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<strong>Drägerheft</strong> 400 2. Ausgabe 2016 Assistenzsysteme<br />
<strong>Drägerheft</strong><br />
Delir nach Operation<br />
Ohne Behandlung drohen<br />
dauerhafte Komplikationen S. 14<br />
Krankheiten erschnüffeln<br />
Hunde haben dafür<br />
eine besonders feine Nase S. 20<br />
Technik für das Leben 2016<br />
Rettung unter Tage<br />
Ein neuartiges Fahrzeug<br />
setzt Maßstäbe S. 40<br />
Intelligente<br />
Technologie<br />
Unterstützt sie uns noch<br />
oder beherrscht sie uns schon?
Inhalt 400<br />
6<br />
AUTONOME<br />
SYSTEME<br />
Die Technik wird<br />
Teil des Alltags<br />
und handelt für den<br />
Menschen. Das birgt<br />
viele Chancen, aber<br />
auch einige Risiken.<br />
TITELFOTO: COLIN ANDERSON/GETTY IMAGES; FOTOS: GOOGLE, BARBARA SCHAEFER, PATRICK OHLIGSCHLÄGER<br />
Unter 1.000 Gramm<br />
wogen die Extrem-Frühchen einer fast 40 Jahre währenden<br />
kanadischen Langzeitstudie bei ihrer Geburt – mehr ab Seite 30.<br />
24<br />
BLUTTRANSFUSIONEN<br />
Blutkonserven sind bei der<br />
Versorgung von Patienten oft<br />
lebensnotwendig. Aber Blut ist<br />
begrenzt und zudem eine teure<br />
Handelsware. Es gibt Konzepte,<br />
Patientensicherheit und Wirtschaftlichkeit<br />
zusammenzubringen.<br />
Das könnte allen im Gesundheitswesen<br />
nutzen.<br />
36<br />
TADSCHIKISTAN<br />
Wie ist der Berufsalltag in einem<br />
Krankenhaus in Zentralasien?<br />
Eigentlich wie überall auf der<br />
Welt, „wenn man das Glück in den<br />
Augen der Patienten und ihrer<br />
Angehörigen sieht“. Gesundheit<br />
wiederherzustellen verlangt hier<br />
dennoch besondere Motivation.<br />
2 DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016
4<br />
Menschen, die bewegen<br />
Sven Kresalek und Jonas Gimbel waren<br />
beim SkyRun erfolgreich, Aziza Aminova<br />
hilft Frauen in Tadschikistan.<br />
6<br />
Wer hat das Kommando?<br />
Autonome Systeme machen<br />
Schlagzeilen. Eine Bestandsaufnahme.<br />
14<br />
Neben der Spur<br />
Ein Delir bringt Körper und<br />
Geist durcheinander. Was früher<br />
als Durchgangssyndrom galt,<br />
wird heute ernst genommen.<br />
20<br />
Feine Nase<br />
Hunde können Krebs riechen. Im Prinzip.<br />
Dafür müssen sie bei der Ausbildung<br />
eng mit Menschen zusammenarbeiten.<br />
24<br />
Weniger ist mehr<br />
Für einen überlegteren Umgang<br />
mit Blutkonserven plädieren diese<br />
Mediziner aus Frankfurt am Main.<br />
30<br />
Schwieriger Start ins Leben<br />
Eine kanadische Langzeitstudie zeigt,<br />
dass die meisten der zwischen 1977<br />
und 1982 im McMaster Hospital<br />
geborenen Extrem-Frühchen heute<br />
selbstständig leben und arbeiten.<br />
36<br />
Auf Rosen gebettet<br />
Das Khatlon Inter-District Multipurpose<br />
Hospital in Tadschikistan behandelt vor<br />
allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen.<br />
40<br />
Boxenstopp im Untergrund<br />
Ein neuartiges Fahrzeug setzt Maßstäbe<br />
bei der Rettung unter Tage.<br />
46<br />
Wenn Eigentum bremst<br />
Die Dinge des Alltags sind immer<br />
dann am nützlichsten, wenn sie genau<br />
dort sind, wo man sie braucht. Über<br />
den Trend zu mieten, statt zu kaufen.<br />
50<br />
Gute Aussichten<br />
Gasmotoren gehört die Zukunft<br />
in der internationalen Schifffahrt.<br />
Eine Branche denkt um.<br />
56<br />
Brandschutz in Metropolen<br />
Die Berliner Feuerwehr ist die<br />
größte und älteste Berufsfeuerwehr<br />
Deutschlands. Eine Stippvisite.<br />
60<br />
Trügt der Schein?<br />
Die Welt scheint immer schlechter zu<br />
werden, doch viele Zahlen sprechen<br />
eine andere Sprache. Ein Zwischenruf.<br />
63<br />
Auf einen Blick<br />
Produkte von Dräger, die im Zusammenhang<br />
mit dieser Ausgabe stehen.<br />
64<br />
Alcotest 3820<br />
Schnell und zuverlässig:<br />
der Atemalkoholtest für jedermann!<br />
IMPRESSUM<br />
HERAUSGEBER:<br />
Drägerwerk AG & Co. KGaA,<br />
Unternehmenskommunikation<br />
ANSCHRIFT DER REDAKTION:<br />
Moislinger Allee 53–55, 23558 Lübeck<br />
draegerheft@draeger.com<br />
CHEFREDAKTION:<br />
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DRUCK:<br />
Dräger+Wullenwever print+media Lübeck<br />
GmbH & Co. KG<br />
ISSN: 1869-7275<br />
SACHNUMMER: 90 70 418<br />
Die Beiträge im <strong>Drägerheft</strong> informieren<br />
über Produkte und deren<br />
Anwendungsmöglichkeiten im Allgemeinen.<br />
Sie haben nicht die Bedeutung,<br />
bestimmte Eigenschaften der<br />
Produkte oder deren Eignung für<br />
einen konkreten Einsatzzweck zuzusichern.<br />
Alle Fachkräfte werden aufgefordert,<br />
ausschließlich ihre durch<br />
Aus- und Fortbildung erworbenen<br />
Kenntnisse und praktischen Erfah rungen an zuwenden. Die<br />
Ansichten, Meinungen und Äußerungen der namentlich<br />
genannten Personen sowie der Autoren, die in den Texten<br />
zum Ausdruck kommen, entsprechen nicht notwendigerweise<br />
der Auffassung der Dräger werk AG & Co. KGaA. Es<br />
handelt sich ausschließlich um die Meinung der jeweiligen<br />
Personen. Nicht alle Produkte, die in diesem Magazin<br />
genannt wer den, sind weltweit erhältlich. Ausstattungs -<br />
pakete können sich von Land zu Land unter schei den. Änderungen<br />
der Produkte bleiben vorbehalten. Die ak tuellen<br />
Informatio nen erhalten Sie bei Ihrer zuständigen Dräger-<br />
Vertretung. © Drägerwerk AG & Co. KGaA, 2016. Alle Rechte<br />
vorbehalten. Diese Veröffent lichung darf weder ganz noch<br />
teilweise ohne vorherige Zustimmung der Drägerwerk AG<br />
& Co. KGaA wiedergegeben werden, in einem Datensystem<br />
gespeichert, in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise,<br />
weder elektronisch noch mechanisch, durch Fotokopie,<br />
Aufnahme oder andere Art übertragen werden.<br />
Die Dräger Safety AG & Co. KGaA, Lübeck, ist Hersteller<br />
folgender Produkte: Röhrchen (S. 21 f.), PSS BG4 plus<br />
(S. 42), X-am 7000 (S. 44), Polytron 8000 (S. 45), X-am<br />
5000+5600 (beide S. 49), PIR 7000 (S. 53), Polytron-<br />
Familie (S. 54), Alcotest 3820 (S. 64). Die Hermann<br />
Paus Maschinenfabrik GmbH, Emsbüren, sowie Dräger<br />
Safety AG & Co. KGaA, Lübeck, sind Hersteller des MRV<br />
9000 (S. 40 ff.). Die Dräger werk AG & Co. KGaA, Lübeck,<br />
ist Hersteller von: SmartPilot View (S. 8 ff.), SmartCare<br />
(S. 10), Linea (S. 16), Caleo (S. 34), Babyleo TN500<br />
(S. 34 f.), Babylog VN500 (S. 35).<br />
Nachfolgende Produkte sind nicht mehr lieferbar:<br />
Inkubator 8000 (S. 34), Babylog 8000 (S. 34 f.), Kreislauf-<br />
Atemschutzgerät BG 174 (S. 43).<br />
www.draeger.com<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />
3
ERFAHRUNGEN<br />
AUS ALLER WELT<br />
Menschen,<br />
die<br />
bewegen<br />
FOTOS: PETER THOMAS, NOZIM KALAND/PICTURE ALLIANCE<br />
Sven Kresalek und Jonas<br />
Gimbel, Studenten der<br />
Ingenieurwissenschaften<br />
„Was zählt, ist das Team! Das stand für<br />
uns von Anfang an fest, als wir uns dazu<br />
entschieden hatten, beim diesjährigen<br />
SkyRun im Frankfurter Messeturm in<br />
der Kategorie Fire-Fighters Cup (FFC)<br />
mitzumachen. Wir drei – zu uns gehört<br />
auch Ferdinand Kirchner – kennen uns<br />
aus der Freiwilligen Feuerwehr Rüsselsheim-Bauschheim.<br />
Das Format des FFC<br />
war uns bereits bekannt, Sven ist 2013<br />
schon einmal mitgelaufen. Uns hat diese<br />
Herausforderung begeistert: 61 Stockwerke,<br />
222 Höhenmeter, 1.202 Treppenstufen<br />
– das alles unter Atemschutz und<br />
gegen die Stoppuhr. Ohne Vorbereitung<br />
geht das natürlich nicht, aber auch nicht<br />
ohne Unterstützung – etwa durch unsere<br />
Amtsleitung und Wehrführung. Selbst<br />
die lokale Wohnungsbaugesellschaft<br />
hat uns geholfen, unter realistischen<br />
Bedingungen im Treppenhaus eines<br />
Hochhauses zu trainieren. Beim<br />
Wettbewerb am 12. Juni waren wir<br />
ziemlich gespannt, wie es für uns<br />
laufen würde. Der größte Stressfaktor<br />
würde wohl nicht die Kondition sein,<br />
sondern die Hitze. Dafür hatten wir schon<br />
im Training ein gutes Gespür bekommen.<br />
Und tatsächlich: Der Wärmestau beim<br />
Treppenlauf war enorm. Trotzdem sind wir<br />
nach ca. 16:30 Minuten ins Ziel gekommen<br />
– und zwar gemeinsam, so wie wir<br />
es uns vorgenommen hatten. Damit erreichten<br />
wir Platz 18 von rund 100 Mannschaften.<br />
Das war ein gutes Ergebnis.<br />
Wir werden auch im kommenden Jahr<br />
wieder an den Start gehen, mit dem<br />
Training haben wir bereits begonnen.“<br />
4<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
Aziza Aminova, leitende<br />
Gynäkologin am Khatlon Inter-<br />
District Multipurpose Hospital<br />
in Dangara/Tadschikistan<br />
„Ich komme aus einer Ärztedynastie:<br />
Meine Eltern, selbst die Verwandten,<br />
alle sind Ärzte. So bin ich dem Wunsch<br />
meines Vaters gefolgt und wurde<br />
Gynäkologin. Mein Berufswunsch war<br />
Journa listin. Aber nun bin ich seit zehn<br />
Jahren Ärztin. Der Beruf bringt mir auch<br />
deshalb Zufriedenheit, weil ich Frauen<br />
helfen kann. In der Gynäkologie<br />
arbei ten fünf Ärztinnen und sechs Krankenschwestern.<br />
Es macht mich traurig,<br />
wenn ganz junge Frauen keine Kinder<br />
bekommen können. Das schleppen<br />
viele ihr ganzes Leben mit sich herum.<br />
Gerade habe ich eine Patientin, die<br />
zwölf Jahre lang versucht hat, schwanger<br />
zu werden – wegen eines Virus hatte<br />
sie wieder eine Fehlgeburt. So etwas<br />
nimmt mich sehr mit. Ich treibe hier die<br />
Familien beratung voran, verschreibe<br />
auch die Pille. Eine kinderreiche Familie<br />
steht für Reichtum – das ist die Mentalität<br />
der Muslime. Und es sind oft die<br />
Männer, die so viele Kinder wollen.<br />
Die Frauen haben in unserer Kultur<br />
keine starke Stimme, die Männer und<br />
Schwiegermütter bestimmen meist ihr<br />
Leben. Das alles ändert sich, allerdings<br />
sehr langsam. Meine beiden Kinder<br />
sollen ihren Beruf einmal selbst wählen.“<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />
5
er hat<br />
6 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
ASSISTENZSYSTEME<br />
FOKUS<br />
das Kommando?<br />
Autonome Systeme machen Schlagzeilen: Dienen<br />
sie uns noch oder beherrschen sie uns schon? Lernende<br />
Software öffnet neue Räume, mit vielen Chancen<br />
und einigen Risiken – gerade Letztere haben es in sich.<br />
Text: Tobias Hürter<br />
A<br />
FOTO: COLIN ANDERSON/GETTY IMAGES<br />
Als der Internetriese Google eines seiner<br />
selbstfahrenden Autos auf die Straße<br />
ließ, blieb es plötzlich an einer Kreuzung<br />
stehen, um sich anschließend keinen<br />
Zentimeter mehr fortzubewegen. Was war<br />
geschehen? Eine Rollstuhlfahrerin hatte<br />
mitten auf der Straße versucht, einer Ente<br />
hinterherzujagen. Diese Situation war in<br />
dem System des Autos nicht vorgesehen.<br />
Darüber haben viele geschmunzelt. Das<br />
Google Car, dieses Wunder der Technik,<br />
kapitulierte vor einer Situation, die jeder<br />
Mensch mit Leichtigkeit bewältigt hätte.<br />
Der Fall wirft einen Schatten auf einen<br />
Trend, der als einer der wichtigsten dieser<br />
Jahre gilt: Technik, die autonom wird.<br />
Die Geschichte des „Google self-driving<br />
car“ zeigt auch, dass Irritationen und Fehler<br />
beinahe vorprogrammiert sind. Zwar<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />
7
FOKUS<br />
ASSISTENZSYSTEME<br />
ist die Technik von Menschen ersonnen,<br />
doch mit steigender Komplexität entwickelt<br />
sie schnell ein Eigenleben.<br />
Wie von Geisterhand<br />
Noch vor einigen Jahren taten Maschinen<br />
exakt das, was sie sollten. Ereigneten<br />
sich Unfälle, lagen die Ursachen meist auf<br />
der Hand und in einer falschen Konstruktion<br />
oder Bedienung begründet. Mittlerweile<br />
nehmen Maschinen unsere Anweisungen<br />
nicht mehr gänzlich unreflektiert<br />
hin. Ein frühes Beispiel ist das Antiblockiersystem<br />
(ABS). Wer einst mit voller<br />
Kraft aufs Bremspedal seines Autos trat,<br />
blockierte unweigerlich die Räder. Die<br />
Bremswirkung verringerte sich, und das<br />
Fahrzeug geriet aus der Spur. Hier schaltete<br />
sich Anfang der 1970er-Jahre erstmals<br />
das ABS ein. Es vermittelte zwischen dem<br />
Willen des Fahrers („Sofort anhalten!“)<br />
und den Möglichkeiten der Technik. Die<br />
gewünschte Wirkung trat in optimier-<br />
ter Form ein. Das System übernahm den<br />
eigentlichen Bremsvorgang, unabhängig<br />
vom Pedaldruck des Fahrers. Die Technik<br />
begann, eigenständig Entscheidungen<br />
zum Wohle des Menschen zu treffen.<br />
Damit kommt etwas Neues ins Spiel,<br />
denn Entscheidungen können richtig<br />
oder falsch sein. Aber wer ist verantwortlich<br />
für die Entscheidung einer Maschine?<br />
Wenn ein ABS eine Fehlbremsung hinlegt,<br />
kann es mangels Bewusstseins nicht selbst<br />
schuld sein, sondern nur der Fahrer oder<br />
Hersteller. Wie verhält es sich dagegen<br />
bei einem selbstfahrenden Auto, wenn es<br />
um Menschenleben geht? Die Einführung<br />
von Fly-by-wire in Flugzeugen löste eine<br />
heiße Debatte aus, da die Steuer impulse<br />
der Piloten nicht mehr mechanisch auf<br />
die Ruder übertragen, sondern elektronisch<br />
umgesetzt wurden. Eine wesentliche<br />
Komponente im Konzept „Industrie<br />
4.0“ der deutschen Bundesregierung liegt<br />
in der Fähigkeit technischer Systeme, Entscheidungen<br />
eigenständig zu treffen und<br />
Aufgaben autonom zu erledigen. Auch<br />
der Börsenhandel wird zunehmend von<br />
eigenständig agierenden Systemen übernommen,<br />
die im Hochfrequenzhandel<br />
blitzschnell gewaltige Beträge rund um<br />
den Globus verschieben. Dabei ist nicht<br />
immer nachvollziehbar, was da genau passiert.<br />
So kam es am 6. Mai 2010 zu einem<br />
„Flash Crash“, bei dem US-amerikanische<br />
Einparken sorgt<br />
spätestens bei der<br />
Führerscheinprüfung<br />
für den ersten Schweißausbruch<br />
des Fahrers.<br />
Und selbst wenn<br />
man es dann kann:<br />
Bei immer größeren<br />
Autos und immer<br />
weniger Parkfläche<br />
ist man für ein solches<br />
Assistenzsystem<br />
dankbar – nicht nur<br />
in der Oberklasse<br />
Börsenkurse binnen Minuten einbrachen<br />
und sich ebenso schnell wieder erholten –<br />
wie von Geisterhand.<br />
Entlastung von Routineaufgaben<br />
Komplexe Technologie kann Menschen<br />
von Routineaufgaben befreien. Das ist<br />
eine Richtung, der auch Dräger folgt.<br />
Das Unternehmen bietet verschiedene<br />
Systeme an, die mit unterschiedlichen<br />
Autonomiegraden arbeiten. „SmartPilot<br />
View ist vergleichbar mit dem Navigationssystem<br />
eines Autos“, sagt Jürgen Manigel,<br />
Entwickler bei Dräger. Das Anästhesiesystem<br />
registriert und verrechnet laufend,<br />
welche Medikamente gegeben werden,<br />
veranschaulicht die Situation auf einer<br />
Art Landkarte.<br />
Ein Anästhesist darf die Medikation<br />
niemals allein nach dem SmartPilot View<br />
ausrichten – so wie ein Autofahrer niemals<br />
blind seinem Navigationssystem vertrauen<br />
sollte. „Sobald eine Baustelle auftaucht,<br />
die im Navigationssystem nicht eingetragen<br />
ist, oder eine Brücke abgerissen<br />
FOTOS: VOLVO CARS, GOOGLE(2)<br />
8 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
Zwischen heute und morgen wird derzeit die größte Revolution des<br />
Straßenverkehrs vorbereitet: seine Digitalisierung. Sie ist der Hintergrund<br />
für autonomes Fahren und eine intelligente sowie sparsame – da vernetzte –<br />
Verkehrssteuerung. Das Potenzial dieser Technologie ist enorm<br />
Noch<br />
funktioniert<br />
autonomes<br />
Fahren<br />
nur in überschaubaren<br />
Umgebungen<br />
wurde, kann man damit im Graben landen“,<br />
sagt Manigel. SmartPilot View besitzt<br />
deshalb bewusst ein eher geringes Maß an<br />
Autonomie. Es erarbeitet zwar selbstständig<br />
Medikationsvorschläge und gibt sorgfältig<br />
kalkulierte Empfehlungen, doch der<br />
Anästhesist entscheidet und handelt weiterhin.<br />
Ein solches System steht auf der<br />
untersten Stufe der Autonomieskala. Die<br />
nächste Stufe bieten Assistenzsysteme, die<br />
eigenständig handeln. Auch diese teilautonomen<br />
Systeme gibt es von Dräger. „Anästhesiearbeitsplätze,<br />
die automatisch die<br />
Narkosemittelkonzentration steuern“,<br />
sagt Manigel. Der Arzt gibt nur noch eine<br />
Zielkonzen tration vor. Diese noch immer<br />
relativ niedrige Stufe der Autonomie<br />
nennt sich „Skill Level“ – nur einfache<br />
Fertigkeiten wurden automatisiert. Der<br />
Mediziner muss weiterhin zu jedem Zeitpunkt<br />
in der Lage sein, eingreifen zu können.<br />
Bevor Manigel zu Dräger kam, arbeitete<br />
er als Entwickler bei einem großen<br />
deutschen Autohersteller und beschäftigte<br />
sich mit autonomer Fahrzeugführung.<br />
Damals stand diese Technologie noch am<br />
Anfang. „Selbstfahrende Autos und autonome<br />
Medizintechnik, da gibt es einige<br />
Parallelen“, sagt Manigel. Teilautomatisierte<br />
Systeme, die phasenweise die Kontrolle<br />
über das Fahrzeug übernehmen,<br />
gibt es mitunter schon serienmäßig –<br />
etwa als Stauassistent, Einparkhilfe oder<br />
teilautonomes Fahren auf der Autobahn,<br />
inklusive Spurwechsel. In Deutschland<br />
wird derzeit die A9, zwischen München<br />
und Nürnberg, zu einer <strong>Test</strong>strecke ausgebaut,<br />
mit Radarsensoren und Schnittstellen<br />
für Datenkommunikation.<br />
Vom Labor ins richtige Leben<br />
Damit drängt autonome Technik mehr<br />
und mehr in den Alltag. Allerdings funktioniert<br />
sie bislang nur in geschlos senen und<br />
überschaubaren Umgebungen wirklich<br />
zuverlässig. Sobald es etwa von der Autobahn<br />
in den Stadtverkehr geht, wird es<br />
schwierig. Überquert der Mann am Zebrastreifen<br />
gleich die Straße, oder wartet<br />
er auf jemanden? Menschen klären das<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />
9
FOKUS<br />
ASSISTENZSYSTEME<br />
Assistenzsysteme: SmartPilot View von Dräger (oben) lotst den<br />
Anästhesisten wie ein Navigationssystem durch die Narkose.<br />
Es registriert und verrechnet laufend, welche Medikamente gegeben<br />
wurden, kalkuliert die Entwicklung und stellt alles übersichtlich wie auf<br />
einer Landkarte dar. Links: SmartCare – ein automatisiertes System,<br />
das Intensivpatienten, die über Tage maschinell beatmet wurden,<br />
allmählich davon entwöhnt und wieder eigenständig atmen lässt<br />
untereinander. Ein selbstfahrendes Auto<br />
hält am Zebrastreifen und fährt dann<br />
nicht mehr weiter. Der Vorfall mit dem<br />
Google self-driving car zeigt auch, dass die<br />
Technik noch nicht ausgereift ist. Weniger<br />
kurios wird es, sobald es Verletzte oder<br />
gar Tote gibt – wie die Serie von Unfällen<br />
mit Fahrzeugen, die mit Auto pilot<br />
fuhren. Allerdings ist dieses System ausdrücklich<br />
nicht für den unbeaufsichtigten<br />
Gelehrige Maschinen<br />
Gebrauch konzipiert. Im Internet finden<br />
sich Videos von Fahrern, die während der<br />
Fahrt auf den Rücksitz klettern oder sich<br />
Filme ansehen. In der Medizin technik<br />
kommen ebenfalls teil automatisierte Systeme<br />
zum Einsatz, die in eng gesteckten<br />
Grenzen und bei bestimmungsgemäßem<br />
Gebrauch vorgegebene Therapieziele<br />
selbstständig erreichen können. Dräger<br />
bietet beispielsweise SmartCare an, ein<br />
Eine Maschine, die autonom agiert, muss nicht unbedingt lernfähig sein,<br />
aber oft gehen Autonomie und Lernfähigkeit Hand in Hand. Hoch im Kurs stehen<br />
derzeit Deep-Learning-Systeme, die ihre Verhaltensregeln und Erfahrungsdaten<br />
in abstrakte Darstellungen übersetzen – und sich gewissermaßen selbst<br />
umprogrammieren, um immer bessere Ergebnisse zu erzielen. Ein spektakuläres<br />
Beispiel ist das Programm AlphaGo, das sich selbst das asiatische Brettspiel<br />
Go beigebracht hat und dabei so gut geworden ist, dass es einen koreanischen<br />
Profispieler in einem Match schlagen konnte. Allerdings warnen manche Experten<br />
auch vor den Risiken der Kombination Lernfähigkeit und Autonomie. Bei einem<br />
lernfähigen System kann es passieren, dass irgendwann niemand mehr weiß, nach<br />
welchen Regeln es funktioniert und wie es sich in kritischen Situationen verhält.<br />
System, das Intensiv patienten, die über<br />
mehrere Tage maschinell beatmet wurden,<br />
allmählich davon entwöhnt und wieder<br />
eigenständig atmen lässt. Oder Smart<br />
Ventilation Control, das den Patienten<br />
während des chirurgischen Eingriffs mit<br />
einer optimierten Beatmung versorgt.<br />
Beide Systeme bilden Behandlungsstrategien<br />
ab, die von Fachleuten entwickelt<br />
und geprüft wurden. „SmartCare kann<br />
sozusagen einen Beatmungsexperten aus<br />
Paris in jedes Kreiskrankenhaus der Welt<br />
holen“, sagt Manigel.<br />
Strenge Regeln<br />
für die Zulassung<br />
Teilautonome Systeme nehmen Menschen<br />
zwar Entscheidungen ab, doch „der Arzt<br />
steht immer daneben und behält die Kontrolle“,<br />
sagt Manigel. So wie der Fahrer<br />
stets die Hände am Lenkrad haben sollte.<br />
In Situationen, in denen das System überfordert<br />
ist, zieht es die Notbremse und<br />
schaltet in einen Rückfallmodus, der den<br />
Patienten am Leben hält. Teilautonomie<br />
10 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
In Einzelfällen<br />
können<br />
automatisierte<br />
Fahrzeuge<br />
sogar Unfälle<br />
provozieren<br />
FOTOS: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA<br />
ist die höchste Stufe, auf der Dräger derzeit<br />
forscht und entwickelt. Sie entspricht<br />
etwa dem Autopiloten, der in vielen Fahrzeugen<br />
bereits verbaut ist. Das größte Hindernis<br />
für noch mehr Autonomie in der<br />
Medizintechnik sind die strengen Zulassungen.<br />
Ein Hersteller muss nachweisen,<br />
dass sein Produkt sicher ist und Anwender<br />
in der Lage sind, damit umzugehen. Das<br />
ist mitunter so aufwendig, dass viele den<br />
Schritt zu noch mehr technischer Autonomie<br />
scheuen. „Besonders die amerikanische<br />
Gesundheitsbehörde ist da sehr<br />
streng“, sagt Manigel. Bei traditionellen<br />
Systemen stellt der Arzt bestimmte Parameter<br />
ein, und die Maschine sorgt dafür,<br />
dass sie eingehalten werden. Bei autonomen<br />
Systemen gibt er nur noch das Ziel<br />
ein, das die Maschine dann selbstständig<br />
erreichen soll. Mit welchen therapeutischen<br />
Mitteln dies geschieht, obliegt dem<br />
System. „Das ist eine völlig neue Herausforderung“,<br />
sagt Manigel. „Der Therapiegeber<br />
wird plötzlich zum Überwacher<br />
der Therapie.“ Dafür sind die meisten<br />
Mediziner heute gar nicht ausgebildet.<br />
Und auch bei der Zulassung sind neue<br />
Kriterien gefragt. „Die Hersteller sind<br />
in der Pflicht nachzuweisen, dass durch<br />
ihre Systeme keine zusätzlichen Risiken<br />
entstehen“, sagt Manigel. Trotz dieser<br />
Einschränkungen geht die Grundlagenforschung<br />
weiter. So kann etwa das<br />
„Automated Critical Care System“, vom<br />
Office of Naval Research entwickelt, selbstständig<br />
die Erstversorgung von Traumapatienten<br />
übernehmen.<br />
Kann Software überhaupt<br />
eine Moral haben?<br />
Je höher der Grad der Autonomie, desto<br />
stärker wandelt sich das Verhältnis zur<br />
Technik. Das Google self-driving car verfügt<br />
weder über Lenkrad noch Bremspedal,<br />
aber über einen Notfallknopf. Der<br />
Fahrer wird zum Fahrgast. Wenn Systeme<br />
selbstständig Entscheidungen treffen,<br />
welchen moralischen Status haben diese<br />
dann? Auf den ersten Blick scheint die<br />
Sache klar. Autonome Fahrzeuge bringen<br />
– unterm Strich – mehr Sicherheit als<br />
manuell gesteuerte. Sie reagieren blitzschnell,<br />
erschrecken nicht, geraten nicht<br />
in Wut oder Panik und sind auch nicht<br />
betrunken. Dennoch sind sie nicht unfehlbar.<br />
Wer haftet, wenn sie versagen? In Einzelfällen<br />
kann ein automatisiertes Fahrzeug<br />
einen Unfall provozieren, den ein<br />
Mensch womöglich vermieden hätte. Will<br />
man das in Kauf nehmen? „Da gibt es kein<br />
Richtig oder Falsch“, sagt Prof. Dr. Philipp<br />
Rostalski, Direktor des Instituts für Medizinische<br />
Elektrotechnik an der Universität<br />
Lübeck. „Wichtig ist, dass man sich diese<br />
Schwierigkeiten bewusst macht und<br />
einen gesellschaftlichen Konsens darüber<br />
anstrebt.“ Besonders deutlich wird das<br />
Dilemma in Situationen, über die schon<br />
länger diskutiert wird. So hat der kanadische<br />
Physiker und Philosoph Jason Millar<br />
ein Gedankenexperiment erdacht, das er<br />
„tunnel problem“ nennt: Ein mit einer<br />
Person besetztes selbstfahrendes Auto<br />
nähert sich auf einer einspurigen Straße<br />
einem engen Tunnel. Ein Kind versucht,<br />
die Straße zu überqueren – es stolpert<br />
und liegt nun mitten auf der Straße.<br />
Das Auto hat zwei Optionen: Soll es auf<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />
11
FOKUS<br />
ASSISTENZSYSTEME<br />
IN DER<br />
ZWICKMÜHLE<br />
Manchmal kann man es<br />
nur falsch machen: In<br />
einem ethischen Dilemma<br />
können Menschen sich<br />
nur zwischen mehreren<br />
Übeln entscheiden. Wenn<br />
Maschinen anfangen,<br />
autonom zu agieren,<br />
werden auch sie irgendwann<br />
vor solch einem<br />
Dilemma stehen. Wie<br />
sollte ein selbstfahrendes<br />
Auto handeln, wenn<br />
es entweder ein Kind<br />
überfahren oder mit den<br />
Insassen eine Betonwand<br />
rammen muss? Forscher<br />
des MIT Media Lab haben<br />
eine „Moral Machine“<br />
programmiert, an der<br />
jeder seine moralische<br />
Intuition testen kann.<br />
Kurs bleiben oder ausweichen<br />
und gegen die<br />
Felswand prallen? Das<br />
Fahrzeug muss zwei<br />
Leben (das des Kindes<br />
und das des Insassen)<br />
gegeneinander abwägen.<br />
Doch es gibt keine<br />
klare Antwort darauf.<br />
Selbst unsere eigene<br />
moralische Intuition,<br />
das Bauchgefühl, ist in<br />
solchen Situationen oft<br />
kein verlässlicher Kompass mehr. „Wenn<br />
man an manchen Szenarien nur Details<br />
variiert, ändert sich schon das Urteil“,<br />
sagt Rostalski.<br />
Mehr unter: http://<br />
moralmachine.mit.edu<br />
Moralisches Dilemma<br />
Autonome Systeme erfordern neue Maßstäbe<br />
des Sollens, Dürfens und Müssens<br />
– eine neue Ethik. Ein früher Versuch<br />
waren die „Robotergesetze“, die der<br />
Science-Fiction-Autor Isaac Asimov 1942<br />
in einer Kurzgeschichte formulierte. Das<br />
oberste Gesetz lautet sinngemäß: „Ein<br />
Roboter darf keinen Menschen verletzen<br />
oder durch Untätigkeit zulassen, dass ihm<br />
Schaden zugefügt wird.“ Wie sollte so das<br />
Tunnel-Problem gelöst werden? „Wenn<br />
man das kompromisslos umsetzt, könnte<br />
man keine autonomen Systeme bauen“,<br />
sagt Rostalski. Zu den Philosophen, die<br />
eine neue Ethik für autonome Systeme entwickeln,<br />
gehört auch Julian Nida-Rümelin,<br />
Professor an der Universität München.<br />
Er plädiert dafür, die ethischen Fragen zu<br />
klären, bevor autonome Autos die öffentlichen<br />
Straßen einnehmen. „Beim assistierten<br />
Fahren, bei dem am Ende immer<br />
noch der Fahrer eingreifen kann, sind die<br />
ethischen Probleme gar nicht so groß“,<br />
sagt Nida-Rümelin – und fordert, dass der<br />
Fahrer zu jedem Zeitpunkt die Kontrolle<br />
über das Fahrzeug behalten sollte. Das verlangt<br />
auch das Wiener Übereinkommen<br />
über den Straßenverkehr. Nida-Rümelin<br />
warnt davor, diese Schwelle „voreilig“ zu<br />
überschreiten. Die Warnung kommt nicht<br />
von ungefähr. Autonome Systeme haben<br />
Rückenwind von Politik und Wirtschaft.<br />
Die deutsche Bundesregierung hat einen<br />
Gesetzentwurf auf den Weg gebracht,<br />
der eine „innovationsfreundliche Änderung<br />
des Straßenverkehrsgesetzes“ vorsieht.<br />
Vollautomatisches Fahren soll dann<br />
auf deutschen Straßen erlaubt sein. Das<br />
Bundes verkehrsministerium betont, dass<br />
in Dilemmas kein Menschenleben gegenüber<br />
einem anderen zu bevorzugen sei.<br />
Aber was dann? Maschinen müssen programmiert<br />
und die Kriterien offengelegt<br />
werden, nach denen sie in bestimmten<br />
Situationen handeln. „Die Teilnahme am<br />
Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht<br />
und gegenseitige Rücksicht“, lautet die<br />
erste Grundregel der Straßenverkehrsordnung.<br />
Vorsicht und Rücksicht – das sind<br />
menschliche Maximen. Inzwischen versuchen<br />
Philosophen und Computerwissenschaftler,<br />
eine maschinengerechte Moral<br />
zu erarbeiten. Es gibt juristische Forschungsgruppen,<br />
die sich mit Maschinenmoral<br />
beschäftigen. Autohersteller richten<br />
eigene Abteilungen für ethische Fragen<br />
ein. Das Verkehrsministerium hat angekündigt,<br />
eine Ethikkommission einzuberufen.<br />
Aber passen Maschinen und Moral<br />
überhaupt zusammen? Manche finden,<br />
dass Maschinen, wie wir sie heute kennen,<br />
niemals moralische Verantwortung übernehmen<br />
können, weil sie stets von Menschen<br />
vorgegebenen Regeln folgen. Andere<br />
sagen, es sei ungerecht, die Erbauer oder<br />
Besitzer einer Maschine für deren Handlungen<br />
verantwortlich zu machen.<br />
Mensch gegen Mensch?<br />
Der geradlinige Weg wäre, den moralischen<br />
Wert einer Handlung eines autonomen<br />
Systems so nüchtern zu betrachten<br />
wie dessen Wirkungsgrad und Leistung.<br />
Wenn es um das Fahrverhalten eines autonomen<br />
Autos geht, wäre es naheliegend,<br />
das Schadensrisiko jeder Option zu beziffern<br />
– etwa die Anzahl der zu befürchtenden<br />
Todesfälle, den Grad der Verletzungen<br />
oder der Sachschäden. Und das Auto so<br />
zu programmieren, dass es dieses Risiko<br />
stets minimiert. Klingt plausibel, solange<br />
man nicht selbst darin sitzt. Wer kauft sich<br />
ein Auto, das den Tod der Insassen einkalkuliert?<br />
Der Begriff der grundgesetzlich<br />
garantierten Würde des Menschen<br />
ist schon für manche Zeitgenossen nicht<br />
leicht zu fassen. Wie sollen Maschinen<br />
ihn verstehen? Wie soll ein Algorithmus<br />
die Würde des Menschen respektieren?<br />
Befriedigende Antworten auf diese Fragen<br />
sind erst noch zu finden. „Man kann sie<br />
nicht allein den Entwicklern überlassen“,<br />
sagt Philipp Rostalski. „Die Gesellschaft<br />
muss klären, wie sie mit ihnen umgehen<br />
will.“ Dafür braucht es auch einen<br />
rechtlichen Rahmen, der Herstellern,<br />
Anwendern und Fahrern ausreichend<br />
Sicherheit gibt.<br />
FOTO: COLIN ANDERSON/GETTY IMAGES<br />
12 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
„Ein Roboter<br />
darf keinen<br />
Menschen<br />
verletzen oder<br />
durch Untätigkeit<br />
zulassen, dass<br />
ihm Schaden<br />
zugefügt wird.“<br />
Isaac Asimov, Science-Fiction-Autor (1942)<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />
13
Neben<br />
Ein Delir bringt Körper und Geist durcheinander. Was noch<br />
vor wenigen Jahren als Durchgangssyndrom abgetan wurde,<br />
das rasch wieder verschwindet, wird heute ernst genommen.<br />
Text: Isabell Spilker Fotos: Christina Lux Zeichnungen: Nancy Andrews<br />
JJosef Kamps hat heftige Bauchschmerzen.<br />
Als er dem Arzt in der Notaufnahme<br />
im Frühsommer davon berichtet, wird ihm<br />
auch schon schwarz vor Augen. Dia gnose:<br />
Darminfarkt. Drei Wochen und mehrere<br />
Operationen später (in denen ihm Teile<br />
seines wegen mangelnder Durchblutung<br />
abgestorbenen Darms entfernt wurden,<br />
er zudem eine Sepsis erlitt, die sein rechtes<br />
Knie zerstörte) erwachte der 68-Jährige<br />
erstmals wieder. Sein Bewusstsein hatte<br />
sich an irgendeinem Punkt zwischen den<br />
Operationen und der in seinem Körper<br />
wütenden Sepsis (siehe auch <strong>Drägerheft</strong><br />
395, Seite 32 ff.) ins Delir verabschiedet.<br />
Der Weg hinaus war hart und hätte<br />
auch ganz anders enden können – viele<br />
Patienten tragen kognitive Schäden davon.<br />
Zwei Monate später sitzt Josef Kamps<br />
gut gelaunt mit Altenpflegerin Maria<br />
Domke in einem Zimmer des St. Franziskus-Hospitals<br />
in Münster und erinnert sich<br />
an die Zeit. „Schrecklich war das“, sagt er.<br />
„Ich wusste nicht, was passiert war, konnte<br />
kaum zwischen Traum und Wirklichkeit<br />
unterscheiden.“ Seit zwei Tagen ist Kamps<br />
nach einer zweiwöchigen Pause zu Hause<br />
wieder zurück im Krankenhaus; die<br />
Inlay-Sonderanfertigung für sein zerstörtes<br />
Knie wurde eingesetzt. Maria Domke<br />
ist seine persönliche „Aufpasserin“. Speziell<br />
ausgebildet achtet sie darauf, dass er<br />
nicht wieder ein Delir entwickelt. „Wie<br />
eine schützende Hand“, sagt Domke und<br />
prüft den venösen Zugang an Kamps Arm.<br />
Der Zugang ist undicht, die Kochsalzlösung<br />
läuft daneben. Domke wird gleich<br />
auf der Station Bescheid geben, aber vorher<br />
scherzt sie noch mit ihrem Patienten,<br />
lauscht seinen Plänen fürs nächste<br />
Jahr. Domke und Kamps haben fast eine<br />
innige Beziehung, das Vertrauen ist offensichtlich<br />
groß. „Verbindlich“, nennt es die<br />
Pflegerin.<br />
Delir verkürzt Lebensdauer<br />
Maria Domke ist Mitarbeiterin des Geriatrieteams<br />
im St. Franziskus-Hospital. Sechs<br />
Angestellte kümmern sich hier ausschließlich<br />
um ältere Patienten, die im Haus<br />
geplant oder als Notfall operiert werden<br />
und ein erhöhtes Delir- Risiko aufweisen –<br />
etwa eine demenzielle Vor erkrankung oder<br />
Depression. Als Delir oder Delirium wird<br />
ein akuter Verwirrtheitszustand bezeichnet,<br />
ausgelöst unter anderem durch Operationen<br />
und Narkosen, akute Infektionen<br />
oder Arzneimittel. Die Patienten sind<br />
oft orientierungslos, verloren in Zeit und<br />
14 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
OPERATIONEN<br />
KRANKENHAUS<br />
Delir:<br />
lateinisch von<br />
„de lira“ = aus dem<br />
Gleis, der Furche<br />
oder der Spur geraten<br />
der<br />
Spur<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016 15
KRANKENHAUS<br />
OPERATIONEN<br />
Bis zu drei<br />
Viertel aller<br />
Intensivpatienten<br />
erleiden<br />
ein Delir<br />
Raum, umtriebig, mitunter sogar aggressiv<br />
– meist aber träge und teilnahmslos. Oft<br />
ist die Prognose nicht so gut, dass sie nach<br />
einem Delir wieder ganz gesund werden.<br />
Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko,<br />
dass das Delir den Allgemeinzustand derart<br />
verschlechtert, dass man nicht mehr auf<br />
die Beine kommt, oder gar stirbt. Unmittelbar<br />
in den Tod führt das Delir nicht, das<br />
macht die Sache problematisch. „Noch in<br />
den 1990er-Jahren hatten wir für dieses<br />
Erkrankung überhaupt keinen Namen“,<br />
erinnert sich Dr. Simone Gurlit. Sie ist als<br />
Anästhesistin heute mit einer halben Stelle<br />
in das Team integriert. „Als Ärztin im Praktikum<br />
habe ich erlebt, dass Patienten nach<br />
einer Narkose und eigentlich unproblematischen<br />
Operation plötzlich länger versorgt<br />
werden mussten. Uns war damals nicht<br />
klar, wie ungünstig das für den Patienten<br />
Das Setting macht’s!<br />
ist – das haben wir erst mit der Zeit realisiert.“<br />
Die Erkenntnis brachte die Idee,<br />
dass eine Lösung in der Prävention liegen<br />
könnte. Die Anästhesiologische Abteilung<br />
um Professor Dr. Michael Möllmann etablierte<br />
bereits 2003 ein Konzept zur Delir-<br />
Prävention in Münster. Delir ist mittlerweile<br />
ein populäres Thema geworden. Wie<br />
viele Klinken in Deutschland ihre Patienten<br />
speziell auf Delir nach Operationen<br />
untersuchen, ist nicht bekannt. Manche<br />
greifen auf ehrenamtliche Helfer zurück,<br />
die mit den Patienten lesen. Andere stützen<br />
sich auf die Umsetzung der Leitlinien<br />
zur Analgesie, Sedierung und zum Delir-<br />
Management, in denen das Delir allerdings<br />
nur am Rande erwähnt wird.<br />
Verkettung<br />
unglücklicher Umstände<br />
Dass die Umgebung Patienten bei der Genesung hilft, ist durch mehrere Studien belegt.<br />
Eine der ersten Untersuchungen (1984) basiert auf dem Vergleich zweier Patienten gruppen<br />
in Texas. Beide hatten identische OPs erlebt und waren anschließend in unterschiedlichen<br />
Zimmern untergebracht. Die Gruppe, die von ihrem Zimmer auf einen Park blickte,<br />
benötigte weniger Analgetika, wurde seltener depressiv und konnte schneller ent lassen<br />
werden als die Vergleichsgruppe, die auf eine Betonmauer starrte. Das Projekt „Healing<br />
Architecture“ der Charité in Berlin richtete dafür eigene Zimmer ein – mit angenehm<br />
gestalteten Decken, Möbeln und Medizingeräten. Die Produktlinie Linea von Dräger stützt<br />
mit optisch angenehmer Einbindung der notwendigen Versorgungsgeräte. Kombiniert zum<br />
Beispiel mit dem Noise Display SoundEar, Lautstärkeindikator zur Über wachung und<br />
Darstellung des Geräuschpegels, lässt sich ein Umfeld schaffen, das für den Patienten auch<br />
akustisch eine angenehme Umgebung schafft – und so den Stress reduziert.<br />
In den vergangenen Jahren ist die Erforschung<br />
des Phänomens vorangetrieben<br />
worden. Und doch wurden die genauen<br />
Prozesse des Delirs bis heute nicht vollständig<br />
entschlüsselt. Schätzungen<br />
zufolge entwickeln bis zu drei Millionen<br />
Deutsche jährlich ein Delir, einer aktuellen<br />
Studie des Vanderbilt University Medical<br />
Center in Nashville/Tennessee zufolge<br />
sogar drei Viertel aller Intensivpatienten.<br />
Das Statistische Bundesamt verzeichnete<br />
im Jahr 2014 mehr als 40.000 stationäre<br />
Fälle. „Da das Delir immer noch zusätzlich<br />
auf einen meist ohnehin schon vielfältigen<br />
Katalog an Erkrankungen und Symptomen<br />
kommt, wird es leider oft nicht<br />
dokumentiert“, erklärt Gurlit die Dunkelziffer.<br />
Wissenschaftler vermuten, dass<br />
Entzündungsstoffe diesen Zustand auslösen,<br />
die der Körper dann während einer<br />
schweren Erkrankung oder nach einem<br />
chirurgischen Eingriff ausschüttet. Diese<br />
Stoffe könnten die Blut-Hirn-Schranke<br />
überwinden und Gehirnzellen angreifen.<br />
Neue Studien belegen, dass die Narkosetiefe<br />
ebenso ursächlich an der Entwicklung<br />
eines Delirs beteiligt sein kann – je<br />
tiefer die Narkose, desto ungünstiger. Das<br />
intra operative Neuro monitoring mit speziellem<br />
Augenmerk auf sogenannte „Burst<br />
Suppression Muster“ – also Phasen regelmäßiger<br />
hoher Hirnaktivität, die sich mit<br />
dem Ausfall jeglicher Aktivität abwechseln<br />
– trägt deswegen zur Prävention bei.<br />
Zudem wurden Medikamente herausgefiltert,<br />
Benzodiazepine, die zwar im OP gern<br />
angewendet werden, um die Patienten zu<br />
beruhigen, sich aber als außergewöhnlich<br />
delirogen herausstellten.<br />
Vor allem scheint es die Kombination<br />
aus Ausnahmesituation, ungewohntem<br />
Umfeld und Veränderung der Wahrnehmung<br />
zu sein, die das Delir begünstigt.<br />
„Das Delir, ausgenommen das Alkoholentzugsdelir,<br />
trifft besonders häufig ältere,<br />
multimorbide Menschen“, sagt Simone<br />
Gurlit. Kleinere Kinder gelten auch als<br />
gefährdet, ihre Prognose sei aber ungleich<br />
besser. Gurlit engagierte sich mithilfe von<br />
Fördergeldern zunächst projektweise, später<br />
dann fest im Klinikalltag eingebunden,<br />
für die geriatrische Spezial behandlung<br />
chirurgischer Patienten. Das bedeute<br />
zum Beispiel, den Patienten nach der<br />
Ankunft im Krankenhaus zu begleiten:<br />
mit ihm im Zimmer anzukommen, ihm<br />
beim Auspacken zu helfen, ihn zum Röntgen<br />
zu bringen und eben auch in den Operationssaal.<br />
„Delir-Patienten haben einen<br />
erhöhten Betreuungsbedarf“, bekräftigt<br />
16 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
Orientierungshilfe:<br />
Körperkontakt hilft<br />
in der mitunter verwirrenden<br />
Krankenhaussituation<br />
– und zeigt:<br />
„Ich bin für dich da!“<br />
Anästhesistin mit Spezialauftrag:<br />
Dr. Simone Gurlit leitet das fünfköpfige Geriatrieteam<br />
am St. Franziskus-Hospital in Münster<br />
Engel aus Fleisch und Blut:<br />
Maria Domke ist für Patient Josef<br />
Kamps die Rettung aus dem Delir<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />
17
KRANKENHAUS<br />
OPERATIONEN<br />
Die Prävention<br />
wird zwar nicht<br />
bezahlt, doch<br />
sie rechnet sich<br />
Gurlit. „Wir können ja viele der für den<br />
Patienten ungünstigen Abläufe wie die<br />
ständig wechselnden Gesichter nicht verändern,<br />
erst recht nicht im perioperativen<br />
Bereich.“ Deshalb sei ihnen schnell klar<br />
geworden, dass es wohl am besten über<br />
Bezugspersonen funktioniere. Die Idee:<br />
„Wir etablieren ein Gesicht, das der Patient<br />
immer wieder sieht – und das ihm Halt<br />
gibt während seines stationären Aufenthalts.“<br />
Jemand, der sich auskenne, und<br />
auch zwei, drei Schritte vorausdenken<br />
kann. „Als wir anfingen, hießen wir ,Tüddeltruppe‘.<br />
Denn was wir im OP machen,<br />
während der Patient unter Teilnarkose<br />
operiert wird, ist ein wertschätzender und<br />
erklärender Umgang und basale Stimulation<br />
– effektives Betüddeln eben.“ Erfolge<br />
zeigten sich nicht nur in einer gesunkenen<br />
Delir-Rate, auch die Verweildauer der<br />
Patienten verkürzte sich. Und das, obwohl<br />
die Arbeit des Teams nicht mit den Krankenkassen<br />
abgerechnet werden kann. Wer<br />
kein Delir entwickelt, bleibt in der Regel<br />
innerhalb der Normzeit, die die Krankenversicherung<br />
für seine Erkrankung vorsieht.<br />
Ein Delir wird zwar nicht bezahlt,<br />
doch die ökonomische Rechnung ging auf.<br />
Infiltrierendes Wachstum<br />
Bereits zwei Wochen war Josef Kamps<br />
während seines ersten Aufenthalts im<br />
Delir, als Altenpflegerin Maria Domke<br />
zum ersten Mal an sein Bett trat und<br />
nach seiner Hand griff. „Es ist schwer, zu<br />
Menschen durchzudringen, die delirant<br />
sind“, sagt sie. Mit 68 Jahren gehörte<br />
Kamps nicht ins klassische Betreuungsschema<br />
des Geriatrieteams und war<br />
deswegen im Vorfeld weder mit neurologischen<br />
<strong>Test</strong>s gescreent noch begleitet<br />
worden. Das Kind war in den Brunnen<br />
gefallen – und ihre Aufgabe, es dort wieder<br />
herauszuholen. Dieser Prozess ist<br />
langwierig und erfordert Geduld. „Man<br />
muss den Patienten immer wieder ansprechen,<br />
sozial einbinden, ihm Orientierung<br />
geben, ihn in einen Tag-Nacht-Rhythmus<br />
bringen und auf die Ernährung achten.“<br />
Vier Wochen nach seinem Darminfarkt<br />
konnte der Rentner auf die Normal station<br />
verlegt werden. Domke begleitete ihn. Täglich<br />
treffen sich die Altenpflegerinnen im<br />
kleinen Besprechungsraum in der dritten<br />
Etage zur Dienstbesprechung, ansonsten<br />
sind sie im ganzen Haus unterwegs. Eine<br />
eigene Station gibt es nicht. Auf einem<br />
Whiteboard sind die Patienten aufgelistet.<br />
Hinter einem steht in roten Lettern: Delir.<br />
Alle anderen sind dank der erweiterten<br />
Fürsorge wohlauf. „Wir sehen natürlich bei<br />
Weitem nicht alle Patienten, von denen wir<br />
glauben, dass sie von unserer Hilfe profitieren“,<br />
gesteht Simone Gurlit. Bei rund<br />
24.000 Narkosen im Jahr sei das schwierig.<br />
„Die Idee ist infiltrierendes Wachstum,<br />
das muss weitergetragen werden.“ Gurlit<br />
hat die Aufgabe übernommen, anderen<br />
Krankenhäusern zu zeigen, wie ein gutes<br />
Delir-Management aussehen kann. Sie<br />
hält Vorträge, ermöglicht Hospitationen<br />
in der Klinik, verfasst Broschüren. Nebenbei<br />
betreibt sie Forschung, wie es gelingen<br />
könnte, Delir labordiagnostisch im Blut<br />
nachzuweisen. „Das würde vieles erleichtern“,<br />
sagt sie, „weil wir dann früher hellhörig<br />
werden.“ Noch aber stützt sich die<br />
Forschung auf die Veränderung der Neurotransmitter<br />
im Liquor, gewonnen durch<br />
Lumbal punktion. Josef Kamps wird noch<br />
einige Tage im Krankenhaus bleiben müssen,<br />
doch die nimmt er gern in Kauf. Auch,<br />
weil ihn seine Frau und die drei Kinder<br />
täglich besuchen, weil sein Knie wieder<br />
gesund wird und er dann erst einmal<br />
abschließen kann mit den Ereignissen.<br />
Delir bei Kindern<br />
Eines der größten neurologischen Probleme in der Kinderanästhesie betrifft das<br />
Aufwachen aus der Narkose. Je nach zugrunde gelegten Diagnosekriterien für ein<br />
Emergence Delirium (ED) sind zwei bis 80 Prozent der Kinder betroffen, gehäuft<br />
im Alter zwischen zwei und fünf Jahren. Es tritt in der Regel fünf bis 15 Minuten<br />
nach dem Aufwachen auf und kann bis zu zwei Tage dauern. Gekennzeichnet ist das<br />
ED vor allem von einer übermäßigen Agitation: Die Kinder sind auffallend unruhig<br />
und unkooperativ. In den meisten Fällen bleibt das ED ohne Folgen, in einigen jedoch<br />
führt es zu längerfristigen psychosozialen Störungen wie verstärkte Angst, Essstörungen<br />
oder Schlafproblemen. Besonders Kinder mit präoperativer Angst sind einer höheren<br />
Gefahr ausgesetzt. Ablenken und Angstreduktion sind deshalb oberstes Gebot.<br />
Ebenso wie die Wahl des richtigen Narkosemittels zur sanften Ausleitung begünstigt<br />
die absolute Schmerzfreiheit eine geringe Rate an Aufwachdelirien.<br />
LINKS UND LITERATUR<br />
Interdisziplinäres Delir-Netzwerk:<br />
www.delir-netzwerk.de<br />
Wolfgang Hasemann (Hrsg.): Akute<br />
Verwirrtheit – Delir im Alter. Praxishandbuch<br />
für Pflegende und Mediziner, Verlag Huber<br />
E. Wesley Ely, Valerie Page: Delirium<br />
in Critical Care, Cambridge Medicine<br />
18 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
HELP<br />
Geriatrieteam<br />
auf Abruf:<br />
Spezielle Schilder am<br />
Fußende der Krankenhausbetten<br />
weisen das<br />
Personal in Münster<br />
auf die besondere<br />
Fürsorge hin<br />
Als eine der ersten weltweit<br />
engagierte sich die US-Professorin<br />
Sharon K. Inouye an der Yale<br />
University School of Medicine in<br />
den 1990er-Jahren in der Delir-<br />
Prävention. Sie entwickelte das<br />
Hospital Elder Life Program<br />
(HELP), das sich an ältere Menschen<br />
während eines stationären<br />
Aufenthalts richtet. Es baut neben<br />
der gezielten interdisziplinären<br />
geriatrischen Delir-Diagnostik auf<br />
die Schulung von Fachkräften in<br />
der Delir- Prävention und -Therapie<br />
sowie den Einsatz von ehrenamtlichen<br />
Patientenbegleitern.<br />
www.hospitalelderlifeprogram.org<br />
Neurologische <strong>Test</strong>s:<br />
Kann der Patient eine Uhr<br />
richtig zeichnen? Ein simpler<br />
<strong>Test</strong> gibt Auskunft über<br />
seinen Delir-Status<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016 19
Rob, vier Jahre alt,<br />
Dalmatiner:<br />
riecht manchen<br />
Krebs – nach einem<br />
harten Training<br />
20 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
WISSENSCHAFT<br />
NATUR<br />
Auf den Hund<br />
Hunde können Krebs<br />
riechen – doch es braucht<br />
einen langen Atem, bis<br />
dieses besondere Talent der<br />
Tiere geweckt wird.<br />
gekommen<br />
Text: Hanno Charisius<br />
FOTOS: OLGA BILEVICH/THINKSTOCK, DRÄGERWERK AG & CO. KGAA<br />
S<br />
Sammy fängt an zu lecken, wenn er<br />
etwas Verdächtiges riecht. Das ist so seine<br />
Art. Der vier Jahre alte Harzer Fuchs,<br />
Schlag altdeutscher Hütehund, soll aber<br />
nicht nach Drogen, Sprengstoff oder gar<br />
nach Menschen suchen. Seine Besitzerin<br />
Liliana Fancsy aus Schleitheim bei<br />
Schaffhausen in der Schweiz trainiert<br />
ihn zurzeit darauf, Krebserkrankungen<br />
zu erkennen. Zusammen mit anderen<br />
Hundehaltern hat sie ein Ausbildungsprogramm<br />
entwickelt, das Vierbeiner<br />
zu medizinischen Assistenten umschulen<br />
soll.<br />
Seit langem ist bekannt, dass Hundenasen<br />
so fein sind, dass sie Krankheitsanzeichen<br />
in der Atemluft – aber auch<br />
in Blut, Speichel und Urin – wittern können.<br />
Doch es braucht eine lange Ausbildung,<br />
bis dieses besondere Talent der<br />
Tiere geweckt wird und bei der Früherkennung<br />
unterstützen kann. Dabei ist<br />
ein „Suchbalken“ das wichtigste Werkzeug.<br />
Eigentlich sind es zwei Meter<br />
lange Kabelkanäle aus dem Baumarkt,<br />
in die Fancsy und ihre Mitstreiter<br />
vom Verein „Krebsspürhunde Sektion<br />
Schweiz“ Löcher für die Probenhalter<br />
gebohrt haben. Kleine Reagenzgläser<br />
kommen in die Öffnungen, jeder Balken<br />
erhält fünf <strong>Test</strong>stellen – mehrere dieser<br />
Konstrukte aneinandergereiht bilden<br />
den Parcours.<br />
Ausbildung in fünf Schritten<br />
Die eigentliche Ausbildung unterteilt<br />
sich in fünf Phasen. Zunächst lernen die<br />
Hunde den Balken kennen. „Der Trainingsraum<br />
selbst ist für die Tiere uninteressant,<br />
denn hier gibt es nichts zum<br />
Jagen oder Spielen“, sagt die Trainerin.<br />
Daher versteckt sie zunächst Leckerli in<br />
einigen <strong>Test</strong>röhrchen und gibt den Hunden<br />
eine Probe davon zu schnuppern.<br />
Die legen dann los und suchen entlang<br />
des Balkens das, was genauso riecht.<br />
Spürt einer das Leckerli auf, bekommt<br />
er es direkt aus dem <strong>Test</strong>röhrchen. Das<br />
funktioniert aber nur, wenn der Hund<br />
sich auf diese Art der Arbeit einlässt –<br />
nicht alle Tiere mögen das. Im nächsten<br />
Schritt müssen sie die versteckten<br />
Futter happen ohne „Anriechen“ aufspüren.<br />
Die Belohnung kommt dann nicht<br />
mehr aus dem Röhrchen, sondern aus<br />
der Hand des Hundeführers. In dieser<br />
Phase wird ausschließlich nach Spürnasen<br />
gesucht, die mindestens 80 Prozent<br />
GERUCHSSPEICHER<br />
Dräger-Röhrchen sind dazu<br />
gemacht, Gase oder andere<br />
Luftverunreinigungen<br />
einzufangen und mit einem<br />
<strong>Test</strong>system messbar zu<br />
machen. Damit lassen sich<br />
gefährliche Stoffe in der<br />
Umgebungsluft aufspüren;<br />
eine wichtige Voraussetzung<br />
für die Arbeitssicherheit.<br />
Gase können von verschiedenen<br />
Materialien adsorbiert<br />
werden. Im Verein „Krebsspürhunde<br />
Sektion Schweiz“<br />
wird zurzeit mit Aktivkohle<br />
und Silicagel gearbeitet.<br />
Interessanterweise reagiert<br />
jeder Hund anders auf die<br />
verschiedenen <strong>Test</strong>materialien.<br />
Manche Tiere erkennen<br />
verdächtige Tumorgerüche<br />
zumindest zu Beginn der<br />
Ausbildung an einem der<br />
Adsorbermaterialien besser<br />
als am anderen. Mit der<br />
Zeit verschwinden diese<br />
Unterschiede.<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />
21
Das Training<br />
erfordert viel<br />
Verständnis –<br />
aber auch<br />
Freude und<br />
Motivation<br />
der versteckten Brocken gefunden<br />
haben – sie kommen in die nächste<br />
Runde. In der dritten Phase lernen die<br />
Vierbeiner zum ersten Mal den eigentlichen<br />
Zielgeruch kennen. Sie riechen<br />
an Dräger-Röhrchen, in denen der Atem<br />
von Lungenkrebspatienten eingefangen<br />
wurde. Die Geruchsstoffe aus den Proben<br />
haften entweder an Silicagel oder<br />
Aktivkohle. Durch die Vizepräsidentin<br />
des Vereins, die bei der Polizei arbeitet<br />
und die Dräger-Röhrchen von Atemalkoholmessungen<br />
kennt, wurde die<br />
Gruppe auf diesen Träger aufmerksam.<br />
Immer der Nase nach<br />
Einer der Trainer verteilt einige Röhrchen<br />
auf die Suchbalken, und die Hunde<br />
beginnen ihre Arbeit. Jeder Fund<br />
wird wieder mit einem Leckerli belohnt.<br />
Schließlich kommen Atemproben von<br />
gesunden Menschen hinzu. Wieder<br />
müssen die Tiere, die in der Ausbildung<br />
weiterkommen sollen, 80 Prozent der<br />
Proben von Krebspatienten richtig<br />
erkennen. „Das ist die Einsatzprüfung“,<br />
sagt Liliana Fancsy. Der Hundeführer<br />
weiß selber nie wo die Proben stecken,<br />
die Arbeit erfolgt „blind“. Dann wird es<br />
ernst: Die Hunde bekommen Proben zu<br />
riechen, die auch die Menschen noch<br />
nicht kennen. Wenn die ersten Tiere<br />
die Ausbildung komplett durchlaufen<br />
haben, will die Gruppe zudem Urin<br />
und Blutproben testen. Schließlich verändert<br />
nicht jede Krebsart den Geruch<br />
der Atemluft, doch selbst hier kann eine<br />
Hundenase den Krebs aufspüren. Nicht<br />
jeder Vierbeiner eignet sich zum Krebsspürhund.<br />
Die Anwärter dürfen nicht<br />
älter als sechs Jahre sein, müssen gut<br />
gehorchen und mit „Freude und Motivation<br />
bei der Arbeit sein“, erklärt Fancsy.<br />
Zudem seien ein ausgeprägtes Spiel- und<br />
Beuteverhalten sowie Konzentration<br />
und Ausdauer notwendig. Hohe Ansprüche<br />
werden auch an den Halter gestellt,<br />
denn das Aufspüren von Dingen, ob nun<br />
Krebsprobe, Droge oder Sprengstoff, ist<br />
immer auch eine enge Zusammenarbeit<br />
zwischen Mensch und Tier. „Viele Teams<br />
scheitern, weil der Mensch oft nicht ausreichend<br />
wahrnimmt, was der Hund<br />
macht – also die Körpersprache des Hundes<br />
nicht richtig versteht“, sagt die Trainerin.<br />
Man müsse subtile Signale interpretieren<br />
können und dem Tier Raum<br />
und Zeit geben, diese anzuzeigen. Man<br />
dürfe weder den Hund weiterschieben,<br />
noch hinter sich herziehen. Ein derart<br />
aufgebauter Hund wird an den Proben<br />
„kleben bleiben“, auch wenn sein<br />
Herrchen oder Frauchen weitergeht.<br />
Aus diesem Grund sind drei Trainingseinheiten<br />
pro Woche Pflicht. „Die Hunde<br />
zeigen auch unterschiedlich an. Wir<br />
verstärken, was die Tiere bieten“, sagt<br />
Fancsy. Manche kläffen oder werden<br />
unruhig, andere legen sich einfach hin.<br />
„Mein Job ist es, ihn nicht zu stören. Ich<br />
muss sein Verhalten interpretieren und<br />
darf ihn nicht verbiegen – dann ist die<br />
Chance am größten“, sagt Fancsy.<br />
Seit Jahren spüren sie und Sammy<br />
auch Menschen auf, etwa Patienten<br />
mit einer Demenz, die sich verlaufen<br />
FOTO: URS BEERLI<br />
Für uns nur ein Röhrchen,<br />
für den Hund mit seiner<br />
empfindlichen Nase dagegen<br />
ein ganzer Film. Welcher, das<br />
weiß man noch nicht genau.<br />
Doch er funktioniert nach dem<br />
Training am Duftbalken<br />
haben – oder Menschen, die nach einem<br />
Unfall unter Schock stehen und umherirren.<br />
Bis heute weiß niemand so genau,<br />
worauf die Hunde bei den Krebsproben<br />
ansprechen. „Das wüssten die Ärzte<br />
auch gern“, sagt Fancsy. Vermutlich<br />
werde es nie den einen Geruchsstoff<br />
geben, den man dem Krebs zuschreiben<br />
könne. Warum Hunde dennoch etwas in<br />
den Dräger-Röhrchen riechen, was für<br />
Menschen unmöglich ist, erklärt sie so:<br />
„Eine Tomaten soße riechen Menschen<br />
als ‚Soße‘, Hunde hingegen erschnüffeln<br />
jede einzelne Zutat. Dabei hat<br />
jeder Vierbeiner besondere Stärken –<br />
der eine erkennt leichter das Salz, der<br />
22 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
WISSENSCHAFT<br />
NATUR<br />
andere den Knoblauch.“ Es kann durchaus<br />
sein, dass nicht ein einzelner Stoff<br />
die Tiere anschlagen lässt, sondern eine<br />
Geruchsmischung, die nur im Atem<br />
von Patienten mit Lungentumor vorkommt.<br />
Krebs an der Bauchspeicheldrüse<br />
können Hunde ebenfalls am<br />
Atem erkennen, doch der hat vermutlich<br />
wieder eine andere Duftsignatur.<br />
In Großbritannien werden Hunde, die<br />
Prostata tumore anhand von Urinproben<br />
erkennen können, bereits im klinischen<br />
Einsatz erprobt.<br />
Zurzeit sind es 17 Tiere in der Ausbildungsgruppe,<br />
die Fancsy und ihre<br />
Kollegen ehrenamtlich betreuen. Ein<br />
offizielles Zertifikat gibt es nicht, genauso<br />
wenig wie Zulassungsauflagen von<br />
einer Behörde. Die Hundehalter arbeiten<br />
auf eigene Verantwortung. Fancsy<br />
betont, dass sie zunächst eine fundierte<br />
Ausbildung entwickeln wollen, bevor<br />
sie ihr Angebot öffentlich machen. Bis<br />
dahin findet man nur wenige Informationen<br />
über die Gruppe: „Sonst würden<br />
wir vermutlich von Anfragen überrannt<br />
werden.“ Derartige Trainingsgruppen<br />
gibt es auch in Deutschland und Österreich.<br />
Die Schweizer arbeiten in<br />
drei Regionalgruppen, die sich zum<br />
Abschluss der Ausbildung gegenseitig<br />
prüfen werden. Eines ist Fancsy besonders<br />
wichtig: „Wir stellen keine Diagnose,<br />
sondern bieten nur einen <strong>Test</strong>, der<br />
eine Empfehlung gibt, sobald jemand<br />
zum Arzt gehen sollte.“<br />
Auf eine Hundenase verlassen sie<br />
sich dabei nicht. Insgesamt fünf vierbeinige<br />
Schnüffler müssen eine verdächtige<br />
Probe anzeigen, bis eine Warnung<br />
ausgesprochen wird.<br />
1 Nasenhöhle<br />
2 Riechepithel<br />
3 Riechkolben<br />
4 Gehirn<br />
5 Riechzellen<br />
1<br />
6 Siebbein<br />
7 Glomeruli<br />
8 Mitralzellen<br />
3<br />
2 4<br />
So riecht der Hund<br />
Der Mensch macht sich hauptsächlich über seine Augen ein Bild von der Welt.<br />
Bei Hunden spielt der Geruchssinn eine wesentliche Rolle. Er ist etwa eine Million<br />
Mal stärker ausgeprägt als bei den Zweibeinern. Deren Riechmembran verfügt über<br />
fünf Millionen Riechzellen auf drei Quadratmetern, beim Schäferhund sind es<br />
220 Millionen auf 150 Quadratmetern. Zehn Prozent seiner Gehirnleistung nutzt der<br />
Hund zur Verarbeitung der Geruchsinformationen, der Mensch nur ein Prozent.<br />
Und so funktioniert der Geruchssinn des Hundes ganz generell: Beim Einatmen<br />
gelangen die im Schleim der Nasenhöhle gelösten Duftstoffmoleküle zu den Riechzellen<br />
des Riechepithels. Deren Rezeptoren sprechen auf jeweils nur eine einzige Duftkomponente<br />
an. Beim Menschen sind es rund 350 verschiedene, beim Hund jedoch etwa<br />
1.000, die wie das System von Schlüssel und Schloss funktionieren. Duftrezeptoren<br />
setzen den Geruch in ein elektrisches Signal um, sodass diese Informationen über den<br />
Riechkolben in Glomeruli zusammengefasst und in spezielle Hirnzellen (Mitralzellen)<br />
weitergeleitet werden können. Von dort aus fließen die Informationen zur weiteren<br />
Verarbeitung in höhere Hirnzentren. Hunde riechen bei intensiver Nasenarbeit mit bis zu<br />
300 Riechstößen je Minute und nehmen Düfte räumlich wahr. Dadurch erkennen sie<br />
auch Konzentrationsunterschiede.<br />
Elektronische Nasen<br />
Was Hunden scheinbar spielend gelingt, schaffen Maschinen bis heute nicht zufriedenstellend.<br />
Erst seit einigen Jahren gibt es elektrochemische Gassensoren, die<br />
für bestimmte Gase zuverlässig funktionieren. Doch die Identifizierung verschiedener<br />
Geruchsstoffe ist für sie eine große Herausforderung und hängt von vielen Faktoren wie<br />
Lufttemperatur und -feuchtigkeit ab. Immerhin lassen sich zudem bereits einige<br />
Krankheiten damit diagnostizieren. Allergisches Asthma etwa, das sich bei vielen Patien ten<br />
durch einen erhöhten Stickstoffmonoxidgehalt in der Atemluft verrät.<br />
Elektronische Nasen können zwar auch Stoffe wahrnehmen, die dem menschlichen<br />
Geruchsorgan entgehen, doch sie sind Spezialisten. Die menschliche Nase als Alleskönner<br />
hingegen bietet etwa 350 verschiedene Sorten von Riechzellen, die auf unterschiedliche<br />
Gerüche spezialisiert sind. In elektronischen Nasen müssen diese Aufgaben jeweils<br />
einzeln spezialisierte Sensoren übernehmen. Daneben gibt es noch Gaschromatografen,<br />
die sehr präzise Stoffe messen können. Doch mit denen kann man nur arbeiten,<br />
wenn man weiß, wonach man sucht. Um Krebs aufzuspüren, sind sie deshalb zurzeit<br />
noch nutzlos, da niemand die molekulare Geruchssignatur von Tumoren kennt.<br />
5<br />
7<br />
8<br />
6<br />
QUELLE: UNIVERSITÄT HEIDELBERG<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />
23
Wenn weniger<br />
Der Chef der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und<br />
Schmerztherapie am Frankfurter Universitätsklinikum, Professor<br />
Dr. Dr. Kai Zacharowski, kämpft für einen überlegteren Umgang mit<br />
Blutkonserven – und ruft zu einem radikalen Umdenken auf.<br />
Text: Dr. Hildegard Kaulen Fotos: Patrick Ohligschläger<br />
Blut sei ein ganz<br />
besonderer Saft, sagte<br />
schon Mephistopheles<br />
in Goethes Faust. Recht<br />
hatte er, denn mit dem Blut<br />
verrinnt auch das Leben<br />
24<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
BLUTTRANSFUSIONEN<br />
GESUNDHEIT<br />
mehr ist<br />
BBlutkonserven retten Leben, aber sie<br />
sind auch begehrte Handelsware. Im vergangenen<br />
Jahr wurden allein in Deutschland<br />
3,5 Millionen Konserven mit roten<br />
Blutkörperchen übertragen. Die Kliniken<br />
zahlten dafür weit mehr als eine halbe Milliarde<br />
Euro. Fremdblut ist für viele Patienten<br />
ein Segen, aber es mutet ihnen auch<br />
einen erheblichen Stress zu. Die medizinische<br />
Leitlinie zur Therapie mit Blutkom-<br />
ponenten und Plasmaderivaten empfiehlt<br />
daher, Blutkonserven nur dann zu nutzen,<br />
wenn es keine gleichwertige Therapie gibt.<br />
In vielen Fällen gibt es aber Alternativen.<br />
„Wir transfundieren seit 50 Jahren<br />
großzügig und unreflektiert“, sagt<br />
Professor Dr. Dr. Kai Zacharowski, „statt<br />
uns stärker dafür einzusetzen, vermeidbare<br />
Transfusionen auch tatsächlich<br />
zu vermeiden. Etwa, indem wir eine<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016 25
GESUNDHEIT<br />
BLUTTRANSFUSIONEN<br />
Dr. Gudrun<br />
Hintereder ist<br />
Fachärztin für<br />
Laboratoriumsmedizin<br />
und leitet<br />
das Zentrallabor<br />
am Universitäts -<br />
klinikum Frankfurt<br />
32 Kliniken, 20 Forschungsinstitute:<br />
Das Universitätsklinikum Frankfurt zählt zu<br />
den größten und wichtigsten Zentren im<br />
Rhein-Main-Gebiet. Mit über 100 ärztlichwissenschaftlichen<br />
Mitarbeitern und mehr<br />
als 150 Pflegekräften sowie nicht-ärztlichen<br />
Mitarbeitern ist die Klinik für Anästhesiologie,<br />
Intensivmedizin und Schmerz therapie<br />
um Prof. Dr. Dr. Kai Zacharowski die<br />
größte Abteilung. Hier werden jährlich rund<br />
30.000 Narkosen im Rahmen großer und<br />
kleiner Operationen sowie diagnostischer<br />
Prozeduren bei Patienten jeden Alters<br />
durchgeführt – mithilfe modernster Geräte,<br />
unter anderem von Dräger<br />
bestehende Anämie vor einer größeren<br />
Operation behandeln.“ Zacharowski<br />
setzt sich seit Jahren für ein Blutmanagement-<br />
Programm ein. Eine Studie<br />
mit 130.000 Patienten unter der Leitung<br />
von Zacharowski und dem leitenden<br />
Oberarzt Prof. Dr. Patrick Meybohm zeigte<br />
unlängst, dass das Programm nicht<br />
nur sicher und gleichwertig gegenüber<br />
der bisherigen Vorgehensweise ist, sondern<br />
dass sich dadurch auch jede fünfte<br />
Blutkonserve einsparen lässt. Zudem<br />
ereilte die Patienten damit seltener ein<br />
akutes Nierenversagen. Das Programm<br />
firmiert hierzulande unter englischem<br />
Namen: „Patient Blood Management“<br />
und benennt jene Maßnahmen, die eine<br />
Transfusion überflüssig machen, ohne<br />
den Patienten zu gefährden. Zu den Vorreitern<br />
zählen neben dem Universitätsklinikum<br />
Frankfurt auch die Universitätskliniken<br />
in Bonn, Kiel und Münster.<br />
Anämie ist ein globales Problem, jeder<br />
dritte Mensch ist davon betroffen. Die<br />
meisten wissen gar nicht, dass sie eine Blutarmut<br />
haben, weil sich der Alltag gerade<br />
mit der leichten Form dieser Erkrankung<br />
in der Regel gut meistern lässt.<br />
Massenphänomen Blutarmut<br />
Kritisch wird es allerdings, wenn eine<br />
größere Operation ansteht. „Dann gibt<br />
es eigentlich nur zwei Möglichkeiten“,<br />
sagt Zacharowski. „Entweder diagnostizieren<br />
die Ärzte die Anämie und behandeln<br />
sie vorab, was meistens mit der<br />
Gabe von Eisen möglich ist, oder sie<br />
operieren den Patienten ohne Anämiediagnostik<br />
und -therapie und geben ihm<br />
eine Blutkonserve mit roten Blutkörperchen.<br />
Diese Transfusion aber ist eindeutig<br />
vermeidbar, weil es mit der Vorab-<br />
Behandlung der Anämie eine Alternative<br />
gegeben hätte.“<br />
Hinter einer Blutarmut steht der Mangel<br />
an roten Blutkörperchen, die für den<br />
Transport des Sauerstoffs zuständig sind.<br />
Ein Milliliter Blut enthält Milliarden roter<br />
Blutkörperchen (Erythrozyten). Mit einer<br />
Blutkonserve wird der Mangel ausgeglichen.<br />
Allerdings sind damit auch Risiken<br />
verbunden. Blut ist ein Organ, und jede<br />
Transfusion von Fremdblut ist praktisch<br />
wie eine kleine Transplantation, die das<br />
Immunsystem belastet. Sie erhöht auch das<br />
Risiko, sich mit einem Krankenhauskeim<br />
anzustecken sowie einen Herzinfarkt oder<br />
einen Schlaganfall zu erleiden. Das frühere<br />
Risiko, sich mit HIV oder Hepatitis C anzustecken,<br />
ist heute nahezu ausgeschlossen.<br />
Zacharowski und Meybohm können<br />
nicht verstehen, warum Anämien vor<br />
einer Operation nicht konsequent diagnostiziert<br />
und behandelt werden. Viele<br />
Studien hätten schließlich gezeigt, dass<br />
Blutarmut an sich ein Risikofaktor für<br />
26 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
Flüssiges Organ<br />
Blut ist nicht nur ein besonderer<br />
Saft, sondern tatsächlich ein Organ.<br />
Jeder Erwachsene hat<br />
5 bis 6 Liter Blut. Bis zu<br />
10.000 Liter pumpt der<br />
Herzmuskel jeden Tag<br />
mit ein bis vier Stundenkilometern<br />
durch das<br />
100.000 Kilometer lange<br />
Gefäßsystem. Es dauert<br />
etwa eine Minute, bis<br />
das Blut einmal durch<br />
alle Gefäße geströmt ist.<br />
Prof. Dr. Anton Moritz, Leiter der Klinik für Thorax-,<br />
Herz- und Thorakale Gefäßchirurgie am Universitätsklinikum<br />
Frankfurt operiert einen Patienten am Herzen<br />
Wirtschaftlicher<br />
Druck birgt<br />
Risiken<br />
weiße<br />
Blutkörperchen<br />
rote Blutkörperchen<br />
Blutplättchen<br />
Blutplasma<br />
eine höhere Sterblichkeit nach der Operation<br />
ist – unabhängig davon, wie krank<br />
der Patient ist. „Bei einer mittelschweren<br />
Anämie ist die Sterblichkeit fünffach<br />
erhöht, bei einer schweren Anämie bis zu<br />
fünfzehnfach“, sagt Zacharowski. „Ärzte<br />
müssen den Patienten über dieses Risiko<br />
aufklären!“ Das unterlassen sie aber<br />
offensichtlich häufig. Zudem diagnostizieren<br />
und behandeln sie auch nicht die<br />
Anämie, sondern operieren gleich und<br />
geben bei Bedarf Fremdblut.<br />
Falsches Anreizsystem<br />
Die Ursachen für dieses Verhalten sehen<br />
die Frankfurter Ärzte in eingefahrenen<br />
Denkmustern und dem wirtschaftlichen<br />
Druck. In der industrialisierten Welt ist<br />
Blut eine sichere und überall verfügbare<br />
Ressource. Viele Kliniken haben kein<br />
Interesse daran, eine geplante Operation<br />
für die Dauer einer Anämiebehandlung<br />
aufzuschieben. Manche befürchten sogar,<br />
dass Patienten beim nächsten Mal in eine<br />
andere Klinik überwiesen werden, in der<br />
man sie zeitnah operiert. „Wir haben in<br />
Deutschland keine Wartelisten für planbare<br />
Operationen, weil genügend Kapazitäten<br />
vorhanden sind – und mit den DRGs<br />
auch ein falsches Anreizsystem, weil jeder<br />
Fall zählt“, sagt Zacharowski. In England<br />
sei das anders gewesen. Zacharowski war<br />
vor seinem Wechsel an das Frankfurter<br />
Universitätsklinikum einige Jahre Chefarzt<br />
an der Universitätsklinik in Bristol.<br />
Dass die Operationsvorbereitung hierzulande<br />
nicht klar geregelt ist, halten<br />
die Ärzte für nachrangig. Diagnostik und<br />
Behandlung der Anämie könnten vom<br />
Hausarzt, vom einweisenden Facharzt<br />
oder von der operierenden Klinik vorgenommen<br />
werden. „Die Vorbereitung muss<br />
finanziert und organisiert werden, aber<br />
beides lässt sich machen, wenn der Wille<br />
Ein Tropfen Blut enthält rund<br />
5 MILLIONEN<br />
rote Blutkörperchen, aber nur<br />
9.000<br />
weiße.<br />
15 Prozent<br />
seines Blutes kann man verlieren,<br />
ohne ernsthaft Schaden zu nehmen.<br />
Bei einem akuten Verlust von<br />
30 Prozent ohne Ausgleich werden<br />
die Organe nicht mehr ausreichend<br />
durchblutet; bei 50 Prozent stirbt man.<br />
ILLUSTRATION: PICFOUR, QUELLE: THINKSTOCK<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />
27
GESUNDHEIT<br />
BLUTTRANSFUSIONEN<br />
Massenphänomen: Jeder dritte Mensch soll<br />
von einer Blutarmut betroffen sein – dahinter<br />
steckt ein Mangel an roten Blutkörperchen, der<br />
mit Blutkonserven ausgeglichen werden kann<br />
da ist“, findet Meybohm. Weil es daran<br />
offensichtlich mangelt, suchen die beiden<br />
Wissenschaftler auch die politische<br />
Bühne. Sie wünschen sich eine gesetzliche<br />
Regelung, nach der sich Patienten<br />
vier Wochen vor einem geplanten Eingriff<br />
einem Anästhesisten vorstellen müssen,<br />
damit eine mögliche Anämie geklärt und<br />
behandelt wird. In Frankfurt gibt es dafür<br />
eine eigene Ambulanz. Die beiden Ärzte<br />
haben auch gezeigt, dass diese Vorgehensweise<br />
kosteneffektiv sein kann: Hinsichtlich<br />
der direkten Kosten seien Diagnostik<br />
und Behandlung der Anämie günstiger als<br />
die Transfusion einer Blutkonserve.<br />
Viele Maßnahmen sind möglich<br />
Die Diagnostik und Behandlung der Anämie<br />
ist nur eine Säule des Patient Blood<br />
Managements. Es soll auch dafür sorgen,<br />
dass der Patient weniger Blut verliert –<br />
etwa, wenn Blutproben für das Labor<br />
abgenommen werden. Die hierfür genutzten<br />
Röhrchen sind standardisiert, müssen<br />
aber nicht bis ins obere Drittel gefüllt werden.<br />
Oft genügt eine deutlich kleinere Menge<br />
zur Bestimmung der Laborwerte. „Wer<br />
eine Woche auf der Intensivstation liegt,<br />
verliert allein durch die übliche Diagnostik<br />
bis zu einem halben Liter Blut, mitunter<br />
sogar mehr“, sagt Meybohm. „Schwerkranke<br />
können diese Menge nicht so einfach<br />
ausgleichen. Wir nehmen weniger Blut ab,<br />
bestimmen nur dann Laborwerte, wenn es<br />
klinische Anzeichen für eine Änderung gibt,<br />
und auch nur die Werte, die tatsächlich<br />
nötig sind.“ Schon während der Operation<br />
wird dafür gesorgt, dass der Patient weniger<br />
Blut verliert – etwa durch einen kleineren<br />
Hautschnitt oder blutsparende Operationstechniken.<br />
Das anfallende Wundblut<br />
wird zudem gesammelt, aufbereitet und<br />
dem Patienten zurückgegeben. Blutverluste<br />
ließen sich auch durch ein gutes Gerin-<br />
nungsmanagement vermeiden. Die dritte<br />
Säule ist ein sorgfältigerer Einsatz der Blutkonserven.<br />
„Patienten können ein gewisses<br />
Maß an Blutarmut tolerieren und kompensieren“,<br />
sagt Zacharowski. „In Deutschland<br />
gibt es aber einen Reflex, bei einem niedrigen<br />
Hämoglobinwert sofort zu transfundieren.<br />
Im Grunde behandeln wir eine Zahl,<br />
nicht aber den Patienten als Individuum.“<br />
Studie belegt Vorteile<br />
Dabei sagen die Leitlinien explizit, dass<br />
neben der gemessenen Hämoglobinkonzentration<br />
noch andere Kriterien für<br />
eine rationale Indikationsstellung herangezogen<br />
werden müssen. Zacharowski<br />
und Meybohm entwickelten daher aus<br />
der Querschnitts-Leitlinie der Bundesärztekammer<br />
eine Transfusionstrigger-<br />
Checkliste, die ihren Kollegen bei einer<br />
rationalen Indikationsstellung hilft. Dass<br />
das Patient Blood Management der tra-<br />
28 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
„Jede Klinik<br />
sollte das<br />
umsetzen, was<br />
möglich ist –<br />
und versuchen,<br />
immer besser<br />
zu werden“<br />
Prof. Dr. Patrick Meybohm,<br />
Leitender Oberarzt am<br />
Universitätsklinikum Frankfurt Blutspende in<br />
Deutschland<br />
ditionellen Vorgehensweise keinesfalls<br />
unterlegen ist, haben Meybohm und seine<br />
Kollegen mit einer klinischen Studie<br />
gezeigt, an der 130.000 Probanden<br />
teilnahmen. Das neuartige Programm<br />
gefährdet demnach keine Patienten, da<br />
sich weder die Sterblichkeit im Krankenhaus<br />
noch die Anzahl neu aufgetretener<br />
Herz infarkte, Schlaganfälle, Lungenentzündungen<br />
und Sepsiserkrankungen<br />
ändert. Als wichtiger Pluspunkt ist auch<br />
zu werten, dass unter diesem Programm<br />
weniger Patienten ein akutes Nierenversagen<br />
entwickelt haben. Die Ergebnisse<br />
wurden im Fachjournal „Annals of<br />
Surgery“ veröffentlicht. Noch gibt es allerdings<br />
keine Langzeitergebnisse, das gilt<br />
auch für die gängige Transfusions praxis.<br />
„Wir transfundieren seit 50 Jahren, ohne<br />
je den Nachweis erbracht zu haben, dass<br />
das, was wir da tun, auch gut ist“, sagt<br />
Zacharowski. „Wir haben nur das Produkt<br />
Prof. Dr. Dr. Kai<br />
Zacharowski (links)<br />
und Prof. Dr. Patrick<br />
Meybohm setzen sich für<br />
einen anderen Umgang mit<br />
der Ressource Blut ein<br />
‚Blut‘ über die Jahre besser gemacht.“ Der<br />
Chefarzt plädiert deshalb für ein Transfusionsregister,<br />
mit dem sich der Erfolg des<br />
Patient Blood Managements belegen ließe.<br />
In Deutschland haben sich inzwischen<br />
weit über 100 Kliniken diesem Programm<br />
angeschlossen. Anfang 2016 belegte es<br />
sogar den ersten Platz beim „Deutschen<br />
Preis für Patientensicherheit“. „Das<br />
Patient Blood Management beinhaltet<br />
ein ganzes Bündel an Maßnahmen“, resümiert<br />
Meybohm. „Jede Klinik sollte das<br />
umsetzen, was möglich ist – und versuchen,<br />
immer besser zu werden.“ Letztlich<br />
wird kein Weg an einem sparsameren<br />
Umgang mit der Ressource Blut vorbeigehen.<br />
Die Patienten werden immer älter<br />
und kränker, was einen steigenden Bedarf<br />
nach sich zieht, während die Zahl der<br />
Blutspender seit Jahren zurückgeht. Das<br />
Patient Blood Management hilft, mit weniger<br />
Blutspenden zurechtzukommen.<br />
In Deutschland spenden jährlich etwa<br />
zwei Millionen Menschen Blut. Nach der<br />
gesetzlichen Vorgabe müssen diese<br />
Spenden freiwillig und unentgeltlich sein.<br />
Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) zahlt<br />
den Spendern kein Geld. Private Unternehmen,<br />
Unikliniken und die Pharmaindustrie<br />
zahlen eine Aufwandsentschädigung in<br />
Höhe von 15 bis 25 Euro pro Spende.<br />
Das DRK sammelt rund 80 Prozent der<br />
Spenden ein und reinvestiert die<br />
Ein nah men, um gemeinnützig zu bleiben.<br />
In Deutschland sind Blutkonserven<br />
günstiger als in vielen anderen Ländern,<br />
weil das DRK wegen seiner Gemeinnützigkeit<br />
und der dominierenden Marktstellung<br />
die Preise vergleichsweise niedrig<br />
hält. Aus den Vollblutspenden werden<br />
ein Konzentrat aus roten Blutkörperchen,<br />
ein Präparat aus Blutplasma und ein<br />
Konzen trat aus Blutplättchen hergestellt.<br />
Das Blutplasma geht hauptsächlich an<br />
die pharmazeutische Industrie, die es zur<br />
Herstellung von Medikamenten nutzt.<br />
LITERATUR<br />
Patrick Meybohm et al.<br />
Patient Blood Management is Associated<br />
With a Substantial Reduction of Red Blood<br />
Cell Utilization and Safe for Patient’s Outcome.<br />
2016. Annals of Surgery, 264: 203–211<br />
INTERNET<br />
Patient Blood Management<br />
http://www.patientbloodmanagement.de<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />
29
GESUNDHEIT<br />
FRÜHGEBORENENMEDIZIN<br />
Erkenntnisse<br />
aus frühen Jahren<br />
Eine kanadische Langzeit studie<br />
zeigt, dass die meisten der<br />
zwischen 1977 und 1982 im McMaster<br />
Hospital in Hamilton geborenen<br />
Extrem-Frühchen heute selbstständig<br />
leben und arbeiten.<br />
Text: Dr. Hildegard Kaulen<br />
Fotos: Patrick Ohligschläger<br />
F<br />
Für manche beginnt das Leben dramatisch. Wer zehn, zwölf<br />
oder sechzehn Wochen zu früh das Licht der Welt erblickt, muss<br />
als Erstes mit seinem unreifen Organsystem zurechtkommen.<br />
Gehirn, Herz, Lunge und Verdauungstrakt sind noch nicht auf<br />
das Leben außerhalb der Gebärmutter vorbereitet. Frühgeborene<br />
haben zu wenig Fettgewebe, um ihre Körpertemperatur aufrechtzuerhalten.<br />
Ihre Haut ist zu dünn, um als Verdunstungsschutz<br />
zu dienen – sie brauchen eine Art Rettungskapsel, die sie<br />
wärmt, schützt und möglichst unbehelligt sowie in engem Kon-<br />
30 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
FRÜHGEBORENENMEDIZIN<br />
GESUNDHEIT<br />
Paulina ist hier<br />
schon sechs Tage<br />
alt – geboren am<br />
20. August 2016 in<br />
der 30. Schwangerschaftswoche<br />
im<br />
Universitätsklinikum<br />
Schleswig-Holstein,<br />
Campus Lübeck.<br />
Eine hoffnungsvolle<br />
Handvoll Mensch<br />
FOTO: PRIVAT<br />
Dr. Saroj Saigal<br />
begleitet an der<br />
McMaster University<br />
in Hamilton, Kanada,<br />
seit fast 40 Jahren<br />
Frühgeborene<br />
takt mit den Eltern das nachholen lässt, was sie durch ihren allzu<br />
frühen Start ins Leben versäumt haben. Zudem brauchen<br />
Frühchen Hilfe beim Atmen, eine Ernährung, die ihr unreifer<br />
Magen verträgt, aber auch Schutz vor Infektionen.<br />
Kommt ein extrem frühgeborenes Kind zur Welt, interessiert<br />
die Eltern vor allem wie es sich entwickeln wird und ob es<br />
ein selbständiges Leben führen kann. Die Kanadierin Saroj Saigal<br />
von der McMaster University in Hamilton, Ontario, begleitet<br />
seit fast vierzig Jahren Menschen, die zwischen 1977 und 1982<br />
mit weniger als 1.000 Gramm und vor der 30. Schwangerschaftswoche<br />
zur Welt gekommen sind. Diese Jahrgänge fallen in die<br />
Anfangsphase der Frühgeborenenmedizin, als man erstmals<br />
begann, Extrem-Frühgeborene als Patienten zu betrachten –<br />
und nicht als bedauernswerte Geschöpfe, denen kaum zu helfen<br />
ist. Damals waren Inkubatoren noch reine Brutkästen, beatmet<br />
wurde mechanisch. Es gab auch noch keine familienzentrierte<br />
und entwicklungsfördernde Betreuung. Die Ärzte mussten erst<br />
einmal lernen, den Frühchen Blut abzunehmen. Einige Vitalfunktionen<br />
wurden über die Haut beurteilt, eine Blaufärbung<br />
bedeutete nichts Gutes. Es dauerte noch Jahre bis zur Einführung<br />
des „Surfactants“, mit dem die unreifen Lungen geöffnet<br />
werden. Der Blick auf die kanadische Gruppe ist somit auch ein<br />
Blick auf die Anfänge.<br />
Schwieriger Start ins Leben<br />
Wie ist es den von Dr. Saroj Saigal begleiteten Männern und<br />
Frauen ergangen? Die Kanadierin hat kürzlich 100 der ursprünglich<br />
166 Frühgeborenen wieder untersucht – zum sechsten Mal.<br />
Es zeigte sich: Im Alter von drei Jahren hatten 28 Prozent der<br />
kanadischen Extrem-Frühchen Behinderungen, die fortdauern.<br />
Einige entwickelten eine Zerebralparese, die Bewegungsstörungen<br />
verursacht. Andere sind auf einem oder auf beiden Augen<br />
blind, weil die Blutgefäße in der Netzhaut zu unreif waren, oder<br />
weil sie zu viel Sauerstoff bei der Beatmung erhalten hatten.<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />
31
GESUNDHEIT<br />
FRÜHGEBORENENMEDIZIN<br />
Extrem-<br />
Frühgeborene<br />
sind seltener<br />
alkohol- und<br />
drogenabhängig<br />
FOTOS: PRIVAT(3)<br />
John Guise wog 965 Gramm, als er<br />
1979 nach nur 26 Schwangerschaftswochen<br />
zur Welt kam. Der Journalist lebte zehn<br />
Jahre in Shanghai und spricht Mandarin.<br />
Zusammen mit seiner chinesischen<br />
Frau hat er eine Tochter. Er ist auf einem<br />
Auge blind (Retinopathie)<br />
Amanda McInnis, geboren 1979<br />
nach 24 Wochen Schwangerschaft mit<br />
740 Gramm. Das Foto zeigt sie im Inkubator.<br />
Heute ist sie erfolgreiche Rechtsanwältin<br />
und betreibt seit zehn Jahren eine<br />
eigene Kanzlei. Bis auf Sehstörungen<br />
geht es ihr gesundheitlich gut<br />
Auch das Monitoring war damals noch nicht so weit entwickelt.<br />
Einige haben Schwierigkeiten beim Hören oder weisen eine<br />
andere Behinderung auf. Im Alter von fünf Jahren zeigte sich<br />
eine deutliche Entwicklungsverzögerung. Viele der Extrem-<br />
Frühchen konnten über längere Zeit nicht aufmerksam bleiben.<br />
Mit acht Jahren kämpften 58 Prozent mit Lernschwierigkeiten,<br />
brauchten Unterstützung in der Schule oder mussten eine<br />
Klasse wiederholen. Der Intelligenzquotient der zu früh geborenen<br />
Gruppe lag rund 13 IQ-Punkte unter dem der Vergleichsgruppe.<br />
Mit 12 bis 16 Jahren gingen die Aufmerksamkeitsstörungen<br />
wieder zurück, doch die Lernschwierigkeiten dauerten an.<br />
Mit 24 Jahren sah es so aus, als ob sich die Unterschiede beim<br />
Übergang ins Erwachsenenalter ausgeglichen hätten. 82 Prozent<br />
der Frühgeborenen und 87 Prozent der Reifgeborenen hatten<br />
zu diesem Zeitpunkt einen Highschool-Abschluss. Es zeigten<br />
sich auch keine großen Unterschiede bei der Beschäftigungsrate,<br />
dem Leben in Selbstständigkeit, dem Ehestand oder der<br />
Elternschaft. „Bedenkt man, dass diese Männer und Frauen zu<br />
den ersten intensivmedizinisch betreuten Extrem-Frühchen mit<br />
weniger als 1.000 Gramm gehörten, dann ist das ein erstaunliches<br />
Ergebnis“, sagt Saigal.<br />
Weniger Einkommen, seltener gebunden<br />
Heute, mit Ende Dreißig, ist die Diskrepanz allerdings wieder<br />
gewachsen. Die Extrem-Frühgeborenen blicken zwar auf ähnliche<br />
Bildungsabschlüsse zurück und pflegen vergleichbar gute<br />
Beziehungen wie die reifgeborene Vergleichsgruppe, haben aber<br />
seltener einen Job, sind öfter Single, haben seltener Kinder, zeigen<br />
weniger Selbstbewusstsein, brauchen eher Unterstützung<br />
und haben mehr gesundheitliche Probleme. Und sie verdienen<br />
im Schnitt rund 30 Prozent weniger als die Männer und Frauen<br />
der Vergleichsgruppe. „Von den Reifgeborenen sind 92 Prozent<br />
beschäftigt, von den Extrem-Frühgeborenen 81 Prozent“, sagt<br />
Saigal. „Trotz des signifikanten Unterschieds führen die meis-<br />
32 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
Känguruhing: Diese Methode zeichnet sich durch den Hautkontakt zwischen dem Kind,<br />
hier Paulina, und seinen Eltern aus – sie fördert die Eltern-Kind-Beziehung. Dabei schüttet<br />
die Mutter das Hormon Oxytocin aus, das als Schlüsselhormon unter anderem für die<br />
Entwicklung der Mutter-Kind-Bindung gesehen wird. Der frühzeitige Aufbau einer engen<br />
Bindung ist wichtig für die psychosoziale und emotionale Entwicklung des Kindes<br />
Andrew Jonkman nahm 2010 an den<br />
Paralympics in Vancouver im Rollstuhlcurling<br />
teil. Mit 950 Gramm wurde er<br />
1982 nach 27 Schwangerschaftswochen<br />
geboren. Trotz Zerebralparese betreibt<br />
er zudem Sledge-Eishockey – Eishockey<br />
auf zweikufigen Schlitten<br />
Technik immer mehr im Hintergrund<br />
Die Frühgeborenenmedizin hat sich in den vergangenen Jahrzehnten<br />
grundlegend gewandelt. Heute unterstützen Neonatologen<br />
die Organe des unreifen Kindes. Sie ersetzen die Lunge<br />
möglichst nicht mehr durch invasive Technik und zwingen dem<br />
Frühchen keinen festen Atemrhythmus mehr auf, sondern helfen<br />
ihm durch ein innovatives respiratorisches Management bei<br />
seinen Atembemühungen. Spezielle Geburtskliniken, sogenannte<br />
Perinatalzentren, passen sich mittlerweile auch dem Rhythmus<br />
des unreifen Kindes an und dämpfen Licht wie Lautstärke des<br />
Umfelds. Blut wird den Frühgeborenen meist nur dann abgenommen,<br />
wenn sie wach sind – und nicht, wenn es am besten<br />
in den Arbeitsablauf passt. Heute werden Eltern auch viel stärker<br />
eingebunden. Früher durften sie ihr Kind in vielen Kliniken<br />
wochenlang nicht berühren und nur hin und wieder durch die<br />
Scheibe sehen. Im McMaster Hospital waren die Eltern allerdings<br />
von Anfang an eingebunden. Das Känguruhing, der Hautkontakt<br />
mit den Eltern, ist sehr wichtig. Zudem helfen die Stimmen der<br />
Eltern und der Herzschlag der Mutter dem unreifen Kind bei<br />
Bindung und Entwicklung. Auch deshalb sind die Eltern heute<br />
viel mehr Teil des Teams und keine Zuschauer mehr. „Inzwiten<br />
von ihnen heute ein selbstständiges Leben und sind gesellschaftlich<br />
gut integriert.“ Auffällig ist auch, dass zwanzig Prozent<br />
der Extrem-Frühgeborenen mit Ende Dreißig noch keine sexuelle<br />
Beziehung gehabt haben. Aus anderen Untersuchungen ist<br />
bereits bekannt, dass sie erst später sexuell aktiv werden, länger<br />
bei den Eltern wohnen und zurückhaltender sind. Positive Unterschiede<br />
gibt es beim Suchtverhalten. Die Extrem-Frühgeborenen<br />
sind seltener alkohol- oder drogenabhängig und geraten weniger<br />
mit dem Gesetz in Konflikt. Viele der ermittelten Unterschiede<br />
haben offensichtlich mit den erworbenen Behinderungen zu tun.<br />
Wurden hingegen nur die Extrem-Frühgeborenen ohne Behinderungen<br />
befragt, sind einige Befunde nicht mehr signifikant.<br />
Dann gibt es keinen Unterschied mehr bei der Beschäftigung,<br />
beim Unterstützungsbedarf, beim Familienstand oder bei der<br />
Elternschaft. Allerdings blieben die Unterschiede beim Einkommen,<br />
beim Selbstbewusstsein, bei den Gesundheitsproblemen,<br />
beim geringeren Suchtverhalten und bei den geringeren sexuel-<br />
len Erfahrungen bestehen. Saigals Befunde sind optimistischer<br />
als die anderer Langzeit studien. „ Unsere Ergebnisse könnten<br />
damit zu tun haben, dass das Niveau der Frühgeborenen medizin<br />
am McMaster Hospital von Anfang an sehr hoch war“, sagt sie.<br />
„Und dass die Hälfte der Eltern einen hohen sozioökonomischen<br />
Status hat.“ Heute weiß man, dass das Bildungsniveau und die<br />
finanziellen Möglichkeiten der Eltern die Entwicklung der Extrem-Frühgeborenen<br />
beeinflussen. Allerdings ist Saigals Kohorte<br />
mit ursprünglich 166 Extrem-Frühgeborenen und 145 reifgeborenen<br />
Vergleichspersonen relativ klein.<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />
33
Phototherapie gegen Gelbsucht: Das Frühgeborene wird unter eine Lampe gelegt,<br />
die kurzwelliges Licht im Grenzbereich zum Ultraviolett abstrahlt. Dadurch wird der<br />
Abbau von Bilirubin in der Haut des Kindes angeregt. Bedient wird die Therapie hier von<br />
Moiken Dünn, Kinderkrankenschwester im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH)<br />
Erstaunlich, dass<br />
die schweren<br />
Behinderungen nicht<br />
zugenommen haben<br />
schen haben wir ganz andere Überlebensraten als früher“, sagt<br />
Dr. Saigal. „Von den Kindern, die in der 23. Schwangerschaftswoche<br />
geboren werden, überleben heute rund 40 Prozent – in der<br />
24. Schwangerschaftswoche sind es sogar 60 Prozent.“<br />
Neue Gerätegenerationen<br />
Diese Entwicklung wäre nicht ohne technischen Fortschritt möglich<br />
gewesen. Dräger veränderte 1987 mit dem Inkubator 8000<br />
grundlegend die Wärmetherapie: Warmluftvorhänge,<br />
Doppel wände und höhere Temperaturen schützten die Frühchen<br />
besser vor Auskühlung. Hohe Luftfeuchtigkeit und die sterile<br />
Klimatisierung sorgten dafür, dass die Winzlinge nicht austrockneten<br />
und sich nicht mehr so schnell infizierten. Zudem ließ<br />
sich ein höherer Sauerstoffgehalt automatisch regeln und überwachen.<br />
Der Inkubator war höhenverstellbar, was es den Eltern<br />
erstmals ermöglichte, ihr Kind auch im Sitzen zu sehen und zu<br />
berühren. Dräger hat diesen Gerätetyp immer weiterentwickelt.<br />
Beim Caleo (2001) wird die Körpertemperatur des Frühchens<br />
am Rumpf sowie an den Armen und Beinen gemessen. Kritische<br />
Veränderungen lassen sich so schnell(er) erkennen. Der Inkubator<br />
hat auch einen Känguru-Modus, mit dem die Temperatur des<br />
Frühchens selbst dann überwacht wird, wenn es auf dem Bauch<br />
der Mutter liegt. Ende 2016 bringt Dräger ein neues Gerät auf<br />
den Markt. Der Babyleo TN 500 misst jetzt auch die Belastung des<br />
Frühchens durch Lärm und Licht. Das hilft Eltern und Pflegekräften,<br />
auf Stressreize zu reagieren. Über ein integriertes Audiosystem<br />
können dem Frühchen sogar die Stimmen der Eltern oder<br />
Musik vorgespielt werden. Der neue Inkubator lässt sich offen (als<br />
Wärmebett) und geschlossen (Inkubator) nutzen. Die Körpertemperatur<br />
des Kindes bleibt selbst bei geöffneter Haube stabil.<br />
Große Veränderungen hat es auch bei den Beatmungsstrategien<br />
gegeben. Die mechanische Beatmung ist seit Jahrzehnten<br />
passé. 1989 hat Dräger mit dem Babylog 8000 ein Gerät auf<br />
den Markt gebracht, das die Beatmung elektronisch regelt und<br />
durch Sensoren überwacht. So ließ sich erstmals genau messen,<br />
welcher Druck und welche Volumina tatsächlich in den unrei-<br />
34 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
FRÜHGEBORENENMEDIZIN<br />
GESUNDHEIT<br />
Beschützend beugt sich<br />
der neue Dräger Babyleo über<br />
Frühchen. Ob als Inkubator<br />
oder (wie hier) als Wärmebett<br />
genutzt: Die Körpertemperatur<br />
des Kindes bleibt selbst<br />
bei geöffneter Haube stabil<br />
Frühchen nicht mehr intubiert, sondern nur bei seiner weitgehend<br />
eigenständigen Atmung durch einen leichten Überdruck<br />
in den Atemwegen unterstützt. CPAP steht für Continuous Positive<br />
Airway Pressure. Mit dem Babylog VN500, dem Nachfolger des<br />
Babylog 8000, sind alle drei Beatmungs- sowie optimierte Therapieformen<br />
möglich.<br />
Erste Reise: In einem Transportinkubator<br />
wird ein Frühchen innerhalb des UKSH verlegt.<br />
Es bleibt dabei umfassend geschützt<br />
fen Lungen ankommen. Dabei erkannte man, dass ein zu großes<br />
Atemzugvolumen der unreifen Lunge mehr schadet als ein zu<br />
hoher Beatmungsdruck. Wenn zu viel Luft in die Lunge gelangt,<br />
wird das Organ überdehnt und geschädigt. Daraufhin wurde die<br />
rein druckkontrollierte Beatmung um Funktionen ergänzt, bei<br />
denen ein bestimmtes Atemzug volumen festgelegt wird. Jeder<br />
registrierte Atemzug des Frühchens wird vom Beatmungsgerät<br />
analysiert und der jeweilige Druck für den nächsten Atemzug<br />
optimiert. Man schaut also zunächst, was der kleine Patient selbst<br />
kann und unterstützt ihn dabei, das eingestellte Tidalvolumen zu<br />
erreichen. Das Frühchen bestimmt den Zeitpunkt und die Anzahl<br />
der mandatorischen Atemhübe. Bei der Hochfrequenzbeatmung<br />
(mittels Tubus) wird die Lunge kontinuierlich offen gehalten<br />
und die Beatmung mit einer sehr hohen Frequenz (300–1.200<br />
Atemzüge pro Minute) durchgeführt, jedoch mit kleinsten Volumina.<br />
Diese lungenschonende Therapieform wird vor allem als<br />
Notfallbehandlung bei bestimmten pulmonalen Erkrankungen<br />
angewendet. Bei der nasalen CPAP-Therapie schließlich wird das<br />
Was wird in 40 Jahren sein?<br />
Wie wird es heutigen Frühchen in 40 Jahren ergehen? Das lässt sich<br />
nur schwer sagen. Trotz besserer Intensivtherapie sowie familienzentrierter<br />
und entwicklungsfördernder Pflege ist der Anteil an<br />
Folge schäden über die Jahrzehnte gleich geblieben. Rund ein Viertel<br />
bis ein Drittel der Hochrisikokinder behält ein schweres Handicap<br />
zurück. Dr. Saigal sieht den Grund hierfür darin, dass heute<br />
immer unreifere Frühchen überleben. Je unreifer ein Kind ist, desto<br />
größer das Risiko. „Angesichts dieser Tatsache ist es erstaunlich,<br />
dass die Rate an schweren Behinderungen nicht zugenommen hat“,<br />
sagt sie. Trotzdem gehen einzelne Behinderungen zurück, etwa die<br />
durch zu viel Sauerstoff bedingte Blindheit und der Anteil an Zerebralparesen.<br />
Wer wissen will, wie es den heute geborenen Extrem-<br />
Frühchen in 40 Jahren gehen wird, muss entsprechende Langzeitstudien<br />
auf den Weg bringen. Dafür braucht es Menschen wie Dr.<br />
Saigal, die energisch genug sind, solche Studien über Jahrzehnte zu<br />
betreiben – und immer wieder Geld dafür zusammentrommeln.<br />
VIDEO: MEILENSTEINE<br />
Seit über 60 Jahren trägt Dräger dazu bei, die<br />
Überlebenschancen von Frühgeborenen zu erhöhen.<br />
www.draeger.com/400/zufrueh<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />
35
MEDIZINISCHE VERSORGUNG<br />
ZENTRALASIEN<br />
Auf Rosen<br />
gebettet<br />
Das Khatlon Inter-District Multipurpose Hospital<br />
in Dangara ist eine Vorzeigeklinik in Tadschikistan – vor<br />
allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden hier behandelt,<br />
die auch aufgrund des extremen Klimas auftreten.<br />
Text: Barbara Schaefer<br />
AAls Kahraman Kamolov, Anästhesist und Intensivmediziner,<br />
vor drei Jahren nach Moskau reiste, ging er mit leuchtenden<br />
Augen durch die Krankenhäuser. Die tadschikische Regierung<br />
hatte die Exkursion organisiert. Ärzte der ehemaligen sowjetischen<br />
Teilrepublik sollten Kliniken in der russischen Hauptstadt<br />
besichtigen. Kamolov, väterlicher Typ mit dickem Schnauzer<br />
und buschigen Augenbrauen, fragte sich: „Wann werden wir so<br />
fortschrittlich sein?“ Er grinst und zeigt auf einen OP-Saal. „Ein<br />
Jahr später war es so weit.“<br />
2014 öffnete das Allgemeine Krankenhaus in Dangara, rund<br />
100 km südlich der Hauptstadt Dushanbe. Kamolov wurde zum<br />
Chefarzt berufen. Das vierstöckige Gebäude ruht wie ein Fremdkörper<br />
in der 25.000-Seelen-Gemeinde, umgeben von flachen<br />
Lehmhäusern und einigen Kommunalkas, den Wohnblocks aus<br />
russischer Zeit. Kamolov wurde in Dangara geboren. Schon als<br />
kleiner Junge wollte er Arzt werden, der Vater litt unter Nierensteinen.<br />
„Ich konnte das kaum mit ansehen, er hatte fürchterliche<br />
Schmerzen. Ich wollte Mediziner werden, um Menschen zu<br />
helfen.“ Kamolov spricht leise, das ist typisch für die Bevölkerung<br />
des zentralasiatischen Landes. Auch auf den Straßen und Märkten<br />
ist das so. Man hält sich zurück. Wie fast alle Ärzte hier studierte<br />
Kamolov im Land, machte 1985 seinen Abschluss an der<br />
medizinischen Fakultät der Universität in Dushanbe. Die Ausbildung<br />
zu Sowjetzeiten sei gut gewesen. Um das Krankenhaus<br />
in Dangara zu bauen, bedurfte es finanzieller Unterstützung.<br />
Das Geld kam vom OPEC-Fonds für Internationale Entwicklung<br />
– mehrere Millionen US-Dollar wurden bewilligt. Die Klinik versorgt<br />
etwa zwei Millionen Menschen in der Provinz Khatlon, also<br />
gut ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Über Kamolovs Schreibtisch<br />
hängt, wie in allen offiziellen Räumen des Landes, ein Porträt<br />
des Präsidenten. Auch Emomalii Rahmon wurde in Dangara<br />
geboren, er ist seit 1994 Staatsoberhaupt. Kamolov sitzt hinter<br />
einem Schreibtisch und sagt über seine Klinik: „Mit der hochmodernen<br />
Ausstattung verlieren wir weniger<br />
Patienten – das ist eine ungeheure Verbesserung.<br />
Ärzte und Pflege personal haben<br />
zudem an Selbstvertrauen gewonnen.“<br />
Folgen des Bürgerkriegs<br />
Er erlebe nun wieder die Momente, wegen<br />
derer er Arzt geworden sei. Wenn es einem<br />
Patienten besser geht, „und man das Glück<br />
in seinen Augen und in den Gesichtern<br />
der Angehörigen sieht.“ Ein Fall ist ihm<br />
besonders in Erinnerung geblieben: „Ein<br />
Mädchen verunglückte beim Spielen, ein<br />
dicker Stahldraht steckte in seinem Kopf.<br />
Es war drei Wochen bewusstlos, aber dann<br />
ist es aufgewacht. Es lebt, und es geht ihr<br />
gut.“ In vielen anderen Kliniken des Landes<br />
hätte es nicht gerettet werden können.<br />
Noch immer leidet Tadschikistan<br />
unter den Folgen des Bürgerkriegs (1992–<br />
1997). Den kleinen Gesundheitszentren –<br />
in den Machalla genannten und selbstverwalteten<br />
Stadtvierteln – aber auch den<br />
Distriktkrankenhäusern fehlt es an vielem.<br />
FOTOS: BARBARA SCHAEFER, NOZIM KALAND/PICTURE ALLIANCE(2)<br />
36 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
Stundenlang rühren<br />
die Nomadenfrauen<br />
über dem Feuer die<br />
traditionellen salzigen<br />
Joghurtkugeln.<br />
Doch trotz aller<br />
Abgeschiedenheit:<br />
Unten im Tal gibt<br />
es Apotheken und<br />
Gesundheitszentren<br />
Kahraman Kamolov,<br />
Anästhesist und<br />
Intensivmediziner, freut<br />
sich zu Recht: Als junger<br />
Mediziner träumte er von<br />
einer gut funktionierenden<br />
Klinik – nun arbeitet<br />
er im modernen Krankenhaus<br />
von Dangara<br />
Aus heimischer Baumwolle werden die Schwesternkittel hergestellt – und die<br />
für eine Klinik ungewöhnlich fröhlich anmutende Bettwäsche<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />
37
MEDIZINISCHE VERSORGUNG<br />
ZENTRALASIEN<br />
Aus dem ganzen Land<br />
kommen Patienten – auch<br />
für Nierentransplantationen<br />
Auch der<br />
Pamir-Highway<br />
schickt<br />
Patienten<br />
Leiter der neuen Klinik in Dangara wurde Hizmatullo Shamsov.<br />
Er und sein Chefarzt Kamolov kennen sich schon seit Kindertagen,<br />
haben gemeinsam studiert und zusammen gearbeitet.<br />
Gerade im Gesundheitssektor brauche es gut ausgebildete Leute<br />
mit modernem Verständnis, sagt Kamolov. „Wo das fehlt, kann<br />
eine moderne Ausstattung einiges kompensieren“, fügt Shamsov<br />
hinzu.<br />
Der Klinikdirektor, Typ eloquenter Manager, Anästhesist<br />
sowie „Kandidat der medizinischen Wissenschaften“ (entspricht<br />
in den GUS-Staaten dem deutschen Dr. med.), erinnert<br />
sich an hektische Situationen in der Notaufnahme. „Wenn<br />
ein Patient eingeliefert wurde, wussten die Ärzte mitunter<br />
nicht, was sie als Erstes machen sollten. Jetzt übernehmen die<br />
modernen Geräte viel, das schafft Kapazitäten für Wichtigeres.“<br />
Besonders stolz seien sie darauf, sogar Nierentransplantationen<br />
durchzuführen.<br />
Im Sommer wird’s richtig heiß<br />
Alltäglicher sei die steigende Zahl von Herz-Kreislauf-Erkrankungen,<br />
sagt Shamsov. Das extreme Klima spiele eine zusätzliche<br />
Rolle, in den Sommermonaten wird es bis zu 45 Grad<br />
Celsius heiß. Hinzu kommt eine extreme Temperaturspanne<br />
zwischen Tag und Nacht. „Das ist purer Stress für den Körper.“<br />
Tuberkulose sei während des Bürgerkriegs ein Problem<br />
gewesen, nun gebe es dafür spezielle Zentren. Wer mit TBC<br />
in seine Klinik komme, werde sofort weitergeschickt. Gestie-<br />
gen seien auch die Verkehrsunfälle. „In<br />
der Nähe verläuft der Pamir-Highway,<br />
eine der spektakulärsten Höhenstraßen<br />
der Welt – allerdings in zum Teil schlechten<br />
Zustand. Jeden Tag bekommen wir<br />
von dort eine Einlieferung.“ 60 Prozent<br />
der Behandlungskosten übernimmt dann<br />
der Staat, 40 Prozent der Patient. Wer sich<br />
in eine Bedürftigenliste der Gemeindeverwaltung<br />
hat eintragen lassen, werde<br />
unentgeltlich behandelt. Es sei schon vorgekommen,<br />
dass ein Arzt eine Behandlung<br />
aus eigener Tasche bezahlt hat. „Wir<br />
sagen uns: Irgendwann wird das irgendwer<br />
vielleicht belohnen.“ Shamsov hat<br />
dabei nicht eine spätere Welt im Sinn,<br />
sondern das konkrete Morgen: „Vielleicht<br />
behandeln wir ja als nächstes einen Millionär,<br />
der sich dankbar zeigt.“ Die Versorgung mit Trinkwasser<br />
sei heute gut organisiert, zudem könne man überall Wasser<br />
kaufen. Auch Schwangere profitieren von der modernen Medizin.<br />
Mittlerweile könne man auch extrem Frühgeborene mit<br />
einem Geburtsgewicht von weit unter 1000 Gramm retten. Und<br />
so schicken Ärzte aus größerer Entfernung und trotz schlechter<br />
Straßenverhältnisse Risikoschwangere ins Khatlon Inter-Dis-<br />
Die Klinik in Dangara<br />
ist eine der modernsten<br />
des Landes. Zum<br />
Gerätepark gehören<br />
auch Monitore, zentrale<br />
Gasversorgungsanlagen,<br />
OP-Leuchten,<br />
Anästhesiegeräte sowie<br />
Säuglingswärmesysteme<br />
von Dräger<br />
38 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
FOTOS: NOZIM KALAND/PICTURE ALLIANCE<br />
Gastarbeiter<br />
„Viele Mediziner haben das Land verlassen“, sagt Kahraman Kamolov,<br />
Chefarzt am Khatlon Inter-District Multipurpose Hospital im tadschikischen<br />
Dangara. Leitende Ärzte verdienen im staatlichen Gesundheitswesen<br />
rund 140 Euro im Monat. So vergrößern auch Akademiker jene Heerscharen,<br />
die außerhalb des Landes arbeiten. Die Rede ist von rund zwei Millionen Menschen,<br />
die nach Russland gingen. Offiziell wird von lediglich 200.000 gesprochen – eine<br />
Zahl, die im Land kaum jemand glaubt. In Russland werden sie „gastarbaitery“<br />
genannt. Die schlecht bezahlten Migranten arbeiten auf Baustellen und Märkten.<br />
Jeder zweite Tadschike im arbeitsfähigen Alter soll in den letzten Jahrzehnten im<br />
Ausland gearbeitet haben. Laut Weltbank machten 2013 die Auslandsüberweisungen<br />
fast die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts Tadschikistans aus.<br />
Religion<br />
Wenn Hizmatullo Shamsov, Klinikdirektor am Khatlon Inter-District Multipurpose<br />
Hospital, durch die hellen Krankenhausflure eilt, grüßt er meist mit „Salam<br />
aleikum“ (statt des üblichen lässigen „Salam“) – dem arabischen „Friede sei<br />
mit dir“. Doch das meint er nicht religiös. Denn Tadschikistan ist keine islamische,<br />
sondern eine präsidiale Republik mit Zweikammerparlament. Die Regierung<br />
ließ gar Moscheen schließen, um der Gefahr entgegenzuwirken, Radikale könnten<br />
einen islamischen Gottesstaat errichten. Auch Shamsov trennt streng zwischen<br />
privater Religion und Arbeit. Seine erste Regel lautet: „Hier wird gearbeitet, gebetet<br />
wird zu Hause.“ Ein Arzt, der während der Dienstzeit in die Moschee gegangen<br />
war, wurde sofort entlassen.<br />
Hizmatullo Shamsov,<br />
Anästhesist und Klinikdirektor<br />
Auch Frühchen mit einem Geburtsgewicht<br />
von weit unter 1000 Gramm<br />
können hier dank moderner Ausstattung<br />
und guter Betreuung überleben<br />
trict Multipurpose Hospital. Gerade liegen drei junge Tadschikinnen<br />
mit Problemschwangerschaften in einem Zimmer. Ihre<br />
Betten sind bezogen mit Wäsche aus einheimischer Baumwolle,<br />
bedruckt mit Rosen. Zusammen mit den bunten Nachthemden<br />
schafft das eine vertraute Atmosphäre. Überall in den Bergen<br />
kleiden sich die Frauen farbig, mit kreativen Mustern. Eine<br />
der drei Frauen durchlebt gerade ihre dritte Schwangerschaft.<br />
Das Dorf, in dem sie wohnt, liegt hundert Kilometer entfernt.<br />
Ihr erstes Kind ist nach einer Frühgeburt gestorben. „Damals<br />
gab es diese Klinik noch nicht“, sagt sie leise. Was wünscht sich<br />
Hizmatullo Shamsov für sein Land? Die Antwort des Klinikdirektors<br />
lässt nicht lange auf sich warten: „Mehr Kliniken wie diese!“<br />
In der Notaufnahme trifft er auf eine ältere Frau. Sie ist nach<br />
ihrem Sturz zwar noch kreidebleich, blickt aber schon wieder<br />
ganz zuversichtlich. In Zukunft solle sie gut auf sich aufpassen,<br />
sagt der behandelnde Arzt. „Ach was“, entgegnet sie, „hier werde<br />
ich so gut versorgt, da kann man beruhigt krank werden.“<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />
39
WIRTSCHAFT<br />
BERGBAU<br />
oxenstopp<br />
Eine Welt für sich ist die mehr als 100 Kilometer<br />
von der nächsten Stadt entfernte Musselwhite-Mine<br />
im Nordwesten Ontarios – jährlich werden hier<br />
mehrere hunderttausend Unzen Gold produziert<br />
40<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
im Untergrund<br />
Ein neues Fahrzeug, das Dräger mit dem kanadischen<br />
Bergbauunternehmen Goldcorp und dem deutschen Maschinenbauer<br />
Paus entwickelt hat, setzt Maßstäbe bei der Rettung unter Tage.<br />
Text: Steffan Heuer<br />
W<br />
FOTOS: DOUG GIBBONS/GOLDCORP INC, DRÄGERWERK AG & CO. KGAA<br />
Wollte man Bergbau im 21. Jahrhundert mit drei Worten umreißen,<br />
dann mit diesen: tiefer, länger, komplexer. Der technische Fortschritt<br />
und die wirtschaftlichen Gegebenheiten sorgen heute dafür, dass<br />
Minen weiter in die Tiefe und Breite vorgetrieben werden können,<br />
um Bodenschätze wie Gold, Eisenerz, Salz oder Kali abzubauen.<br />
Diese Expansion stellt auch Rettungskräfte vor neue Herausforderungen:<br />
Bei einem Notfall müssen sie bis in den entlegensten Winkel<br />
einer Grube gelangen – der möglicherweise kontaminiert ist – und<br />
anschließend wieder sicher zurückkehren. Die Menge an frischer<br />
Atemluft, die Retter mit sich führen können, ist einer der wichtigsten<br />
beschränkenden Faktoren, um derartige Flucht- und Rettungs abläufe<br />
zu optimieren.<br />
Eine der bislang innovativsten Antworten auf diese Herausforderung<br />
lässt sich in der Musselwhite-Mine besichtigen, die die kanadische<br />
Goldcorp Inc. im Nordwesten der Provinz Ontario betreibt.<br />
Dort ist seit Herbst vergangenen Jahres ein neuartiges Grubenrettungsfahrzeug<br />
im Einsatz. Die Entstehungsgeschichte des „Mines<br />
Rescue Vehicle“ (MRV) 9000 illustriert, welche Früchte die Zusammenarbeit<br />
zwischen einem auf Sicherheit bedachten Bergbauunter-<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />
41
Das Netzwerk<br />
unter Tage hat<br />
eine Gesamtlänge<br />
von 12 km<br />
Notfallübung mit Dräger Kreislauf-<br />
Atemschutzgeräten (Typ: PSS BG4 plus)<br />
nehmen (Goldcorp), einem renommierten Hersteller von Bergbaufahrzeugen<br />
(Paus) und Dräger tragen kann, um die Grubenrettung<br />
ins 21. Jahrhundert zu befördern.<br />
Risiko erkannt, Gefahr gebannt<br />
„Das Fahrzeug erlaubt es dem Sicherheits- und Rettungspersonal,<br />
auch die entlegensten Gebiete einer Grube zu erreichen – ohne dabei<br />
von der Reichweite seiner Atemschutzgeräte eingeschränkt zu<br />
sein. Das erhöht nicht nur die Sicherheit, sondern wirkt sich auch auf<br />
den Arbeitsalltag und die Betriebskosten einer Mine aus“, sagt Markus<br />
Uchtenhagen, Sicherheitsinspektor bei Goldcorp. Uchtenhagen<br />
hatte das veränderte Risikoprofil immer weiter ausgedehnter Gruben<br />
bereits vor Jahren identifiziert und begonnen, sich Gedanken über<br />
mögliche Lösungen zu machen. Musselwhite etwa ist seit April 1997<br />
in Betrieb und inzwischen auf eine Tiefe von 1,2 Kilometern vorgetrieben<br />
worden. Im Jahr 2014 produzierte die Mine rund 278.000 Unzen<br />
Gold. Der Ertrag hat seinen Preis: Musselwhites horizontale Ausdehnung<br />
beträgt inzwischen bis zu 12 Kilometer. Die Untersuchung zeigte<br />
auch, dass Retter angesichts dieser räumlichen Expansion schnell an<br />
ihre technischen Grenzen stoßen. Selbst bei guten Sichtverhältnissen<br />
und einer Reisegeschwindigkeit von 25 Stundenkilometern wäre ein<br />
Team rund 45 Minuten unterwegs, um manche Winkel zu erreichen.<br />
Es müsste bereits bei der Anfahrt seine Dräger-Atemschutzgeräte<br />
benutzen, die (je nach Einsatz) Atemluft für bis zu vier Stunden vorhalten.<br />
Schlimmstenfalls würde man zwar zum Einsatzort gelangen,<br />
um doch bald wieder unverrichteter Dinge umzukehren, da der Atemluftvorrat<br />
die kritische 50-Prozent-Marke erreicht hat.<br />
„Manches Gebiet lag außerhalb der Reichweite unserer Atemschutzgeräte,<br />
sodass wir eine Antwort auf diese Frage finden mussten.<br />
Wenn das Rettungspersonal nicht mobil genug ist, um seine<br />
Arbeit zu verrichten, können wir keine Bergleute dorthin schicken!<br />
Es gab“, sagt Markus Uchtenhagen, „keinen umfassenden Plan, um<br />
schnell zu den tiefsten Bereichen der Mine vorzudringen.“ Dieses<br />
Problem betraf nicht nur Musselwhite, sondern auch weitere Goldcorp-Standorte<br />
sowie Gruben anderer Bergbauunternehmen. Der<br />
Goldcorp-Sicherheitsbeauftragte schloss sich mit einem weiteren<br />
Experten kurz, um nach praktikablen Lösungen auf das veränderte Risikoprofil<br />
ausladender Gruben zu suchen. Gemeinsam mit Kent Armstrong,<br />
der für Dräger weltweit als Geschäfts entwickler im Bereich<br />
Bergbau tätig ist, spielte Uchtenhagen über Monate verschiedene<br />
Goldstandard für die Grubenrettung:<br />
Mit dem MRV 9000 lassen sich auch<br />
die entlegensten Winkel unter Tage erreichen<br />
42 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
BERGBAU<br />
WIRTSCHAFT<br />
Szenarien durch, wie sich das Reichweitenproblem unter Tage lösen<br />
ließe. Sie erörterten und verwarfen diverse Ideen – etwa zusätzliche<br />
Atemschutzgeräte an verschiedenen Punkten unter Tage zu deponieren<br />
oder eine Rettungskapsel als Anhänger hinter dem bestehenden<br />
Fahrzeug mitzuführen. „Da es keine brauchbare Lösung auf<br />
dem Markt gab, blieb am Ende der Gedanke, gemeinsam ein Fahrzeug<br />
zu entwickeln. Wir waren nicht nur Ideengeber, sondern auch<br />
der erste Kunde für etwas, das es so noch nicht gab“, erinnert sich<br />
Uchtenhagen.<br />
Wenn Atemschutzgeräte an Grenzen stoßen<br />
Kent Armstrong verweist auf ein Grubenfeuer im Jahr 1965 in der<br />
MacIntyre-Mine in Kanada als Wendepunkt. Das Unglück in rund<br />
1.500 Metern Tiefe führte vor Augen, dass Atemschutzgeräte mit<br />
zwei Stunden Einsatzdauer nicht mehr ausreichen, um in immer tieferen<br />
Gruben sicher und effektiv zu arbeiten. Drägers Kreislauf-Atemschutzgerät<br />
BG 174 schloss Mitte der 1960er-Jahre erstmals diese<br />
Sicherheitslücke. Es versorgte Einsatzkräfte mit bis zu vier Stunden<br />
Atemluft. Doch selbst dieser neue Standard reicht heute nicht mehr<br />
Mobile Gasmesstechnik<br />
hilft, Risikofaktoren<br />
im<br />
Wetterstrom<br />
zu kontrollieren<br />
aus, wenn die Hin- und Rückreise zum entferntesten Punkt einer<br />
Grube fast zwei Stunden in Anspruch nimmt. Gleichzeitig sind dem<br />
Ausbau mobiler Systeme physische Grenzen gesetzt: „Niemand kann<br />
ein Gerät auf dem Rücken tragen, das acht bis neun Stunden Atemluft<br />
vorhält“, erklärt Armstrong. Eine bessere Mobilisierung der Retter<br />
allein löst das Problem ebenso wenig. Rettungsfahrzeuge, die wie ein<br />
geländetauglicher Krankenwagen in die Grube einfahren, um Feuer<br />
zu bekämpfen und Verletzte zu versorgen, während die Bergleute in<br />
Flucht- und Rettungskammern ausharren, sind nichts Neues. „Derartige<br />
Lösungen sind seit einigen Jahren im Einsatz. Was bislang<br />
fehlte, war ein Fahrzeug mit einer Luftversorgung, die von der Umgebungsluft<br />
unabhängig ist“, sagt Armstrong. „In den Gesprächen mit<br />
Goldcorp stellte sich heraus, dass die beste Lösung aus einem Fahrzeug<br />
mit luftdichter Fahrerkabine und Kassette, gemeint ist die Rettungskammer,<br />
besteht, in dem ein Rettungsteam sicher unterwegs<br />
ist – und das eigene Atemschutzgerät erst dann aktiviert, wenn es<br />
am Einsatzort angekommen ist.“<br />
Eine solche „Rettungskammer mit Allradantrieb“ entwarfen Uchtenhagen<br />
und Armstrong in enger Abstimmung mit weiteren Experten<br />
bei Goldcorp sowie dem Bereich Engineered Solutions von Dräger,<br />
der über jahrzehntelange Erfahrung mit Atemluftversorgungssystemen<br />
verfügt. Zudem stießen sie auf einen weiteren erfahrenen Hersteller:<br />
die auf Bergbaufahrzeuge spezialisierte Maschinenfabrik Hermann<br />
Paus. Von der ersten Skizze bis zum fertigen Fahrzeug vergingen<br />
rund zweieinhalb Jahre, in denen alle drei Unternehmen die technischen<br />
Anforderungen ausarbeiteten und immer wieder Änderungen<br />
vornahmen. „Wir haben ein neues Konzept erfolgreich von der Idee<br />
in die Tat umgesetzt – und damit auch gezeigt, wie Grubenrettung im<br />
21. Jahrhundert aussehen kann. Seitdem ist das Interesse für solche<br />
Fahrzeuge merklich gestiegen“, sagt Armstrong.<br />
Bis zu 60 Prozent Steigfähigkeit und 33 km/h schnell<br />
Mit einer Spitzengeschwindigkeit von bis zu 33 Stundenkilometern<br />
und einer Steigfähigkeit von bis zu 60 Prozent ist das Fahrzeug<br />
auch für den rauen Einsatz unter Tage ausgelegt. Voll beladen<br />
wiegt es rund neun Tonnen. Fahrerkabine und Kassette sind<br />
FOTOS: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA (3), DOUG GIBBONS/GOLDCORP INC<br />
Rettungsinsel:<br />
Bis zu 96 Stunden<br />
Schutz bietet diese<br />
Dräger Flucht- und<br />
Rettungskammer vor<br />
lebensbedrohenden<br />
Kontaminationen<br />
und Gasen – je nach<br />
Ausbaustufe finden<br />
hier bis zu 20 Menschen<br />
Unterschlupf<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />
43
Robustes<br />
Rettungsfahrzeug<br />
mit Formel-1-<br />
Charakter<br />
In der mobilen<br />
Rettungskammer überwacht<br />
ein Dräger X-am<br />
7000 die Konzentration von<br />
Sauerstoff, Kohlenmonoxid<br />
und Kohlendioxid<br />
mit einem Luft-Spülsystem ausgestattet, das die Besatzung mit<br />
Atemluft versorgt. Je nachdem, wie viele Personen an Bord sind,<br />
beträgt die Betriebszeit bis zu fünf Stunden. Anderthalb Stunden<br />
für die Einfahrt, zwei Stunden am Einsatzort, und anderthalb Stunden<br />
für die Rückfahrt.<br />
Sobald die mit persönlichem Atemschutz ausgerüsteten Rettungskräfte<br />
das Fahrzeug verlassen haben, kann der Luftstrom für die verbliebene<br />
Besatzung heruntergefahren werden, um Atemluft zu sparen.<br />
Fahrerkabine plus Kassette bieten neun Personen Platz – einschließlich<br />
eines Schleifkorbs, um verletzte Kumpel in Sicherheit zu bringen.<br />
Damit liegt man deutlich über der in Kanada gesetzlich vorgeschriebenen<br />
Rettungsteamstärke von fünf Personen. In den Fahrzeugen,<br />
die von Goldcorp genutzt werden, strömt Atemluft aus sechs Gasflaschen<br />
mit jeweils 6.000 PSI. Hier wurde eine Lösung gewählt, die<br />
man sonst nur von Boxenstopps in der Formel-1 gewohnt ist. „Es ist<br />
uns wichtig, das Fahrzeug nach einem Einsatz so schnell wie möglich<br />
wieder bereitzuhalten“, beschreibt Uchtenhagen die Anforderungen.<br />
Deshalb entwickelte man ein hydraulisches Hubsystem, mit dem die<br />
Gasflaschen binnen 15-20 Minuten gegen einen unverbrauchten Satz<br />
ausgetauscht werden können. Das Fahrzeug verfügt zudem über ein<br />
Gasüberwachungssystem, das die Konzentration von Sauerstoff, Stickstoffdioxid,<br />
Methan und Kohlenmonoxid in der Umgebungsluft sowie<br />
von Sauerstoff, Kohlendioxid und Kohlenmonoxid im Inneren misst.<br />
Sobald Grenzwerte über- oder unterschritten werden, weisen visuelle<br />
und akustische Signale darauf hin. Fest installierte Wärmebildkameras,<br />
vorn wie hinten, lösen Handheld- Varianten ab. Drei Bildschirme<br />
(zwei in der Kabine, einer in der Kassette) helfen dem Team bei<br />
der Orientierung in staubiger oder verrauchter Umgebung sowie bei<br />
der Suche nach Vermissten.<br />
Durch dick und dünn<br />
Gebaut hat den Koloss auf Rädern die Maschinenfabrik Hermann<br />
Paus, ein deutscher Mittelständler, der sich seit mehr als 40 Jahren<br />
auf die Fertigung robuster Fahrzeuge für den Einsatz im Bergbau<br />
spezialisiert hat. Paus fertigt mit einer Belegschaft von 250 Mitarbeitern<br />
jährlich mehr als 150 Fahrzeuge. „Jedes ist an die Erfordernisse<br />
eines Kunden und die Bedingungen einer bestimmten Grube angepasst“,<br />
sagt Geschäftsführer Franz-Josef Paus. Zur Realisierung der<br />
Idee mussten alle drei Unternehmen regelmäßig an einem Tisch zusammenkommen.<br />
„Die ungewöhnlich enge transatlantische Zusam-<br />
1 Luft-Spülsystem mit Dosierpanel<br />
2 Feuerlöschanlage<br />
3 Kommunikationssystem<br />
4 Notausstieg<br />
5 Luftdichte Fahrerkabine und Kassette<br />
6 Klimaanlage<br />
7 Ergonomische Sitze<br />
2<br />
8 Schleifkorb<br />
9 Atemluftspeicher<br />
10 Gaswarnsystem<br />
3<br />
9<br />
1<br />
5<br />
44 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
BERGBAU<br />
WIRTSCHAFT<br />
1<br />
10<br />
menarbeit hat zum Erfolg geführt“, sagt Paus. „Mit diesem Fahrzeug<br />
können Grubenbetreiber ihre Rettungskonzepte zeitgemäß organisieren<br />
und erweitern.“<br />
Die eigentlichen Herausforderungen zeigten sich erst in der Planung<br />
und Umsetzung. Auf den ersten Blick, so der Unternehmer, ging<br />
es darum, eine autarke Rettungskammer auf Rädern zu entwerfen<br />
und sie auf einer bestehenden Karosserie zu befestigen. Doch in den<br />
Diskussionen über das genaue Design stieß man immer wieder auf<br />
praktische Anforderungen, die Veränderungen verlangten. Dabei stellte<br />
sich etwa heraus, dass die Sitze den ergonomischen Bedürfnissen<br />
der Retter angepasst werden mussten. Da die Kreislauf-Atemschutzgeräte<br />
am Mann getragen werden, haben die Vordersitze des<br />
MRV 9000 keine Rückenlehnen. Nicht zuletzt musste auch das Design<br />
der Türen modifiziert werden, um dem Rettungsteam ein ungehindertes<br />
Ein- und Aussteigen zu ermöglichen. Eine Handvoll Paus-<br />
Mitarbeiter benötigte anschließend 15 Monate, um die feinjustierten<br />
Pläne in die Tat umzusetzen. „Dabei war es wichtig, dass wir einen<br />
ersten Kunden an Bord hatten“, sagt Kent Armstrong. „Ein derartiges<br />
Fahrzeug kostet mehrere hunderttausend Dollar. Das heißt, man<br />
kann es nicht einfach probeweise bauen und auf den Markt bringen<br />
in der Hoffnung, dass sich die Branche dafür interessiert.“<br />
4<br />
8<br />
6<br />
7<br />
Im vergangenen Jahr wurden die ersten beiden leuchtend gelb<br />
lackierten Exemplare des MRV 9000 an Goldcorp geliefert –<br />
und stehen nun in der Musselwhite- und der Porcupine-Mine in<br />
Timmins bereit. Denis Leduc, Notfall- und Sicherheitskoordinator<br />
der Musselwhite-Mine, hat sein über 70 Mann starkes Team rasch in<br />
den Umgang mit dem neuen Gefährt eingearbeitet. „Es ist ein aufregender<br />
Neuzugang, der uns mehr Handlungsfreiheit gibt, um in<br />
Notfall situationen schnell und sicher reagieren zu können.“<br />
„Jede Mine stellt eigene Anforderungen“<br />
Das erste Feedback anderer Bergbauunternehmen auf das neue<br />
Rettungsfahrzeug ist positiv, berichten Markus Uchtenhagen und<br />
Kent Armstrong. „Jede Mine ist anders angelegt und stellt ihre eigenen<br />
Anforderungen“, sagt Uchtenhagen. Doch auch Goldcorp hat<br />
noch andere Gruben, für die sich das MRV eignete – jene, die aufgrund<br />
ihres Alters besonders tief und ausgedehnt sind. „Ein derartiges<br />
Fahrzeug kann obendrein wirtschaftliche Vorteile bieten“, ergänzt<br />
er. „Traditionell besitzen die meisten Gruben an der Erdoberfläche<br />
eine Infrastruktur und unter Tage ein Layout, bei dem der Haupteingang<br />
als ausziehender Wetterschacht dient. Mit dem MRV lassen<br />
sich Betriebskosten sogar senken, da man keine zusätzlichen, kostspieligen<br />
Belüftungsschächte anlegen muss, um Rettungskräften den<br />
Zugang zu frischer Atemluft zu gewährleisten.“<br />
Gleichwohl muss sich das MRV 9000 erst noch seinen Platz im<br />
Rettungssortiment einer Grube erobern. „Es geht nicht nur darum, ein<br />
neues Fahrzeug anzuschaffen und damit auf alles vorbereitet zu sein,<br />
sondern es vielmehr in ein modernes Sicherheits- und Rettungskonzept<br />
zu integrieren“, erklärt Dräger-Manager Armstrong. „Die Bergbauindustrie<br />
hat zur Kenntnis genommen, was da entwickelt wurde<br />
und muss sich jetzt Gedanken darüber machen, ob und wie es in ihr<br />
individuelles Sicherheitskonzept passt – technisch wie ökonomisch.“<br />
Das erfordert Anpassungen bei Dimension und Ausstattung, die sich<br />
nach den Anforderungen einer Grube und den gesetzlichen Bestimmungen<br />
eines Landes richten. „Insofern“, sagt Armstrong, „gibt es<br />
kein Grubenrettungsfahrzeug, das sich für alle Bergwerke gleich gut<br />
eignet. Doch es gibt jetzt eine verlässliche Antwort auf die Frage, wie<br />
Grubenrettung im 21. Jahrhundert funktionieren kann.“<br />
5<br />
Ergonomie für den<br />
Ernstfall heißt zum Beispiel,<br />
die Sitze so zu gestalten, dass<br />
die Einsatzkräfte mit dem Atemschutzgerät<br />
auf dem Rücken<br />
Platz nehmen können<br />
FOTOS: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA<br />
Das Außen im Blick<br />
behalten vier Dräger<br />
Polytron 8000.<br />
Sie messen die untere<br />
Explosionsgrenze<br />
sowie die Konzentration<br />
verschiedener Gase<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />
45
Zukunft<br />
Ob Auto, Fahrrad oder Gaswarngerät: Die Werkzeuge des<br />
Alltags sind immer dann am nützlichsten, wenn sie genau dort<br />
sind, wo man sie gerade braucht. Sie zu seinem Eigentum<br />
zu zählen wird dagegen für manchen zur Last.<br />
Text: Frank Grünberg<br />
C<br />
Carsharing boomt. Die Mitglieder des<br />
Bundesverbands CarSharing e. V. (bcs)<br />
zählten Anfang 2016 fast 1,3 Millionen<br />
Kunden in Deutschland – gut ein Fünftel<br />
mehr als noch im Jahr zuvor. Die Zahl<br />
der Städte und Gemeinden mit einem entsprechenden<br />
Angebot erhöhte sich auf<br />
537, ein Plus von knapp zehn Prozent.<br />
Und doch fristet Carsharing immer<br />
noch ein Nischendasein. Gemessen an<br />
einer Gesamtbevölkerung von 81 Millionen<br />
Menschen und mehr als 12.200 Kommunen<br />
bleiben die Quoten im niedrigen<br />
einstelligen Prozentbereich. Hoch sind<br />
dagegen die Wachstumsraten. Sogar die<br />
Automobilhersteller nehmen den Trend<br />
zum Teilen inzwischen so ernst, dass sie<br />
mit eigenen Angeboten in diesem Markt<br />
mitmischen. Denn viele Menschen wollen<br />
wählen können zwischen Kaufen<br />
und Mieten. Anbieter, die ihre Produkte<br />
nur verkaufen, könnten künftig Probleme<br />
bekommen. Aus Kundensicht liegen<br />
die Vorteile des Carsharing auf der<br />
Hand. Gegen die Zahlung eines Mitgliedsbeitrags<br />
und einer nutzungsabhängigen<br />
Gebühr muss man sich weder um Kauf,<br />
Pflege und Reparatur noch um Versicherung<br />
oder Steuern kümmern. Zudem lässt<br />
sich – je nach Bedarf – zwischen verschiedenen<br />
Fahrzeugtypen wählen, die oft nur<br />
wenige Monate alt und damit technisch<br />
auf dem neuesten Stand sind. Sie tragen<br />
auch dazu bei, dass weniger Autos die<br />
Städte zuparken. Eine aktuelle bcs-Studie<br />
zeigt, dass ein Carsharing-Fahrzeug<br />
bis zu 20 Privat-Pkws ersetzen kann. In<br />
innenstadtnahen Bezirken besitzen fast<br />
80 Prozent der Carsharing-Kunden gar<br />
kein eigenes Auto mehr. Diese Menschen<br />
machen sich individuell mobil – durch<br />
eine Kombination aus Auto, Fahrrad, Bus<br />
und Bahn. Selbst Fahrräder werden oft<br />
nicht mehr gekauft, sondern bei Bedarf<br />
kurzfristig gemietet. Eigentum hat hier<br />
ausgedient, auch als Statussymbol.<br />
Technik verändert das Leben<br />
Dabei ist die Idee der Autovermietung gar<br />
nicht neu. Am 15. Januar 1896 – zehn Jahre<br />
nachdem Carl Benz das erste Vehikel<br />
ins Rollen brachte – gründete der Pariser<br />
Automobilclub die erste Autovermietung<br />
der Welt. Weniger, um damit Geld zu verdienen,<br />
sondern um die Menschen mit<br />
den motorisierten Fahrzeugen vertraut zu<br />
machen. In Deutschland öffnete die erste<br />
Autovermietung 1927 in Hamburg. Seitdem<br />
hatte sich an diesem Geschäfts modell<br />
über Jahrzehnte nicht viel geändert. Kunden<br />
müssen die Autos meist abholen und<br />
wieder abgeben, dafür viel Papierkram<br />
erledigen und die Miete mindestens für<br />
einen Tag entrichten. Die Organisation ist<br />
mit Aufwand verbunden. Die Pioniere des<br />
FOTO: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA; ILLUSTRATIONEN: PICFOUR, ISTOCKPHOTO<br />
46 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
KAUFEN ODER MIETEN?<br />
WIRTSCHAFT<br />
in der Nische<br />
FOTO: BLIND<br />
Mobil und sicher:<br />
Dräger verkauft nicht<br />
nur Sicherheitstechnik,<br />
sondern vermietet<br />
sie auch<br />
Carsharing setzten dem vor rund 30 Jahren<br />
ein anderes Konzept entgegen. Sie wollten<br />
Autos zeitlich flexibel und ortsnah nutzen,<br />
um einzukaufen oder übers Wochenende<br />
wegzufahren: anmelden, einsteigen, losfahren<br />
– und dort abstellen, wo es gerade<br />
passt. Dieser Vision ist die Branche heute<br />
sehr nahe gekommen. Internet und Smartphones<br />
machen es möglich. Die Suche<br />
nach einem freien Auto erfolgt in Echtzeit,<br />
per App – sie zeigt auch, wo sich das nächstgelegene<br />
befindet. Die Fahrzeuge sind mit<br />
Bordcomputern, GPS-Sendern und Mobilfunkeinheiten<br />
ausgestattet, die Standort<br />
und Fahrzeugdaten zu jeder Zeit übermitteln<br />
können. Auch die Schlüssel hängen<br />
oft nicht mehr in einem nahgelegenen<br />
Tresor, weil sich die Türen mit einer<br />
Chipkarte öffnen lassen. Meist braucht es<br />
heute nicht einmal mehr feste Park plätze.<br />
Nach Gebrauch wird das Fahrzeug einfach<br />
dort abgestellt, wo es dem Nutzer gerade<br />
passt. Die Unterschiede zum gekauften<br />
Auto schwinden nicht zuletzt durch solche<br />
Annehmlichkeiten. Damit ist Car sharing<br />
der Beweis dafür, wie digitale Technik das<br />
Leben verändern kann. Die Anbieter wiederum<br />
sind aufgefordert, ihre Serviceund<br />
Logistikdienstleistungen laufend zu<br />
verbessern. Wo befinden sich gerade welche<br />
Fahrzeuge? In welchem Zustand sind<br />
sie? Wann wurden sie zuletzt gewartet? Wer<br />
im modernen Mietmarkt mitspielen will,<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />
47
WIRTSCHAFT<br />
KAUFEN ODER MIETEN?<br />
Mein oder dein? Diese Frage<br />
stellt sich mittlerweile bei vielen<br />
Gütern des täglichen Bedarfs<br />
Erweitertes Portfolio<br />
Dräger bietet seine Sicherheitstechnik seit zehn Jahren auch zur Miete an.<br />
Mit drei Servicepaketen richtet man sich nun auch an neue Kundengruppen.<br />
FOTOS: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA<br />
Um Kunden aus den Bereichen<br />
Feuerwehr, Energie- und Wasserversorgung<br />
sowie der Pharma-,<br />
Metall- und Elektroindustrie noch<br />
besser zu versorgen, hat Dräger<br />
sein Serviceportfolio erweitert<br />
Sicherheitsprüfungen in Raffinerien folgen einem festen Turnus. Alle fünf<br />
Jahre, das ist gesetzlich vorgeschrieben, müssen beispielsweise Druckbehälter<br />
gewartet werden. Ganze Anlagen stehen dann mehrere Wochen lang still.<br />
Weil in dieser Zeit auch andere Instandsetzungsmaßnahmen stattfinden, schnellt<br />
der Bedarf an Sicherheitstechnik auf einen Schlag in die Höhe. „Das hat uns vor<br />
zehn Jahren auf die Idee gebracht, unsere Geräte auch zu vermieten“, sagt<br />
Thielo Hammer, Leiter des Portfolio-Managements. „Das war der Startschuss für<br />
die Rental & Safety Services von Dräger.“<br />
Hammer zeichnet dafür verantwortlich, die Mietangebote in kunden gerechte<br />
Pakete zu schnüren. Dafür stehen ihm und seinem Team weltweit rund<br />
85.000 Geräte zur Verfügung, die sich auf 16 Lager verteilen und etwa 1.500 verschiedene<br />
Produkte umfassen: von Atemschutzmasken bis hin zu Fahrrädern und<br />
explosionsgeschützten Funkgeräten. Dabei werden nicht nur Produkte vermietet<br />
(Rental Services), sondern auch ganzheitliche Lösungen wie mobile Wartungs- und<br />
Ex-Ox-Ausgabestationen („Rental Robots“), CSE Monitoring, Sicherheitspersonal<br />
oder die Bereitstellung und Beratung aus den Bereichen Shutdown Safety sowie<br />
On-Site Safety Services. Der Umsatz des Geschäftsbereichs liegt jährlich im mittleren<br />
zweistelligen Millionen-Euro-Bereich. Gräbt man sich damit nicht das Wasser im<br />
klassischen Produktgeschäft ab? „Für uns schließen sich Miete und Kauf nicht aus –<br />
vielmehr ergänzen sie einander“, sagt Hammer. „Es gibt eben Kunden, für die sich<br />
ein Kauf partout nicht lohnt.“ Pauschal ließe sich die Frage, wann man mit einer Mietlösung<br />
besser gestellt sei, nicht beantworten. Entscheidend dafür ist etwa, ob die<br />
Produkte lang- oder kurzfristig genutzt und welche Servicepakete genau benötigt<br />
werden – und, ob man sie zentral oder dezentral einsetzt.<br />
Um Kunden aus den Bereichen Feuerwehr, Energie- und Wasserversorgung<br />
sowie der Pharma-, Metall- und Elektroindustrie noch besser zu erreichen, hat Dräger<br />
sein Serviceportfolio im Bereich „Rental Services“ kürzlich erweitert und das<br />
Angebot „Basic“ um zwei weitere ergänzt. Die beiden neuen Pakete („Advanced“<br />
und Professional“) richten sich an diejenigen, die gemietete Sicherheitstechnik<br />
nicht selbst warten wollen. In der Variante „Advanced“ werden alle Wartungs-,<br />
Kalibrierungs- und Instandsetzungsarbeiten von einer Dräger-Werkstatt übernommen.<br />
In der „Professional“-Variante geschieht das vor Ort, beim Kunden. Die Deutsche<br />
Telekom gehört zu den größten Rental-Advanced-Kunden in Deutschland. Zusätzlich<br />
unterstützt Dräger mit einem Webtool bei der Verwaltung der Mietflotte.<br />
So bleibt transparent, welche Geräte wo im Einsatz sind und gegebenenfalls<br />
ausgetauscht werden müssen. Kontakt: thielo.hammer@draeger.com<br />
48 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
muss diese Fragen in Echtzeit beantworten<br />
können, ein leistungsfähiges Flottenmanagement<br />
vorausgesetzt. Das gilt auch<br />
jenseits von Autos und Fahrrädern.<br />
Mein oder dein? Diese Frage stellt<br />
sich inzwischen bei fast allen beweglichen<br />
Gütern – auch bei Gaswarngeräten. Die<br />
Deutsche Telekom etwa hat sich für die<br />
Miete von 1.800 mobilen Gaswarn geräten<br />
(Typ: Dräger X-am 5600) entschieden.<br />
Diese werden benötigt, damit Verlege- und<br />
Wartungsarbeiten an Leitungen gefahrlos<br />
durchgeführt werden können. Die Leitungen<br />
liegen oft in Schächten oder Kanälen,<br />
in denen Sauerstoffmangel, giftige Gase<br />
und explosive Dämpfe auftreten können.<br />
Um die Mitarbeiter frühzeitig vor diesen<br />
Gefahren zu warnen, sind alle mit entsprechenden<br />
Geräten ausgerüstet. Früher<br />
unterhielt das Unternehmen dafür<br />
einen eigenen Gerätepool. Die Erfahrungen<br />
zeigten jedoch, dass die flexible<br />
Bereitstellung von geprüfter und gewarteter<br />
Technik an unterschiedlichen Einsatzorten<br />
nicht zur vollen Zufriedenheit realisiert<br />
werden konnte. Zum einen, weil es<br />
am nötigen Know-how fehlte, die Geräte<br />
regelmäßig zu kalibrieren und damit einsatzbereit<br />
zu halten. Zum anderen, weil<br />
der logistische Aufwand sehr hoch ist,<br />
die 45 Standorte, mit ihren jeweils 20 bis<br />
120 Technikern, zuverlässig mit funktionstüchtigen<br />
Geräten zu versorgen.<br />
Stets einsetzbare Technik<br />
Dräger liefert nicht nur die Gaswarn geräte,<br />
sondern verantwortet auch das Flottenmanagement<br />
mithilfe einer webbasierten<br />
Software. Die Logistik wurde dabei spezifisch<br />
auf die Bedürfnisse der Deutschen<br />
Telekom zugeschnitten. Die Geräte werden<br />
in wiederverwendbaren Verpackungen<br />
geliefert, die einen doppelten Vorteil<br />
bieten: Sie ermöglichen die unkomplizierte<br />
Rücksendung auf dem Postweg, da sie<br />
bereits mit allen notwendigen Adressen<br />
versehen sind – zudem dienen sie als Ladestation,<br />
die das Aufladen der Geräte auch<br />
in den Fahrzeugen der Servicetechniker<br />
erlaubt. Die Technik ist somit stets einsatzbereit<br />
und erhöht die Mobilität und Sicherheit<br />
der Mitarbeiter.<br />
Stück<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
Die drei Varianten des Dräger Rental Service:<br />
Basic Advanced Professional<br />
Service<br />
1 Mietgeräte (einsatzbereit)<br />
2 Lieferung frei Haus<br />
3 Pick-Up-Service<br />
4 Wartung<br />
5 Fachgerechte Reparaturen<br />
6 Reparatur beim Dräger Service<br />
7 Reparatur beim Kunden<br />
8 Wiederverwendbare Verpackung<br />
9 Geräteversicherung<br />
10 Reparatur nach unsachgemäßem<br />
Gebrauch *<br />
0<br />
Service und Kosten im Paket enthalten Service kann zusätzlich gebucht werden<br />
Service für das Paket nicht erforderlich * Kundenindividuelle Kostenkalkulation<br />
Mieten oder kaufen? Eine Musterrechnung:<br />
Ein Unternehmen besitzt 20 mobile Gasmessgeräte (Typ: Dräger X-am 5000).<br />
Im Rückblick der letzten drei Jahre haben diese in mehr als der Hälfte aller Monate<br />
ausgereicht, um den Bedarf zu decken (siehe unten). Maximal wurden zusätzlich<br />
15 Messgeräte benötigt. Wäre es günstiger gewesen, diese zu mieten oder zu kaufen?<br />
In diesem Fall ergibt die Kalkulation der Gesamtkosten ein klares Ergebnis:<br />
Durch die Miete der zusätzlich benötigten Geräte in der Variante „Rental Basic“<br />
hätte der Kunde fast die Hälfte der Kosten gespart.<br />
Jan<br />
Feb<br />
Flexibler, tatsächlicher Bedarf über drei Jahre<br />
40.000 €<br />
20.000 €<br />
Dräger X-am 5000 Ex 2<br />
O 2<br />
CO/H 2<br />
N 1<br />
S<br />
Dräger X-am 5000 Ex 2<br />
O 2<br />
CO/H 2<br />
N 1<br />
S<br />
0<br />
Mrz<br />
Apr<br />
Mai<br />
Jun<br />
Jul<br />
Aug<br />
Sep<br />
Spitzenabdeckung<br />
durch Mietgeräte<br />
Okt<br />
Nov<br />
Dez<br />
50 %<br />
Jan<br />
Feb<br />
Mrz<br />
Apr<br />
Mai<br />
Jun<br />
Spitzenabdeckung durch Kauf<br />
(inkl. Gesamtbetriebskosten)<br />
Jul<br />
Aug<br />
Sep<br />
Okt<br />
Nov<br />
Dez<br />
Jan<br />
Feb<br />
Mrz<br />
Apr<br />
Mai<br />
Die Berechnungsgrundlage beruht auf dem Fallbeispiel aus der<br />
obigen Grafik, die Auswertung auf realistischen Schätzungen<br />
und Annahmen; sie kann aber keine Allgemeingültigkeit beanspruchen.<br />
Das Schaubild ist eine theoretische Beispieldarstellung.<br />
Die tatsächlichen Einsparungen hängen von den jeweiligen<br />
Rahmenbedingungen des Einzelfalls ab und variieren deshalb.<br />
Jun<br />
Jul<br />
Aug<br />
Sep<br />
Okt<br />
Nov<br />
Dez<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />
49
WISSENSCHAFT<br />
FLÜSSIGGAS<br />
GUTE<br />
Gasmotoren gehört die Zukunft in der internationalen<br />
Schifffahrt. Gasmesstechnik macht den Wechsel<br />
von Schweröl zu flüssigem Erdgas sicherer – sie kommt<br />
auch in Anlagen zum Einsatz, die Schiffe in Häfen mit<br />
Strom versorgen. Rußpartikel, Schwefel- und Stickoxide<br />
sind dann fast kein Thema mehr.<br />
Text: Peter Thomas<br />
50 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
AUSSICHTEN<br />
Netzwerk Ozeane:<br />
Die Grafik zeigt den Schiffsverkehr<br />
auf den Weltmeeren<br />
im Jahr 2012. Gelbe Linien<br />
stehen für die Routen von<br />
Containerschiffen, Tanker<br />
sind rot dargestellt, Schüttgutfrachter<br />
blau<br />
ILLUSTRATION: PAUL MALYUGIN/THINKSTOCK; KARTE: SHIPMAP.ORG<br />
WWenn die AIDAsol in Hamburg vor<br />
Anker geht, schaltet sie ihre Motoren ab.<br />
Denn während der Liegezeit des Kreuzfahrtschiffs<br />
übernimmt seit 2016 die<br />
LNG-Hybrid-Barge „Hummel“ die Stromversorgung.<br />
Der Schubleichter des Unternehmens<br />
Becker Marine Systems hat zwei<br />
Container mit bis zu je 17 Tonnen flüssigem<br />
Erdgas (Liquefied Natural Gas, LNG)<br />
an Bord. Daraus erzeugen Generatoren<br />
Strom.<br />
Die Stromversorgung von Hochseeschiffen<br />
in Häfen ist nicht einfach,<br />
teilweise verbrauchen sie am Kai so viel<br />
Energie wie eine Kleinstadt. Starkstromleitungen<br />
dauerhaft zu verlegen ist teuer.<br />
Eine Hybrid-Barge erreicht dagegen flexibel<br />
jedes Schiff, egal wo es vor Anker gegangen<br />
ist. Nach dem gleichen Prinzip funktionieren<br />
die viel größeren schwimmenden<br />
Kraftwerke „Karpowership“ des türkischen<br />
Unternehmens Karadeniz Energy, die mit<br />
LNG oder Schweröl betrieben werden. Sie<br />
leisten zwischen 30 und 470 Megawatt,<br />
die Hummel kommt immerhin auf bis zu<br />
7,5 Megawatt. Das reicht aus, um auch sehr<br />
energiehungrige Kreuzfahrtschiffe zu versorgen.<br />
Bei einer Liegezeit von etwa acht<br />
Stunden verbrauchen sie bis zu 40 Megawattstunden<br />
Strom, benötigen somit eine<br />
Versorgungsleistung von fünf Megawatt.<br />
Abschied vom Schweröl<br />
Bislang laufen meist die eigenen Motoren<br />
der Kreuzfahrtschiffe weiter, wenn sie<br />
irgendwo auf der Welt am Kai liegen. Die<br />
Maschinen erzeugen dann über ihre Gene-<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />
51
WISSENSCHAFT<br />
FLÜSSIGGAS<br />
Einsatz von LNG<br />
als Schiffstreibstoff<br />
wird zunehmen<br />
ratoren den benötigten Strom, während<br />
die Passagiere durch die jeweilige Stadt<br />
flanieren. Welche Emissionen dabei entstehen,<br />
hängt vom verwendeten Treibstoff<br />
ab. Am schlechtesten schneidet Schweröl<br />
ab, der bislang wichtigste Energielieferant<br />
für die internationale Schifffahrt.<br />
Deren dicke Abgaswolken mit viel Stickoxiden,<br />
Schwefeloxiden, Ruß und Feinstaub<br />
sind ein Gesundheits- und Umweltrisiko.<br />
Besser sieht die Bilanz bei Schiffen<br />
mit Abgasreinigung (Scrubber) aus. Sauberer<br />
als Schweröl ist der teurere Marinedieselkraftstoff,<br />
den heute die meisten<br />
Schiffe als Energielieferanten im Hafen<br />
nutzen. LNG schließlich schneidet hinsichtlich<br />
der Emissionen am besten ab.<br />
Seine ökologischen Vorteile hebt auch Max<br />
Kommorowski hervor, Leiter des Bereichs<br />
LNG Hybrid bei Becker Marine Systems:<br />
„Schwefeloxide und Rußpartikel finden<br />
sich überhaupt nicht mehr im Abgas, Stickoxide<br />
werden um bis zu 80 Prozent verringert,<br />
der Kohlendioxidausstoß sinkt um bis<br />
zu 20 Prozent.“ Bei Neubauten entscheiden<br />
sich deshalb heute immer mehr Reedereien<br />
für einen Gasantrieb. Auch AIDA<br />
setzt bei der nächsten Schiffsgeneration,<br />
die bis 2020 in Dienst gestellt werden<br />
soll, auf einen reinen LNG-Antrieb. „Bisher<br />
gibt es zwar erst rund 100 Schiffe mit<br />
LNG-Antrieb weltweit, aber viele befinden<br />
sich noch im Bau – insofern dürfte die Verbreitung<br />
dieser Technik in den kommenden<br />
Jahren exponentiell zunehmen“, sagt<br />
Maria Dimitrova, die bei Dräger die Fokusindustrie<br />
„Schiffbau“ betreut. Zudem gibt<br />
es Retrofit-Projekte, bei denen bestehende<br />
Schiffe mit Gasmotoren oder Dual-Fuel-<br />
Technik für den Wechsel zwischen Gas<br />
und einem anderen Treibstoff ausgestattet<br />
werden (siehe Interview, Seite 53).<br />
Kluger Übergang<br />
Aber was ist mit der umweltfreundlichen<br />
Energieversorgung im Hafen für die große<br />
Bestandsflotte mit älterer Motorentechnik?<br />
Hier setzt Becker Marine Systems mit der<br />
Hafenpanorama mit<br />
sauberer Energie:<br />
Macht die AIDAsol (links)<br />
in Hamburg fest, liefert<br />
die Hummel (rechts vorn)<br />
Strom aus LNG. Die Energie<br />
wird mit Starkstromkabeln<br />
übertragen (oben)<br />
52 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
Dräger PIR 7000:<br />
infrarot-optischer<br />
Transmitter, der den<br />
LNG-Betrieb an<br />
Bord der Hybrid-<br />
Barge Hummel<br />
überwacht<br />
Hummel an. „Die Idee für die LNG-Hybrid-Barge<br />
entstand 2012“, sagt Max Kommorowski.<br />
Mit AIDA als Partner hat das<br />
Unternehmen sein schwimmendes Kraftwerk<br />
zur Serienreife entwickelt, gebaut<br />
und 2015 in Betrieb genommen. Bis zum<br />
Saison ende 2016 wird die Barge wohl mehr<br />
als 30 Einsätze absolviert haben.<br />
Das Risiko beherrschen<br />
Das Gas wird in Containern an Bord geliefert.<br />
Aus der tiefkalten Flüssigphase wird<br />
das LNG dann verdampft und als klassisches<br />
Erdgas von den Motoren verbrannt.<br />
Damit steigt auch das Risiko, denn austretendes<br />
Gas birgt eine hohe Explosionsgefahr.<br />
„Deshalb wird der Betrieb an Bord<br />
der Barge mit zahlreichen Sensoren überwacht“,<br />
sagt Peter Wesselbaum, Experte<br />
für stationäre Gaswarnsysteme bei Dräger.<br />
„Zum Einsatz kommt eine redundante<br />
FOTOS: DR. KARL-HEINZ HOCHHAUS, GEORG WENDT/DPA, DRÄGERWERK AG & CO. KGAA<br />
FOTO: S. BARTA<br />
Dr.-Ing.<br />
Thomas Spindler<br />
ist Leiter des<br />
Bereichs Upgrades &<br />
Retrofits Four-Stroke<br />
Engines bei MAN<br />
PrimeServ<br />
„LNG wird immer wichtiger“<br />
MAN PrimeServ, die Servicemarke von MAN Diesel & Turbo, macht mit<br />
maßgeschneiderten Retrofits Viertakt-Schiffsdiesel fit für Flüssigerdgas.<br />
Herr Dr. Spindler, welches Potenzial sehen Sie in den<br />
kommenden Jahren für Retrofits, bei denen bestehende Schiffe<br />
mit herkömmlichen Motoren auf Dual-Fuel-Technologie mit<br />
LNG als alternativem Treibstoff umgerüstet werden?<br />
Das Potenzial ist erheblich: Retrofits sichern die langfristige<br />
Einsatzfähigkeit bestehender Schiffsantriebsanlagen angesichts immer<br />
strengerer Schwefel-Grenzwerte im Treibstoff. Dual-Fuel-Technik wird<br />
in den nächsten Jahren dazu beitragen, dass sich LNG als Schiffstreibstoff<br />
weiter durchsetzt: Mit jedem erfolgreichen Retrofit, bei dem wir Viertakt-<br />
Schiffsdiesel LNG-tauglich machen, steigern wir die Nachfrage nach LNG.<br />
Wir planen, Dual-Fuel Retrofit-kits für weitere Motorentypen zu entwickeln,<br />
die bisher noch nicht umgerüstet werden konnten. Das gilt für verschiedene<br />
Anwendungen wie Kreuzfahrtschiffe, Passagierfähren und Frachtschiffe.<br />
So wird LNG für viele Kunden zu einer Option.<br />
Wie genau läuft das Retrofit für den Dual-Fuel-Betrieb mit LNG ab?<br />
Ein gutes Beispiel dafür ist ein Projekt, das wir gerade abschließen:<br />
Die weltweit erste Umrüstung eines 1.000-TEU-Containerschiffs der Reederei<br />
Wessels, das mit einem MAN-Motor des Typs 8L48/60B angetrieben wird.<br />
Dieser Motor wird mit den Komponenten eines Serienmotors 51/60DF zum<br />
Dual-Fuel Motor umgebaut. Hinzu kommt die komplette Speicher-, Steuerungsund<br />
Messtechnik für LNG. Jedes Retrofit wird individuell geplant und in<br />
mehreren Schritten umgesetzt. Vom ersten Konzeptschritt bis zum erfolgreichen<br />
Projektabschluss dauert ein Retrofit durchschnittlich etwa ein Jahr.<br />
Hat MAN mit dem Kauf des Geschäftszweig Marine Fuel<br />
Gas Supply System von Cryo AB eine besondere Kompetenz<br />
im Sektor LNG erworben?<br />
MAN Diesel & Turbo hat mit dieser Übernahme einen strategisch wichtigen<br />
Zukauf für die Zukunft getätigt. Denn LNG wird als Kraftstoff für die<br />
Schifffahrt immer wichtiger. Unseren Kunden können wir so im Dual-Fuel-<br />
Segment und bei reinen LNG-Anlagen Gesamtlösungen aus einer<br />
Hand anbieten. Damit setzen wir uns an die Spitze des Marktes.<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />
53
WISSENSCHAFT<br />
FLÜSSIGGAS<br />
PowerPacs<br />
sollen auf<br />
Containerschiffen<br />
Strom liefern<br />
Streckenüberwachung mit Open-Path-<br />
Geräten. Dazu gibt es Punktmessungen<br />
über Infrarotsensoren in definierten<br />
Bereichen – vor allem mit dem Dräger PIR<br />
7000.“ Die Sensoren für punktuelle Messungen<br />
arbeiten vor allem an möglichen<br />
Leckagestellen, überwachen aber auch den<br />
Abluftstrom der Anlagen. Die Gasaufbereitungsanlage,<br />
Herzstück des Systems, wird<br />
mit beiden Verfahren überwacht.<br />
Nicht nur in Häfen, auch in den küstennahen<br />
Bereichen von Nord- und Ostsee,<br />
aber auch an der Ost- und West küste der<br />
USA gelten strenge Grenzwerte für Schwefeldioxid-,<br />
Stickoxid- und Rußpartikelemissionen<br />
von Schiffs motoren. Diese Emission<br />
Control Areas (ECA) wurden von der<br />
Internationalen Seeschifffahrts-Organisation<br />
(International Maritime Organization,<br />
IMO) festgelegt. Zuletzt wurden die Vorschriften<br />
für diese Zonen 2015 verschärft.<br />
Außerhalb gelten noch deutlich lockerere<br />
Eiskalte Energie<br />
Regelungen, weshalb viele Reedereien auf<br />
Dual-Fuel- Technologie setzen. Dabei wird<br />
innerhalb der ECA mit Gas, außerhalb mit<br />
Schweröl gefahren. Ab 2020 sollen weltweit<br />
viel strengere Emissionsregeln gelten.<br />
„Dann dürfte es sehr schwer werden,<br />
überhaupt noch mit Schweröl zu fahren“,<br />
sagt Dräger- Expertin Dimitrova. LNG habe<br />
daher ein großes Zukunftspotenzial.<br />
Gute Aussichten attestiert auch Max<br />
Kommorowski dem verflüssigten Erdgas.<br />
Dabei werde die Hybridtechnik auf absehbare<br />
Zeit eine wichtige Rolle spielen, um<br />
vor Anker liegende Schiffe zu versorgen.<br />
Hier denkt der Ingenieur nicht nur an<br />
LNG-Hybrid-Barges wie die Hummel, die<br />
Becker Marine Systems mit bis zu 14-Megawatt<br />
Leistung bauen könnte. Auch Containerschiffe<br />
hat das Unternehmen im Blick.<br />
Sie liegen meist zwischen 24 und 48 Stunden<br />
am Terminal, um gelöscht und wieder<br />
beladen zu werden. In dieser Zeit will man<br />
sie mit so genannten LNG PowerPacs versorgen:<br />
1,5-Megawatt- Kraftwerke im Format<br />
von vier 40-Fuß-Containern, die aufgrund<br />
ihrer kompakten Größe komplett auf<br />
das Schiff gesetzt werden. Im kommenden<br />
Jahr soll es so weit sein – als erster Einsatzort<br />
käme wieder Hamburg in Frage. Nachfrage<br />
dafür sollte es ausreichend geben.<br />
Schließlich wird hier jährlich Fracht im<br />
Umfang von 3,2 Millionen 20-Fuß-Containern<br />
(TEU) von Schiffen aus aller Welt<br />
umgeschlagen.<br />
Liquified Natural Gas (LNG) ist die unter –160 Grad Celsius kalte Flüssigphase von Erdgas.<br />
LNG lässt sich außerhalb von Leitungsnetzen effizient transportieren und lagern, weil<br />
es ein 600-fach kleineres Volumen als nicht komprimiertes Erdgas hat. Zwar muss beim<br />
LNG-Transport Energie für die Kühlung aufgewendet werden, das gilt aber auch für<br />
den Transport in Pipelines, wo entlang der Strecke der Druck regelmäßig erhöht werden<br />
muss. Transportiert wird LNG traditionell mit Tankschiffen. Der Einsatz als Schiffstreibstoff<br />
bedarf dennoch neuer Regelungen. Seit 2015 ist der IGF-Code des IMO in Kraft (International<br />
Code for Ships Using Gas or Other Low-Flashpoint Fuels), der unter anderem Art und<br />
Anzahl der notwendigen Messköpfe vorschreibt. Im Vordergrund steht dabei der Explosionsschutz.<br />
In inertisierten Bereichen muss zudem der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre<br />
(beispielsweise durch Geräte der Dräger-Polytron-Familie) gemessen werden. Wegen<br />
des kontinuierlichen Ausbaus der Produktions- und Transportkapazitäten von LNG<br />
wird der Treibstoff immer günstiger. Auch das macht ihn für die Schifffahrt interessant.<br />
ILLUSTRATIONEN: PICFOUR<br />
EMISSIONEN<br />
CO 2<br />
-Verbrauch, um eine<br />
Tonne Fracht einen Kilometer<br />
weit zu transportieren:<br />
Containerschiff, 18.000 TEU<br />
3<br />
Gramm<br />
Güterzug<br />
21<br />
Gramm<br />
Lastwagen, 40 Tonnen<br />
80<br />
Gramm<br />
Flugzeug<br />
435<br />
Gramm<br />
54 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
WELCHER VERKEHRSSEKTOR<br />
STÖSST WIE VIEL<br />
TREIBHAUSGASE AUS?<br />
Zahlen für die Europäische Union<br />
(Stand 2013):<br />
WIE VIEL SCHWEFEL ENTHALTEN<br />
WELCHE TREIBSTOFFE?<br />
LNG<br />
0,0<br />
PROZENT<br />
Personenkraftwagen<br />
43,2 %<br />
Schwere<br />
Nutzfahrzeuge<br />
und Busse<br />
19,3 %<br />
Internationale<br />
Schifffahrt<br />
12 %<br />
Internationaler<br />
Flugverkehr<br />
11,6 %<br />
Leichte<br />
Nutzfahrzeuge<br />
8,7 %<br />
Binnenschifffahrt<br />
1,4 %<br />
LKW-DIESEL<br />
0,001 PROZENT<br />
MARINEDIESEL LS-MGO<br />
(Häfen)<br />
0,1 PROZENT<br />
SCHWERÖL LOW SULPHUR IFO 380<br />
(Emissionskontrollzonen, ECA)<br />
1,0 PROZENT<br />
SCHWERÖL IFO 380<br />
(Hochsee)<br />
2,5 PROZENT<br />
Inlandsflüge<br />
1,4 %<br />
Andere<br />
Verkehrsmittel<br />
0,9 %<br />
Motorräder<br />
0,9 %<br />
Eisenbahnen<br />
(ohne elektrische<br />
Traktion)<br />
0,6 %<br />
DIE BAUSTEINE<br />
DER WELTWIRTSCHAFT<br />
Container tragen besonders stark<br />
zum Wachstum des Schiffsverkehrs bei.<br />
Die weltweite Kapazität an Containerschiffen,<br />
angegeben in Twenty-Foot- Equivalent-<br />
Unit (TEU), beträgt 2016 rund 20 Millionen TEU.<br />
Die weltweite (für die Schifffahrt verwendete)<br />
Containerflotte umfasst rund 40 Millionen TEU.<br />
Die größten Containerschiffe der Welt tragen<br />
heute mehr als 18.000 TEU – im Jahr 1967<br />
waren es noch 700.<br />
ILLUSTRATION: CONSTANTINE PANKIN/SHUTTERSTOCK<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />
55
Die Hauptstadt-<br />
Die Berliner Feuerwehr ist die größte und älteste Berufsfeuerwehr Deutschlands.<br />
Doch für die Brandschützer zählt nicht nur die Vergangenheit – auch deshalb engagieren<br />
sie sich bei Forschungsprojekten und kämpfen gegen den Nachwuchsmangel.<br />
Text: Peter Thomas<br />
Einsätze in der Großstadt umfassen typische<br />
Gebäudebrände ebenso wie den Rettungsdienst<br />
und Großschadenslagen. Fast 400.000 Mal im<br />
Jahr rückt die Berliner Feuerwehr aus<br />
Feuer<br />
V<br />
Von wegen Feierlaune – Silvester kann auch anstrengend<br />
sein: Mehr als 1.500 Einsätze in nur zehn Stunden,<br />
Einsatzbereitschaft für 380 Fahrzeuge, Doppelbesetzung<br />
der Leitstelle mit mehr als 50 Beamten. Das war der<br />
Jahreswechsel 2015/2016 aus Sicht der Berliner Feuerwehr.<br />
Hinter der Statistik dieses mit Abstand einsatzstärksten Abends<br />
des ganzen Jahres stecken auch Löscheinsätze, bei denen<br />
die Beamten mit Böllern beworfen wurden. Hinzu kam der<br />
Brandschutzdienst für eine Großveranstaltung mit<br />
mehreren hunderttausend Besuchern.<br />
Es sind Nächte wie diese, die das öffentliche Bild von Deutschlands<br />
größter und ältester ziviler Feuerwehr prägen: Hohe<br />
Einsatzdichte, spektakuläre Alarme, schwierige Bedingungen.<br />
Und das, so die regelmäßigen Schlagzeilen des Boulevard, gilt<br />
nicht nur zum Jahreswechsel: „Brennende Mülltonnen im<br />
Prenzlauer Berg, Barrikaden in Friedrichshain“. Oder:<br />
„Großeinsatz: Berliner Feuerwehr räumt ICE in Spandau“.<br />
Herausforderung Zukunft<br />
Die Wirklichkeit sieht glücklicherweise nüchterner aus.<br />
„Die Berliner Feuerwehr hat für eine Großstadt ein durchaus<br />
typisches Einsatzaufkommen“, sagt Landesbranddirektor<br />
Wilfried Gräfling. Dass die Einsatzzahlen kontinuierlich<br />
56 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
IN METROPOLEN<br />
BRANDSCHUTZ<br />
Wie alles begann<br />
Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Berliner Feuerwehr gegründet –<br />
ihre Geschichte ist so abwechslungsreich wie die der Hauptstadt.<br />
wehr<br />
steigen, sei keine Berliner Besonderheit. Die wichtigste<br />
Herausforderung für den Brandschutz in der Hauptstadt sieht<br />
Gräfling denn auch in der Gestaltung der Zukunft und nicht<br />
in medienwirksamen Großlagen. „Daran arbeiten wir seit Jahren<br />
konzentriert.“ Ein Ergebnis sind etwa attraktive Karriereangebote<br />
bei der Feuerwehr, um dem demografischen Wandel<br />
entgegenzuwirken. Aber auch die aktive Forschung für Brandund<br />
Katastrophenschutz gehört dazu. Sabina Kaczmarek leitet<br />
den Bereich Forschung bei der Berliner Feuerwehr. Im Mai<br />
2016 ist sie für ihre Leistungen von der Vereinigung zur Förderung<br />
des Deutschen Brandschutzes e. V. (vfdb) mit dem Excellence<br />
Award ausgezeichnet worden. Finanziert werden die<br />
Projekte vor allem vom Bundesministerium für Bildung und<br />
FOTOS: FEUERWEHR-DOKU, SEBASTIAN HAASE<br />
1851: Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen, befiehlt die Gründung<br />
einer Berufsfeuerwehr in Berlin. Grund dafür ist die Zunahme von Großbränden<br />
in der von schnellem Wachstum, Verdichtung und Industrialisierung<br />
geprägten Stadt. Erster Branddirektor ist Ludwig Carl Scabell.<br />
1850er-Jahre: Siemens und Halske beginnen mit der Installation<br />
eines elektrischen Feuermeldenetzes. Erster Neubau einer Feuerwache,<br />
zudem wird das Leitungsnetz für die Trinkwasserversorgung mit mehr<br />
als 1.500 Hydranten für den Brandschutz nutzbar gemacht.<br />
1870er- und 1880er-Jahre: Mechanisierung des Brandschutzes<br />
durch Dampfspritzen, die von Pferden gezogen werden.<br />
Die erste Drehleiter wird in Dienst gestellt.<br />
1900er-Jahre: Die Umstellung des Fahrzeugparks<br />
auf Automobile beginnt.<br />
1930er-Jahre: Gleichschaltung der Feuerwehr während der<br />
NS-Zeit als Feuerlöschpolizei. Der Reichstagsbrand 1933 gehört<br />
über seine politischen Nachwirkungen hinaus zu den großen<br />
Einsätzen vor dem Zweiten Weltkrieg.<br />
1940er-Jahre: Nach Ende des Zweiten Weltkriegs (1945) erfolgt drei<br />
Jahre später die organisatorische Teilung der Feuerwehr in Ost und West.<br />
1950er-Jahre: Die Ostberliner Feuerwehr wird der Volkspolizei<br />
angeschlossen.<br />
1960er-Jahre: Die Westberliner Feuerwehr übernimmt<br />
den Rettungsdienst im westlichen Teil der Stadt.<br />
1990: Durch die Wiedervereinigung entsteht wieder eine gemeinsame<br />
Berliner Feuerwehr mit mehreren Tausend Berufsfeuerwehrleuten.<br />
Qualifikation zählt:<br />
In der Aus- und<br />
Weiterbildung spielt<br />
die Berliner Feuerwehrund<br />
Rettungsdienstakademie<br />
(BFRA) mit<br />
fast 100 Beschäftigten<br />
eine Schlüsselrolle<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />
57
BRANDSCHUTZ<br />
IN METROPOLEN<br />
Das große Einsatzspektrum<br />
der Berliner Feuerwehr<br />
spiegelt sich auch in<br />
Trainings- und Übungsanlagen<br />
wider – sie reichen<br />
vom eigenen U-Bahn-<br />
Übungstunnel (links) bis<br />
zum Fahr simulator für<br />
Großfahrzeuge (unten)<br />
Weichen<br />
für die Zukunft<br />
Forschung im Rahmen des seit 2007 aufgelegten Programms<br />
„Forschung für die zivile Sicherheit“, aber auch durch Mittel<br />
der Europäischen Union. Neun Projekte haben die Berliner<br />
Brandschützer bereits mit Partnern aus der Wissenschaft<br />
abgeschlossen, weitere vier laufen derzeit. Dabei geht es um<br />
Druckluftschaum als alternatives Löschmittel (AERIUS), ausfallsichere<br />
Lagebildinformationen für organisationsübergreifende<br />
Krisenstäbe (AlphaKomm), situationsbezogene Einbindungen<br />
von Freiwilligen in urbane Krisenlagen über eine App<br />
(ENSURE) und um die Nutzung moderner Sensorik zur Verbesserung<br />
von Lösch-, Rettungs- und Evakuierungsmaßnahmen<br />
in unterirdischen Verkehrsanlagen (SenSE4Metro).<br />
OSZE empfiehlt Forschungsprojekte<br />
„Wir schauen grundsätzlich über den Tellerrand“, fasst<br />
Sabina Kaczmarek die Bandbreite zusammen. Das gilt auch<br />
für die geografische Verteilung der Partner. Bei SenSE4Metro<br />
arbeite man mit Wissenschaftlern aus Indien zusammen.<br />
„Bei allen Projekten sind wir vor allem Praxispartner“, sagt<br />
Kaczmarek. „Voraussetzung für das Engagement der Berliner<br />
Feuerwehr ist jeweils, dass ein Projekt eine konkrete Verbesserung<br />
für die Bürger oder für die Sicherheit der Einsatzkräfte<br />
bringt – und sich auch praktisch umsetzen lässt.“<br />
Zwei dieser Projekte werden bereits von der Organisation für<br />
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) empfohlen:<br />
„TankNotStrom“ hat die sichere Energie- und Kraftstoffversorgung<br />
kritischer Infrastrukturen bei langfristigen Stromausfällen<br />
zum Ziel. Und das Programm „Kat-Leuchttürme“<br />
schafft feste wie mobile Anlauf- und Informationsstellen für<br />
Bürger, wenn im Katastrophenfall Strom- und Kommunikationsnetze<br />
länger ausfallen. Bereits in die Praxis umgesetzt wurden<br />
die Erfahrungen aus dem Projekt „Stroke-Einsatz-Mobil“<br />
(STEMO). Die Berliner Feuerwehr hat als weltweit erster Rettungsdienst<br />
einen Computertomografen dauerhaft in einem<br />
Rettungstransportwagen (RTW) verbaut – das Gerät ist telemedizinisch<br />
mit dem Krankenhaus verbunden. So konnte<br />
die Zeit von der Diagnose bis zum Beginn der Thrombolysebehandlung<br />
um bis zu 25 Minuten verringert werden. Die<br />
Erfahrung mit dem spezialisierten RTW war Grundlage dafür,<br />
dass das Berliner Abgeordnetenhaus die Anschaffung von<br />
vier weiteren Stroke-Mobilen beschlossen hat.<br />
Forschung für die Zukunft von Brandschutz, Rettungsdienst<br />
und Katastrophenschutz produziert selten so bunte<br />
Schlagzeilen wie ein spektakulärer Großeinsatz. Doch die Berliner<br />
Feuerwehr stellt damit wichtige Weichen für die Zukunft –<br />
für sich, die Bürger und Hilfsorganisationen in aller Welt.<br />
58 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
FOTOS: BERLINER FEUERWEHR(2), SEBASTIAN HAASE; ILLUSTRATIONEN: ISTOCKPHOTO<br />
„Wir schauen nach vorn“<br />
Wilfried Gräfling ist seit zehn Jahren Landesbranddirektor und Leiter<br />
der Berliner Feuerwehr. Gräfling hat in Bochum Elektrotechnik<br />
sowie Wirtschaftswissenschaften studiert. Nach dem Referendariat<br />
in Leverkusen wechselte er 1983 nach Berlin und war von<br />
2001 bis 2006 Vertreter des Landesbranddirektors.<br />
Herr Gräfling, was macht die Arbeit der Berliner Feuerwehr aus?<br />
Zunächst einmal stehen wir vor ähnlichen Herausforderungen wie die Feuerwehren<br />
in jeder anderen Großstadt. Aber Berlin ist ja nicht nur Deutschlands größte Kommune,<br />
mit 3,5 Millionen Einwohnern, sondern hat als Hauptstadt zudem viele besondere<br />
Einrichtungen, für die es gesonderte Einsatzpläne gibt. Dazu gehören etwa der<br />
Reichstag und das Bundeskanzleramt. Wenn von dort ein Alarm eingeht, rücken<br />
automatisch mehr Fahrzeuge, Einsatz- und Führungskräfte aus. Eine Besonderheit<br />
stellen auch Botschaften dar, die exterritoriales Gebiet sind. Und während wir wenige<br />
Hochtempoabschnitte im Straßennetz haben, gibt es in Berlin viele unterirdische<br />
Verkehrsanlagen. Für derartige Einsätze trainieren die Einsatzkräfte in einer eigenen<br />
Übungsanlage, die in einer Stichstrecke des U-Bahn-Netzes eingerichtet ist.<br />
Immer wieder wird von mangelndem Respekt gegenüber<br />
Brandschützern berichtet. Ist das in Berlin ein Thema?<br />
Ich denke, dass der Mangel an Respekt nicht nur Feuerwehrleute betrifft,<br />
sondern sich in allen Teilen der Gesellschaft auswirkt. Das führt nicht automatisch<br />
zu Gewalt – aber man sollte das Risiko nicht verharmlosen. Wir bereiten unsere<br />
Feuerwehrleute so gut wie möglich auf kritische Situationen vor. Dazu gibt es<br />
Fortbildungen, in denen Beamte und Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehren lernen,<br />
sich in bedrohlichen Situationen entsprechend zu verhalten – und zu deeskalieren.<br />
Aber auch den Umgang mit psychologischen Belastungen trainieren wir.<br />
Berlin ist fast 900 Quadratkilometer groß.<br />
Ist das eine Herausforderung für die Kommunikationstechnik?<br />
Wir setzen auf digitalen BOS-Funk. Er funktioniert gut, könnte aber besser funktionieren<br />
– insbesondere in Objekten mit analogen Gebäudefunkanlagen, die Bestandsschutz<br />
haben. Eine Besonderheit ist, dass wir die auf den Fahrzeugen eingesetzten<br />
Computer seit Neuestem mit der FIRE-App unterstützen, die von Linnart Bäker<br />
entwickelt wurde. Die App erzeugt aus den Daten des Leitrechners aktuelle Einsatzinformationen<br />
für den C-, B- und A-Dienst. Dazu gehören Adressen, Kartenausschnitte,<br />
Angaben über Einsatzkräfte, Löschwasserversorgungs- und objektspezifische Feuerwehrpläne.<br />
Wir haben die App im vergangenen Jahr auf der Interschutz vorgestellt.<br />
Sie ist ein gutes Beispiel für unsere Maxime, Innovationen aus der Praxis für die Praxis<br />
zu entwickeln. Die Kommunikation mit der Bevölkerung ist genauso wichtig. Deshalb<br />
werden Katwarn-Alarme in Berlin nicht nur über das Smartphone angezeigt, sondern<br />
auch auf Bildschirmen der Verkehrsbetriebe und digitalen Werbetafeln im Stadtbild.<br />
Welche Ziele hat sich die Berliner Feuerwehr für die Zukunft gesetzt?<br />
Zum Beispiel wollen wir eingehende Notrufe noch besser differenzieren und klassifizieren.<br />
Denn das entscheidet, was wir mit welchen Ressourcen bedienen. Und bei der<br />
Nachwuchsförderung schaffen wir beispielsweise durch die Zugangsmöglichkeiten<br />
zum mittleren Dienst bereits heute Strukturen für die Zukunft. Auch technisch<br />
schauen wir nach vorn: Zu den wissenschaftlich begleiteten Forschungsprojekten der<br />
Berliner Feuerwehr gehört ein Vorhaben, bei dem Druckluftschaum erprobt wird. Die<br />
Anwendung hat das Potenzial, die gleiche Menge Löschmittel mit einem Bruchteil an<br />
Ressourcen zu erzeugen. Bei all diesen Schritten ist es nicht nur wichtig, die Mitarbeiter<br />
zu begeistern, sondern auch ihr umfangreiches Know-how einfließen zu lassen.<br />
Berliner<br />
Brandschutz<br />
in Zahlen<br />
Sicherheit für 3,5 Millionen<br />
Menschen – auf fast 900 Quadratkilometern<br />
Landesfläche.<br />
3.900 Mitarbeiter,<br />
zuständig für 3,5<br />
Millionen Einwohner,<br />
rund 390.000<br />
Einsätze im Jahr –<br />
Berlins Feuerwehr ist<br />
die älteste, größte und am häufigsten<br />
alarmierte Feuerwehr Deutschlands.<br />
Im Einsatzdienst besetzen jeweils<br />
550 Berufsfeuerwehrleute rund<br />
um die Uhr die 34 Feuerwachen und<br />
33 Rettungsdienststützpunkte.<br />
Üblich sind Zwölf-Stunden-Schichten mit<br />
Personalwechsel um 7 Uhr und 19 Uhr.<br />
Unterstützung erhalten die<br />
hauptamtlichen Kräfte von<br />
57 Freiwilligen<br />
Feuerwehren im<br />
892 Quadratkilometer<br />
großen Gebiet des<br />
Landes Berlin – sie<br />
zählen mehr als<br />
1.400 Mitglieder. Ein direkter Vergleich<br />
mit anderen europäischen Hauptstädten<br />
ist schwierig, zu sehr unterscheiden sich<br />
die Strukturen und Rahmenbedingungen.<br />
Beispielsweise untersteht die Brigade<br />
de Sapeurs-Pompiers de Paris mit<br />
ihren 8.000 Einsatzkräften dem Militär.<br />
Die London Fire Brigade ist für die<br />
Sicherheit von mehr als doppelt so vielen<br />
Einwohnern wie in Berlin verantwortlich,<br />
fährt aber ohne Rettungsdienst nur ein<br />
Viertel der Einsätze. Und die Vigili del<br />
Fuoco stechen hinsichtlich ihrer<br />
Geschichte heraus: In Rom beruft man<br />
sich auf eine Geschichte<br />
hauptberuflichen<br />
Brandschutzes, die<br />
bis ins erste<br />
Jahrhundert<br />
nach Christus<br />
zurückreicht.<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016 59
ESSAY<br />
GESELLSCHAFT<br />
Trügt der Schein?<br />
Glaubt man vielen Medien,<br />
wird die Welt von<br />
Tag zu Tag schlechter.<br />
Tatsächlich<br />
entwickelt sie sich<br />
zum Besseren, wie<br />
viele Indikatoren zeigen.<br />
Ein Zwischenruf.<br />
Text: Nils Schiffhauer<br />
60 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
Allen Rückschlägen zum Trotz<br />
Die Welt ist besser geworden, trotz mancher<br />
Rückschläge. Ein genauer Blick bestätigt diese<br />
Entwicklung, zeigt aber auch Lösungen und<br />
Handlungsbedarf auf: etwa bei der Gesundheit,<br />
die laut WHO „vollständiges körperliches,<br />
geistiges und soziales Wohlergehen“<br />
umfasst; hier dargestellt an den Parametern<br />
Ernährung, Lebenserwartung und Hygiene.<br />
FOTO: UNSCHULDSLAMM/PHOTOCASE.DE, ILLUSTRATIONEN: PICFOUR<br />
S<br />
Sobald man die Zeitung aufschlägt<br />
oder die unzähligen Tweets und Nachrichten<br />
verfolgt, blickt man schnell in<br />
eine Welt voller Gewalt, Katastrophen<br />
und Krisen. Wer jedoch die eigenen<br />
Lebensumstände – wie Ernährung, Wohnung,<br />
Familienverhältnisse, Einkommen,<br />
Gesundheit und die Sicherheit der selbst<br />
genutzten Transportmittel – dagegenhält,<br />
kann für sich, seine Familie und Freunde<br />
zu einem ganz anderen Bild kommen. Die<br />
überwiegende Mehrheit der Menschen<br />
sieht ihr Leben als „normal“ an, wenngleich<br />
es von Land zu Land und zwischen<br />
den Einkommensschichten objektiv deutliche<br />
Unterschiede gibt. Und wer als<br />
Feuer wehrmann, Notärztin oder Polizist<br />
fast täglich mit Negativem konfrontiert<br />
wird, der hat sich genau diese Abschaffung<br />
von Not und Elend zur anstrengenden<br />
Lebensaufgabe gemacht.<br />
Leben im Paralleluniversum<br />
Die Wirklichkeit der Welt und ihr Bild in<br />
den Medien klaffen mitunter weit auseinander.<br />
Einige Medien lenken den Blick<br />
bewusst auf das Abseitige – sie dramatisieren,<br />
skandalisieren und führen mit süffisanten<br />
Geschichten jeden Tag aufs Neue<br />
vor, wie recht der Volksmund hat, wenn<br />
er von der Schadenfreude als der größten<br />
Freude spricht. Diese Tendenz zur Verzerrung<br />
hat mit den sozialen Medien deutlich<br />
zugenommen. Jeder Unfall, jeder Tatort<br />
ist rasch von Schaulustigen mit ihren<br />
Handys umringt. Bilder und Videos werden<br />
in Echtzeit ins Netz gestellt – geteilt und<br />
gelikt schwärmen sie hunderttausendfach<br />
aus. Wenn aber das nicht die Realität der<br />
Welt ist, wie wirklich ist dann die Wirklichkeit?<br />
Der Wissenschaftler Paul Watzlawick,<br />
ab 1976 Psychiatrieprofessor an der Stanford<br />
University, stellte diese Frage nicht<br />
nur, sondern unterstreicht in seiner Antwort<br />
die fast ausschließliche Bedeutung<br />
der vielfältigen Formen von Kommunikation,<br />
die ein Weltbild prägen. Zeigt die<br />
öffentliche Kommunikation eine Ausnahmewelt,<br />
frisst sich genau die in die Köpfe.<br />
„Menschen beurteilen die Situation<br />
nicht nach ihrer persönlichen Lage, sondern<br />
nach dem, was sie etwa im Fernsehen<br />
sehen – irgendwann leben sie in<br />
einem Paralleluniversum“, hat der Nobelpreisträger<br />
für Wirtschaft Paul Krugman<br />
beobachtet.<br />
Geistiger Kurzschluss<br />
dank Glückshormon<br />
Sensationsgier und Schaulust sind<br />
ur-menschliche Eigenschaften. Sie haben<br />
mit Neugierde zu tun, und dem unbewussten<br />
Wunsch nach Bestätigung der<br />
eigenen Unversehrtheit beim Betrachten<br />
des Leids anderer. „Berichte über Gewalt<br />
und die Abwertung anderer Menschen<br />
können eine Dopamindusche in Gang setzen“,<br />
sagt der renommierte Hirnforscher<br />
Professor Gerald Hüther. Die Ausschüttung<br />
dieses als Glückshormon bezeichneten<br />
Neurotransmitters sei für viele Menschen<br />
so attraktiv, dass sie hierfür die im<br />
Frontalhirn angelegten Kontrollfunktionen<br />
umgingen, die sonst ihre niederen<br />
Instinkte kontrollierten. So machen sie<br />
sich biologisch (wieder) zum Affen. Lustgewinn<br />
durch Zuschauen ohne Anstrengung<br />
– ob live oder im Fernsehen. „Ein<br />
Spaß ohne Aufwand“, wie der Psychiater<br />
und Soziologe Professor Fritz B. Simon<br />
ERNÄHRUNG<br />
Die Produktivität der Landwirtschaft<br />
ist unglaublich gestiegen. So wuchs der<br />
Hektarertrag von Weizen allein in Deutschland<br />
zwischen 1900 und 2010 um das<br />
Vierfache. Ernährte ein Landwirt früher<br />
rund vier Mitbürger, so sind es heute 131 –<br />
ein Erfolg von Forschung, Technisierung,<br />
Züchtung und moderner Bewirtschaftung.<br />
Gleichwohl ist in vielen Ländern das<br />
Gespenst der Unterernährung noch<br />
immer nicht gebannt. Für 2015 meldet die<br />
Welternährungsorganisation FAO, dass<br />
10,8 Prozent aller Menschen unterernährt<br />
sind, in Afrika sogar jeder Fünfte. Doch<br />
die Situation hat sich verbessert: 1991<br />
hungerten noch 18,6 Prozent der Weltbevölkerung,<br />
in Afrika mehr als jeder Vierte.<br />
LEBENSERWARTUNG<br />
Sie stieg laut WHO zwischen 1990 und 2013<br />
weltweit von 64 auf 71 Jahre. Nach wie<br />
vor ist sie eng an das Einkommen gekoppelt –<br />
Höherverdiener leben durchschnittlich<br />
17 Jahre länger. Dennoch konnte gerade die<br />
untere der vier WHO-Einkommensschichten<br />
dank besserer ärztlicher Versorgung und<br />
Hygiene ihre Lebenserwartung am stärksten<br />
steigern: um 17 Prozent. Umgekehrtes gilt<br />
für Neugeborene, die das erste Lebensjahr<br />
nicht erreichen. Dieser Wert hat sich<br />
zwischen 1990 und 2013 von 33,3 auf 20,0<br />
reduziert (je 1.000 Lebendgeburten).<br />
HYGIENE<br />
Der Zugang zu Toiletten wurde von 1990<br />
bis 2015 von 54 auf 68 Prozent der Weltbevölkerung<br />
gesteigert. In den am wenigsten<br />
entwickelten Ländern verdoppelte sich<br />
diese Zahl fast – von 20 auf 38 Pro zent der<br />
Einwohner. Doch weiterhin sterben weltweit<br />
jährlich 700.000 Kinder an Durchfall, den<br />
bessere hygienische Verhältnisse verhindern<br />
könnten. Daran arbeiten Regierungen<br />
und private Organisation, wie etwa die<br />
Bill & Melinda Gates Foundation mit ihrer<br />
Initiative „Die Toilette neu erfinden“.<br />
DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />
61
ESSAY<br />
GESELLSCHAFT<br />
BILDUNG<br />
Nach einer Untersuchung der UNESCO<br />
ist die Analphabetenrate von 1999 bis<br />
2014 weltweit von 12,7 auf 9,4 Prozent<br />
zurückgegangen – und wer lesen kann,<br />
hat auch die Chance auf ein höheres<br />
Einkommen. Liegt der Wert der<br />
Analphabeten in den am wenigsten<br />
entwickelten Ländern bei 32 Prozent, so<br />
ist er in den Ländern mit dem höchsten<br />
Einkommen mit unter 0,5 Prozent kaum<br />
noch messbar. Das Internet hat den<br />
Zugang zu weiterer Bildung beinahe<br />
entmaterialisiert. Die Zahl der Internetanschlüsse<br />
stieg weltweit von 121 Millionen<br />
im Jahr 1997 auf geschätzt gut<br />
3,4 Milliarden in 2016. Damit hat fast<br />
jeder zweite der 7,35 Milliarden Weltbürger<br />
Zugang zu vielen oft kostenlosen<br />
und hochwertigen Angeboten, unter<br />
denen seit 2008 das Konzept kostenloser<br />
Onlinekurse besonders hervorsticht.<br />
Diese „Massive Open Online Courses“<br />
ermöglichen das Fernstudium selbst an<br />
Spitzenuniversitäten wie Harvard und<br />
Stanford oder an der LMU München.<br />
GEWALT<br />
Wo viele Medien eine Welt voller Gewalt<br />
sehen, sieht die Welt tendenziell eine<br />
Abnahme von Gewalt. Diese Erkenntnis<br />
verdankt sich einer Untersuchung<br />
des Harvard-Professors Steven Pinker.<br />
Im Ergebnis hält der Psychologe und<br />
Hirn forscher fest: „Die Gewalt ist über<br />
lange Zeiträume immer weiter zurückgegangen,<br />
und heute dürften wir in der<br />
friedlichsten Epoche leben, seit unsere<br />
Spezies existiert.“ Dieser Rückgang sei<br />
ein Ergebnis des jahrtausendelangen<br />
Zivilisationsprozesses, dank dessen die<br />
Menschheit trotz aller Kriege und<br />
Exzesse „auch Wege gefunden hat, um<br />
für einen immer größeren Anteil die<br />
Möglichkeit zu schaffen, in Frieden zu<br />
leben und eines natürlichen Todes zu<br />
sterben.“ Eine Entwicklung, die in der<br />
Welt unterschiedlich ausgeprägt ist.<br />
Und immer wieder gibt es Rückschläge,<br />
wie die relativ neue Gewaltform des<br />
Terrorismus als asymmetrische Kriegsführung<br />
zeigt. Die Zahl der Terrortoten<br />
steigt tendenziell und lag 2015 bei 28.328<br />
Opfern – gegenüber 2012 eine Verdreifachung.<br />
Doch selbst da durch ändert<br />
sich das Gesamtbild kaum: Über längere<br />
Zeiträume gesehen, ist das Leben der<br />
Menschen sicherer geworden.<br />
Kritisch<br />
bleiben<br />
und<br />
Lösungen<br />
miteinbeziehen<br />
sagt. Die Wirklichkeit ist<br />
komplex, sie zu verstehen<br />
bedeutet Arbeit. Ein<br />
Flugzeugabsturz beherrscht die Schlagzeilen,<br />
zieht weltweites Interesse auf sich,<br />
erzeugt wohliges Grauen und macht Angst<br />
vor der nächsten Flugreise. Man nimmt<br />
das Auto! Und das, obwohl die Zivilluftfahrt<br />
im Durchschnitt der letzten fünf<br />
Jahre lediglich 428 Todesopfer pro Jahr<br />
forderte. Schon vor sechs Jahren stellte<br />
das Statistische Bundesamt fest: Bezogen<br />
auf die Personenkilometer sei das Flugzeug<br />
das sicherste Transportmittel, und<br />
919 Mal sicherer als das Auto. Eine derartige<br />
Einordnung wird niemals Spitzenmeldung,<br />
denn sie setzt kaum Dopamin<br />
frei. Und doch gibt es eine Gegenbewegung.<br />
Sie stammt aus der positiven Psychologie<br />
und greift seit den 1990er-Jahren<br />
die ursprünglich 1954 von Abraham<br />
Maslow geprägte Auffassung wieder auf,<br />
dass die Psychologie sich nicht nur mit<br />
den menschlichen Defiziten beschäftigen<br />
sollte, sondern auch die Grundlagen der<br />
positiven Aspekte des Menschseins erforschen<br />
möge. Erkenntnisse daraus zieht<br />
auch der konstruktive Journalismus. Der<br />
bleibt kritisch, versetzt den Leser aber<br />
nicht mehr in einen permanenten Erregungszustand,<br />
sondern bezieht lösungsorientierte<br />
Ansätze mit ein. Mit „wissen<br />
und sich kümmern“ beschrieb der britische<br />
Kriegsreporter Martin Bell dieses<br />
Konzept, das Leser wie Zuschauer auch<br />
darin befähigt, etwas zu verändern. Der<br />
britische „Guardian“ zielt etwa in diese<br />
Richtung, aber auch Web-Projekte wie<br />
„Perspective Daily“ („Für einen Journalismus,<br />
der fragt, wie<br />
es weitergeht“) oder<br />
„The Correspondent“<br />
(„From ‚news‘ to ‚new‘“) – beide durch<br />
Crowdfunding finanziert. Sie alle wollen<br />
Wissen vermitteln und Vorgänge einordnen,<br />
um Leser zur Verbesserung der Verhältnisse<br />
zu bewegen und nicht in eine<br />
„erlernte Hilfslosigkeit“ fallen zu lassen,<br />
wie sie erstmals 1967 der amerikanische<br />
Psychologie professor Martin E. P. Seligman<br />
beschrieb.<br />
Die Welt ist besser<br />
geworden – wirklich?<br />
Dass die Welt tatsächlich besser geworden<br />
ist, lässt sich nachweisen. Das<br />
Entwicklungsprogramm der Vereinten<br />
Nationen (UNDP) hat mit seinem<br />
Human Development Index (HDI) eine<br />
Maßzahl für den Grad menschlicher Entwicklung<br />
geschaffen. Der kombiniert<br />
und gewichtet die Gesundheit, Bildung<br />
und Wirtschaftskraft eines Landes sowie<br />
die Einkommensverteilung in einer einzigen<br />
Zahl: Die unterste Entwicklungsstufe<br />
ist 0, die oberste hat einen Wert<br />
von 1. Für die Jahre 1990 bis 2014 stieg<br />
der HDI weltweit um fast 20 Prozent –<br />
von 0,597 auf 0,711. Dabei machten<br />
die am wenigsten entwickelten Staaten<br />
annähernd doppelt so gute Fortschritte:<br />
ihr Wert stieg von 0,368 auf 0,505 (rund<br />
37 Prozent). Der Blick auf diese Entwicklung<br />
sollte jeden ermutigen, genau dort<br />
anzuknüpfen.<br />
Wie denken Sie darüber? Schreiben<br />
Sie uns: draegerheft@draeger.com<br />
62 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
PRODUKTE<br />
SERVICE<br />
Auf<br />
einen<br />
Blick<br />
Einige DRÄGER-<br />
PRODUKTE dieser<br />
Aus gabe finden sich<br />
hier im Überblick – in<br />
der Reihenfolge ihres<br />
Erscheinens. Zu jedem<br />
Produkt gehört ein<br />
QR-Code, der sich mit<br />
einem Smartphone<br />
oder Tablet scannen<br />
lässt. Danach öffnet sich<br />
die jeweilige Produktinformation.<br />
Haben Sie<br />
Fragen zu einem Gerät<br />
oder zum <strong>Drägerheft</strong>?<br />
Schreiben Sie uns:<br />
draegerheft@draeger.com<br />
SmartPilot View Die Software<br />
unterstützt Anästhesisten<br />
durch die Berechnung und<br />
Visualisierung komplexer<br />
Anästhesiemitteleffekte – und<br />
zeigt auf dieser Basis den<br />
aktuellen Status sowie prognosti<br />
zierten weiteren Verlauf des<br />
Narkoselevels an. Seite 8<br />
SmartCare/PS Das automatisierte<br />
System entwöhnt<br />
In ten siv patienten vom Beatmungsgerät<br />
und lässt sie wieder<br />
eigenständig atmen. Seite 10<br />
X-am 7000 Misst gleichzeitig<br />
und kontinuierlich bis zu fünf<br />
Gase – für die Überwachung der<br />
Umgebungsluft in industriellen<br />
Bereichen. Seite 44<br />
PIR 7000 Infrarot-Gastransmitter<br />
für die zuverlässige<br />
Detektion von brennbaren<br />
Gasen und Dämpfen.<br />
Seite 53<br />
Linea Flush Universell einsetzbare<br />
Wandversorgungseinheit<br />
für spezielle Anforderungen in<br />
unterschiedlichen Bereichen.<br />
Seite 16<br />
Polytron 8000-Familie<br />
Druckfest gekapselte Transmitter<br />
für die Überwachung von<br />
brennbaren und toxischen Gasen<br />
sowie Sauerstoff. Seite 54<br />
Babylog VN500 Integrierte<br />
Beatmungslösung für Früh- und<br />
Neugeborene. Seite 35
EINBLICK ALCOTEST 3820<br />
8<br />
1<br />
Diskreter<br />
Check<br />
für<br />
jedermann<br />
3 2<br />
Bringt mehr Sicherheit:<br />
Schutzkappe abnehmen, Mundstück<br />
aufsetzen, einschalten, pusten, kurz<br />
warten und ablesen. So einfach lässt sich<br />
der Promillegehalt des Blutes über den<br />
Atemalkohol bestimmen<br />
7<br />
FOTO: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA / DRÄGERHEFT 2/2016; SEITE 64<br />
Mit dem Alcotest 3820 kennt jeder<br />
(nach drei bis 25 Sekunden; abhängig<br />
von der Gerätetemperatur und<br />
den gemessenen Konzentrationen)<br />
seinen Promillepegel: beim Feiern,<br />
aber auch am Morgen danach. Hierfür<br />
setzt man das Mundstück 1 auf<br />
das hemdtaschengroße Gerät und<br />
pustet in die Öffnung, bis das Tonsignal<br />
verstummt – oder, diskreter noch: bis<br />
bei abgeschaltetem Lautsprecher 2<br />
ein Klicken spürbar ist. Dann nämlich<br />
wird der vom Drucksensor gesteuerte<br />
Hubmagnet aktiviert und entnimmt<br />
dem Atemstrom einen Kubikzentimeter<br />
tiefer Lungenluft. Die Probe<br />
wird nach 1,3 Liter Atemluft oder<br />
nach zwei Sekunden genommen,<br />
wobei die Ausatemluft hygienisch<br />
durch das Mundstück gepustet wird –<br />
und nicht in das Gerät, wo sie zu<br />
Kondensation und Verunreinigung<br />
führen könnte. Mithilfe des elektrochemischen<br />
Sensors misst das Alcotest<br />
3820 den Alkohol ge halt der Atemluft,<br />
errechnet daraus den Promillegehalt<br />
des Blutes und zeigt ihn auf dem<br />
Display 3 an. Die Technik ist die<br />
gleiche wie in den Dräger-Geräten, die<br />
weltweit unter anderem von Polizisten<br />
für jährlich etwa 30 Millionen Messungen<br />
ver wendet werden. Eine interne<br />
Langzeit batterie 4 reicht für rund 1.500<br />
<strong>Test</strong>s, die USB-Schnittstelle 5 wird<br />
nur für Servicezwecke benötigt. Sobald<br />
das Gerät über den Taster 6 mit spürbarem<br />
Druckpunkt eingeschaltet wird,<br />
signalisiert der leuchtende Ring 7 die<br />
Betriebsbereitschaft. Das Mundstück,<br />
drei liegen dem Gerät bei, wird von<br />
einer Kappe 8 geschützt und lässt sich<br />
einfach in der Spülmaschine reinigen.<br />
Will man es selbst noch mal verwenden,<br />
schützt es die Mundstückkappe bis zum<br />
nächsten <strong>Test</strong> vor Verunreinigung.<br />
Das Display informiert in mehreren<br />
Sprachen plus Grafiken über jeweilige<br />
Betriebszustände, die aktuelle<br />
<strong>Test</strong>nummer oder die letzten zehn<br />
Messwerte mit Datum und Uhrzeit.<br />
VIDEO: SO FUNKTIONIERT<br />
DAS ALCOTEST 3820<br />
Präzise Messtechnik<br />
bietet zuverlässige Kontrolle<br />
des Atemalkohols.<br />
www.draeger.com/400/3820