelte Sollwerte; Gewissen). Aus dieser Sicht verhilft das Suchtmittel/ Suchtverhalten als<br />

Hilfsmittel dem Ich, die Bedürfnisse des Es gegenüber dem Über- Ich durchzusetzen.<br />

Eine weitere Sicht zur Entstehung der Sucht aus psychoanalytischer Herangehensweise erklärt<br />

durch frühkindliche Störungen der Mutter- Kind- Interaktion strukturelle Defizite in der<br />

Entwicklung der Objekt- und Selbstrepräsentanzen im Sinne einer Spaltung in gute und böse<br />

Anteile einerseits. Andererseits entsteht eine Verschmelzung von Objekt und Selbst mit dem<br />

Ergebnis mangelnder Autonomie und persistierender Abhängigkeit. Bei der Regulation der<br />

aktuellen psychischen Prozesse ist das Ich dann oft überfordert (Ich- Schwäche), da die<br />

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Basa- online, <strong>Theorieprojekt</strong> <strong>MB</strong> H 2, Prof. Dr. Arnold<br />

gängigen Abwehrmechanismen wie Projektion, Externalisierung, Verleugnung oder<br />

Rationalisierung hierbei nicht mehr ausreichend greifen. Es entsteht eine Reizüberflutung mit<br />

nicht greifbaren und schwer steuerbaren Unlustgefühlen (Affektintoleranz). Die damit<br />

einhergehenden Gefühle des Gescheitert-, Mißachtet- und Verlassenseins , der Verzweiflung,<br />

Ohnmacht, Angst oder diffuse infantile Wut. Reale Belastungen führen dann zu oft<br />

unverständlich intensiven Enttäuschungsreaktionen (Frustrationsintoleranz) (Rost 1986).<br />

(Vgl.: Tretter 2000: S. 18)<br />

Persönlichkeitstheoretische Modelle<br />

Diese zählen zu den psychologischen Strukturmodellen, die von neurobiologischen<br />

Konstrukten aus gehen, die als „transsituative Verhaltensdisposition“ per definitionem die<br />

„Persönlichkeit“ bedingen. Dieser Begriff „Persönlichkeit“ bedeutet zunächst, dass es<br />

charakteristische situationsübergreifende Verhaltens- und Erlebensmerkmale gibt. Diese<br />

Merkmale scheinen überwiegend nicht erlernt, sondern eher angeboren zu sein.<br />

In der Praxis schreiben sich beispielsweise die Anonymen Alkoholiker spezielle Neigungen<br />

zu, wie Gefühle von Isolation, Zurückweisung, Launenhaftigkeit, usw. Bei klinischen<br />

Beurteilungen ihrer Persönlichkeit kommen bei Alkoholikern nach Tretter (2000) vor allem<br />

Störungsbilder der DSM- III- R- Gruppe B (histrionische, narzisstische, antisoziale oder<br />

Borderline- Persönlichkeitsstörung) vor, aber auch der Gruppe A (Schizoide, schizotypische<br />

oder paranoide Persönlichkeitsstörung) sowie der Gruppe C ( selbstunsichere, dependente,<br />

zwanghafte und passiv- aggressive Persönlichkeitsstörungen).<br />

In testpsychologischen Untersuchungen bei Alkoholikern (Küfner 1981) zeigen diese erhöhte<br />

Werte auf der Psychopathieskala und der Depressionsskala. Wobei allerdings eine Trennung<br />

der Anteile der prämorbiden Persönlichkeit und derer der im Laufe der Sucht entwickelten<br />

psychopathologischen Persönlichkeitsmerkmale schwierig zu vollziehen ist.<br />

Dass es eine spezifische Vulnerabilität für Alkohol gibt, haben Cloninger et al. 1988<br />

nachgewiesen. (Vgl.: Tretter 2000: S. 20 f.)<br />

Neurobiologische Modellvorstellungen:<br />

Diese beruhen zunächst auf der einfachen Tatsache, dass eben bestimmte chemische Stoffe<br />

rausch- und suchterzeugend wirken. Hierbei geht es um eine „Chemie der Lust und der<br />

Unlust“. Bestimmte chemische Stoffe bewirken im Gehirn und Nervensystem Veränderungen<br />

der Aktivität der Neurotransmitter in den Synapsenspalten. Die für die Intoxikation, die Sucht<br />

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sowie Entzugssymptome relevanten Transmitter sind u.a. Noradrenalin, Dopamin, GABA,<br />

Glutamat.<br />

Die gegenwärtige Forschung konzentriert sich auf die Rolle des Dopamins als<br />

„Lustsubstanz“. Dieses kommt in der neuroanatomisch als „Lustsystem“ bezeichneten Region<br />

im Übergangsbereich zwischen Hypothalamus und limbischem System besonders häufig vor:<br />

hierbei handelt es sich um eine Projektion von Neuronen als einem dopaminerg gesteuerten<br />

Faserbündel aus dem ventralen Tegmentum und dem Nucleus accumbens im limbischen<br />

System.<br />

Abb. 1: Das Rewardsystem des menschlichen Gehirns:<br />

Grundlegend wirken chemische Suchtstoffe auf die Rezeptoren und die Membranen der<br />

Zellen sowie auf Rücktransporter chemischer Botenstoffe oder direkt auf die Ionenkanäle der<br />

Axone. (Vgl.: Tretter 2000: S. 22 f.)<br />

Integrative Ursachenmodelle für die Praxis<br />

Um in der Praxis der Vielfalt der Gegebenheiten, wie sie nun einmal vorzufinden sind,<br />

gerecht zu werden, ist es sinnvoll, ein mehrdimensionales Krankheitsmodell, das<br />

„biopsychosoziale Ursachenmodell“ (Engel 1977, Feuerlein 1989) zu verwenden. Dieses<br />

sieht Sucht als Ergebnis einer länger währenden Wechselwirkung von Merkmalen der Person<br />

(genetische und psychische Risikofaktoren), der Umwelt (Risikokonstellationen der sozialen<br />

Umwelt) und der Droge (Suchtpotential). Dieses Modell wird von Tretter vereinfachend als<br />

„Drei- Faktoren- Modell“ bezeichnet und beruht auf unzähligen statistisch belegten<br />

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empirischen Forschungsergebnissen. Es eignet sich hervorragend als Orientierungsrahmen in<br />

der individuellen Betreuung von Suchtgefährdeten oder bereits Suchtkranken. (Vgl.: Tretter<br />

2000: S. 25 f.)<br />

Eine genauere Vorstellung gibt dieses Modell:<br />

Abb. 2: Integratives Ursachenmodell für die Praxis (Nach Tretter 2000, Feuerlein 1989):<br />

Humanökologische Modelle<br />

Diese gehen davon aus, dass Sucht nicht nur als Ergebnis der Einwirkung vielfältiger<br />

Umweltfaktoren auf das Verhalten und die Person entsteht, sondern sehen zusätzlich auch die<br />

Umgehensweisen eines Menschen mit seiner Umwelt im Sinne von wechselseitigen<br />

Beziehungen. Auf eine erste, die Person in den Mittelpunkt stellende Betrachtung bezogen,<br />

können vier einflussreiche Faktoren unterschieden werden:<br />

„Lebensbedingungen als konkrete Konstellationen der Umweltfaktoren, die als Istwerte<br />

wirken;<br />

Lebenskonzept (Lebensplan) als Gefüge von Sollwerten, die die Handlungsplanung<br />

ausmachen;<br />

Lebensgefühl als zentrale aus diesen Verhältnissen resultierende psychische Variable und<br />

Lebensstil als ein wichtiges äußeres Merkmal des Lebensgefühls.“ (Tretter 2000: S. 26)<br />

Betrachtet man die Person auf einer etwas differenzierteren Ebene, die den Einfluss der<br />

Lebensbereiche der Person im Gesamtzusammenhang mit berücksichtigt, kommt man zu<br />

einem Strukturmodell, das die Elemente „Arbeit, Freizeit, Familie, Wohnen“ beinhaltet. Der<br />

ökologische Aspekt besteht nun im Beziehungshaushalt der Person im Hinblick auf das<br />

Geben - Nehmen - Abgrenzungsverhältnis zu diesen Lebensbereichen. Das Produkt der<br />

erlebten Bilanz dieses Beziehungshaushaltes ist die Lebensqualität. (Vgl.: Tretter 2000: S. 26<br />

f.)<br />

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Systemische Modelle<br />

Will man die Realität eines suchterzeugenden Systems genau betrachten, so stößt man auf<br />

rückgekoppelte Wirkungsflüsse, auch mit nichtlinearem Verlauf. (Vgl.: Tretter 2000: S. 27)<br />

„In der kybernetisch- systemanalytischen Betrachtungsweise sprechen wir, wenn diese<br />

Bedingungsfaktoren der Sucht eine Rückkopplung aufweisen, von positiven (steigernden)<br />

Rückkopplungen (Teufelskreise) wenn die Rückkopplung die Sucht steigert , und von<br />

negativen (dämpfenden) Rückkopplungen (Regelkreise), wenn die Sucht gemindert wird.“<br />

(Tretter 2000: S. 27)<br />

Einfache Regelkreise dieser Art sind (veränd. Nach Küfner 1981): (Vgl.: Tretter 2000: S. 28)<br />

- Somatischer Teufelskreis : „Viel trinken viel vertragen“<br />

- Psychischer Teufelskreis : „Viel Stress viel trinken“<br />

- Sozialer Teufelskreis : „Viel Trinken viele Konflikte“<br />

Der Komplexität der Wirklichkeit kommt jedoch nur ein individuell erstelltes Modell mit<br />

einer Vielzahl ablaufender Prozesse nahe, wie sie diese Abbildung verdeutlicht:<br />

Abb. 3.: systemisches Modell der Bedingungen des Trinkens (nach Tretter 2000: S.28)<br />

Suchttheorie Klaus Dörners<br />

Klaus Dörner überschreibt das Kapitel „Sucht“ in seinem Lehrbuch der Psychiatrie,<br />

Psychotherapie mit den Worten: „Der sich und andere versuchende Mensch (Abhängigkeit,<br />

Sucht)“. (Dörner 1996: S. 241)<br />

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Dörner sieht Sucht als eine Dysbalance zweier sich widerstrebender Regungen menschlicher<br />

Existenz:<br />

„ Auch Sucht ist grundsätzlich eine positive wie negative Möglichkeit für jeden Menschen:<br />

Denn einerseits kennen wir alle den Wunsch nach Rausch, Trunkenheit, Ekstase, Exzess,<br />

Transzendenz, Maßlosigkeit und Identität, also das Sprengen der Grenzen unseres<br />

alltäglichen, erlaubten Lebens – am besten erfasst in dem Wort Sehn- Sucht; und andererseits<br />

lassen wir uns lebenslang auf Menschen, Rollen, Dinge, Institutionen, Umstände ein, suchen<br />

Halt in ihnen, formulieren uns in sie hinein, werden ein Teil davon, machen uns von ihnen<br />

abhängig. Beides kann sich verselbständigen und uns und Andere zerstören.“ (Dörner 1996:<br />

S. 241)<br />

Als Ursachen dieser Dysbalance macht Dörner das Verleugnen negativer Lebenselemente wie<br />

Schmerz, Schlaflosigkeit, Angst, Leiden, Unberechenbares und Unerwartetes aus. Diese<br />

Elemente werden durch Illusionen ersetzt (z.B.: Die leidensfreie Gesellschaft ist machbar),<br />

die aber letztendlich genau das Gegenteil nach sich ziehen, und zwar eine Vermehrung des<br />

Negativen.<br />

Der Sucht- Anteil im Menschen ist nicht bereit zu „vernünftigem“ Nachdenken, das<br />

schmerzhafte, armselige und einschränkende Kompromisse in Kauf nimmt. Er will das „Reich<br />

Gottes“, das „Schlaraffenland“ sofort verwirklichen. Das Sisyphus- Scheitern macht ihm<br />

nichts aus. Er versucht es wieder und wieder. Strafen zählen nicht. Ein derart unbeugsames<br />

Sich- und- andere- Versuchen kommt dem Wesen des Menschen zwar näher, ist aber zugleich<br />

Gewalttätigkeit gegen sich und seine Umgebung. Dieser gnadenlose Kampf wird<br />

hauptsächlich im Rahmen von Partnerbeziehung/ Familie eröffnet; der Weg in die Sucht wird<br />

eröffnet durch die Abwehr der Begegnungsangst zweier Lebenspartner. Das grundlegende<br />

Thema ist die noch nicht gefundene Gleichgewichtsformel zwischen Abhängigkeits- und<br />

Unabhängigkeitswünschen, das die Abhängigkeits-/ Suchtdynamik initiiert. (Vgl.: Dörner<br />

1996: S. 241 ff.)<br />

3.1.2 Lebensweltbeschreibungen suchtkranker Menschen<br />

Beispiel 1:<br />

„Ich bin Jojo, 30 Jahre alt, habe eine Tochter mit 11, geschieden. Arbeite als Pflegehilfskraft<br />

in einer Kurklinik. Alle zwei Tage trinke ich, bis ich eben "betrunken" bin.<br />

Seit 4 Jahren etwa tu ich das. Seit 4 Jahren kenne ich Bernie. Ein Spiegeltrinker. Was ich<br />

damals nicht wusste. Ich wusste so gut wie nichts über die wirkliche Alkoholkrankheit. Heute<br />

bin ich selbst davon betroffen. Weiß nicht ob durch oder mit Bernie. Ich weiß nur, dass ich<br />

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Basa- online, <strong>Theorieprojekt</strong> <strong>MB</strong> H 2, Prof. Dr. Arnold<br />

mein Bier brauche um mich noch froh zu fühlen. In der Klinik sehe ich Menschen im<br />

Endstadium ihrer Alkoholkrankheit. Es schreckt mich immer wieder ab, und ich möchte<br />

aufhören, mich kaputt zu machen. Doch allein schaffe ich das nicht. Ich möchte zu den<br />

Anonymen Alkoholikern. Bernie lacht mich aus. Eine Trinkerin geht ins Internet und sucht mit<br />

Bier im Kopf eine Stelle wo sie hin kann. Zu den Anonymen. Er weiß nicht was er sagt. Er tut<br />

nichts. Er sieht auch nichts ein. Ihm fehlt ja nichts. Aber mir fehlt was. Das Leben nüchtern zu<br />

leben. Auch mit meinen Depressionen, die ich nun habe. Aber ich will nicht mehr im Rausch<br />

den Träumen begegnen, die verzerrt durch den Alkohol mir Angst einjagen. Ich will wieder<br />

zur Arbeit gehen ohne Kopfschmerz, ohne Seelenschmerz. Ich liebe Bernie, aber er macht<br />

meinem Leben weniger Sinn als es noch hat. Ich werde Ihn verlassen. Besser gestern als<br />

Morgen.“ (Lebensweltgeschichten/ Alkohol )<br />

Beispiel 2:<br />

„Als ältester von drei Geschwistern erblickte ich am Montag, den 03. August 1964 in<br />

Ravenna, Norditalien, das Licht der Welt. Bis zu meinem 10. Lebensjahr war ich nicht viel bei<br />

meinen Eltern. Ich verbrachte einige Zeit bei meiner Großmutter (Mutters Seite); danach war<br />

ich bei meinen Großeltern (Vaters Seite) und zuletzt noch 1½ Jahre in einem katholischen<br />

Internat.<br />

Zurückblickend kann ich heute sagen, dass ich in meiner Kindheit wenig Geborgenheit und<br />

Anerkennung erleben durfte. Dies bahnte den Weg für meinen späteren asozialen Lebensstil.<br />

Als ich mit 10½ Jahren zu meinen Eltern geholt wurde, begann ich mich alsbald nach außen<br />

hin zu orientieren. Sehr schnell kam ich mit Drogen in Berührung und dabei erschloss sich<br />

mir eine neue Welt, wo ich eine "gewisse" Geborgenheit und durch den Drogenhandel die<br />

nötige Anerkennung bekam. Mit einigen wenigen Unterbrechungen verbrachte ich 17 Jahren<br />

meines Lebens in der Drogenszene, davon fast zwei Jahre in verschiedenen Gefängnissen.<br />

An Ostern 1991 hatte ich wieder einen massiven Absturz und durch das Dahinvegetieren auf<br />

der "Gasse" wurde mir einmal mehr bewusst, dass es so einfach nicht weitergehen konnte. Es<br />

folgten einige Bemühungen gesellschaftsfähiger zu werden (regelmäßige ärztliche Einnahme<br />

von Methadon und Beruhigungsmitteln). Bereits nach kurzer Zeit genügte mir dies aber nicht<br />

mehr und so war ich stets bemüht, mir zusätzlichen Stoff zu besorgen. Ich war zu einem der<br />

Polytoxikomane geworden, der nie genug bekommen konnte.<br />

In dieser Zeit folgten mehrere Entzugsversuche in verschiedenen Einrichtungen (ca. 25-mal!),<br />

die jedoch alle scheiterten.<br />

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Völlig am Ende erkannte ich, dass ich es im Grunde genommen allein versucht hatte.<br />

Dadurch kam ich an den Punkt, wo ich mir eingestehen musste, dass in all dieser Zeit, Stolz,<br />

Arroganz und Trotz, meine Stolpersteine gewesen waren.<br />

Ich musste mir wirklich helfen lassen und so trat ich durch mir nahe stehende Menschen, am<br />

22. März 1993 in die Drogenentzugsstation "Marchstei" in Ittigen bei Bern ein. Dort<br />

entschied ich mich auch, eine Therapie zu machen. So trat ich nach fünf Wochen in die<br />

Stiftung Hilfe zum Leben (vormals Großfamilie Stalder) ein.<br />

Die ersten Monate in der Therapie waren für mich nicht einfach. Ich fühlte mich als einziger<br />

Italiener in der Gruppe nicht wohl und fragte mich bereits zu Beginn, ob es besser wäre,<br />

wenn ich wieder gehen würde. Irgendwie war ich in meinen Gefühlen und in meinem Denken<br />

zerrissen und verwirrt. Das Erkennen, dass ich in meinem Innern kein Italiener, aber auch<br />

kein Schweizer (so genannter 2. Generationen-Konflikt oder Heimatlosigkeitssyndrom) war,<br />

erschreckte mich zutiefst. Es folgte eine schwere Zeit, in der ich an meiner Identität schwer<br />

arbeiten musste. Mehr und mehr durfte ich in meinem Innern Heilung erleben. Heilung über<br />

das tiefe Empfinden der Heimatlosigkeit und deren Auswirkungen. Auch durfte ich das<br />

Geborgenheitsmanko und das unheile Bedürfnis nach Anerkennung aufarbeiten.<br />

Heute weiß ich, dass ich eine wertvolle Person bin und mit Dankbarkeit darf ich heute auf die<br />

zwei Jahre meiner Therapiezeit blicken“. (Lebensweltgeschichten/ GMillazzo)<br />

3.1.3 Vergleich von subjektivem Erleben und Theorie<br />

Damit eine adäquate Theorie mehr als art pour l´art ist, vor allem auch im Hinblick auf die<br />

untersuchte Effektivität, braucht sie Praxisrelevanz und muss auf Beispiele anwendbar sein,<br />

bei denen offensichtlich Suchtgeschehen existiert.<br />

In Karl Poppers „Logik der Forschung“ heißt es (Popper 1934):<br />

„Dabei lassen sich insbesondere vier Richtungen unterscheiden, nach denen die Prüfung<br />

durchgeführt wird: (1) der logische Vergleich der Folgerungen untereinander, durch den das<br />

System auf seine innere Widerspruchslosigkeit hin zu untersuchen ist; (2) eine Untersuchung<br />

der logischen Form der Theorie mit dem Ziel, festzustellen, ob es den Charakter einer<br />

empirischwissenschaftlichen Theorie hat, also z. B. nicht tautologisch ist; (3) der Vergleich<br />

mit anderen Theorien, um unter anderem festzustellen, ob die zu prüfende Theorie, falls sie<br />

sich in den verschiedenen Prüfungen bewähren sollte, als wissenschaftlicher Fortschritt zu<br />

bewerten wäre; (4) schließlich die Prüfung durch „empirische Anwendung" der abgeleiteten<br />

Folgerungen.“<br />

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Darum sollte eine passende Theorie, in Anlehnung an Punkt 4 (es geht hier nur um die<br />

Praxisrelevanz) der obigen Aussage, sollte sie praxistauglich sein, möglichst auch alle<br />

bedeutsamen Aspekte des subjektiven Erlebens (incl. vorhandener Ressourcen) eines<br />

suchtkranken Menschen widerspiegeln.<br />

Bezogen auf die Beispiele ergeben sich z.B. folgende Kriterien im Hinblick auf positive<br />

Veränderungsmöglichkeiten (Ressourcen):<br />

Beispiel 1: Bewusstwerdung der Krankheit als solche; Einsicht in die Notwendigkeit von<br />

Hilfe; unbedingter Wille zur Gesundung; Gesundung der Beziehungssituation.<br />

Beispiel 2: unbedingter Wille zur Gesundung; Einsicht in die Notwendigkeit von Hilfe;<br />

soziale Integration; Klärung und Entwicklung der Identität; Entwicklung eines gesunden<br />

Selbstwertgefühls.<br />

Da jedoch eine reine Ressourcenorientierung nicht hinlänglich ist (keine eindeutige Auswahl<br />

möglich), suche ich weitere Anhaltspunkte.<br />

Obwohl sich Sucht in vielfältigen Erscheinungsformen darstellt, ist es vorab möglich,<br />

aufgrund der stoffgebundenen und der nichtstoffgebundenen Erscheinungsformen rein<br />

einseitig erklärende Theorien auszuklammern. Hierzu ein weiterer Ausflug in die<br />

Theorientheorie:<br />

Eine ausreichend erklärende Theorie sollte in der Lage sein, gesetzesartige Allaussagen zu<br />

treffen: „Es gibt also durchaus eine Unterscheidung in gesetzesartige und in akzidentielle<br />

Allaussagen. Die gesetzesartigen Allaussagen sind einer Ableitung fähig, welche Gründe für<br />

die zu beobachtete Eigenschaft angibt und erlaubt, auch für noch nicht beobachtete<br />

Einzelfälle unter anderer Randbedingungen eine Prognose zu erstellen. Allerdings hat diese<br />

Unterscheidung einen Nachteil: sie garantiert mitnichten die Wahrheit oder Richtigkeit der<br />

Theorie, sondern nur einen Vorteil in der Konkurrenz mit anderen Theorien.“ (Cernoch, S. 9;<br />

bezieht sich auf Karl Poppers „Logik der Forschung“).<br />

Daraus folgt, dass sich eine im Vergleich zu den anderen Theorien stimmigere Theorie z.B.<br />

durch die Anzahl der durch sie erklärten Gründe auszeichnet.<br />

Bezogen auf die angeführten Beispiele kann damit jegliche rein stoffgebundene Theorie<br />

zurück gestellt werden. Jedoch kann auch jede rein nichtstoffliche Theorie zurück gestellt<br />

werden, da die Abwesenheit des Suchtstoffes im Körper angegebenes Ziel beider Beispiele ist<br />

(Bsp. 1: „…das Leben nüchtern zu leben…“, Bsp. 2: Drogenentzugsstation als erste Station).<br />

Auch betonen beide Beispiele die Notwendigkeit sozialer Beziehung im Kontext der<br />

Rehabilitation.<br />

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Daraus wiederum folgt, dass es Sinn machen könnte, eine Theorie auszuwählen, die sowohl<br />

stoffliche als auch nichtstoffliche (z.B. im Verhalten begründete) als auch soziale Erklärungs-<br />

Möglichkeiten beinhaltet. Weiterhin ist auf der Zeitachse die Veränderung des Erlebens in<br />

positiver (Hoffnung, Heilung) oder negativer Hinsicht (Verschlimmerung der Symptomatik)<br />

von Bedeutung als Ergebnis der Wechselwirkung der verschiedenen Faktoren.<br />

Diese Phänomene werden am zahlreichsten durch das „Integrative Ursachenmodell für die<br />

Praxis“ (biopsychosoziales Ursachenmodell nach Engel 1977, Feuerlein 1989, Tretter 2000)<br />

erklärt.<br />

Was noch in dieser Beweisführung fehlt, ist der Nachweis, dass es sich den angeführten<br />

Beispielen tatsächlich um abhängige Menschen handelt. Dies lässt sich anhand der<br />

diagnostischen Leitlinien des ICD 10 bewerkstelligen (ICD 10 Kap. V: S. 93):<br />

Beispiel 1 weist auf die Kriterien 1,2,5 und 6, Beispiel 2 auf die Kriterien 1, 2, 5 und 6 hin.<br />

Damit ist für beide Beispiele die Voraussetzung der Erfüllung von mindestens 3 der 6<br />

benannten Kriterien gegeben (Vgl. ICD 10 Kap. V: S.92), wodurch die Diagnose<br />

„Abhängigkeitssyndrom“ sehr wahrscheinlich ist.<br />

In einer weiterführenden Arbeit ließen sich als Gegenprobe aufgrund des Vergleichs der<br />

subjektiven Aussagen vieler weiterer Lebensbeschreibungen deduktiv bestimmte<br />

Ähnlichkeiten herauskristallisieren, die dann mit den o.g. Theorien verglichen werden<br />

könnten. Da sich jedoch aufgrund der Grundsätzlichkeit der betrachteten Dimensionen<br />

(Körperlichkeit - Stofflichkeit, Person und Umwelt) auch eine induktive Betrachtungsweise<br />

anbietet, beschränke ich mich auf diese.<br />

3.1.4 Wesensbegriff<br />

Auf den Punkt bringt es meines Erachtens diese Definition:<br />

„Das Wesen (gr. ousia, lat. essentia, quidditas) ist das, was bei jeglicher Veränderung einer<br />

Sache gleich bleibt: das „Wesenhafte“ bzw. das unterscheidende Hauptmerkmal einer<br />

Gegebenheit (das „Wesentliche“). In diesem Sinne kann es das Allgemeine, den Sinngehalt,<br />

die Gattung oder die Idee des betrachteten Gegenstands meinen, in Gegensatz zum Einzelnen,<br />

Individuellen und den zufälligen Änderungen unterworfenen Erscheinungen.“( www.babylon.<br />

com )<br />

3.1.5 Wesen der Sucht<br />

Der Sucht liegt in ihren Erscheinungsformen ein Kreisprozess zwischen Zuständen der<br />

Abhängigkeit und Unabhängigkeit zugrunde. Dies manifestiert sich darin, dass der Betroffene<br />

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von einem leeren, nichterfüllenden oder einengenden „hier“ (oder „ist“) nach einem<br />

Geborgenheit oder Unabhängigkeit vermittelnden, reichen, erfüllenden, befreienden „dort“<br />

strebt. Diese Suche nach dem „dort“ bedingt eine Flucht vor dem „hier“. Beides wird als<br />

durch eine Grenze getrennt erlebt, die überwunden werden soll. Der Versuch, diese Grenze zu<br />

überschreiten, gelingt besonders mit Rauschmitteln. Der Aufenthalt jenseits dieser Grenze<br />

bedeutet für den Betroffenen in der ersten Zeit einen Exzess, manchmal eine Extase. (Vgl.<br />

Dörner in Tretter 1998: S. 126).<br />

Diese Beschreibung verdeutlicht die Zentralität von Umweltbezügen. Diese ausgewählten<br />

Umweltbezüge haben ein übergeordnetes Gewicht und unterdrücken andere Umweltbezüge.<br />

„Damit wird die Grundidee eines gestörten Umweltbeziehungsgleichgewichtes als ein<br />

Basisaspekt der Ökologie der Sucht sehr deutlich“ (Tretter 1998: S. 126).<br />

Eine weitere, ergänzende Beschreibung des Wesens der Sucht kann mittels der sechs<br />

diagnostischen Kriterien des ICD 10 Kap. V erfolgen. Diese benennen körper-, verhaltens-<br />

und kognitionsbezogene Merkmale der Sucht. (z.B.: Entzugssyndrom und<br />

Toleranzentwicklung, Starker Wunsch oder Zwang zum Konsum, Vernachlässigung von<br />

Interessen ).<br />

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Phänomen „Sucht“ nicht eindimensional zu<br />

erfassen ist; eine gründliche Herangehensweise erfordert die Einbeziehung ganzheitlicher<br />

Überlegungen. Somit wird eine effektive Interventionsstrategie diese Aspekte berücksichtigen<br />

müssen. Dazu bedarf es einer Interventionsform, die über die Person als handelndes/<br />

behandeltes Objekt hinausgeht: Die systemische Therapie.<br />

3.2 Systemische Therapie in der sozialen Arbeit<br />

. Im Rahmen der SpFh ist das systemische Arbeiten das klassische Anwendungsgebiet für<br />

systemische Intervention in der sozialen Arbeit. (HERWIG- LEMPP 2002: S. 39). Um jedoch<br />

eine Einengung auf die Familientherapie zu vermeiden, verweise ich auf das Systemschema<br />

von Uri Bronfenbrenner (Mikro-, Meso-, Makro- und Exosystemebene. Vgl.: Ritscher 2005:<br />

S. 77), das sozialen Systeme auf allen Ebenen erfasst. Hierin entspräche auf das<br />

Familiensystem begrenzte Intervention lediglich dem Mikrosystem des Klienten.<br />

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3.2.1 Wesentliche theoretische Inhalte<br />

Vorneweg ein kurzer Abriss der Geschichte der systemischen Therapie:<br />

- Um 1950: Bateson et al., Jackson und Wynne entwickelten die pragmatische Familienarbeit<br />

auf Grundlage der allgemeinen Systemtheorie und der Theorie offener Systeme (L.v.<br />

Bertalanffy)<br />

- Um 1960: Watzlawick et al. (prozessbezogen) sowie Minuchin und Haley (direktiv-<br />

strukturell) praktizierten Familientherapien auf der Basis von ad hoc Theorien aus der<br />

Kybernetik 1. Ordnung, Strukturalismus und Humanismus.<br />

- 1975: Palazzoli et al. entwickelten die systemische Familientherapie auf der Basis der<br />

kybernetischen Epistemologie (G. Bateson)<br />

- 1981 – 1989: P. Dell, B. Keeney, S. de Shazer begründeten die systemische Therapie<br />

(Weiterentwicklungen durch M. Erickson, S. de Shazer (Lösungsorientiertheit), H. Goolishin,<br />

T. Andersen (Sozialtheorie, Dialog) sowie durch M. White (Sprache, Narrativen)) aufgrund<br />

der theoretischen Konstrukte: Autopoiese, biologische Erkenntnistheorie (H. Maturana),<br />

Kybernetik 2. Ordnung (H. v. Foerster), Radikaler Konstruktivismus (E. v. Glasersfeld),<br />

Dialog, Rhetorik (Rorty, Geertz,…), Kommunikation, Theorie sozialer Systeme (N.<br />

Luhmann), Sprachphilosophie (Wittgenstein, franz. Schule), Narrationstheorie, sozialer<br />

Konstruktivismus (K. Gergen).<br />

- ab 1990: deutschsprachige Konsolidierung durch K. Ludewig (Klinische Theorie), G.<br />

Schiepek (Empirische Forschung), R. Welter- Enderlin und T. Levold (Emotionen)<br />

sowie eine Ausdifferenzierung von Schulen. Theoretische Basis hierfür sind die<br />

Synergetik (N. Haken), Neurowissenschaften, Chaostheorie, non- lineare dynamische<br />

Systeme sowie die Emotionstheorie (L. Ciompi).(Vgl.: Ludewig 2006: S. 5)<br />

Fasst man nun dieses reiche Feld theoretischer Grundlagen zu den zentralen Aussagen<br />

zusammen, so richtet sich systemische Therapie in ihrem Menschenbild und den<br />

therapeutischen Haltungen auf folgende Aspekte aus (Vgl.: Schiepek, 1991, 1999; Ludewig,<br />

2002; Rotthaus, 1989 in von Sydow et al. 2007: S. 19 f.):<br />

- Systemische Therapie rückt die dynamische Wechselwirkung der bio- psycho-<br />

sozialen Bedingungen des Lebens ins Zentrum der Betrachtung, damit das<br />

Individuum angemessen verstanden wird.<br />

- Soziale Systeme sind sprachlich koordinierte Systeme.<br />

- Aus systemischer Sicht geht es im Leben vor allem um die Sinnbezüge und<br />

Bedeutung von Verhalten.<br />

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- Menschen werden sowohl als kognitive als auch als emotionale Wesen<br />

betrachtet.<br />

- Menschen werden als verantwortungsbereite, autonome Wesen gesehen.<br />

- Der Zugang zur Systemischen Therapie ist niederschwellig möglich, die<br />

Interventionen werden inhaltlich klientenzentriert entwickelt.<br />

- Die Klienten sind die Experten für Inhalte und Ziele, die Therapeuten für den<br />

Prozess und das Setting. Ihre Haltung ist die des wohlwollenden Interesses.<br />

Personen, Inhalten und Zielen gegenüber wird Allparteilichkeit eingehalten.<br />

- ST realisiert eine ressourcenorientierte und am Konzept der Salutogenese<br />

(Antonowsky 1997) orientierte Grundhaltung.<br />

Somit lassen sich die theoretischen Schwerpunkte der ST als humanistische, ressourcen-<br />

orientierte Entwicklung von sozialen Systemen in den Dimensionen Struktur, Prozess und<br />

Kommunikation zusammenfassen.<br />

3.2.2 Beschreibung einzusetzender Methoden<br />

Hierbei lege ich den Schwerpunkte auf die in v. Sydow et al. (2007) benannten Methoden, die<br />

in fünf Richtungen differenziert werden:<br />

Strukturelle und strategische Methoden:<br />

Erstere gehen auf Minuchin (1974) zurück. Typische Techniken sind Joining, Enactment,<br />

Strukturanalyse und Umstrukturieren, Informationsvermittlung, Stellen von Aufgaben.<br />

Zweitere gehen auf Haley (1976) zurück. Typisch sind hier positive Umdeutungen von<br />

Symptomen und Problemen, (Symptom-) Verschreibungen, paradoxe Interventionen, Stellen<br />

von Aufgaben, Tetralemmaarbeit (Varga v. Kibed, Sparrer: 2009). (Vgl. v. Sydow et al.<br />

2007: S. 22 f.)<br />

Symbolisch- metaphorische Methoden:<br />

Das Genogramm (Familienstammbaum) ist die visuelle Darstellung einer Familie über<br />

mindestens drei Generationen hinweg. Es werden systematisch Informationen zu allen<br />

Familienangehörigen gesammelt und tradierte Einstellungen, Haltungen, Verhaltens- und<br />

Problemlösemuster (hier finde ich den Hinweis auf die Kybernetik 2. Ordnung angebracht:<br />

Arbeit mit den Einstellungen und Vorstellungen zum Problem) werden identifiziert ( Reich,<br />

Massing, Cierpka 1996; Hildenbrand 2005; McGoldrick und Gerson 1990; von Sydow 2000;<br />

von Schlippe und Schweitzer 2003; speziell für die Drogenarbeit: Stachowske 2002) .<br />

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Die Familienskulptur (Krüger, Petzold und Ferner 1984; Schweitzer und Weber 1982; von<br />

Sydow 2001) ermöglicht die symbolisch- metaphorische Darstellung emotionaler Bindungen<br />

und hierarchischer Strukturen in der Familie. (Vgl. v. Sydow et al. 2007: S. 23)<br />

Weitere Verfahren sind Zeitlinien, Familienbrett, Sprechchöre.<br />

Zirkuläre Methoden:<br />

Mittels triadischer oder zirkulärer Fragen (entwickelt von der Mailänder Arbeitsgruppe<br />

Pallazzoli et al.) versucht man mehr über die Interaktionsabläufe herauszufinden, die zu<br />

Hause, in Abwesenheit der Therapeuten, stattfinden. Dabei befragt der Therapeut eine dritte<br />

Person über die Interaktionen in einer Zweierbeziehung (sog. „Tratschen in Gegenwart des<br />

Betroffenen“).<br />

Paradoxe Interventionen, deren Wurzeln auf V. Frankl (1960) und M. H. Erickson<br />

zurückgehen und die eine klassische Methode der Systemischen Therapie verkörpern, wurden<br />

insbesondere von der Palo Alto Gruppe (Watzlawick et al. 1967/69; Haley 1976; Fisch,<br />

Weakland und Segal 1982) und der Mailänder Gruppe. (Vgl. v. Sydow et al. 2007: S. 24)<br />

Lösungsorientierte Methoden:<br />

Die Arbeitsgruppe um S. de Shazer entwickelte 1988 – 1993 spezifische lösungsorientierte<br />

Fragen. Eine Auswahl der möglichen Fragen:<br />

- Ausnahmefragen (z.B.: Was tun Sie, wenn das Problem nicht präsent ist?)<br />

- Hypothetische Fragen (z.B.: Wunder- oder Feenfrage)<br />

- Fragen zur Verflüssigung von Eigenschaften (z.B.: Was tut Ihre Frau, wenn Sie sie für<br />

depressiv halten?)<br />

Weitere Fragetechniken beziehen sich auf bereits vor der Behandlung statt gefundene<br />

Ausnahmen und Veränderungen sowie auf Quantifizierung von Problemen<br />

(Skalierungsfragen). (Vgl. v. Sydow et al. 2007: S. 24 f.)<br />

Narrative und dialogische Methoden:<br />

Nach White und Epston (1999) stehen im Rahmen des narrativen Ansatzes Fragen nach<br />

dominanten und unterdrückten Familiennarrationen und deren Dekonstruktion im Fokus des<br />

Geschehens. Der dialogische Ansatz nach Andersen (1990) und Seikkula (2003) brachte die<br />

Entwicklung der Arbeit mit Reflektierenden Teams, sog. „reflecting teams“ (Andersen 1990;<br />

Hargens und v. Schlippe 2002) und des offenen Dialogs. Es werden des Weiteren<br />

Externalisierungen des Symptoms entwickelt, was den Vorteil der Trennung von Symptom<br />

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und Person ermöglicht und so der Person (vor im Zustand ambivalenter Einstellungen)<br />

ermöglicht, das Symptom zu bekämpfen (besonders in der Kindertherapie). (Vgl. v. Sydow et<br />

al. 2007: S. 25)<br />

3.3 Effektivität<br />

Bezüglich der Effektivität von Therapieverfahren herrscht keine Einigkeit in der Fachwelt.<br />

Der Deutsche K. Grawe wird in seinen Effektivitätsstudien wie folgt widerlegt:<br />

„Grawe behauptet, die kognitiv- behavioralen Verfahren (Verhaltenstherapie) seien die<br />

wirksamsten Psychotherapien. Ein Hochschullehrer für mathematische Statistik hat gezeigt,<br />

daß die statistischen Verfahren, die Grawe angewandt hat, um zu dieser Schlussfolgerung zu<br />

kommen, unangemessen sind: "Grawe bleibt den statistischen Nachweis seiner Ergebnisse<br />

und Schlussfolgerungen schuldig." Grawe u. a. (1994) haben in Wirklichkeit "Gütekriterien<br />

von Wirksamkeitsstudien" untersucht und setzen diese stillschweigend mit "Wirksamkeit eines<br />

Therapieverfahrens" gleich.<br />

Grawe berücksichtigt nur Studien mit Labor-Design, wie sie in der Verhaltenstherapie üblich<br />

sind, und schließt naturalistische Studien, wie sie überwiegend von Psychoanalytikern<br />

durchgeführt werden, aus seiner Übersicht aus. In Laborstudien wird symptombezogen<br />

gemessen, und dadurch werden symptombezogene Therapien wie die VT bevorzugt.“<br />

( www.psf.dpv-psa.de)<br />

Eine andere Studie von Seligman (1995) in den USA, als Feld- Studie designed, brachte<br />

interessante Ergebnisse:<br />

„Die spektakulärste neuere Studie ist zweifellos die Studie des Consumer Reports (Consumer<br />

Reports 1995, Seligman 1995, Hutterer 1996, Mackenthun 1997), einer Zeitschrift einer<br />

amerikanischen Verbraucherorganisation. Spektakulär daran ist, daß es sich nicht um eine<br />

quasi-experimentelle "Labor"-Studie handelt, daß eine unglaublich große Zahl "echter"<br />

Patienten Daten lieferte und daß Seligman als eine Galionsfigur der experimentellen<br />

Psychotherapieforschung hier von dem klassisch-experimentenllen Forschungsansatz<br />

abrückt, weil er zu unergiebig sei, und er jetzt solchen Feld-Forschungen, die seiner Ansicht<br />

nach realistischere Ergebnisse liefern, den Vorzug gibt. 7000 Leser des Consumer Reports<br />

antworteten hier auf Fragen zur Behandlung psychischer Probleme. 4100 davon hatten<br />

professionelle, 2900 davon wiederum hatten - im weitesten Sinne - irgendeine Art psycho-<br />

professioneller Hilfe in Anspruch genommen. Die Auswertung der Fragebögen brachte eine<br />

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Reihe interessanter Ergebnisse. So bestätigte sich zunächst, daß Psychotherapie bei<br />

psychischen Belastungen oder Störungen substantielle Veränderungen bewirkt, in dem Sinne<br />

daß 44% Patienten sich geheilt fühlten und es 43% hinterher deutlich besser ging und sie mit<br />

ihren Problemen wesentlich besser fertig wurden. Die Wirksamkeit von Psychotherapie ging<br />

dabei eindeutig über Symptomreduktion hinaus und - für manche überraschend - je länger die<br />

Therapie dauerte, umso größer war die Wirksamkeit. Besonders erfolgreich waren diejenigen<br />

Patienten, die länger als 2 Jahre Therapie hatten. Insgesamt erwies sich keine<br />

Therapiemethode der anderen als überlegen, wobei Hutterer (1997) anmerkt, daß die<br />

Methoden keinem "treatment manual" entsprachen, sondern so rein oder so eklektisch-<br />

gemischt waren, wie man sie im Feld vorgefunden habe.“ (www.bvvp.de)<br />

3.3.1 Effektivität als Begriff in der Therapieforschung<br />

In der Therapieforschung wird die Effektivität mittels der sog. Effektstärke gemessen. Für<br />

eine quantitative zusammenfassende Beurteilung der Wirksamkeit der Therapie werden<br />

Effektstärken (ES) für die einzelnen Fragebogenskalen berechnet. Effektstärken spiegeln die<br />

Größe eines Behandlungseffektes wider und bieten vor allem den Vorteil, dass die Ergebnisse<br />

in ein standardisiertes Maß überführt werden. Damit wird die wichtige Möglichkeit eröffnet,<br />

die Resultate verschiedener Studien direkt miteinander vergleichen zu können. Bei der<br />

Beurteilung der Höhe der Effektstärken (ES; Als Maß für die Wirksamkeit wird im<br />

allgemeinen die Effektstärke verwendet. Damit ist die Differenz des durchschnittlichen<br />

Gesundheitszustandes der Therapiegruppe vom durchschnittlichen Gesundheitszustand der<br />

unbehandelten Gruppe dividiert durch die Standardabweichung gemeint: Effektstärke =<br />

(MTherapiegruppe - Munbehandelte Gruppe ) / SD) orientiert sich die Forschung an Cohens (1988)<br />

Klassifizierung, derzufolge Effektstärken ≤ .40 als niedrig und ≥ .80 als hoch zu bewerten<br />

sind. Dementsprechend gelten Effektstärken im Bereich von .41 bis .79 als Effekte mittlerer<br />

Höhe (Vgl.: Lind: 2008).<br />

3.3.2 Vergleich verschiedener Therapieformen bezüglich ihrer Effektstärke<br />

Insgesamt ergibt eine Schau der diversen Richtungen ein etwas differenziertes Ergebnis, je<br />

nach Zugehörigkeit zu einer therapeutischen Richtung beanspruchen verschiedene Studien<br />

verschiedene Wirksamkeiten. Als Beispiel sei hier genannt:<br />

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Tab. 1: Ergebnisse der Meta-Analyse von Smith, Glass und Miller (1980)(Nach Walter 2009):<br />

Ein zweites Beispiel:<br />

Tab. 2: Ergebnisse der Meta-Analysen von Leichsenring und Kollegen:<br />

psychodynamische<br />

Kurzzeittherapie<br />

kognitive<br />

Verhaltenstherapie<br />

Problembereich N M SD N M SD<br />

Hauptsymptomatik 17 1,39 0,83 11 1,38 0,49<br />

Allgemeine<br />

psychiatrische<br />

Symptome<br />

15 0,90 0,48 10 1,04 0,52<br />

Sozialer Bereich 11 0, .80 0,37 8 0,92 0,63<br />

Tab. 2: N: Anzahl der Studien; M: mittlere Effektstärke (Vorher- Nachher- Vergleich); SD: Streuung der<br />

Effektstärken; die Angaben beziehen sich auf die Differenz der Messungen direkt vor und direkt nach der<br />

Therapie (nach Leichsenring, Rabung & Leibing, 2004; Tabelle 2) (nach Walter 2009)<br />

Je nach Auslegung und Messgröße ergeben sich widersprüchliche Angaben durch diese<br />

beiden Ergebnisse: In Tab.1 weisen Schmith, Glass und Miller der VT eine deutlich höhere<br />

Effektstärke zu als den TP/HP- Verfahren., in Tabelle 2 kommen Leichsenring et al. zum<br />

Schluss, dass bezüglich der Hauptsymptomatik TP- Verfahren annähernd gleich sind.<br />

Kriz beschreibt in seinen „Perspektiven zur Wissenschaftlichkeit von Psychotherapie“ das<br />

bestehende Dilemma sehr deutlich: „Es gibt derzeit keine Forschungsergebnisse, die seriös<br />

etwas über ein ´Therapieverfahren´ in der geforderten Globalität aussagen. Es liegen -<br />

gottlob - zahlreiche Ergebnisse zu zahlreichen Kontingenzen vor, die für Therapie als<br />

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Wissenschaft von großem Wert sind und zur Qualität der Therapeutenausbildung viel<br />

beitragen können. Es sei auch nicht bestritten, dass unterschiedliche Richtungen in<br />

unterschiedlichem Ausmaß - vor allem aber auch: in unterschiedlicher Art und Weise! -<br />

Ergebnisse vorgelegt haben. Diese lassen sich aber nur sehr bedingt - und schon gar nicht<br />

reduziert auf einzelne Parameter - miteinander vergleichen. Insbesondere geben sie aber nur<br />

Auskunft über bestimmte Aspekte, die mit jeweils einer Richtung X zu tun haben - nicht über<br />

die ”Richtung X” als ganze (was immer damit gemeint sein soll).“ (Kriz 2000, S. 43ff.)<br />

Damit bin ich im Rahmen dieser Arbeit bezüglich des Nachweises der Effektivität der<br />

systemischen Therapieformen auf der einer allgemeinen, wissenschaftlich fundierten Basis an<br />

den Grenzen des Machbaren angelangt. Im weiteren Verlauf werde ich mich daher auf das<br />

von systemischer Seite publizierte Material beschränken müssen, eingedenk der Tatsache,<br />

dass dieses einem globalen und fundierten Vergleich evtl. nicht standhalten könnte.<br />

4. Synthese<br />

Dieses Kapitel nimmt die drei oben ausgeführten Themenbereiche der Sucht, der<br />

systemischen Therapie und der Effektivität auf und setzt sie miteinander in Verbindung.<br />

4.1 Sucht und systemische Intervention<br />

In Kapitel 3.1.5 ergibt sich als Resümee, dass Sucht ein ganzheitliches, ökologisches<br />

Geschehen darstellt. Sie lässt sich mittels des Integrativen Ursachenmodells (Bio- psycho-<br />

soziales Ursachenmodell) für die Praxis nach Feuerlein (1989)/ Tretter (2000) bestmöglich<br />

darstellen, unter Berücksichtigung je einer dynamischen und zeitlichen Perspektive. Auch ein<br />

Vergleich mit zufällig ausgewählten Lebensgeschichten süchtiger Menschen und deren<br />

signifikanten Aussagen zur Sucht wird durch dieses Modell möglich.<br />

Tretter (2000) äußert sich auf S. 230 dergestalt: „Die Anwendung systemischen Denkens als<br />

Strategie, den Untersuchungsgegenstand als Netzwerk zu betrachten, bringt großen Nutzen…<br />

Für soziale Systeme, wie es Familien sind, muss ein modifiziertes Konzept systemischen<br />

Denkens verwendet werden…“<br />

Nach von Sydow et al. stellt einer der bedeutendsten Schlüssel systemischer therapeutischer<br />

Grundhaltungen (und des Menschenbildes) sich folgendermaßen dar: „Systemische Therapie<br />

rückt die dynamische Wechselwirkung der bio- psycho- sozialen Bedingungen des Lebens ins<br />

Zentrum der Betrachtung, damit das Individuum angemessen verstanden wird.“ (v. Sydow et<br />

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al. 2007, S.19). Auch der Aspekt der Körperlichkeit wird durch die ST abgedeckt. (Vgl. v.<br />

Sydow et al. 2007, S. 37 f.)<br />

Schon aufgrund der Ganzheitlichkeit beider theoretischer Konstrukte bietet sich die<br />

Überlegung einer Kombination im Sinne von „systemische Therapie bei Suchterkrankungen“<br />

deutlich an. Andere Therapieformen wie medikamentöse Therapie, VT, TP bleiben in ihren<br />

Schwerpunkten im körperlichen, kognitiven, verhaltenstechnischen oder emotionalen Bereich<br />

beschränkt.<br />

4.2 Hinzuziehung des Effektivitätsaspektes<br />

Ein Auszug aus dem „Gutachten zur wissenschaftlichen Anerkennung der Systemischen<br />

Therapie“ des Wissenschaftlichen Beirates für Psychotherapie vom 14.12.2008 belegt die<br />

Wirksamkeit und grundsätzliche Effektivität systemischer Therapie:<br />

„Zum Anwendungsbereich 9 (Abhängigkeiten und Missbrauch) wurden sieben Studien<br />

vorgelegt. Hiervon werden drei Studien anerkannt, die die Wirksamkeit der Systemischen<br />

Therapie für den Bereich der Abhängigkeit von illegalen Drogen belegen. Hierbei erfuhren<br />

die meisten der untersuchten heroinabhängigen Patienten auch eine kombinierte<br />

Methadonbehandlung.„ (WBP 2008)<br />

Weiter heißt es dort:<br />

„Zum Anwendungsbereich 7 (Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, Störungen der<br />

Impulskontrolle, Störungen der Geschlechtsidentität und Sexualstörungen, Abhängigkeit und<br />

Missbrauch (ICD 10: F.1; F.55, Anm. d. Stud.), Schizophrenie und wahnhafte<br />

Störungen) wurden insgesamt 13 Studien vorgelegt. Hiervon wurden zehn Studien geprüft,<br />

von denen drei Studien anerkannt werden, welche die Wirksamkeit der Systemischen Therapie<br />

bei Drogen- und Substanzmittelmissbrauch belegen. Da hiermit die Wirksamkeit der<br />

Systemischen Therapie für diesen Anwendungsbereich bereits ausreichend belegt ist, wurde<br />

auf die Prüfung der weiteren drei Studien verzicht.“ (WBP 2008)<br />

4.3 Vergleiche mit Ergebnissen von Studien<br />

Interessante Vergleichszahlen bieten von Sydow et al. (2007) auf S. 90 f. Zum Thema<br />

Vergleichsstudien werden dort die Ergebnisse von 10 Vergleichsstudien für erwachsene<br />

Indexpatienten publiziert, die die Störungen „Alkoholmissbrauch und – abhängigkeit“,<br />

„Heroinanhängigkeit“ und „weitere illegale Drogenstörungen“ zum Inhalt haben und die in<br />

den Jahren 1977 bis 2002 in USA, UK und NL durchgeführt wurden und die die Wirksamkeit<br />

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der ST im Vergleich zu Gruppentherapie, Paarberatung, VT PT, Methadonprogramm,<br />

Einzelberatung, Peer GT, etc.<br />

Besonders die strukturell- strategische FT zeigt bei den Ergebnissen im Bereich<br />

Heroinabhängigkeit deutlich höhere Abstinenzraten (z.B.: Romijn, Platt et al.: 18 Monate post<br />

Intervention 64% gegenüber 46% bei Einzelberatung und Methadon).<br />

Für jugendliche Indexpatienten werden die Ergebnisse von 11 Vergleichsstudien von 1983 –<br />

2004 vorgestellt (v. Sydow 2007: S. 112 f.). Insgesamt fallen vor allem die deutlichen<br />

Ergebnisse bezüglich des Cannabis- Konsums ins Auge, wobei auch anzumerken ist, dass<br />

nach den Ergebnissen der VABS- Studie ( Sickinger 1994: S.36) das durchschnittliche<br />

Einstiegsalter für Heroin bei etwa 19 Jahren liegt .<br />

In der ST/ FT können üblichenweise 70 – 90 % der Patienten/Familien in der Therapie<br />

gehalten werden (gegenüber 60 – 65% in anderen Ansätzen). (v. Sydow 2007: S. 104)<br />

Die Vergleichsgröße der Effektstärke ist in den entsprechenden Tabellen leider nicht<br />

ersichtlich.<br />

Eine weitere Metaanalyse verschiedener Therapien haben Shadish, Ragsdale, Glaser,<br />

Montgomery (1997) erstellt, in deren Ergebnis sie zu dem Schluss kamen, dass FT/ PT eine<br />

mittlere, statistische und häufig klinisch signifikante Wirksamkeit zeigen. Sie zeigt weiter<br />

keine bestimmte therapeutische Orientierung als nachweisbar überlegen zu anderen<br />

Orientierungen und die FT/ PT ist der Einzeltherapie nicht überlegen. Lediglich die Annahme<br />

der Kosteneffizienz wird gestützt. (Shadish et al. 1997)<br />

5. Resümee<br />

Bei der Verbindung von Suchttheorie und systemischer Theorie lassen sich deutliche<br />

Gemeinsamkeiten feststellen, sofern eine ganzheitliche Suchttheorie als die<br />

wirklichkeitsnächste zugrunde gelegt wird. Und diese bietet sich aufgrund der<br />

berücksichtigten multifaktoriellen Ursachenbeschreibungen und multidimensionalen<br />

Lebensaspekte auch als die adäquateste an.<br />

Schwieriger wird es beim Nachweis der besonderen Effektivität der ST. Bezüglich der<br />

Effizienz lassen sich entsprechende Belege finden, in (systemisch begründeten) Studien wird<br />

der Wirknachweis erbracht, dass ST/ FT wirksamer sei als andere Therapieformen,<br />

Metastudien können diese Aussage allerdings nicht bestätigen (Shadish et al.) und allgemeine<br />

Aussagen zu den gebräuchlichen Studiendesigs lassen Zweifel an der Genauigkeit möglicher<br />

Ergebnisse aufkommen (Vgl.: Kriz 2000). Allerdings ist auch zu berücksichtigen, dass die ST<br />

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gerade mal 50 Jahre jung ist und ihre Bestätigung als wissenschaftlich akkreditiertes<br />

Therapieverfahren durch den WBP in Deutschland erst am 8. Januar 2009 erhalten hat.<br />

Insgesamt darf man jedoch davon ausgehen, dass es sich bei ST/FT/PT um ein effektives und<br />

effizientes Therapieverfahren handelt, das sich für die soziale Arbeit mit suchtkranken<br />

Menschen sicherlich nicht weniger eignet als andere Verfahren.<br />

5. Schlusswort<br />

Was mich etwas stört, ist die der Kybernetik 1. Ordnung genäherte systemische Suchtweise<br />

der Suchttheorien (Tretter). Hier besteht Bedarf, zum einen die salutogenetischen Aspekte des<br />

Systems zu integrieren als auch eine weitere Ausrichtung auf die Kybernetik 2. Ordnung zu<br />

vollziehen. Eine denkbare Möglichkeit hierzu wäre ein Modell der Sucht, das auf der Basis<br />

eines komplex adaptiven Systems (z.B. Holland 1978) konstruiert ist und z.B. den<br />

Salutogeneseaspekt oder personale Einstellungen als, nennen wir es ´Prozessleitlinien´,<br />

verwendet.<br />

Davon abgesehen war es sehr interessant, zu den Grenzen der Therapieforschung vorzustoßen<br />

und zu entdecken, dass hier noch einige aktuell bearbeitete Felder existieren.<br />

Damit bin ich am Ende des Prozesses dieser Arbeit angelangt mit dem Ergebnis, dass sich<br />

manche Gedanken bestätigen ließen (Kongruenz von Sucht und ST), andere jedoch in ihrem<br />

Ergebnis etwas von der Erwartung abwichen (Effektivität der ST).<br />

Schlussnotiz: Zitate wurden mit vorhandenen Rechtschreibfehlern übernommen.<br />

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