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<strong>Drägerheft</strong> 400 2. Ausgabe 2016 Assistenzsysteme<br />

<strong>Drägerheft</strong><br />

Delir nach Operation<br />

Ohne Behandlung drohen<br />

dauerhafte Komplikationen S. 14<br />

Krankheiten erschnüffeln<br />

Hunde haben dafür<br />

eine besonders feine Nase S. 20<br />

Technik für das Leben 2016<br />

Rettung unter Tage<br />

Ein neuartiges Fahrzeug<br />

setzt Maßstäbe S. 40<br />

Intelligente<br />

Technologie<br />

Unterstützt sie uns noch<br />

oder beherrscht sie uns schon?


Inhalt 400<br />

6<br />

AUTONOME<br />

SYSTEME<br />

Die Technik wird<br />

Teil des Alltags<br />

und handelt für den<br />

Menschen. Das birgt<br />

viele Chancen, aber<br />

auch einige Risiken.<br />

TITELFOTO: COLIN ANDERSON/GETTY IMAGES; FOTOS: GOOGLE, BARBARA SCHAEFER, PATRICK OHLIGSCHLÄGER<br />

Unter 1.000 Gramm<br />

wogen die Extrem-Frühchen einer fast 40 Jahre währenden<br />

kanadischen Langzeitstudie bei ihrer Geburt – mehr ab Seite 30.<br />

24<br />

BLUTTRANSFUSIONEN<br />

Blutkonserven sind bei der<br />

Versorgung von Patienten oft<br />

lebensnotwendig. Aber Blut ist<br />

begrenzt und zudem eine teure<br />

Handelsware. Es gibt Konzepte,<br />

Patientensicherheit und Wirtschaftlichkeit<br />

zusammenzubringen.<br />

Das könnte allen im Gesundheitswesen<br />

nutzen.<br />

36<br />

TADSCHIKISTAN<br />

Wie ist der Berufsalltag in einem<br />

Krankenhaus in Zentralasien?<br />

Eigentlich wie überall auf der<br />

Welt, „wenn man das Glück in den<br />

Augen der Patienten und ihrer<br />

Angehörigen sieht“. Gesundheit<br />

wiederherzustellen verlangt hier<br />

dennoch besondere Motivation.<br />

2 DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016


4<br />

Menschen, die bewegen<br />

Sven Kresalek und Jonas Gimbel waren<br />

beim SkyRun erfolgreich, Aziza Aminova<br />

hilft Frauen in Tadschikistan.<br />

6<br />

Wer hat das Kommando?<br />

Autonome Systeme machen<br />

Schlagzeilen. Eine Bestandsaufnahme.<br />

14<br />

Neben der Spur<br />

Ein Delir bringt Körper und<br />

Geist durcheinander. Was früher<br />

als Durchgangssyndrom galt,<br />

wird heute ernst genommen.<br />

20<br />

Feine Nase<br />

Hunde können Krebs riechen. Im Prinzip.<br />

Dafür müssen sie bei der Ausbildung<br />

eng mit Menschen zusammenarbeiten.<br />

24<br />

Weniger ist mehr<br />

Für einen überlegteren Umgang<br />

mit Blutkonserven plädieren diese<br />

Mediziner aus Frankfurt am Main.<br />

30<br />

Schwieriger Start ins Leben<br />

Eine kanadische Langzeitstudie zeigt,<br />

dass die meisten der zwischen 1977<br />

und 1982 im McMaster Hospital<br />

geborenen Extrem-Frühchen heute<br />

selbstständig leben und arbeiten.<br />

36<br />

Auf Rosen gebettet<br />

Das Khatlon Inter-District Multipurpose<br />

Hospital in Tadschikistan behandelt vor<br />

allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen.<br />

40<br />

Boxenstopp im Untergrund<br />

Ein neuartiges Fahrzeug setzt Maßstäbe<br />

bei der Rettung unter Tage.<br />

46<br />

Wenn Eigentum bremst<br />

Die Dinge des Alltags sind immer<br />

dann am nützlichsten, wenn sie genau<br />

dort sind, wo man sie braucht. Über<br />

den Trend zu mieten, statt zu kaufen.<br />

50<br />

Gute Aussichten<br />

Gasmotoren gehört die Zukunft<br />

in der internationalen Schifffahrt.<br />

Eine Branche denkt um.<br />

56<br />

Brandschutz in Metropolen<br />

Die Berliner Feuerwehr ist die<br />

größte und älteste Berufsfeuerwehr<br />

Deutschlands. Eine Stippvisite.<br />

60<br />

Trügt der Schein?<br />

Die Welt scheint immer schlechter zu<br />

werden, doch viele Zahlen sprechen<br />

eine andere Sprache. Ein Zwischenruf.<br />

63<br />

Auf einen Blick<br />

Produkte von Dräger, die im Zusammenhang<br />

mit dieser Ausgabe stehen.<br />

64<br />

Alcotest 3820<br />

Schnell und zuverlässig:<br />

der Atemalkoholtest für jedermann!<br />

IMPRESSUM<br />

HERAUSGEBER:<br />

Drägerwerk AG & Co. KGaA,<br />

Unternehmenskommunikation<br />

ANSCHRIFT DER REDAKTION:<br />

Moislinger Allee 53–55, 23558 Lübeck<br />

draegerheft@draeger.com<br />

CHEFREDAKTION:<br />

Björn Wölke,<br />

Tel. +49 451 882 2009, Fax +49 451 882 2080<br />

REDAKTIONELLE BERATUNG:<br />

Nils Schiffhauer<br />

ARTDIREKTION, GESTALTUNG,<br />

BILDREDAKTION UND KOORDINATION:<br />

Redaktion 4 GmbH<br />

SCHLUSSREDAKTION:<br />

Lektornet GmbH<br />

DRUCK:<br />

Dräger+Wullenwever print+media Lübeck<br />

GmbH & Co. KG<br />

ISSN: 1869-7275<br />

SACHNUMMER: 90 70 418<br />

Die Beiträge im <strong>Drägerheft</strong> informieren<br />

über Produkte und deren<br />

Anwendungsmöglichkeiten im Allgemeinen.<br />

Sie haben nicht die Bedeutung,<br />

bestimmte Eigenschaften der<br />

Produkte oder deren Eignung für<br />

einen konkreten Einsatzzweck zuzusichern.<br />

Alle Fachkräfte werden aufgefordert,<br />

ausschließlich ihre durch<br />

Aus- und Fortbildung erworbenen<br />

Kenntnisse und praktischen Erfah rungen an zuwenden. Die<br />

Ansichten, Meinungen und Äußerungen der namentlich<br />

genannten Personen sowie der Autoren, die in den Texten<br />

zum Ausdruck kommen, entsprechen nicht notwendigerweise<br />

der Auffassung der Dräger werk AG & Co. KGaA. Es<br />

handelt sich ausschließlich um die Meinung der jeweiligen<br />

Personen. Nicht alle Produkte, die in diesem Magazin<br />

genannt wer den, sind weltweit erhältlich. Ausstattungs -<br />

pakete können sich von Land zu Land unter schei den. Änderungen<br />

der Produkte bleiben vorbehalten. Die ak tuellen<br />

Informatio nen erhalten Sie bei Ihrer zuständigen Dräger-<br />

Vertretung. © Drägerwerk AG & Co. KGaA, 2016. Alle Rechte<br />

vorbehalten. Diese Veröffent lichung darf weder ganz noch<br />

teilweise ohne vorherige Zustimmung der Drägerwerk AG<br />

& Co. KGaA wiedergegeben werden, in einem Datensystem<br />

gespeichert, in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise,<br />

weder elektronisch noch mechanisch, durch Fotokopie,<br />

Aufnahme oder andere Art übertragen werden.<br />

Die Dräger Safety AG & Co. KGaA, Lübeck, ist Hersteller<br />

folgender Produkte: Röhrchen (S. 21 f.), PSS BG4 plus<br />

(S. 42), X-am 7000 (S. 44), Polytron 8000 (S. 45), X-am<br />

5000+5600 (beide S. 49), PIR 7000 (S. 53), Polytron-<br />

Familie (S. 54), Alcotest 3820 (S. 64). Die Hermann<br />

Paus Maschinenfabrik GmbH, Emsbüren, sowie Dräger<br />

Safety AG & Co. KGaA, Lübeck, sind Hersteller des MRV<br />

9000 (S. 40 ff.). Die Dräger werk AG & Co. KGaA, Lübeck,<br />

ist Hersteller von: SmartPilot View (S. 8 ff.), SmartCare<br />

(S. 10), Linea (S. 16), Caleo (S. 34), Babyleo TN500<br />

(S. 34 f.), Babylog VN500 (S. 35).<br />

Nachfolgende Produkte sind nicht mehr lieferbar:<br />

Inkubator 8000 (S. 34), Babylog 8000 (S. 34 f.), Kreislauf-<br />

Atemschutzgerät BG 174 (S. 43).<br />

www.draeger.com<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />

3


ERFAHRUNGEN<br />

AUS ALLER WELT<br />

Menschen,<br />

die<br />

bewegen<br />

FOTOS: PETER THOMAS, NOZIM KALAND/PICTURE ALLIANCE<br />

Sven Kresalek und Jonas<br />

Gimbel, Studenten der<br />

Ingenieurwissenschaften<br />

„Was zählt, ist das Team! Das stand für<br />

uns von Anfang an fest, als wir uns dazu<br />

entschieden hatten, beim diesjährigen<br />

SkyRun im Frankfurter Messeturm in<br />

der Kategorie Fire-Fighters Cup (FFC)<br />

mitzumachen. Wir drei – zu uns gehört<br />

auch Ferdinand Kirchner – kennen uns<br />

aus der Freiwilligen Feuerwehr Rüsselsheim-Bauschheim.<br />

Das Format des FFC<br />

war uns bereits bekannt, Sven ist 2013<br />

schon einmal mitgelaufen. Uns hat diese<br />

Herausforderung begeistert: 61 Stockwerke,<br />

222 Höhenmeter, 1.202 Treppenstufen<br />

– das alles unter Atemschutz und<br />

gegen die Stoppuhr. Ohne Vorbereitung<br />

geht das natürlich nicht, aber auch nicht<br />

ohne Unterstützung – etwa durch unsere<br />

Amtsleitung und Wehrführung. Selbst<br />

die lokale Wohnungsbaugesellschaft<br />

hat uns geholfen, unter realistischen<br />

Bedingungen im Treppenhaus eines<br />

Hochhauses zu trainieren. Beim<br />

Wettbewerb am 12. Juni waren wir<br />

ziemlich gespannt, wie es für uns<br />

laufen würde. Der größte Stressfaktor<br />

würde wohl nicht die Kondition sein,<br />

sondern die Hitze. Dafür hatten wir schon<br />

im Training ein gutes Gespür bekommen.<br />

Und tatsächlich: Der Wärmestau beim<br />

Treppenlauf war enorm. Trotzdem sind wir<br />

nach ca. 16:30 Minuten ins Ziel gekommen<br />

– und zwar gemeinsam, so wie wir<br />

es uns vorgenommen hatten. Damit erreichten<br />

wir Platz 18 von rund 100 Mannschaften.<br />

Das war ein gutes Ergebnis.<br />

Wir werden auch im kommenden Jahr<br />

wieder an den Start gehen, mit dem<br />

Training haben wir bereits begonnen.“<br />

4<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


Aziza Aminova, leitende<br />

Gynäkologin am Khatlon Inter-<br />

District Multipurpose Hospital<br />

in Dangara/Tadschikistan<br />

„Ich komme aus einer Ärztedynastie:<br />

Meine Eltern, selbst die Verwandten,<br />

alle sind Ärzte. So bin ich dem Wunsch<br />

meines Vaters gefolgt und wurde<br />

Gynäkologin. Mein Berufswunsch war<br />

Journa listin. Aber nun bin ich seit zehn<br />

Jahren Ärztin. Der Beruf bringt mir auch<br />

deshalb Zufriedenheit, weil ich Frauen<br />

helfen kann. In der Gynäkologie<br />

arbei ten fünf Ärztinnen und sechs Krankenschwestern.<br />

Es macht mich traurig,<br />

wenn ganz junge Frauen keine Kinder<br />

bekommen können. Das schleppen<br />

viele ihr ganzes Leben mit sich herum.<br />

Gerade habe ich eine Patientin, die<br />

zwölf Jahre lang versucht hat, schwanger<br />

zu werden – wegen eines Virus hatte<br />

sie wieder eine Fehlgeburt. So etwas<br />

nimmt mich sehr mit. Ich treibe hier die<br />

Familien beratung voran, verschreibe<br />

auch die Pille. Eine kinderreiche Familie<br />

steht für Reichtum – das ist die Mentalität<br />

der Muslime. Und es sind oft die<br />

Männer, die so viele Kinder wollen.<br />

Die Frauen haben in unserer Kultur<br />

keine starke Stimme, die Männer und<br />

Schwiegermütter bestimmen meist ihr<br />

Leben. Das alles ändert sich, allerdings<br />

sehr langsam. Meine beiden Kinder<br />

sollen ihren Beruf einmal selbst wählen.“<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />

5


er hat<br />

6 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


ASSISTENZSYSTEME<br />

FOKUS<br />

das Kommando?<br />

Autonome Systeme machen Schlagzeilen: Dienen<br />

sie uns noch oder beherrschen sie uns schon? Lernende<br />

Software öffnet neue Räume, mit vielen Chancen<br />

und einigen Risiken – gerade Letztere haben es in sich.<br />

Text: Tobias Hürter<br />

A<br />

FOTO: COLIN ANDERSON/GETTY IMAGES<br />

Als der Internetriese Google eines seiner<br />

selbstfahrenden Autos auf die Straße<br />

ließ, blieb es plötzlich an einer Kreuzung<br />

stehen, um sich anschließend keinen<br />

Zentimeter mehr fortzubewegen. Was war<br />

geschehen? Eine Rollstuhlfahrerin hatte<br />

mitten auf der Straße versucht, einer Ente<br />

hinterherzujagen. Diese Situation war in<br />

dem System des Autos nicht vorgesehen.<br />

Darüber haben viele geschmunzelt. Das<br />

Google Car, dieses Wunder der Technik,<br />

kapitulierte vor einer Situation, die jeder<br />

Mensch mit Leichtigkeit bewältigt hätte.<br />

Der Fall wirft einen Schatten auf einen<br />

Trend, der als einer der wichtigsten dieser<br />

Jahre gilt: Technik, die autonom wird.<br />

Die Geschichte des „Google self-driving<br />

car“ zeigt auch, dass Irritationen und Fehler<br />

beinahe vorprogrammiert sind. Zwar<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />

7


FOKUS<br />

ASSISTENZSYSTEME<br />

ist die Technik von Menschen ersonnen,<br />

doch mit steigender Komplexität entwickelt<br />

sie schnell ein Eigenleben.<br />

Wie von Geisterhand<br />

Noch vor einigen Jahren taten Maschinen<br />

exakt das, was sie sollten. Ereigneten<br />

sich Unfälle, lagen die Ursachen meist auf<br />

der Hand und in einer falschen Konstruktion<br />

oder Bedienung begründet. Mittlerweile<br />

nehmen Maschinen unsere Anweisungen<br />

nicht mehr gänzlich unreflektiert<br />

hin. Ein frühes Beispiel ist das Antiblockiersystem<br />

(ABS). Wer einst mit voller<br />

Kraft aufs Bremspedal seines Autos trat,<br />

blockierte unweigerlich die Räder. Die<br />

Bremswirkung verringerte sich, und das<br />

Fahrzeug geriet aus der Spur. Hier schaltete<br />

sich Anfang der 1970er-Jahre erstmals<br />

das ABS ein. Es vermittelte zwischen dem<br />

Willen des Fahrers („Sofort anhalten!“)<br />

und den Möglichkeiten der Technik. Die<br />

gewünschte Wirkung trat in optimier-<br />

ter Form ein. Das System übernahm den<br />

eigentlichen Bremsvorgang, unabhängig<br />

vom Pedaldruck des Fahrers. Die Technik<br />

begann, eigenständig Entscheidungen<br />

zum Wohle des Menschen zu treffen.<br />

Damit kommt etwas Neues ins Spiel,<br />

denn Entscheidungen können richtig<br />

oder falsch sein. Aber wer ist verantwortlich<br />

für die Entscheidung einer Maschine?<br />

Wenn ein ABS eine Fehlbremsung hinlegt,<br />

kann es mangels Bewusstseins nicht selbst<br />

schuld sein, sondern nur der Fahrer oder<br />

Hersteller. Wie verhält es sich dagegen<br />

bei einem selbstfahrenden Auto, wenn es<br />

um Menschenleben geht? Die Einführung<br />

von Fly-by-wire in Flugzeugen löste eine<br />

heiße Debatte aus, da die Steuer impulse<br />

der Piloten nicht mehr mechanisch auf<br />

die Ruder übertragen, sondern elektronisch<br />

umgesetzt wurden. Eine wesentliche<br />

Komponente im Konzept „Industrie<br />

4.0“ der deutschen Bundesregierung liegt<br />

in der Fähigkeit technischer Systeme, Entscheidungen<br />

eigenständig zu treffen und<br />

Aufgaben autonom zu erledigen. Auch<br />

der Börsenhandel wird zunehmend von<br />

eigenständig agierenden Systemen übernommen,<br />

die im Hochfrequenzhandel<br />

blitzschnell gewaltige Beträge rund um<br />

den Globus verschieben. Dabei ist nicht<br />

immer nachvollziehbar, was da genau passiert.<br />

So kam es am 6. Mai 2010 zu einem<br />

„Flash Crash“, bei dem US-amerikanische<br />

Einparken sorgt<br />

spätestens bei der<br />

Führerscheinprüfung<br />

für den ersten Schweißausbruch<br />

des Fahrers.<br />

Und selbst wenn<br />

man es dann kann:<br />

Bei immer größeren<br />

Autos und immer<br />

weniger Parkfläche<br />

ist man für ein solches<br />

Assistenzsystem<br />

dankbar – nicht nur<br />

in der Oberklasse<br />

Börsenkurse binnen Minuten einbrachen<br />

und sich ebenso schnell wieder erholten –<br />

wie von Geisterhand.<br />

Entlastung von Routineaufgaben<br />

Komplexe Technologie kann Menschen<br />

von Routineaufgaben befreien. Das ist<br />

eine Richtung, der auch Dräger folgt.<br />

Das Unternehmen bietet verschiedene<br />

Systeme an, die mit unterschiedlichen<br />

Autonomiegraden arbeiten. „SmartPilot<br />

View ist vergleichbar mit dem Navigationssystem<br />

eines Autos“, sagt Jürgen Manigel,<br />

Entwickler bei Dräger. Das Anästhesiesystem<br />

registriert und verrechnet laufend,<br />

welche Medikamente gegeben werden,<br />

veranschaulicht die Situation auf einer<br />

Art Landkarte.<br />

Ein Anästhesist darf die Medikation<br />

niemals allein nach dem SmartPilot View<br />

ausrichten – so wie ein Autofahrer niemals<br />

blind seinem Navigationssystem vertrauen<br />

sollte. „Sobald eine Baustelle auftaucht,<br />

die im Navigationssystem nicht eingetragen<br />

ist, oder eine Brücke abgerissen<br />

FOTOS: VOLVO CARS, GOOGLE(2)<br />

8 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


Zwischen heute und morgen wird derzeit die größte Revolution des<br />

Straßenverkehrs vorbereitet: seine Digitalisierung. Sie ist der Hintergrund<br />

für autonomes Fahren und eine intelligente sowie sparsame – da vernetzte –<br />

Verkehrssteuerung. Das Potenzial dieser Technologie ist enorm<br />

Noch<br />

funktioniert<br />

autonomes<br />

Fahren<br />

nur in überschaubaren<br />

Umgebungen<br />

wurde, kann man damit im Graben landen“,<br />

sagt Manigel. SmartPilot View besitzt<br />

deshalb bewusst ein eher geringes Maß an<br />

Autonomie. Es erarbeitet zwar selbstständig<br />

Medikationsvorschläge und gibt sorgfältig<br />

kalkulierte Empfehlungen, doch der<br />

Anästhesist entscheidet und handelt weiterhin.<br />

Ein solches System steht auf der<br />

untersten Stufe der Autonomieskala. Die<br />

nächste Stufe bieten Assistenzsysteme, die<br />

eigenständig handeln. Auch diese teilautonomen<br />

Systeme gibt es von Dräger. „Anästhesiearbeitsplätze,<br />

die automatisch die<br />

Narkosemittelkonzentration steuern“,<br />

sagt Manigel. Der Arzt gibt nur noch eine<br />

Zielkonzen tration vor. Diese noch immer<br />

relativ niedrige Stufe der Autonomie<br />

nennt sich „Skill Level“ – nur einfache<br />

Fertigkeiten wurden automatisiert. Der<br />

Mediziner muss weiterhin zu jedem Zeitpunkt<br />

in der Lage sein, eingreifen zu können.<br />

Bevor Manigel zu Dräger kam, arbeitete<br />

er als Entwickler bei einem großen<br />

deutschen Autohersteller und beschäftigte<br />

sich mit autonomer Fahrzeugführung.<br />

Damals stand diese Technologie noch am<br />

Anfang. „Selbstfahrende Autos und autonome<br />

Medizintechnik, da gibt es einige<br />

Parallelen“, sagt Manigel. Teilautomatisierte<br />

Systeme, die phasenweise die Kontrolle<br />

über das Fahrzeug übernehmen,<br />

gibt es mitunter schon serienmäßig –<br />

etwa als Stauassistent, Einparkhilfe oder<br />

teilautonomes Fahren auf der Autobahn,<br />

inklusive Spurwechsel. In Deutschland<br />

wird derzeit die A9, zwischen München<br />

und Nürnberg, zu einer <strong>Test</strong>strecke ausgebaut,<br />

mit Radarsensoren und Schnittstellen<br />

für Datenkommunikation.<br />

Vom Labor ins richtige Leben<br />

Damit drängt autonome Technik mehr<br />

und mehr in den Alltag. Allerdings funktioniert<br />

sie bislang nur in geschlos senen und<br />

überschaubaren Umgebungen wirklich<br />

zuverlässig. Sobald es etwa von der Autobahn<br />

in den Stadtverkehr geht, wird es<br />

schwierig. Überquert der Mann am Zebrastreifen<br />

gleich die Straße, oder wartet<br />

er auf jemanden? Menschen klären das<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />

9


FOKUS<br />

ASSISTENZSYSTEME<br />

Assistenzsysteme: SmartPilot View von Dräger (oben) lotst den<br />

Anästhesisten wie ein Navigationssystem durch die Narkose.<br />

Es registriert und verrechnet laufend, welche Medikamente gegeben<br />

wurden, kalkuliert die Entwicklung und stellt alles übersichtlich wie auf<br />

einer Landkarte dar. Links: SmartCare – ein automatisiertes System,<br />

das Intensivpatienten, die über Tage maschinell beatmet wurden,<br />

allmählich davon entwöhnt und wieder eigenständig atmen lässt<br />

untereinander. Ein selbstfahrendes Auto<br />

hält am Zebrastreifen und fährt dann<br />

nicht mehr weiter. Der Vorfall mit dem<br />

Google self-driving car zeigt auch, dass die<br />

Technik noch nicht ausgereift ist. Weniger<br />

kurios wird es, sobald es Verletzte oder<br />

gar Tote gibt – wie die Serie von Unfällen<br />

mit Fahrzeugen, die mit Auto pilot<br />

fuhren. Allerdings ist dieses System ausdrücklich<br />

nicht für den unbeaufsichtigten<br />

Gelehrige Maschinen<br />

Gebrauch konzipiert. Im Internet finden<br />

sich Videos von Fahrern, die während der<br />

Fahrt auf den Rücksitz klettern oder sich<br />

Filme ansehen. In der Medizin technik<br />

kommen ebenfalls teil automatisierte Systeme<br />

zum Einsatz, die in eng gesteckten<br />

Grenzen und bei bestimmungsgemäßem<br />

Gebrauch vorgegebene Therapieziele<br />

selbstständig erreichen können. Dräger<br />

bietet beispielsweise SmartCare an, ein<br />

Eine Maschine, die autonom agiert, muss nicht unbedingt lernfähig sein,<br />

aber oft gehen Autonomie und Lernfähigkeit Hand in Hand. Hoch im Kurs stehen<br />

derzeit Deep-Learning-Systeme, die ihre Verhaltensregeln und Erfahrungsdaten<br />

in abstrakte Darstellungen übersetzen – und sich gewissermaßen selbst<br />

umprogrammieren, um immer bessere Ergebnisse zu erzielen. Ein spektakuläres<br />

Beispiel ist das Programm AlphaGo, das sich selbst das asiatische Brettspiel<br />

Go beigebracht hat und dabei so gut geworden ist, dass es einen koreanischen<br />

Profispieler in einem Match schlagen konnte. Allerdings warnen manche Experten<br />

auch vor den Risiken der Kombination Lernfähigkeit und Autonomie. Bei einem<br />

lernfähigen System kann es passieren, dass irgendwann niemand mehr weiß, nach<br />

welchen Regeln es funktioniert und wie es sich in kritischen Situationen verhält.<br />

System, das Intensiv patienten, die über<br />

mehrere Tage maschinell beatmet wurden,<br />

allmählich davon entwöhnt und wieder<br />

eigenständig atmen lässt. Oder Smart<br />

Ventilation Control, das den Patienten<br />

während des chirurgischen Eingriffs mit<br />

einer optimierten Beatmung versorgt.<br />

Beide Systeme bilden Behandlungsstrategien<br />

ab, die von Fachleuten entwickelt<br />

und geprüft wurden. „SmartCare kann<br />

sozusagen einen Beatmungsexperten aus<br />

Paris in jedes Kreiskrankenhaus der Welt<br />

holen“, sagt Manigel.<br />

Strenge Regeln<br />

für die Zulassung<br />

Teilautonome Systeme nehmen Menschen<br />

zwar Entscheidungen ab, doch „der Arzt<br />

steht immer daneben und behält die Kontrolle“,<br />

sagt Manigel. So wie der Fahrer<br />

stets die Hände am Lenkrad haben sollte.<br />

In Situationen, in denen das System überfordert<br />

ist, zieht es die Notbremse und<br />

schaltet in einen Rückfallmodus, der den<br />

Patienten am Leben hält. Teilautonomie<br />

10 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


In Einzelfällen<br />

können<br />

automatisierte<br />

Fahrzeuge<br />

sogar Unfälle<br />

provozieren<br />

FOTOS: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA<br />

ist die höchste Stufe, auf der Dräger derzeit<br />

forscht und entwickelt. Sie entspricht<br />

etwa dem Autopiloten, der in vielen Fahrzeugen<br />

bereits verbaut ist. Das größte Hindernis<br />

für noch mehr Autonomie in der<br />

Medizintechnik sind die strengen Zulassungen.<br />

Ein Hersteller muss nachweisen,<br />

dass sein Produkt sicher ist und Anwender<br />

in der Lage sind, damit umzugehen. Das<br />

ist mitunter so aufwendig, dass viele den<br />

Schritt zu noch mehr technischer Autonomie<br />

scheuen. „Besonders die amerikanische<br />

Gesundheitsbehörde ist da sehr<br />

streng“, sagt Manigel. Bei traditionellen<br />

Systemen stellt der Arzt bestimmte Parameter<br />

ein, und die Maschine sorgt dafür,<br />

dass sie eingehalten werden. Bei autonomen<br />

Systemen gibt er nur noch das Ziel<br />

ein, das die Maschine dann selbstständig<br />

erreichen soll. Mit welchen therapeutischen<br />

Mitteln dies geschieht, obliegt dem<br />

System. „Das ist eine völlig neue Herausforderung“,<br />

sagt Manigel. „Der Therapiegeber<br />

wird plötzlich zum Überwacher<br />

der Therapie.“ Dafür sind die meisten<br />

Mediziner heute gar nicht ausgebildet.<br />

Und auch bei der Zulassung sind neue<br />

Kriterien gefragt. „Die Hersteller sind<br />

in der Pflicht nachzuweisen, dass durch<br />

ihre Systeme keine zusätzlichen Risiken<br />

entstehen“, sagt Manigel. Trotz dieser<br />

Einschränkungen geht die Grundlagenforschung<br />

weiter. So kann etwa das<br />

„Automated Critical Care System“, vom<br />

Office of Naval Research entwickelt, selbstständig<br />

die Erstversorgung von Traumapatienten<br />

übernehmen.<br />

Kann Software überhaupt<br />

eine Moral haben?<br />

Je höher der Grad der Autonomie, desto<br />

stärker wandelt sich das Verhältnis zur<br />

Technik. Das Google self-driving car verfügt<br />

weder über Lenkrad noch Bremspedal,<br />

aber über einen Notfallknopf. Der<br />

Fahrer wird zum Fahrgast. Wenn Systeme<br />

selbstständig Entscheidungen treffen,<br />

welchen moralischen Status haben diese<br />

dann? Auf den ersten Blick scheint die<br />

Sache klar. Autonome Fahrzeuge bringen<br />

– unterm Strich – mehr Sicherheit als<br />

manuell gesteuerte. Sie reagieren blitzschnell,<br />

erschrecken nicht, geraten nicht<br />

in Wut oder Panik und sind auch nicht<br />

betrunken. Dennoch sind sie nicht unfehlbar.<br />

Wer haftet, wenn sie versagen? In Einzelfällen<br />

kann ein automatisiertes Fahrzeug<br />

einen Unfall provozieren, den ein<br />

Mensch womöglich vermieden hätte. Will<br />

man das in Kauf nehmen? „Da gibt es kein<br />

Richtig oder Falsch“, sagt Prof. Dr. Philipp<br />

Rostalski, Direktor des Instituts für Medizinische<br />

Elektrotechnik an der Universität<br />

Lübeck. „Wichtig ist, dass man sich diese<br />

Schwierigkeiten bewusst macht und<br />

einen gesellschaftlichen Konsens darüber<br />

anstrebt.“ Besonders deutlich wird das<br />

Dilemma in Situationen, über die schon<br />

länger diskutiert wird. So hat der kanadische<br />

Physiker und Philosoph Jason Millar<br />

ein Gedankenexperiment erdacht, das er<br />

„tunnel problem“ nennt: Ein mit einer<br />

Person besetztes selbstfahrendes Auto<br />

nähert sich auf einer einspurigen Straße<br />

einem engen Tunnel. Ein Kind versucht,<br />

die Straße zu überqueren – es stolpert<br />

und liegt nun mitten auf der Straße.<br />

Das Auto hat zwei Optionen: Soll es auf<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />

11


FOKUS<br />

ASSISTENZSYSTEME<br />

IN DER<br />

ZWICKMÜHLE<br />

Manchmal kann man es<br />

nur falsch machen: In<br />

einem ethischen Dilemma<br />

können Menschen sich<br />

nur zwischen mehreren<br />

Übeln entscheiden. Wenn<br />

Maschinen anfangen,<br />

autonom zu agieren,<br />

werden auch sie irgendwann<br />

vor solch einem<br />

Dilemma stehen. Wie<br />

sollte ein selbstfahrendes<br />

Auto handeln, wenn<br />

es entweder ein Kind<br />

überfahren oder mit den<br />

Insassen eine Betonwand<br />

rammen muss? Forscher<br />

des MIT Media Lab haben<br />

eine „Moral Machine“<br />

programmiert, an der<br />

jeder seine moralische<br />

Intuition testen kann.<br />

Kurs bleiben oder ausweichen<br />

und gegen die<br />

Felswand prallen? Das<br />

Fahrzeug muss zwei<br />

Leben (das des Kindes<br />

und das des Insassen)<br />

gegeneinander abwägen.<br />

Doch es gibt keine<br />

klare Antwort darauf.<br />

Selbst unsere eigene<br />

moralische Intuition,<br />

das Bauchgefühl, ist in<br />

solchen Situationen oft<br />

kein verlässlicher Kompass mehr. „Wenn<br />

man an manchen Szenarien nur Details<br />

variiert, ändert sich schon das Urteil“,<br />

sagt Rostalski.<br />

Mehr unter: http://<br />

moralmachine.mit.edu<br />

Moralisches Dilemma<br />

Autonome Systeme erfordern neue Maßstäbe<br />

des Sollens, Dürfens und Müssens<br />

– eine neue Ethik. Ein früher Versuch<br />

waren die „Robotergesetze“, die der<br />

Science-Fiction-Autor Isaac Asimov 1942<br />

in einer Kurzgeschichte formulierte. Das<br />

oberste Gesetz lautet sinngemäß: „Ein<br />

Roboter darf keinen Menschen verletzen<br />

oder durch Untätigkeit zulassen, dass ihm<br />

Schaden zugefügt wird.“ Wie sollte so das<br />

Tunnel-Problem gelöst werden? „Wenn<br />

man das kompromisslos umsetzt, könnte<br />

man keine autonomen Systeme bauen“,<br />

sagt Rostalski. Zu den Philosophen, die<br />

eine neue Ethik für autonome Systeme entwickeln,<br />

gehört auch Julian Nida-Rümelin,<br />

Professor an der Universität München.<br />

Er plädiert dafür, die ethischen Fragen zu<br />

klären, bevor autonome Autos die öffentlichen<br />

Straßen einnehmen. „Beim assistierten<br />

Fahren, bei dem am Ende immer<br />

noch der Fahrer eingreifen kann, sind die<br />

ethischen Probleme gar nicht so groß“,<br />

sagt Nida-Rümelin – und fordert, dass der<br />

Fahrer zu jedem Zeitpunkt die Kontrolle<br />

über das Fahrzeug behalten sollte. Das verlangt<br />

auch das Wiener Übereinkommen<br />

über den Straßenverkehr. Nida-Rümelin<br />

warnt davor, diese Schwelle „voreilig“ zu<br />

überschreiten. Die Warnung kommt nicht<br />

von ungefähr. Autonome Systeme haben<br />

Rückenwind von Politik und Wirtschaft.<br />

Die deutsche Bundesregierung hat einen<br />

Gesetzentwurf auf den Weg gebracht,<br />

der eine „innovationsfreundliche Änderung<br />

des Straßenverkehrsgesetzes“ vorsieht.<br />

Vollautomatisches Fahren soll dann<br />

auf deutschen Straßen erlaubt sein. Das<br />

Bundes verkehrsministerium betont, dass<br />

in Dilemmas kein Menschenleben gegenüber<br />

einem anderen zu bevorzugen sei.<br />

Aber was dann? Maschinen müssen programmiert<br />

und die Kriterien offengelegt<br />

werden, nach denen sie in bestimmten<br />

Situationen handeln. „Die Teilnahme am<br />

Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht<br />

und gegenseitige Rücksicht“, lautet die<br />

erste Grundregel der Straßenverkehrsordnung.<br />

Vorsicht und Rücksicht – das sind<br />

menschliche Maximen. Inzwischen versuchen<br />

Philosophen und Computerwissenschaftler,<br />

eine maschinengerechte Moral<br />

zu erarbeiten. Es gibt juristische Forschungsgruppen,<br />

die sich mit Maschinenmoral<br />

beschäftigen. Autohersteller richten<br />

eigene Abteilungen für ethische Fragen<br />

ein. Das Verkehrsministerium hat angekündigt,<br />

eine Ethikkommission einzuberufen.<br />

Aber passen Maschinen und Moral<br />

überhaupt zusammen? Manche finden,<br />

dass Maschinen, wie wir sie heute kennen,<br />

niemals moralische Verantwortung übernehmen<br />

können, weil sie stets von Menschen<br />

vorgegebenen Regeln folgen. Andere<br />

sagen, es sei ungerecht, die Erbauer oder<br />

Besitzer einer Maschine für deren Handlungen<br />

verantwortlich zu machen.<br />

Mensch gegen Mensch?<br />

Der geradlinige Weg wäre, den moralischen<br />

Wert einer Handlung eines autonomen<br />

Systems so nüchtern zu betrachten<br />

wie dessen Wirkungsgrad und Leistung.<br />

Wenn es um das Fahrverhalten eines autonomen<br />

Autos geht, wäre es naheliegend,<br />

das Schadensrisiko jeder Option zu beziffern<br />

– etwa die Anzahl der zu befürchtenden<br />

Todesfälle, den Grad der Verletzungen<br />

oder der Sachschäden. Und das Auto so<br />

zu programmieren, dass es dieses Risiko<br />

stets minimiert. Klingt plausibel, solange<br />

man nicht selbst darin sitzt. Wer kauft sich<br />

ein Auto, das den Tod der Insassen einkalkuliert?<br />

Der Begriff der grundgesetzlich<br />

garantierten Würde des Menschen<br />

ist schon für manche Zeitgenossen nicht<br />

leicht zu fassen. Wie sollen Maschinen<br />

ihn verstehen? Wie soll ein Algorithmus<br />

die Würde des Menschen respektieren?<br />

Befriedigende Antworten auf diese Fragen<br />

sind erst noch zu finden. „Man kann sie<br />

nicht allein den Entwicklern überlassen“,<br />

sagt Philipp Rostalski. „Die Gesellschaft<br />

muss klären, wie sie mit ihnen umgehen<br />

will.“ Dafür braucht es auch einen<br />

rechtlichen Rahmen, der Herstellern,<br />

Anwendern und Fahrern ausreichend<br />

Sicherheit gibt.<br />

FOTO: COLIN ANDERSON/GETTY IMAGES<br />

12 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


„Ein Roboter<br />

darf keinen<br />

Menschen<br />

verletzen oder<br />

durch Untätigkeit<br />

zulassen, dass<br />

ihm Schaden<br />

zugefügt wird.“<br />

Isaac Asimov, Science-Fiction-Autor (1942)<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />

13


Neben<br />

Ein Delir bringt Körper und Geist durcheinander. Was noch<br />

vor wenigen Jahren als Durchgangssyndrom abgetan wurde,<br />

das rasch wieder verschwindet, wird heute ernst genommen.<br />

Text: Isabell Spilker Fotos: Christina Lux Zeichnungen: Nancy Andrews<br />

JJosef Kamps hat heftige Bauchschmerzen.<br />

Als er dem Arzt in der Notaufnahme<br />

im Frühsommer davon berichtet, wird ihm<br />

auch schon schwarz vor Augen. Dia gnose:<br />

Darminfarkt. Drei Wochen und mehrere<br />

Operationen später (in denen ihm Teile<br />

seines wegen mangelnder Durchblutung<br />

abgestorbenen Darms entfernt wurden,<br />

er zudem eine Sepsis erlitt, die sein rechtes<br />

Knie zerstörte) erwachte der 68-Jährige<br />

erstmals wieder. Sein Bewusstsein hatte<br />

sich an irgendeinem Punkt zwischen den<br />

Operationen und der in seinem Körper<br />

wütenden Sepsis (siehe auch <strong>Drägerheft</strong><br />

395, Seite 32 ff.) ins Delir verabschiedet.<br />

Der Weg hinaus war hart und hätte<br />

auch ganz anders enden können – viele<br />

Patienten tragen kognitive Schäden davon.<br />

Zwei Monate später sitzt Josef Kamps<br />

gut gelaunt mit Altenpflegerin Maria<br />

Domke in einem Zimmer des St. Franziskus-Hospitals<br />

in Münster und erinnert sich<br />

an die Zeit. „Schrecklich war das“, sagt er.<br />

„Ich wusste nicht, was passiert war, konnte<br />

kaum zwischen Traum und Wirklichkeit<br />

unterscheiden.“ Seit zwei Tagen ist Kamps<br />

nach einer zweiwöchigen Pause zu Hause<br />

wieder zurück im Krankenhaus; die<br />

Inlay-Sonderanfertigung für sein zerstörtes<br />

Knie wurde eingesetzt. Maria Domke<br />

ist seine persönliche „Aufpasserin“. Speziell<br />

ausgebildet achtet sie darauf, dass er<br />

nicht wieder ein Delir entwickelt. „Wie<br />

eine schützende Hand“, sagt Domke und<br />

prüft den venösen Zugang an Kamps Arm.<br />

Der Zugang ist undicht, die Kochsalzlösung<br />

läuft daneben. Domke wird gleich<br />

auf der Station Bescheid geben, aber vorher<br />

scherzt sie noch mit ihrem Patienten,<br />

lauscht seinen Plänen fürs nächste<br />

Jahr. Domke und Kamps haben fast eine<br />

innige Beziehung, das Vertrauen ist offensichtlich<br />

groß. „Verbindlich“, nennt es die<br />

Pflegerin.<br />

Delir verkürzt Lebensdauer<br />

Maria Domke ist Mitarbeiterin des Geriatrieteams<br />

im St. Franziskus-Hospital. Sechs<br />

Angestellte kümmern sich hier ausschließlich<br />

um ältere Patienten, die im Haus<br />

geplant oder als Notfall operiert werden<br />

und ein erhöhtes Delir- Risiko aufweisen –<br />

etwa eine demenzielle Vor erkrankung oder<br />

Depression. Als Delir oder Delirium wird<br />

ein akuter Verwirrtheitszustand bezeichnet,<br />

ausgelöst unter anderem durch Operationen<br />

und Narkosen, akute Infektionen<br />

oder Arzneimittel. Die Patienten sind<br />

oft orientierungslos, verloren in Zeit und<br />

14 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


OPERATIONEN<br />

KRANKENHAUS<br />

Delir:<br />

lateinisch von<br />

„de lira“ = aus dem<br />

Gleis, der Furche<br />

oder der Spur geraten<br />

der<br />

Spur<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016 15


KRANKENHAUS<br />

OPERATIONEN<br />

Bis zu drei<br />

Viertel aller<br />

Intensivpatienten<br />

erleiden<br />

ein Delir<br />

Raum, umtriebig, mitunter sogar aggressiv<br />

– meist aber träge und teilnahmslos. Oft<br />

ist die Prognose nicht so gut, dass sie nach<br />

einem Delir wieder ganz gesund werden.<br />

Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko,<br />

dass das Delir den Allgemeinzustand derart<br />

verschlechtert, dass man nicht mehr auf<br />

die Beine kommt, oder gar stirbt. Unmittelbar<br />

in den Tod führt das Delir nicht, das<br />

macht die Sache problematisch. „Noch in<br />

den 1990er-Jahren hatten wir für dieses<br />

Erkrankung überhaupt keinen Namen“,<br />

erinnert sich Dr. Simone Gurlit. Sie ist als<br />

Anästhesistin heute mit einer halben Stelle<br />

in das Team integriert. „Als Ärztin im Praktikum<br />

habe ich erlebt, dass Patienten nach<br />

einer Narkose und eigentlich unproblematischen<br />

Operation plötzlich länger versorgt<br />

werden mussten. Uns war damals nicht<br />

klar, wie ungünstig das für den Patienten<br />

Das Setting macht’s!<br />

ist – das haben wir erst mit der Zeit realisiert.“<br />

Die Erkenntnis brachte die Idee,<br />

dass eine Lösung in der Prävention liegen<br />

könnte. Die Anästhesiologische Abteilung<br />

um Professor Dr. Michael Möllmann etablierte<br />

bereits 2003 ein Konzept zur Delir-<br />

Prävention in Münster. Delir ist mittlerweile<br />

ein populäres Thema geworden. Wie<br />

viele Klinken in Deutschland ihre Patienten<br />

speziell auf Delir nach Operationen<br />

untersuchen, ist nicht bekannt. Manche<br />

greifen auf ehrenamtliche Helfer zurück,<br />

die mit den Patienten lesen. Andere stützen<br />

sich auf die Umsetzung der Leitlinien<br />

zur Analgesie, Sedierung und zum Delir-<br />

Management, in denen das Delir allerdings<br />

nur am Rande erwähnt wird.<br />

Verkettung<br />

unglücklicher Umstände<br />

Dass die Umgebung Patienten bei der Genesung hilft, ist durch mehrere Studien belegt.<br />

Eine der ersten Untersuchungen (1984) basiert auf dem Vergleich zweier Patienten gruppen<br />

in Texas. Beide hatten identische OPs erlebt und waren anschließend in unterschiedlichen<br />

Zimmern untergebracht. Die Gruppe, die von ihrem Zimmer auf einen Park blickte,<br />

benötigte weniger Analgetika, wurde seltener depressiv und konnte schneller ent lassen<br />

werden als die Vergleichsgruppe, die auf eine Betonmauer starrte. Das Projekt „Healing<br />

Architecture“ der Charité in Berlin richtete dafür eigene Zimmer ein – mit angenehm<br />

gestalteten Decken, Möbeln und Medizingeräten. Die Produktlinie Linea von Dräger stützt<br />

mit optisch angenehmer Einbindung der notwendigen Versorgungsgeräte. Kombiniert zum<br />

Beispiel mit dem Noise Display SoundEar, Lautstärkeindikator zur Über wachung und<br />

Darstellung des Geräuschpegels, lässt sich ein Umfeld schaffen, das für den Patienten auch<br />

akustisch eine angenehme Umgebung schafft – und so den Stress reduziert.<br />

In den vergangenen Jahren ist die Erforschung<br />

des Phänomens vorangetrieben<br />

worden. Und doch wurden die genauen<br />

Prozesse des Delirs bis heute nicht vollständig<br />

entschlüsselt. Schätzungen<br />

zufolge entwickeln bis zu drei Millionen<br />

Deutsche jährlich ein Delir, einer aktuellen<br />

Studie des Vanderbilt University Medical<br />

Center in Nashville/Tennessee zufolge<br />

sogar drei Viertel aller Intensivpatienten.<br />

Das Statistische Bundesamt verzeichnete<br />

im Jahr 2014 mehr als 40.000 stationäre<br />

Fälle. „Da das Delir immer noch zusätzlich<br />

auf einen meist ohnehin schon vielfältigen<br />

Katalog an Erkrankungen und Symptomen<br />

kommt, wird es leider oft nicht<br />

dokumentiert“, erklärt Gurlit die Dunkelziffer.<br />

Wissenschaftler vermuten, dass<br />

Entzündungsstoffe diesen Zustand auslösen,<br />

die der Körper dann während einer<br />

schweren Erkrankung oder nach einem<br />

chirurgischen Eingriff ausschüttet. Diese<br />

Stoffe könnten die Blut-Hirn-Schranke<br />

überwinden und Gehirnzellen angreifen.<br />

Neue Studien belegen, dass die Narkosetiefe<br />

ebenso ursächlich an der Entwicklung<br />

eines Delirs beteiligt sein kann – je<br />

tiefer die Narkose, desto ungünstiger. Das<br />

intra operative Neuro monitoring mit speziellem<br />

Augenmerk auf sogenannte „Burst<br />

Suppression Muster“ – also Phasen regelmäßiger<br />

hoher Hirnaktivität, die sich mit<br />

dem Ausfall jeglicher Aktivität abwechseln<br />

– trägt deswegen zur Prävention bei.<br />

Zudem wurden Medikamente herausgefiltert,<br />

Benzodiazepine, die zwar im OP gern<br />

angewendet werden, um die Patienten zu<br />

beruhigen, sich aber als außergewöhnlich<br />

delirogen herausstellten.<br />

Vor allem scheint es die Kombination<br />

aus Ausnahmesituation, ungewohntem<br />

Umfeld und Veränderung der Wahrnehmung<br />

zu sein, die das Delir begünstigt.<br />

„Das Delir, ausgenommen das Alkoholentzugsdelir,<br />

trifft besonders häufig ältere,<br />

multimorbide Menschen“, sagt Simone<br />

Gurlit. Kleinere Kinder gelten auch als<br />

gefährdet, ihre Prognose sei aber ungleich<br />

besser. Gurlit engagierte sich mithilfe von<br />

Fördergeldern zunächst projektweise, später<br />

dann fest im Klinikalltag eingebunden,<br />

für die geriatrische Spezial behandlung<br />

chirurgischer Patienten. Das bedeute<br />

zum Beispiel, den Patienten nach der<br />

Ankunft im Krankenhaus zu begleiten:<br />

mit ihm im Zimmer anzukommen, ihm<br />

beim Auspacken zu helfen, ihn zum Röntgen<br />

zu bringen und eben auch in den Operationssaal.<br />

„Delir-Patienten haben einen<br />

erhöhten Betreuungsbedarf“, bekräftigt<br />

16 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


Orientierungshilfe:<br />

Körperkontakt hilft<br />

in der mitunter verwirrenden<br />

Krankenhaussituation<br />

– und zeigt:<br />

„Ich bin für dich da!“<br />

Anästhesistin mit Spezialauftrag:<br />

Dr. Simone Gurlit leitet das fünfköpfige Geriatrieteam<br />

am St. Franziskus-Hospital in Münster<br />

Engel aus Fleisch und Blut:<br />

Maria Domke ist für Patient Josef<br />

Kamps die Rettung aus dem Delir<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />

17


KRANKENHAUS<br />

OPERATIONEN<br />

Die Prävention<br />

wird zwar nicht<br />

bezahlt, doch<br />

sie rechnet sich<br />

Gurlit. „Wir können ja viele der für den<br />

Patienten ungünstigen Abläufe wie die<br />

ständig wechselnden Gesichter nicht verändern,<br />

erst recht nicht im perioperativen<br />

Bereich.“ Deshalb sei ihnen schnell klar<br />

geworden, dass es wohl am besten über<br />

Bezugspersonen funktioniere. Die Idee:<br />

„Wir etablieren ein Gesicht, das der Patient<br />

immer wieder sieht – und das ihm Halt<br />

gibt während seines stationären Aufenthalts.“<br />

Jemand, der sich auskenne, und<br />

auch zwei, drei Schritte vorausdenken<br />

kann. „Als wir anfingen, hießen wir ,Tüddeltruppe‘.<br />

Denn was wir im OP machen,<br />

während der Patient unter Teilnarkose<br />

operiert wird, ist ein wertschätzender und<br />

erklärender Umgang und basale Stimulation<br />

– effektives Betüddeln eben.“ Erfolge<br />

zeigten sich nicht nur in einer gesunkenen<br />

Delir-Rate, auch die Verweildauer der<br />

Patienten verkürzte sich. Und das, obwohl<br />

die Arbeit des Teams nicht mit den Krankenkassen<br />

abgerechnet werden kann. Wer<br />

kein Delir entwickelt, bleibt in der Regel<br />

innerhalb der Normzeit, die die Krankenversicherung<br />

für seine Erkrankung vorsieht.<br />

Ein Delir wird zwar nicht bezahlt,<br />

doch die ökonomische Rechnung ging auf.<br />

Infiltrierendes Wachstum<br />

Bereits zwei Wochen war Josef Kamps<br />

während seines ersten Aufenthalts im<br />

Delir, als Altenpflegerin Maria Domke<br />

zum ersten Mal an sein Bett trat und<br />

nach seiner Hand griff. „Es ist schwer, zu<br />

Menschen durchzudringen, die delirant<br />

sind“, sagt sie. Mit 68 Jahren gehörte<br />

Kamps nicht ins klassische Betreuungsschema<br />

des Geriatrieteams und war<br />

deswegen im Vorfeld weder mit neurologischen<br />

<strong>Test</strong>s gescreent noch begleitet<br />

worden. Das Kind war in den Brunnen<br />

gefallen – und ihre Aufgabe, es dort wieder<br />

herauszuholen. Dieser Prozess ist<br />

langwierig und erfordert Geduld. „Man<br />

muss den Patienten immer wieder ansprechen,<br />

sozial einbinden, ihm Orientierung<br />

geben, ihn in einen Tag-Nacht-Rhythmus<br />

bringen und auf die Ernährung achten.“<br />

Vier Wochen nach seinem Darminfarkt<br />

konnte der Rentner auf die Normal station<br />

verlegt werden. Domke begleitete ihn. Täglich<br />

treffen sich die Altenpflegerinnen im<br />

kleinen Besprechungsraum in der dritten<br />

Etage zur Dienstbesprechung, ansonsten<br />

sind sie im ganzen Haus unterwegs. Eine<br />

eigene Station gibt es nicht. Auf einem<br />

Whiteboard sind die Patienten aufgelistet.<br />

Hinter einem steht in roten Lettern: Delir.<br />

Alle anderen sind dank der erweiterten<br />

Fürsorge wohlauf. „Wir sehen natürlich bei<br />

Weitem nicht alle Patienten, von denen wir<br />

glauben, dass sie von unserer Hilfe profitieren“,<br />

gesteht Simone Gurlit. Bei rund<br />

24.000 Narkosen im Jahr sei das schwierig.<br />

„Die Idee ist infiltrierendes Wachstum,<br />

das muss weitergetragen werden.“ Gurlit<br />

hat die Aufgabe übernommen, anderen<br />

Krankenhäusern zu zeigen, wie ein gutes<br />

Delir-Management aussehen kann. Sie<br />

hält Vorträge, ermöglicht Hospitationen<br />

in der Klinik, verfasst Broschüren. Nebenbei<br />

betreibt sie Forschung, wie es gelingen<br />

könnte, Delir labordiagnostisch im Blut<br />

nachzuweisen. „Das würde vieles erleichtern“,<br />

sagt sie, „weil wir dann früher hellhörig<br />

werden.“ Noch aber stützt sich die<br />

Forschung auf die Veränderung der Neurotransmitter<br />

im Liquor, gewonnen durch<br />

Lumbal punktion. Josef Kamps wird noch<br />

einige Tage im Krankenhaus bleiben müssen,<br />

doch die nimmt er gern in Kauf. Auch,<br />

weil ihn seine Frau und die drei Kinder<br />

täglich besuchen, weil sein Knie wieder<br />

gesund wird und er dann erst einmal<br />

abschließen kann mit den Ereignissen.<br />

Delir bei Kindern<br />

Eines der größten neurologischen Probleme in der Kinderanästhesie betrifft das<br />

Aufwachen aus der Narkose. Je nach zugrunde gelegten Diagnosekriterien für ein<br />

Emergence Delirium (ED) sind zwei bis 80 Prozent der Kinder betroffen, gehäuft<br />

im Alter zwischen zwei und fünf Jahren. Es tritt in der Regel fünf bis 15 Minuten<br />

nach dem Aufwachen auf und kann bis zu zwei Tage dauern. Gekennzeichnet ist das<br />

ED vor allem von einer übermäßigen Agitation: Die Kinder sind auffallend unruhig<br />

und unkooperativ. In den meisten Fällen bleibt das ED ohne Folgen, in einigen jedoch<br />

führt es zu längerfristigen psychosozialen Störungen wie verstärkte Angst, Essstörungen<br />

oder Schlafproblemen. Besonders Kinder mit präoperativer Angst sind einer höheren<br />

Gefahr ausgesetzt. Ablenken und Angstreduktion sind deshalb oberstes Gebot.<br />

Ebenso wie die Wahl des richtigen Narkosemittels zur sanften Ausleitung begünstigt<br />

die absolute Schmerzfreiheit eine geringe Rate an Aufwachdelirien.<br />

LINKS UND LITERATUR<br />

Interdisziplinäres Delir-Netzwerk:<br />

www.delir-netzwerk.de<br />

Wolfgang Hasemann (Hrsg.): Akute<br />

Verwirrtheit – Delir im Alter. Praxishandbuch<br />

für Pflegende und Mediziner, Verlag Huber<br />

E. Wesley Ely, Valerie Page: Delirium<br />

in Critical Care, Cambridge Medicine<br />

18 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


HELP<br />

Geriatrieteam<br />

auf Abruf:<br />

Spezielle Schilder am<br />

Fußende der Krankenhausbetten<br />

weisen das<br />

Personal in Münster<br />

auf die besondere<br />

Fürsorge hin<br />

Als eine der ersten weltweit<br />

engagierte sich die US-Professorin<br />

Sharon K. Inouye an der Yale<br />

University School of Medicine in<br />

den 1990er-Jahren in der Delir-<br />

Prävention. Sie entwickelte das<br />

Hospital Elder Life Program<br />

(HELP), das sich an ältere Menschen<br />

während eines stationären<br />

Aufenthalts richtet. Es baut neben<br />

der gezielten interdisziplinären<br />

geriatrischen Delir-Diagnostik auf<br />

die Schulung von Fachkräften in<br />

der Delir- Prävention und -Therapie<br />

sowie den Einsatz von ehrenamtlichen<br />

Patientenbegleitern.<br />

www.hospitalelderlifeprogram.org<br />

Neurologische <strong>Test</strong>s:<br />

Kann der Patient eine Uhr<br />

richtig zeichnen? Ein simpler<br />

<strong>Test</strong> gibt Auskunft über<br />

seinen Delir-Status<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016 19


Rob, vier Jahre alt,<br />

Dalmatiner:<br />

riecht manchen<br />

Krebs – nach einem<br />

harten Training<br />

20 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


WISSENSCHAFT<br />

NATUR<br />

Auf den Hund<br />

Hunde können Krebs<br />

riechen – doch es braucht<br />

einen langen Atem, bis<br />

dieses besondere Talent der<br />

Tiere geweckt wird.<br />

gekommen<br />

Text: Hanno Charisius<br />

FOTOS: OLGA BILEVICH/THINKSTOCK, DRÄGERWERK AG & CO. KGAA<br />

S<br />

Sammy fängt an zu lecken, wenn er<br />

etwas Verdächtiges riecht. Das ist so seine<br />

Art. Der vier Jahre alte Harzer Fuchs,<br />

Schlag altdeutscher Hütehund, soll aber<br />

nicht nach Drogen, Sprengstoff oder gar<br />

nach Menschen suchen. Seine Besitzerin<br />

Liliana Fancsy aus Schleitheim bei<br />

Schaffhausen in der Schweiz trainiert<br />

ihn zurzeit darauf, Krebserkrankungen<br />

zu erkennen. Zusammen mit anderen<br />

Hundehaltern hat sie ein Ausbildungsprogramm<br />

entwickelt, das Vierbeiner<br />

zu medizinischen Assistenten umschulen<br />

soll.<br />

Seit langem ist bekannt, dass Hundenasen<br />

so fein sind, dass sie Krankheitsanzeichen<br />

in der Atemluft – aber auch<br />

in Blut, Speichel und Urin – wittern können.<br />

Doch es braucht eine lange Ausbildung,<br />

bis dieses besondere Talent der<br />

Tiere geweckt wird und bei der Früherkennung<br />

unterstützen kann. Dabei ist<br />

ein „Suchbalken“ das wichtigste Werkzeug.<br />

Eigentlich sind es zwei Meter<br />

lange Kabelkanäle aus dem Baumarkt,<br />

in die Fancsy und ihre Mitstreiter<br />

vom Verein „Krebsspürhunde Sektion<br />

Schweiz“ Löcher für die Probenhalter<br />

gebohrt haben. Kleine Reagenzgläser<br />

kommen in die Öffnungen, jeder Balken<br />

erhält fünf <strong>Test</strong>stellen – mehrere dieser<br />

Konstrukte aneinandergereiht bilden<br />

den Parcours.<br />

Ausbildung in fünf Schritten<br />

Die eigentliche Ausbildung unterteilt<br />

sich in fünf Phasen. Zunächst lernen die<br />

Hunde den Balken kennen. „Der Trainingsraum<br />

selbst ist für die Tiere uninteressant,<br />

denn hier gibt es nichts zum<br />

Jagen oder Spielen“, sagt die Trainerin.<br />

Daher versteckt sie zunächst Leckerli in<br />

einigen <strong>Test</strong>röhrchen und gibt den Hunden<br />

eine Probe davon zu schnuppern.<br />

Die legen dann los und suchen entlang<br />

des Balkens das, was genauso riecht.<br />

Spürt einer das Leckerli auf, bekommt<br />

er es direkt aus dem <strong>Test</strong>röhrchen. Das<br />

funktioniert aber nur, wenn der Hund<br />

sich auf diese Art der Arbeit einlässt –<br />

nicht alle Tiere mögen das. Im nächsten<br />

Schritt müssen sie die versteckten<br />

Futter happen ohne „Anriechen“ aufspüren.<br />

Die Belohnung kommt dann nicht<br />

mehr aus dem Röhrchen, sondern aus<br />

der Hand des Hundeführers. In dieser<br />

Phase wird ausschließlich nach Spürnasen<br />

gesucht, die mindestens 80 Prozent<br />

GERUCHSSPEICHER<br />

Dräger-Röhrchen sind dazu<br />

gemacht, Gase oder andere<br />

Luftverunreinigungen<br />

einzufangen und mit einem<br />

<strong>Test</strong>system messbar zu<br />

machen. Damit lassen sich<br />

gefährliche Stoffe in der<br />

Umgebungsluft aufspüren;<br />

eine wichtige Voraussetzung<br />

für die Arbeitssicherheit.<br />

Gase können von verschiedenen<br />

Materialien adsorbiert<br />

werden. Im Verein „Krebsspürhunde<br />

Sektion Schweiz“<br />

wird zurzeit mit Aktivkohle<br />

und Silicagel gearbeitet.<br />

Interessanterweise reagiert<br />

jeder Hund anders auf die<br />

verschiedenen <strong>Test</strong>materialien.<br />

Manche Tiere erkennen<br />

verdächtige Tumorgerüche<br />

zumindest zu Beginn der<br />

Ausbildung an einem der<br />

Adsorbermaterialien besser<br />

als am anderen. Mit der<br />

Zeit verschwinden diese<br />

Unterschiede.<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />

21


Das Training<br />

erfordert viel<br />

Verständnis –<br />

aber auch<br />

Freude und<br />

Motivation<br />

der versteckten Brocken gefunden<br />

haben – sie kommen in die nächste<br />

Runde. In der dritten Phase lernen die<br />

Vierbeiner zum ersten Mal den eigentlichen<br />

Zielgeruch kennen. Sie riechen<br />

an Dräger-Röhrchen, in denen der Atem<br />

von Lungenkrebspatienten eingefangen<br />

wurde. Die Geruchsstoffe aus den Proben<br />

haften entweder an Silicagel oder<br />

Aktivkohle. Durch die Vizepräsidentin<br />

des Vereins, die bei der Polizei arbeitet<br />

und die Dräger-Röhrchen von Atemalkoholmessungen<br />

kennt, wurde die<br />

Gruppe auf diesen Träger aufmerksam.<br />

Immer der Nase nach<br />

Einer der Trainer verteilt einige Röhrchen<br />

auf die Suchbalken, und die Hunde<br />

beginnen ihre Arbeit. Jeder Fund<br />

wird wieder mit einem Leckerli belohnt.<br />

Schließlich kommen Atemproben von<br />

gesunden Menschen hinzu. Wieder<br />

müssen die Tiere, die in der Ausbildung<br />

weiterkommen sollen, 80 Prozent der<br />

Proben von Krebspatienten richtig<br />

erkennen. „Das ist die Einsatzprüfung“,<br />

sagt Liliana Fancsy. Der Hundeführer<br />

weiß selber nie wo die Proben stecken,<br />

die Arbeit erfolgt „blind“. Dann wird es<br />

ernst: Die Hunde bekommen Proben zu<br />

riechen, die auch die Menschen noch<br />

nicht kennen. Wenn die ersten Tiere<br />

die Ausbildung komplett durchlaufen<br />

haben, will die Gruppe zudem Urin<br />

und Blutproben testen. Schließlich verändert<br />

nicht jede Krebsart den Geruch<br />

der Atemluft, doch selbst hier kann eine<br />

Hundenase den Krebs aufspüren. Nicht<br />

jeder Vierbeiner eignet sich zum Krebsspürhund.<br />

Die Anwärter dürfen nicht<br />

älter als sechs Jahre sein, müssen gut<br />

gehorchen und mit „Freude und Motivation<br />

bei der Arbeit sein“, erklärt Fancsy.<br />

Zudem seien ein ausgeprägtes Spiel- und<br />

Beuteverhalten sowie Konzentration<br />

und Ausdauer notwendig. Hohe Ansprüche<br />

werden auch an den Halter gestellt,<br />

denn das Aufspüren von Dingen, ob nun<br />

Krebsprobe, Droge oder Sprengstoff, ist<br />

immer auch eine enge Zusammenarbeit<br />

zwischen Mensch und Tier. „Viele Teams<br />

scheitern, weil der Mensch oft nicht ausreichend<br />

wahrnimmt, was der Hund<br />

macht – also die Körpersprache des Hundes<br />

nicht richtig versteht“, sagt die Trainerin.<br />

Man müsse subtile Signale interpretieren<br />

können und dem Tier Raum<br />

und Zeit geben, diese anzuzeigen. Man<br />

dürfe weder den Hund weiterschieben,<br />

noch hinter sich herziehen. Ein derart<br />

aufgebauter Hund wird an den Proben<br />

„kleben bleiben“, auch wenn sein<br />

Herrchen oder Frauchen weitergeht.<br />

Aus diesem Grund sind drei Trainingseinheiten<br />

pro Woche Pflicht. „Die Hunde<br />

zeigen auch unterschiedlich an. Wir<br />

verstärken, was die Tiere bieten“, sagt<br />

Fancsy. Manche kläffen oder werden<br />

unruhig, andere legen sich einfach hin.<br />

„Mein Job ist es, ihn nicht zu stören. Ich<br />

muss sein Verhalten interpretieren und<br />

darf ihn nicht verbiegen – dann ist die<br />

Chance am größten“, sagt Fancsy.<br />

Seit Jahren spüren sie und Sammy<br />

auch Menschen auf, etwa Patienten<br />

mit einer Demenz, die sich verlaufen<br />

FOTO: URS BEERLI<br />

Für uns nur ein Röhrchen,<br />

für den Hund mit seiner<br />

empfindlichen Nase dagegen<br />

ein ganzer Film. Welcher, das<br />

weiß man noch nicht genau.<br />

Doch er funktioniert nach dem<br />

Training am Duftbalken<br />

haben – oder Menschen, die nach einem<br />

Unfall unter Schock stehen und umherirren.<br />

Bis heute weiß niemand so genau,<br />

worauf die Hunde bei den Krebsproben<br />

ansprechen. „Das wüssten die Ärzte<br />

auch gern“, sagt Fancsy. Vermutlich<br />

werde es nie den einen Geruchsstoff<br />

geben, den man dem Krebs zuschreiben<br />

könne. Warum Hunde dennoch etwas in<br />

den Dräger-Röhrchen riechen, was für<br />

Menschen unmöglich ist, erklärt sie so:<br />

„Eine Tomaten soße riechen Menschen<br />

als ‚Soße‘, Hunde hingegen erschnüffeln<br />

jede einzelne Zutat. Dabei hat<br />

jeder Vierbeiner besondere Stärken –<br />

der eine erkennt leichter das Salz, der<br />

22 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


WISSENSCHAFT<br />

NATUR<br />

andere den Knoblauch.“ Es kann durchaus<br />

sein, dass nicht ein einzelner Stoff<br />

die Tiere anschlagen lässt, sondern eine<br />

Geruchsmischung, die nur im Atem<br />

von Patienten mit Lungentumor vorkommt.<br />

Krebs an der Bauchspeicheldrüse<br />

können Hunde ebenfalls am<br />

Atem erkennen, doch der hat vermutlich<br />

wieder eine andere Duftsignatur.<br />

In Großbritannien werden Hunde, die<br />

Prostata tumore anhand von Urinproben<br />

erkennen können, bereits im klinischen<br />

Einsatz erprobt.<br />

Zurzeit sind es 17 Tiere in der Ausbildungsgruppe,<br />

die Fancsy und ihre<br />

Kollegen ehrenamtlich betreuen. Ein<br />

offizielles Zertifikat gibt es nicht, genauso<br />

wenig wie Zulassungsauflagen von<br />

einer Behörde. Die Hundehalter arbeiten<br />

auf eigene Verantwortung. Fancsy<br />

betont, dass sie zunächst eine fundierte<br />

Ausbildung entwickeln wollen, bevor<br />

sie ihr Angebot öffentlich machen. Bis<br />

dahin findet man nur wenige Informationen<br />

über die Gruppe: „Sonst würden<br />

wir vermutlich von Anfragen überrannt<br />

werden.“ Derartige Trainingsgruppen<br />

gibt es auch in Deutschland und Österreich.<br />

Die Schweizer arbeiten in<br />

drei Regionalgruppen, die sich zum<br />

Abschluss der Ausbildung gegenseitig<br />

prüfen werden. Eines ist Fancsy besonders<br />

wichtig: „Wir stellen keine Diagnose,<br />

sondern bieten nur einen <strong>Test</strong>, der<br />

eine Empfehlung gibt, sobald jemand<br />

zum Arzt gehen sollte.“<br />

Auf eine Hundenase verlassen sie<br />

sich dabei nicht. Insgesamt fünf vierbeinige<br />

Schnüffler müssen eine verdächtige<br />

Probe anzeigen, bis eine Warnung<br />

ausgesprochen wird.<br />

1 Nasenhöhle<br />

2 Riechepithel<br />

3 Riechkolben<br />

4 Gehirn<br />

5 Riechzellen<br />

1<br />

6 Siebbein<br />

7 Glomeruli<br />

8 Mitralzellen<br />

3<br />

2 4<br />

So riecht der Hund<br />

Der Mensch macht sich hauptsächlich über seine Augen ein Bild von der Welt.<br />

Bei Hunden spielt der Geruchssinn eine wesentliche Rolle. Er ist etwa eine Million<br />

Mal stärker ausgeprägt als bei den Zweibeinern. Deren Riechmembran verfügt über<br />

fünf Millionen Riechzellen auf drei Quadratmetern, beim Schäferhund sind es<br />

220 Millionen auf 150 Quadratmetern. Zehn Prozent seiner Gehirnleistung nutzt der<br />

Hund zur Verarbeitung der Geruchsinformationen, der Mensch nur ein Prozent.<br />

Und so funktioniert der Geruchssinn des Hundes ganz generell: Beim Einatmen<br />

gelangen die im Schleim der Nasenhöhle gelösten Duftstoffmoleküle zu den Riechzellen<br />

des Riechepithels. Deren Rezeptoren sprechen auf jeweils nur eine einzige Duftkomponente<br />

an. Beim Menschen sind es rund 350 verschiedene, beim Hund jedoch etwa<br />

1.000, die wie das System von Schlüssel und Schloss funktionieren. Duftrezeptoren<br />

setzen den Geruch in ein elektrisches Signal um, sodass diese Informationen über den<br />

Riechkolben in Glomeruli zusammengefasst und in spezielle Hirnzellen (Mitralzellen)<br />

weitergeleitet werden können. Von dort aus fließen die Informationen zur weiteren<br />

Verarbeitung in höhere Hirnzentren. Hunde riechen bei intensiver Nasenarbeit mit bis zu<br />

300 Riechstößen je Minute und nehmen Düfte räumlich wahr. Dadurch erkennen sie<br />

auch Konzentrationsunterschiede.<br />

Elektronische Nasen<br />

Was Hunden scheinbar spielend gelingt, schaffen Maschinen bis heute nicht zufriedenstellend.<br />

Erst seit einigen Jahren gibt es elektrochemische Gassensoren, die<br />

für bestimmte Gase zuverlässig funktionieren. Doch die Identifizierung verschiedener<br />

Geruchsstoffe ist für sie eine große Herausforderung und hängt von vielen Faktoren wie<br />

Lufttemperatur und -feuchtigkeit ab. Immerhin lassen sich zudem bereits einige<br />

Krankheiten damit diagnostizieren. Allergisches Asthma etwa, das sich bei vielen Patien ten<br />

durch einen erhöhten Stickstoffmonoxidgehalt in der Atemluft verrät.<br />

Elektronische Nasen können zwar auch Stoffe wahrnehmen, die dem menschlichen<br />

Geruchsorgan entgehen, doch sie sind Spezialisten. Die menschliche Nase als Alleskönner<br />

hingegen bietet etwa 350 verschiedene Sorten von Riechzellen, die auf unterschiedliche<br />

Gerüche spezialisiert sind. In elektronischen Nasen müssen diese Aufgaben jeweils<br />

einzeln spezialisierte Sensoren übernehmen. Daneben gibt es noch Gaschromatografen,<br />

die sehr präzise Stoffe messen können. Doch mit denen kann man nur arbeiten,<br />

wenn man weiß, wonach man sucht. Um Krebs aufzuspüren, sind sie deshalb zurzeit<br />

noch nutzlos, da niemand die molekulare Geruchssignatur von Tumoren kennt.<br />

5<br />

7<br />

8<br />

6<br />

QUELLE: UNIVERSITÄT HEIDELBERG<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />

23


Wenn weniger<br />

Der Chef der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und<br />

Schmerztherapie am Frankfurter Universitätsklinikum, Professor<br />

Dr. Dr. Kai Zacharowski, kämpft für einen überlegteren Umgang mit<br />

Blutkonserven – und ruft zu einem radikalen Umdenken auf.<br />

Text: Dr. Hildegard Kaulen Fotos: Patrick Ohligschläger<br />

Blut sei ein ganz<br />

besonderer Saft, sagte<br />

schon Mephistopheles<br />

in Goethes Faust. Recht<br />

hatte er, denn mit dem Blut<br />

verrinnt auch das Leben<br />

24<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


BLUTTRANSFUSIONEN<br />

GESUNDHEIT<br />

mehr ist<br />

BBlutkonserven retten Leben, aber sie<br />

sind auch begehrte Handelsware. Im vergangenen<br />

Jahr wurden allein in Deutschland<br />

3,5 Millionen Konserven mit roten<br />

Blutkörperchen übertragen. Die Kliniken<br />

zahlten dafür weit mehr als eine halbe Milliarde<br />

Euro. Fremdblut ist für viele Patienten<br />

ein Segen, aber es mutet ihnen auch<br />

einen erheblichen Stress zu. Die medizinische<br />

Leitlinie zur Therapie mit Blutkom-<br />

ponenten und Plasmaderivaten empfiehlt<br />

daher, Blutkonserven nur dann zu nutzen,<br />

wenn es keine gleichwertige Therapie gibt.<br />

In vielen Fällen gibt es aber Alternativen.<br />

„Wir transfundieren seit 50 Jahren<br />

großzügig und unreflektiert“, sagt<br />

Professor Dr. Dr. Kai Zacharowski, „statt<br />

uns stärker dafür einzusetzen, vermeidbare<br />

Transfusionen auch tatsächlich<br />

zu vermeiden. Etwa, indem wir eine<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016 25


GESUNDHEIT<br />

BLUTTRANSFUSIONEN<br />

Dr. Gudrun<br />

Hintereder ist<br />

Fachärztin für<br />

Laboratoriumsmedizin<br />

und leitet<br />

das Zentrallabor<br />

am Universitäts -<br />

klinikum Frankfurt<br />

32 Kliniken, 20 Forschungsinstitute:<br />

Das Universitätsklinikum Frankfurt zählt zu<br />

den größten und wichtigsten Zentren im<br />

Rhein-Main-Gebiet. Mit über 100 ärztlichwissenschaftlichen<br />

Mitarbeitern und mehr<br />

als 150 Pflegekräften sowie nicht-ärztlichen<br />

Mitarbeitern ist die Klinik für Anästhesiologie,<br />

Intensivmedizin und Schmerz therapie<br />

um Prof. Dr. Dr. Kai Zacharowski die<br />

größte Abteilung. Hier werden jährlich rund<br />

30.000 Narkosen im Rahmen großer und<br />

kleiner Operationen sowie diagnostischer<br />

Prozeduren bei Patienten jeden Alters<br />

durchgeführt – mithilfe modernster Geräte,<br />

unter anderem von Dräger<br />

bestehende Anämie vor einer größeren<br />

Operation behandeln.“ Zacharowski<br />

setzt sich seit Jahren für ein Blutmanagement-<br />

Programm ein. Eine Studie<br />

mit 130.000 Patienten unter der Leitung<br />

von Zacharowski und dem leitenden<br />

Oberarzt Prof. Dr. Patrick Meybohm zeigte<br />

unlängst, dass das Programm nicht<br />

nur sicher und gleichwertig gegenüber<br />

der bisherigen Vorgehensweise ist, sondern<br />

dass sich dadurch auch jede fünfte<br />

Blutkonserve einsparen lässt. Zudem<br />

ereilte die Patienten damit seltener ein<br />

akutes Nierenversagen. Das Programm<br />

firmiert hierzulande unter englischem<br />

Namen: „Patient Blood Management“<br />

und benennt jene Maßnahmen, die eine<br />

Transfusion überflüssig machen, ohne<br />

den Patienten zu gefährden. Zu den Vorreitern<br />

zählen neben dem Universitätsklinikum<br />

Frankfurt auch die Universitätskliniken<br />

in Bonn, Kiel und Münster.<br />

Anämie ist ein globales Problem, jeder<br />

dritte Mensch ist davon betroffen. Die<br />

meisten wissen gar nicht, dass sie eine Blutarmut<br />

haben, weil sich der Alltag gerade<br />

mit der leichten Form dieser Erkrankung<br />

in der Regel gut meistern lässt.<br />

Massenphänomen Blutarmut<br />

Kritisch wird es allerdings, wenn eine<br />

größere Operation ansteht. „Dann gibt<br />

es eigentlich nur zwei Möglichkeiten“,<br />

sagt Zacharowski. „Entweder diagnostizieren<br />

die Ärzte die Anämie und behandeln<br />

sie vorab, was meistens mit der<br />

Gabe von Eisen möglich ist, oder sie<br />

operieren den Patienten ohne Anämiediagnostik<br />

und -therapie und geben ihm<br />

eine Blutkonserve mit roten Blutkörperchen.<br />

Diese Transfusion aber ist eindeutig<br />

vermeidbar, weil es mit der Vorab-<br />

Behandlung der Anämie eine Alternative<br />

gegeben hätte.“<br />

Hinter einer Blutarmut steht der Mangel<br />

an roten Blutkörperchen, die für den<br />

Transport des Sauerstoffs zuständig sind.<br />

Ein Milliliter Blut enthält Milliarden roter<br />

Blutkörperchen (Erythrozyten). Mit einer<br />

Blutkonserve wird der Mangel ausgeglichen.<br />

Allerdings sind damit auch Risiken<br />

verbunden. Blut ist ein Organ, und jede<br />

Transfusion von Fremdblut ist praktisch<br />

wie eine kleine Transplantation, die das<br />

Immunsystem belastet. Sie erhöht auch das<br />

Risiko, sich mit einem Krankenhauskeim<br />

anzustecken sowie einen Herzinfarkt oder<br />

einen Schlaganfall zu erleiden. Das frühere<br />

Risiko, sich mit HIV oder Hepatitis C anzustecken,<br />

ist heute nahezu ausgeschlossen.<br />

Zacharowski und Meybohm können<br />

nicht verstehen, warum Anämien vor<br />

einer Operation nicht konsequent diagnostiziert<br />

und behandelt werden. Viele<br />

Studien hätten schließlich gezeigt, dass<br />

Blutarmut an sich ein Risikofaktor für<br />

26 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


Flüssiges Organ<br />

Blut ist nicht nur ein besonderer<br />

Saft, sondern tatsächlich ein Organ.<br />

Jeder Erwachsene hat<br />

5 bis 6 Liter Blut. Bis zu<br />

10.000 Liter pumpt der<br />

Herzmuskel jeden Tag<br />

mit ein bis vier Stundenkilometern<br />

durch das<br />

100.000 Kilometer lange<br />

Gefäßsystem. Es dauert<br />

etwa eine Minute, bis<br />

das Blut einmal durch<br />

alle Gefäße geströmt ist.<br />

Prof. Dr. Anton Moritz, Leiter der Klinik für Thorax-,<br />

Herz- und Thorakale Gefäßchirurgie am Universitätsklinikum<br />

Frankfurt operiert einen Patienten am Herzen<br />

Wirtschaftlicher<br />

Druck birgt<br />

Risiken<br />

weiße<br />

Blutkörperchen<br />

rote Blutkörperchen<br />

Blutplättchen<br />

Blutplasma<br />

eine höhere Sterblichkeit nach der Operation<br />

ist – unabhängig davon, wie krank<br />

der Patient ist. „Bei einer mittelschweren<br />

Anämie ist die Sterblichkeit fünffach<br />

erhöht, bei einer schweren Anämie bis zu<br />

fünfzehnfach“, sagt Zacharowski. „Ärzte<br />

müssen den Patienten über dieses Risiko<br />

aufklären!“ Das unterlassen sie aber<br />

offensichtlich häufig. Zudem diagnostizieren<br />

und behandeln sie auch nicht die<br />

Anämie, sondern operieren gleich und<br />

geben bei Bedarf Fremdblut.<br />

Falsches Anreizsystem<br />

Die Ursachen für dieses Verhalten sehen<br />

die Frankfurter Ärzte in eingefahrenen<br />

Denkmustern und dem wirtschaftlichen<br />

Druck. In der industrialisierten Welt ist<br />

Blut eine sichere und überall verfügbare<br />

Ressource. Viele Kliniken haben kein<br />

Interesse daran, eine geplante Operation<br />

für die Dauer einer Anämiebehandlung<br />

aufzuschieben. Manche befürchten sogar,<br />

dass Patienten beim nächsten Mal in eine<br />

andere Klinik überwiesen werden, in der<br />

man sie zeitnah operiert. „Wir haben in<br />

Deutschland keine Wartelisten für planbare<br />

Operationen, weil genügend Kapazitäten<br />

vorhanden sind – und mit den DRGs<br />

auch ein falsches Anreizsystem, weil jeder<br />

Fall zählt“, sagt Zacharowski. In England<br />

sei das anders gewesen. Zacharowski war<br />

vor seinem Wechsel an das Frankfurter<br />

Universitätsklinikum einige Jahre Chefarzt<br />

an der Universitätsklinik in Bristol.<br />

Dass die Operationsvorbereitung hierzulande<br />

nicht klar geregelt ist, halten<br />

die Ärzte für nachrangig. Diagnostik und<br />

Behandlung der Anämie könnten vom<br />

Hausarzt, vom einweisenden Facharzt<br />

oder von der operierenden Klinik vorgenommen<br />

werden. „Die Vorbereitung muss<br />

finanziert und organisiert werden, aber<br />

beides lässt sich machen, wenn der Wille<br />

Ein Tropfen Blut enthält rund<br />

5 MILLIONEN<br />

rote Blutkörperchen, aber nur<br />

9.000<br />

weiße.<br />

15 Prozent<br />

seines Blutes kann man verlieren,<br />

ohne ernsthaft Schaden zu nehmen.<br />

Bei einem akuten Verlust von<br />

30 Prozent ohne Ausgleich werden<br />

die Organe nicht mehr ausreichend<br />

durchblutet; bei 50 Prozent stirbt man.<br />

ILLUSTRATION: PICFOUR, QUELLE: THINKSTOCK<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />

27


GESUNDHEIT<br />

BLUTTRANSFUSIONEN<br />

Massenphänomen: Jeder dritte Mensch soll<br />

von einer Blutarmut betroffen sein – dahinter<br />

steckt ein Mangel an roten Blutkörperchen, der<br />

mit Blutkonserven ausgeglichen werden kann<br />

da ist“, findet Meybohm. Weil es daran<br />

offensichtlich mangelt, suchen die beiden<br />

Wissenschaftler auch die politische<br />

Bühne. Sie wünschen sich eine gesetzliche<br />

Regelung, nach der sich Patienten<br />

vier Wochen vor einem geplanten Eingriff<br />

einem Anästhesisten vorstellen müssen,<br />

damit eine mögliche Anämie geklärt und<br />

behandelt wird. In Frankfurt gibt es dafür<br />

eine eigene Ambulanz. Die beiden Ärzte<br />

haben auch gezeigt, dass diese Vorgehensweise<br />

kosteneffektiv sein kann: Hinsichtlich<br />

der direkten Kosten seien Diagnostik<br />

und Behandlung der Anämie günstiger als<br />

die Transfusion einer Blutkonserve.<br />

Viele Maßnahmen sind möglich<br />

Die Diagnostik und Behandlung der Anämie<br />

ist nur eine Säule des Patient Blood<br />

Managements. Es soll auch dafür sorgen,<br />

dass der Patient weniger Blut verliert –<br />

etwa, wenn Blutproben für das Labor<br />

abgenommen werden. Die hierfür genutzten<br />

Röhrchen sind standardisiert, müssen<br />

aber nicht bis ins obere Drittel gefüllt werden.<br />

Oft genügt eine deutlich kleinere Menge<br />

zur Bestimmung der Laborwerte. „Wer<br />

eine Woche auf der Intensivstation liegt,<br />

verliert allein durch die übliche Diagnostik<br />

bis zu einem halben Liter Blut, mitunter<br />

sogar mehr“, sagt Meybohm. „Schwerkranke<br />

können diese Menge nicht so einfach<br />

ausgleichen. Wir nehmen weniger Blut ab,<br />

bestimmen nur dann Laborwerte, wenn es<br />

klinische Anzeichen für eine Änderung gibt,<br />

und auch nur die Werte, die tatsächlich<br />

nötig sind.“ Schon während der Operation<br />

wird dafür gesorgt, dass der Patient weniger<br />

Blut verliert – etwa durch einen kleineren<br />

Hautschnitt oder blutsparende Operationstechniken.<br />

Das anfallende Wundblut<br />

wird zudem gesammelt, aufbereitet und<br />

dem Patienten zurückgegeben. Blutverluste<br />

ließen sich auch durch ein gutes Gerin-<br />

nungsmanagement vermeiden. Die dritte<br />

Säule ist ein sorgfältigerer Einsatz der Blutkonserven.<br />

„Patienten können ein gewisses<br />

Maß an Blutarmut tolerieren und kompensieren“,<br />

sagt Zacharowski. „In Deutschland<br />

gibt es aber einen Reflex, bei einem niedrigen<br />

Hämoglobinwert sofort zu transfundieren.<br />

Im Grunde behandeln wir eine Zahl,<br />

nicht aber den Patienten als Individuum.“<br />

Studie belegt Vorteile<br />

Dabei sagen die Leitlinien explizit, dass<br />

neben der gemessenen Hämoglobinkonzentration<br />

noch andere Kriterien für<br />

eine rationale Indikationsstellung herangezogen<br />

werden müssen. Zacharowski<br />

und Meybohm entwickelten daher aus<br />

der Querschnitts-Leitlinie der Bundesärztekammer<br />

eine Transfusionstrigger-<br />

Checkliste, die ihren Kollegen bei einer<br />

rationalen Indikationsstellung hilft. Dass<br />

das Patient Blood Management der tra-<br />

28 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


„Jede Klinik<br />

sollte das<br />

umsetzen, was<br />

möglich ist –<br />

und versuchen,<br />

immer besser<br />

zu werden“<br />

Prof. Dr. Patrick Meybohm,<br />

Leitender Oberarzt am<br />

Universitätsklinikum Frankfurt Blutspende in<br />

Deutschland<br />

ditionellen Vorgehensweise keinesfalls<br />

unterlegen ist, haben Meybohm und seine<br />

Kollegen mit einer klinischen Studie<br />

gezeigt, an der 130.000 Probanden<br />

teilnahmen. Das neuartige Programm<br />

gefährdet demnach keine Patienten, da<br />

sich weder die Sterblichkeit im Krankenhaus<br />

noch die Anzahl neu aufgetretener<br />

Herz infarkte, Schlaganfälle, Lungenentzündungen<br />

und Sepsiserkrankungen<br />

ändert. Als wichtiger Pluspunkt ist auch<br />

zu werten, dass unter diesem Programm<br />

weniger Patienten ein akutes Nierenversagen<br />

entwickelt haben. Die Ergebnisse<br />

wurden im Fachjournal „Annals of<br />

Surgery“ veröffentlicht. Noch gibt es allerdings<br />

keine Langzeitergebnisse, das gilt<br />

auch für die gängige Transfusions praxis.<br />

„Wir transfundieren seit 50 Jahren, ohne<br />

je den Nachweis erbracht zu haben, dass<br />

das, was wir da tun, auch gut ist“, sagt<br />

Zacharowski. „Wir haben nur das Produkt<br />

Prof. Dr. Dr. Kai<br />

Zacharowski (links)<br />

und Prof. Dr. Patrick<br />

Meybohm setzen sich für<br />

einen anderen Umgang mit<br />

der Ressource Blut ein<br />

‚Blut‘ über die Jahre besser gemacht.“ Der<br />

Chefarzt plädiert deshalb für ein Transfusionsregister,<br />

mit dem sich der Erfolg des<br />

Patient Blood Managements belegen ließe.<br />

In Deutschland haben sich inzwischen<br />

weit über 100 Kliniken diesem Programm<br />

angeschlossen. Anfang 2016 belegte es<br />

sogar den ersten Platz beim „Deutschen<br />

Preis für Patientensicherheit“. „Das<br />

Patient Blood Management beinhaltet<br />

ein ganzes Bündel an Maßnahmen“, resümiert<br />

Meybohm. „Jede Klinik sollte das<br />

umsetzen, was möglich ist – und versuchen,<br />

immer besser zu werden.“ Letztlich<br />

wird kein Weg an einem sparsameren<br />

Umgang mit der Ressource Blut vorbeigehen.<br />

Die Patienten werden immer älter<br />

und kränker, was einen steigenden Bedarf<br />

nach sich zieht, während die Zahl der<br />

Blutspender seit Jahren zurückgeht. Das<br />

Patient Blood Management hilft, mit weniger<br />

Blutspenden zurechtzukommen.<br />

In Deutschland spenden jährlich etwa<br />

zwei Millionen Menschen Blut. Nach der<br />

gesetzlichen Vorgabe müssen diese<br />

Spenden freiwillig und unentgeltlich sein.<br />

Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) zahlt<br />

den Spendern kein Geld. Private Unternehmen,<br />

Unikliniken und die Pharmaindustrie<br />

zahlen eine Aufwandsentschädigung in<br />

Höhe von 15 bis 25 Euro pro Spende.<br />

Das DRK sammelt rund 80 Prozent der<br />

Spenden ein und reinvestiert die<br />

Ein nah men, um gemeinnützig zu bleiben.<br />

In Deutschland sind Blutkonserven<br />

günstiger als in vielen anderen Ländern,<br />

weil das DRK wegen seiner Gemeinnützigkeit<br />

und der dominierenden Marktstellung<br />

die Preise vergleichsweise niedrig<br />

hält. Aus den Vollblutspenden werden<br />

ein Konzentrat aus roten Blutkörperchen,<br />

ein Präparat aus Blutplasma und ein<br />

Konzen trat aus Blutplättchen hergestellt.<br />

Das Blutplasma geht hauptsächlich an<br />

die pharmazeutische Industrie, die es zur<br />

Herstellung von Medikamenten nutzt.<br />

LITERATUR<br />

Patrick Meybohm et al.<br />

Patient Blood Management is Associated<br />

With a Substantial Reduction of Red Blood<br />

Cell Utilization and Safe for Patient’s Outcome.<br />

2016. Annals of Surgery, 264: 203–211<br />

INTERNET<br />

Patient Blood Management<br />

http://www.patientbloodmanagement.de<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />

29


GESUNDHEIT<br />

FRÜHGEBORENENMEDIZIN<br />

Erkenntnisse<br />

aus frühen Jahren<br />

Eine kanadische Langzeit studie<br />

zeigt, dass die meisten der<br />

zwischen 1977 und 1982 im McMaster<br />

Hospital in Hamilton geborenen<br />

Extrem-Frühchen heute selbstständig<br />

leben und arbeiten.<br />

Text: Dr. Hildegard Kaulen<br />

Fotos: Patrick Ohligschläger<br />

F<br />

Für manche beginnt das Leben dramatisch. Wer zehn, zwölf<br />

oder sechzehn Wochen zu früh das Licht der Welt erblickt, muss<br />

als Erstes mit seinem unreifen Organsystem zurechtkommen.<br />

Gehirn, Herz, Lunge und Verdauungstrakt sind noch nicht auf<br />

das Leben außerhalb der Gebärmutter vorbereitet. Frühgeborene<br />

haben zu wenig Fettgewebe, um ihre Körpertemperatur aufrechtzuerhalten.<br />

Ihre Haut ist zu dünn, um als Verdunstungsschutz<br />

zu dienen – sie brauchen eine Art Rettungskapsel, die sie<br />

wärmt, schützt und möglichst unbehelligt sowie in engem Kon-<br />

30 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


FRÜHGEBORENENMEDIZIN<br />

GESUNDHEIT<br />

Paulina ist hier<br />

schon sechs Tage<br />

alt – geboren am<br />

20. August 2016 in<br />

der 30. Schwangerschaftswoche<br />

im<br />

Universitätsklinikum<br />

Schleswig-Holstein,<br />

Campus Lübeck.<br />

Eine hoffnungsvolle<br />

Handvoll Mensch<br />

FOTO: PRIVAT<br />

Dr. Saroj Saigal<br />

begleitet an der<br />

McMaster University<br />

in Hamilton, Kanada,<br />

seit fast 40 Jahren<br />

Frühgeborene<br />

takt mit den Eltern das nachholen lässt, was sie durch ihren allzu<br />

frühen Start ins Leben versäumt haben. Zudem brauchen<br />

Frühchen Hilfe beim Atmen, eine Ernährung, die ihr unreifer<br />

Magen verträgt, aber auch Schutz vor Infektionen.<br />

Kommt ein extrem frühgeborenes Kind zur Welt, interessiert<br />

die Eltern vor allem wie es sich entwickeln wird und ob es<br />

ein selbständiges Leben führen kann. Die Kanadierin Saroj Saigal<br />

von der McMaster University in Hamilton, Ontario, begleitet<br />

seit fast vierzig Jahren Menschen, die zwischen 1977 und 1982<br />

mit weniger als 1.000 Gramm und vor der 30. Schwangerschaftswoche<br />

zur Welt gekommen sind. Diese Jahrgänge fallen in die<br />

Anfangsphase der Frühgeborenenmedizin, als man erstmals<br />

begann, Extrem-Frühgeborene als Patienten zu betrachten –<br />

und nicht als bedauernswerte Geschöpfe, denen kaum zu helfen<br />

ist. Damals waren Inkubatoren noch reine Brutkästen, beatmet<br />

wurde mechanisch. Es gab auch noch keine familienzentrierte<br />

und entwicklungsfördernde Betreuung. Die Ärzte mussten erst<br />

einmal lernen, den Frühchen Blut abzunehmen. Einige Vitalfunktionen<br />

wurden über die Haut beurteilt, eine Blaufärbung<br />

bedeutete nichts Gutes. Es dauerte noch Jahre bis zur Einführung<br />

des „Surfactants“, mit dem die unreifen Lungen geöffnet<br />

werden. Der Blick auf die kanadische Gruppe ist somit auch ein<br />

Blick auf die Anfänge.<br />

Schwieriger Start ins Leben<br />

Wie ist es den von Dr. Saroj Saigal begleiteten Männern und<br />

Frauen ergangen? Die Kanadierin hat kürzlich 100 der ursprünglich<br />

166 Frühgeborenen wieder untersucht – zum sechsten Mal.<br />

Es zeigte sich: Im Alter von drei Jahren hatten 28 Prozent der<br />

kanadischen Extrem-Frühchen Behinderungen, die fortdauern.<br />

Einige entwickelten eine Zerebralparese, die Bewegungsstörungen<br />

verursacht. Andere sind auf einem oder auf beiden Augen<br />

blind, weil die Blutgefäße in der Netzhaut zu unreif waren, oder<br />

weil sie zu viel Sauerstoff bei der Beatmung erhalten hatten.<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />

31


GESUNDHEIT<br />

FRÜHGEBORENENMEDIZIN<br />

Extrem-<br />

Frühgeborene<br />

sind seltener<br />

alkohol- und<br />

drogenabhängig<br />

FOTOS: PRIVAT(3)<br />

John Guise wog 965 Gramm, als er<br />

1979 nach nur 26 Schwangerschaftswochen<br />

zur Welt kam. Der Journalist lebte zehn<br />

Jahre in Shanghai und spricht Mandarin.<br />

Zusammen mit seiner chinesischen<br />

Frau hat er eine Tochter. Er ist auf einem<br />

Auge blind (Retinopathie)<br />

Amanda McInnis, geboren 1979<br />

nach 24 Wochen Schwangerschaft mit<br />

740 Gramm. Das Foto zeigt sie im Inkubator.<br />

Heute ist sie erfolgreiche Rechtsanwältin<br />

und betreibt seit zehn Jahren eine<br />

eigene Kanzlei. Bis auf Sehstörungen<br />

geht es ihr gesundheitlich gut<br />

Auch das Monitoring war damals noch nicht so weit entwickelt.<br />

Einige haben Schwierigkeiten beim Hören oder weisen eine<br />

andere Behinderung auf. Im Alter von fünf Jahren zeigte sich<br />

eine deutliche Entwicklungsverzögerung. Viele der Extrem-<br />

Frühchen konnten über längere Zeit nicht aufmerksam bleiben.<br />

Mit acht Jahren kämpften 58 Prozent mit Lernschwierigkeiten,<br />

brauchten Unterstützung in der Schule oder mussten eine<br />

Klasse wiederholen. Der Intelligenzquotient der zu früh geborenen<br />

Gruppe lag rund 13 IQ-Punkte unter dem der Vergleichsgruppe.<br />

Mit 12 bis 16 Jahren gingen die Aufmerksamkeitsstörungen<br />

wieder zurück, doch die Lernschwierigkeiten dauerten an.<br />

Mit 24 Jahren sah es so aus, als ob sich die Unterschiede beim<br />

Übergang ins Erwachsenenalter ausgeglichen hätten. 82 Prozent<br />

der Frühgeborenen und 87 Prozent der Reifgeborenen hatten<br />

zu diesem Zeitpunkt einen Highschool-Abschluss. Es zeigten<br />

sich auch keine großen Unterschiede bei der Beschäftigungsrate,<br />

dem Leben in Selbstständigkeit, dem Ehestand oder der<br />

Elternschaft. „Bedenkt man, dass diese Männer und Frauen zu<br />

den ersten intensivmedizinisch betreuten Extrem-Frühchen mit<br />

weniger als 1.000 Gramm gehörten, dann ist das ein erstaunliches<br />

Ergebnis“, sagt Saigal.<br />

Weniger Einkommen, seltener gebunden<br />

Heute, mit Ende Dreißig, ist die Diskrepanz allerdings wieder<br />

gewachsen. Die Extrem-Frühgeborenen blicken zwar auf ähnliche<br />

Bildungsabschlüsse zurück und pflegen vergleichbar gute<br />

Beziehungen wie die reifgeborene Vergleichsgruppe, haben aber<br />

seltener einen Job, sind öfter Single, haben seltener Kinder, zeigen<br />

weniger Selbstbewusstsein, brauchen eher Unterstützung<br />

und haben mehr gesundheitliche Probleme. Und sie verdienen<br />

im Schnitt rund 30 Prozent weniger als die Männer und Frauen<br />

der Vergleichsgruppe. „Von den Reifgeborenen sind 92 Prozent<br />

beschäftigt, von den Extrem-Frühgeborenen 81 Prozent“, sagt<br />

Saigal. „Trotz des signifikanten Unterschieds führen die meis-<br />

32 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


Känguruhing: Diese Methode zeichnet sich durch den Hautkontakt zwischen dem Kind,<br />

hier Paulina, und seinen Eltern aus – sie fördert die Eltern-Kind-Beziehung. Dabei schüttet<br />

die Mutter das Hormon Oxytocin aus, das als Schlüsselhormon unter anderem für die<br />

Entwicklung der Mutter-Kind-Bindung gesehen wird. Der frühzeitige Aufbau einer engen<br />

Bindung ist wichtig für die psychosoziale und emotionale Entwicklung des Kindes<br />

Andrew Jonkman nahm 2010 an den<br />

Paralympics in Vancouver im Rollstuhlcurling<br />

teil. Mit 950 Gramm wurde er<br />

1982 nach 27 Schwangerschaftswochen<br />

geboren. Trotz Zerebralparese betreibt<br />

er zudem Sledge-Eishockey – Eishockey<br />

auf zweikufigen Schlitten<br />

Technik immer mehr im Hintergrund<br />

Die Frühgeborenenmedizin hat sich in den vergangenen Jahrzehnten<br />

grundlegend gewandelt. Heute unterstützen Neonatologen<br />

die Organe des unreifen Kindes. Sie ersetzen die Lunge<br />

möglichst nicht mehr durch invasive Technik und zwingen dem<br />

Frühchen keinen festen Atemrhythmus mehr auf, sondern helfen<br />

ihm durch ein innovatives respiratorisches Management bei<br />

seinen Atembemühungen. Spezielle Geburtskliniken, sogenannte<br />

Perinatalzentren, passen sich mittlerweile auch dem Rhythmus<br />

des unreifen Kindes an und dämpfen Licht wie Lautstärke des<br />

Umfelds. Blut wird den Frühgeborenen meist nur dann abgenommen,<br />

wenn sie wach sind – und nicht, wenn es am besten<br />

in den Arbeitsablauf passt. Heute werden Eltern auch viel stärker<br />

eingebunden. Früher durften sie ihr Kind in vielen Kliniken<br />

wochenlang nicht berühren und nur hin und wieder durch die<br />

Scheibe sehen. Im McMaster Hospital waren die Eltern allerdings<br />

von Anfang an eingebunden. Das Känguruhing, der Hautkontakt<br />

mit den Eltern, ist sehr wichtig. Zudem helfen die Stimmen der<br />

Eltern und der Herzschlag der Mutter dem unreifen Kind bei<br />

Bindung und Entwicklung. Auch deshalb sind die Eltern heute<br />

viel mehr Teil des Teams und keine Zuschauer mehr. „Inzwiten<br />

von ihnen heute ein selbstständiges Leben und sind gesellschaftlich<br />

gut integriert.“ Auffällig ist auch, dass zwanzig Prozent<br />

der Extrem-Frühgeborenen mit Ende Dreißig noch keine sexuelle<br />

Beziehung gehabt haben. Aus anderen Untersuchungen ist<br />

bereits bekannt, dass sie erst später sexuell aktiv werden, länger<br />

bei den Eltern wohnen und zurückhaltender sind. Positive Unterschiede<br />

gibt es beim Suchtverhalten. Die Extrem-Frühgeborenen<br />

sind seltener alkohol- oder drogenabhängig und geraten weniger<br />

mit dem Gesetz in Konflikt. Viele der ermittelten Unterschiede<br />

haben offensichtlich mit den erworbenen Behinderungen zu tun.<br />

Wurden hingegen nur die Extrem-Frühgeborenen ohne Behinderungen<br />

befragt, sind einige Befunde nicht mehr signifikant.<br />

Dann gibt es keinen Unterschied mehr bei der Beschäftigung,<br />

beim Unterstützungsbedarf, beim Familienstand oder bei der<br />

Elternschaft. Allerdings blieben die Unterschiede beim Einkommen,<br />

beim Selbstbewusstsein, bei den Gesundheitsproblemen,<br />

beim geringeren Suchtverhalten und bei den geringeren sexuel-<br />

len Erfahrungen bestehen. Saigals Befunde sind optimistischer<br />

als die anderer Langzeit studien. „ Unsere Ergebnisse könnten<br />

damit zu tun haben, dass das Niveau der Frühgeborenen medizin<br />

am McMaster Hospital von Anfang an sehr hoch war“, sagt sie.<br />

„Und dass die Hälfte der Eltern einen hohen sozioökonomischen<br />

Status hat.“ Heute weiß man, dass das Bildungsniveau und die<br />

finanziellen Möglichkeiten der Eltern die Entwicklung der Extrem-Frühgeborenen<br />

beeinflussen. Allerdings ist Saigals Kohorte<br />

mit ursprünglich 166 Extrem-Frühgeborenen und 145 reifgeborenen<br />

Vergleichspersonen relativ klein.<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />

33


Phototherapie gegen Gelbsucht: Das Frühgeborene wird unter eine Lampe gelegt,<br />

die kurzwelliges Licht im Grenzbereich zum Ultraviolett abstrahlt. Dadurch wird der<br />

Abbau von Bilirubin in der Haut des Kindes angeregt. Bedient wird die Therapie hier von<br />

Moiken Dünn, Kinderkrankenschwester im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH)<br />

Erstaunlich, dass<br />

die schweren<br />

Behinderungen nicht<br />

zugenommen haben<br />

schen haben wir ganz andere Überlebensraten als früher“, sagt<br />

Dr. Saigal. „Von den Kindern, die in der 23. Schwangerschaftswoche<br />

geboren werden, überleben heute rund 40 Prozent – in der<br />

24. Schwangerschaftswoche sind es sogar 60 Prozent.“<br />

Neue Gerätegenerationen<br />

Diese Entwicklung wäre nicht ohne technischen Fortschritt möglich<br />

gewesen. Dräger veränderte 1987 mit dem Inkubator 8000<br />

grundlegend die Wärmetherapie: Warmluftvorhänge,<br />

Doppel wände und höhere Temperaturen schützten die Frühchen<br />

besser vor Auskühlung. Hohe Luftfeuchtigkeit und die sterile<br />

Klimatisierung sorgten dafür, dass die Winzlinge nicht austrockneten<br />

und sich nicht mehr so schnell infizierten. Zudem ließ<br />

sich ein höherer Sauerstoffgehalt automatisch regeln und überwachen.<br />

Der Inkubator war höhenverstellbar, was es den Eltern<br />

erstmals ermöglichte, ihr Kind auch im Sitzen zu sehen und zu<br />

berühren. Dräger hat diesen Gerätetyp immer weiterentwickelt.<br />

Beim Caleo (2001) wird die Körpertemperatur des Frühchens<br />

am Rumpf sowie an den Armen und Beinen gemessen. Kritische<br />

Veränderungen lassen sich so schnell(er) erkennen. Der Inkubator<br />

hat auch einen Känguru-Modus, mit dem die Temperatur des<br />

Frühchens selbst dann überwacht wird, wenn es auf dem Bauch<br />

der Mutter liegt. Ende 2016 bringt Dräger ein neues Gerät auf<br />

den Markt. Der Babyleo TN 500 misst jetzt auch die Belastung des<br />

Frühchens durch Lärm und Licht. Das hilft Eltern und Pflegekräften,<br />

auf Stressreize zu reagieren. Über ein integriertes Audiosystem<br />

können dem Frühchen sogar die Stimmen der Eltern oder<br />

Musik vorgespielt werden. Der neue Inkubator lässt sich offen (als<br />

Wärmebett) und geschlossen (Inkubator) nutzen. Die Körpertemperatur<br />

des Kindes bleibt selbst bei geöffneter Haube stabil.<br />

Große Veränderungen hat es auch bei den Beatmungsstrategien<br />

gegeben. Die mechanische Beatmung ist seit Jahrzehnten<br />

passé. 1989 hat Dräger mit dem Babylog 8000 ein Gerät auf<br />

den Markt gebracht, das die Beatmung elektronisch regelt und<br />

durch Sensoren überwacht. So ließ sich erstmals genau messen,<br />

welcher Druck und welche Volumina tatsächlich in den unrei-<br />

34 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


FRÜHGEBORENENMEDIZIN<br />

GESUNDHEIT<br />

Beschützend beugt sich<br />

der neue Dräger Babyleo über<br />

Frühchen. Ob als Inkubator<br />

oder (wie hier) als Wärmebett<br />

genutzt: Die Körpertemperatur<br />

des Kindes bleibt selbst<br />

bei geöffneter Haube stabil<br />

Frühchen nicht mehr intubiert, sondern nur bei seiner weitgehend<br />

eigenständigen Atmung durch einen leichten Überdruck<br />

in den Atemwegen unterstützt. CPAP steht für Continuous Positive<br />

Airway Pressure. Mit dem Babylog VN500, dem Nachfolger des<br />

Babylog 8000, sind alle drei Beatmungs- sowie optimierte Therapieformen<br />

möglich.<br />

Erste Reise: In einem Transportinkubator<br />

wird ein Frühchen innerhalb des UKSH verlegt.<br />

Es bleibt dabei umfassend geschützt<br />

fen Lungen ankommen. Dabei erkannte man, dass ein zu großes<br />

Atemzugvolumen der unreifen Lunge mehr schadet als ein zu<br />

hoher Beatmungsdruck. Wenn zu viel Luft in die Lunge gelangt,<br />

wird das Organ überdehnt und geschädigt. Daraufhin wurde die<br />

rein druckkontrollierte Beatmung um Funktionen ergänzt, bei<br />

denen ein bestimmtes Atemzug volumen festgelegt wird. Jeder<br />

registrierte Atemzug des Frühchens wird vom Beatmungsgerät<br />

analysiert und der jeweilige Druck für den nächsten Atemzug<br />

optimiert. Man schaut also zunächst, was der kleine Patient selbst<br />

kann und unterstützt ihn dabei, das eingestellte Tidalvolumen zu<br />

erreichen. Das Frühchen bestimmt den Zeitpunkt und die Anzahl<br />

der mandatorischen Atemhübe. Bei der Hochfrequenzbeatmung<br />

(mittels Tubus) wird die Lunge kontinuierlich offen gehalten<br />

und die Beatmung mit einer sehr hohen Frequenz (300–1.200<br />

Atemzüge pro Minute) durchgeführt, jedoch mit kleinsten Volumina.<br />

Diese lungenschonende Therapieform wird vor allem als<br />

Notfallbehandlung bei bestimmten pulmonalen Erkrankungen<br />

angewendet. Bei der nasalen CPAP-Therapie schließlich wird das<br />

Was wird in 40 Jahren sein?<br />

Wie wird es heutigen Frühchen in 40 Jahren ergehen? Das lässt sich<br />

nur schwer sagen. Trotz besserer Intensivtherapie sowie familienzentrierter<br />

und entwicklungsfördernder Pflege ist der Anteil an<br />

Folge schäden über die Jahrzehnte gleich geblieben. Rund ein Viertel<br />

bis ein Drittel der Hochrisikokinder behält ein schweres Handicap<br />

zurück. Dr. Saigal sieht den Grund hierfür darin, dass heute<br />

immer unreifere Frühchen überleben. Je unreifer ein Kind ist, desto<br />

größer das Risiko. „Angesichts dieser Tatsache ist es erstaunlich,<br />

dass die Rate an schweren Behinderungen nicht zugenommen hat“,<br />

sagt sie. Trotzdem gehen einzelne Behinderungen zurück, etwa die<br />

durch zu viel Sauerstoff bedingte Blindheit und der Anteil an Zerebralparesen.<br />

Wer wissen will, wie es den heute geborenen Extrem-<br />

Frühchen in 40 Jahren gehen wird, muss entsprechende Langzeitstudien<br />

auf den Weg bringen. Dafür braucht es Menschen wie Dr.<br />

Saigal, die energisch genug sind, solche Studien über Jahrzehnte zu<br />

betreiben – und immer wieder Geld dafür zusammentrommeln.<br />

VIDEO: MEILENSTEINE<br />

Seit über 60 Jahren trägt Dräger dazu bei, die<br />

Überlebenschancen von Frühgeborenen zu erhöhen.<br />

www.draeger.com/400/zufrueh<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />

35


MEDIZINISCHE VERSORGUNG<br />

ZENTRALASIEN<br />

Auf Rosen<br />

gebettet<br />

Das Khatlon Inter-District Multipurpose Hospital<br />

in Dangara ist eine Vorzeigeklinik in Tadschikistan – vor<br />

allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden hier behandelt,<br />

die auch aufgrund des extremen Klimas auftreten.<br />

Text: Barbara Schaefer<br />

AAls Kahraman Kamolov, Anästhesist und Intensivmediziner,<br />

vor drei Jahren nach Moskau reiste, ging er mit leuchtenden<br />

Augen durch die Krankenhäuser. Die tadschikische Regierung<br />

hatte die Exkursion organisiert. Ärzte der ehemaligen sowjetischen<br />

Teilrepublik sollten Kliniken in der russischen Hauptstadt<br />

besichtigen. Kamolov, väterlicher Typ mit dickem Schnauzer<br />

und buschigen Augenbrauen, fragte sich: „Wann werden wir so<br />

fortschrittlich sein?“ Er grinst und zeigt auf einen OP-Saal. „Ein<br />

Jahr später war es so weit.“<br />

2014 öffnete das Allgemeine Krankenhaus in Dangara, rund<br />

100 km südlich der Hauptstadt Dushanbe. Kamolov wurde zum<br />

Chefarzt berufen. Das vierstöckige Gebäude ruht wie ein Fremdkörper<br />

in der 25.000-Seelen-Gemeinde, umgeben von flachen<br />

Lehmhäusern und einigen Kommunalkas, den Wohnblocks aus<br />

russischer Zeit. Kamolov wurde in Dangara geboren. Schon als<br />

kleiner Junge wollte er Arzt werden, der Vater litt unter Nierensteinen.<br />

„Ich konnte das kaum mit ansehen, er hatte fürchterliche<br />

Schmerzen. Ich wollte Mediziner werden, um Menschen zu<br />

helfen.“ Kamolov spricht leise, das ist typisch für die Bevölkerung<br />

des zentralasiatischen Landes. Auch auf den Straßen und Märkten<br />

ist das so. Man hält sich zurück. Wie fast alle Ärzte hier studierte<br />

Kamolov im Land, machte 1985 seinen Abschluss an der<br />

medizinischen Fakultät der Universität in Dushanbe. Die Ausbildung<br />

zu Sowjetzeiten sei gut gewesen. Um das Krankenhaus<br />

in Dangara zu bauen, bedurfte es finanzieller Unterstützung.<br />

Das Geld kam vom OPEC-Fonds für Internationale Entwicklung<br />

– mehrere Millionen US-Dollar wurden bewilligt. Die Klinik versorgt<br />

etwa zwei Millionen Menschen in der Provinz Khatlon, also<br />

gut ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Über Kamolovs Schreibtisch<br />

hängt, wie in allen offiziellen Räumen des Landes, ein Porträt<br />

des Präsidenten. Auch Emomalii Rahmon wurde in Dangara<br />

geboren, er ist seit 1994 Staatsoberhaupt. Kamolov sitzt hinter<br />

einem Schreibtisch und sagt über seine Klinik: „Mit der hochmodernen<br />

Ausstattung verlieren wir weniger<br />

Patienten – das ist eine ungeheure Verbesserung.<br />

Ärzte und Pflege personal haben<br />

zudem an Selbstvertrauen gewonnen.“<br />

Folgen des Bürgerkriegs<br />

Er erlebe nun wieder die Momente, wegen<br />

derer er Arzt geworden sei. Wenn es einem<br />

Patienten besser geht, „und man das Glück<br />

in seinen Augen und in den Gesichtern<br />

der Angehörigen sieht.“ Ein Fall ist ihm<br />

besonders in Erinnerung geblieben: „Ein<br />

Mädchen verunglückte beim Spielen, ein<br />

dicker Stahldraht steckte in seinem Kopf.<br />

Es war drei Wochen bewusstlos, aber dann<br />

ist es aufgewacht. Es lebt, und es geht ihr<br />

gut.“ In vielen anderen Kliniken des Landes<br />

hätte es nicht gerettet werden können.<br />

Noch immer leidet Tadschikistan<br />

unter den Folgen des Bürgerkriegs (1992–<br />

1997). Den kleinen Gesundheitszentren –<br />

in den Machalla genannten und selbstverwalteten<br />

Stadtvierteln – aber auch den<br />

Distriktkrankenhäusern fehlt es an vielem.<br />

FOTOS: BARBARA SCHAEFER, NOZIM KALAND/PICTURE ALLIANCE(2)<br />

36 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


Stundenlang rühren<br />

die Nomadenfrauen<br />

über dem Feuer die<br />

traditionellen salzigen<br />

Joghurtkugeln.<br />

Doch trotz aller<br />

Abgeschiedenheit:<br />

Unten im Tal gibt<br />

es Apotheken und<br />

Gesundheitszentren<br />

Kahraman Kamolov,<br />

Anästhesist und<br />

Intensivmediziner, freut<br />

sich zu Recht: Als junger<br />

Mediziner träumte er von<br />

einer gut funktionierenden<br />

Klinik – nun arbeitet<br />

er im modernen Krankenhaus<br />

von Dangara<br />

Aus heimischer Baumwolle werden die Schwesternkittel hergestellt – und die<br />

für eine Klinik ungewöhnlich fröhlich anmutende Bettwäsche<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />

37


MEDIZINISCHE VERSORGUNG<br />

ZENTRALASIEN<br />

Aus dem ganzen Land<br />

kommen Patienten – auch<br />

für Nierentransplantationen<br />

Auch der<br />

Pamir-Highway<br />

schickt<br />

Patienten<br />

Leiter der neuen Klinik in Dangara wurde Hizmatullo Shamsov.<br />

Er und sein Chefarzt Kamolov kennen sich schon seit Kindertagen,<br />

haben gemeinsam studiert und zusammen gearbeitet.<br />

Gerade im Gesundheitssektor brauche es gut ausgebildete Leute<br />

mit modernem Verständnis, sagt Kamolov. „Wo das fehlt, kann<br />

eine moderne Ausstattung einiges kompensieren“, fügt Shamsov<br />

hinzu.<br />

Der Klinikdirektor, Typ eloquenter Manager, Anästhesist<br />

sowie „Kandidat der medizinischen Wissenschaften“ (entspricht<br />

in den GUS-Staaten dem deutschen Dr. med.), erinnert<br />

sich an hektische Situationen in der Notaufnahme. „Wenn<br />

ein Patient eingeliefert wurde, wussten die Ärzte mitunter<br />

nicht, was sie als Erstes machen sollten. Jetzt übernehmen die<br />

modernen Geräte viel, das schafft Kapazitäten für Wichtigeres.“<br />

Besonders stolz seien sie darauf, sogar Nierentransplantationen<br />

durchzuführen.<br />

Im Sommer wird’s richtig heiß<br />

Alltäglicher sei die steigende Zahl von Herz-Kreislauf-Erkrankungen,<br />

sagt Shamsov. Das extreme Klima spiele eine zusätzliche<br />

Rolle, in den Sommermonaten wird es bis zu 45 Grad<br />

Celsius heiß. Hinzu kommt eine extreme Temperaturspanne<br />

zwischen Tag und Nacht. „Das ist purer Stress für den Körper.“<br />

Tuberkulose sei während des Bürgerkriegs ein Problem<br />

gewesen, nun gebe es dafür spezielle Zentren. Wer mit TBC<br />

in seine Klinik komme, werde sofort weitergeschickt. Gestie-<br />

gen seien auch die Verkehrsunfälle. „In<br />

der Nähe verläuft der Pamir-Highway,<br />

eine der spektakulärsten Höhenstraßen<br />

der Welt – allerdings in zum Teil schlechten<br />

Zustand. Jeden Tag bekommen wir<br />

von dort eine Einlieferung.“ 60 Prozent<br />

der Behandlungskosten übernimmt dann<br />

der Staat, 40 Prozent der Patient. Wer sich<br />

in eine Bedürftigenliste der Gemeindeverwaltung<br />

hat eintragen lassen, werde<br />

unentgeltlich behandelt. Es sei schon vorgekommen,<br />

dass ein Arzt eine Behandlung<br />

aus eigener Tasche bezahlt hat. „Wir<br />

sagen uns: Irgendwann wird das irgendwer<br />

vielleicht belohnen.“ Shamsov hat<br />

dabei nicht eine spätere Welt im Sinn,<br />

sondern das konkrete Morgen: „Vielleicht<br />

behandeln wir ja als nächstes einen Millionär,<br />

der sich dankbar zeigt.“ Die Versorgung mit Trinkwasser<br />

sei heute gut organisiert, zudem könne man überall Wasser<br />

kaufen. Auch Schwangere profitieren von der modernen Medizin.<br />

Mittlerweile könne man auch extrem Frühgeborene mit<br />

einem Geburtsgewicht von weit unter 1000 Gramm retten. Und<br />

so schicken Ärzte aus größerer Entfernung und trotz schlechter<br />

Straßenverhältnisse Risikoschwangere ins Khatlon Inter-Dis-<br />

Die Klinik in Dangara<br />

ist eine der modernsten<br />

des Landes. Zum<br />

Gerätepark gehören<br />

auch Monitore, zentrale<br />

Gasversorgungsanlagen,<br />

OP-Leuchten,<br />

Anästhesiegeräte sowie<br />

Säuglingswärmesysteme<br />

von Dräger<br />

38 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


FOTOS: NOZIM KALAND/PICTURE ALLIANCE<br />

Gastarbeiter<br />

„Viele Mediziner haben das Land verlassen“, sagt Kahraman Kamolov,<br />

Chefarzt am Khatlon Inter-District Multipurpose Hospital im tadschikischen<br />

Dangara. Leitende Ärzte verdienen im staatlichen Gesundheitswesen<br />

rund 140 Euro im Monat. So vergrößern auch Akademiker jene Heerscharen,<br />

die außerhalb des Landes arbeiten. Die Rede ist von rund zwei Millionen Menschen,<br />

die nach Russland gingen. Offiziell wird von lediglich 200.000 gesprochen – eine<br />

Zahl, die im Land kaum jemand glaubt. In Russland werden sie „gastarbaitery“<br />

genannt. Die schlecht bezahlten Migranten arbeiten auf Baustellen und Märkten.<br />

Jeder zweite Tadschike im arbeitsfähigen Alter soll in den letzten Jahrzehnten im<br />

Ausland gearbeitet haben. Laut Weltbank machten 2013 die Auslandsüberweisungen<br />

fast die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts Tadschikistans aus.<br />

Religion<br />

Wenn Hizmatullo Shamsov, Klinikdirektor am Khatlon Inter-District Multipurpose<br />

Hospital, durch die hellen Krankenhausflure eilt, grüßt er meist mit „Salam<br />

aleikum“ (statt des üblichen lässigen „Salam“) – dem arabischen „Friede sei<br />

mit dir“. Doch das meint er nicht religiös. Denn Tadschikistan ist keine islamische,<br />

sondern eine präsidiale Republik mit Zweikammerparlament. Die Regierung<br />

ließ gar Moscheen schließen, um der Gefahr entgegenzuwirken, Radikale könnten<br />

einen islamischen Gottesstaat errichten. Auch Shamsov trennt streng zwischen<br />

privater Religion und Arbeit. Seine erste Regel lautet: „Hier wird gearbeitet, gebetet<br />

wird zu Hause.“ Ein Arzt, der während der Dienstzeit in die Moschee gegangen<br />

war, wurde sofort entlassen.<br />

Hizmatullo Shamsov,<br />

Anästhesist und Klinikdirektor<br />

Auch Frühchen mit einem Geburtsgewicht<br />

von weit unter 1000 Gramm<br />

können hier dank moderner Ausstattung<br />

und guter Betreuung überleben<br />

trict Multipurpose Hospital. Gerade liegen drei junge Tadschikinnen<br />

mit Problemschwangerschaften in einem Zimmer. Ihre<br />

Betten sind bezogen mit Wäsche aus einheimischer Baumwolle,<br />

bedruckt mit Rosen. Zusammen mit den bunten Nachthemden<br />

schafft das eine vertraute Atmosphäre. Überall in den Bergen<br />

kleiden sich die Frauen farbig, mit kreativen Mustern. Eine<br />

der drei Frauen durchlebt gerade ihre dritte Schwangerschaft.<br />

Das Dorf, in dem sie wohnt, liegt hundert Kilometer entfernt.<br />

Ihr erstes Kind ist nach einer Frühgeburt gestorben. „Damals<br />

gab es diese Klinik noch nicht“, sagt sie leise. Was wünscht sich<br />

Hizmatullo Shamsov für sein Land? Die Antwort des Klinikdirektors<br />

lässt nicht lange auf sich warten: „Mehr Kliniken wie diese!“<br />

In der Notaufnahme trifft er auf eine ältere Frau. Sie ist nach<br />

ihrem Sturz zwar noch kreidebleich, blickt aber schon wieder<br />

ganz zuversichtlich. In Zukunft solle sie gut auf sich aufpassen,<br />

sagt der behandelnde Arzt. „Ach was“, entgegnet sie, „hier werde<br />

ich so gut versorgt, da kann man beruhigt krank werden.“<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />

39


WIRTSCHAFT<br />

BERGBAU<br />

oxenstopp<br />

Eine Welt für sich ist die mehr als 100 Kilometer<br />

von der nächsten Stadt entfernte Musselwhite-Mine<br />

im Nordwesten Ontarios – jährlich werden hier<br />

mehrere hunderttausend Unzen Gold produziert<br />

40<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


im Untergrund<br />

Ein neues Fahrzeug, das Dräger mit dem kanadischen<br />

Bergbauunternehmen Goldcorp und dem deutschen Maschinenbauer<br />

Paus entwickelt hat, setzt Maßstäbe bei der Rettung unter Tage.<br />

Text: Steffan Heuer<br />

W<br />

FOTOS: DOUG GIBBONS/GOLDCORP INC, DRÄGERWERK AG & CO. KGAA<br />

Wollte man Bergbau im 21. Jahrhundert mit drei Worten umreißen,<br />

dann mit diesen: tiefer, länger, komplexer. Der technische Fortschritt<br />

und die wirtschaftlichen Gegebenheiten sorgen heute dafür, dass<br />

Minen weiter in die Tiefe und Breite vorgetrieben werden können,<br />

um Bodenschätze wie Gold, Eisenerz, Salz oder Kali abzubauen.<br />

Diese Expansion stellt auch Rettungskräfte vor neue Herausforderungen:<br />

Bei einem Notfall müssen sie bis in den entlegensten Winkel<br />

einer Grube gelangen – der möglicherweise kontaminiert ist – und<br />

anschließend wieder sicher zurückkehren. Die Menge an frischer<br />

Atemluft, die Retter mit sich führen können, ist einer der wichtigsten<br />

beschränkenden Faktoren, um derartige Flucht- und Rettungs abläufe<br />

zu optimieren.<br />

Eine der bislang innovativsten Antworten auf diese Herausforderung<br />

lässt sich in der Musselwhite-Mine besichtigen, die die kanadische<br />

Goldcorp Inc. im Nordwesten der Provinz Ontario betreibt.<br />

Dort ist seit Herbst vergangenen Jahres ein neuartiges Grubenrettungsfahrzeug<br />

im Einsatz. Die Entstehungsgeschichte des „Mines<br />

Rescue Vehicle“ (MRV) 9000 illustriert, welche Früchte die Zusammenarbeit<br />

zwischen einem auf Sicherheit bedachten Bergbauunter-<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />

41


Das Netzwerk<br />

unter Tage hat<br />

eine Gesamtlänge<br />

von 12 km<br />

Notfallübung mit Dräger Kreislauf-<br />

Atemschutzgeräten (Typ: PSS BG4 plus)<br />

nehmen (Goldcorp), einem renommierten Hersteller von Bergbaufahrzeugen<br />

(Paus) und Dräger tragen kann, um die Grubenrettung<br />

ins 21. Jahrhundert zu befördern.<br />

Risiko erkannt, Gefahr gebannt<br />

„Das Fahrzeug erlaubt es dem Sicherheits- und Rettungspersonal,<br />

auch die entlegensten Gebiete einer Grube zu erreichen – ohne dabei<br />

von der Reichweite seiner Atemschutzgeräte eingeschränkt zu<br />

sein. Das erhöht nicht nur die Sicherheit, sondern wirkt sich auch auf<br />

den Arbeitsalltag und die Betriebskosten einer Mine aus“, sagt Markus<br />

Uchtenhagen, Sicherheitsinspektor bei Goldcorp. Uchtenhagen<br />

hatte das veränderte Risikoprofil immer weiter ausgedehnter Gruben<br />

bereits vor Jahren identifiziert und begonnen, sich Gedanken über<br />

mögliche Lösungen zu machen. Musselwhite etwa ist seit April 1997<br />

in Betrieb und inzwischen auf eine Tiefe von 1,2 Kilometern vorgetrieben<br />

worden. Im Jahr 2014 produzierte die Mine rund 278.000 Unzen<br />

Gold. Der Ertrag hat seinen Preis: Musselwhites horizontale Ausdehnung<br />

beträgt inzwischen bis zu 12 Kilometer. Die Untersuchung zeigte<br />

auch, dass Retter angesichts dieser räumlichen Expansion schnell an<br />

ihre technischen Grenzen stoßen. Selbst bei guten Sichtverhältnissen<br />

und einer Reisegeschwindigkeit von 25 Stundenkilometern wäre ein<br />

Team rund 45 Minuten unterwegs, um manche Winkel zu erreichen.<br />

Es müsste bereits bei der Anfahrt seine Dräger-Atemschutzgeräte<br />

benutzen, die (je nach Einsatz) Atemluft für bis zu vier Stunden vorhalten.<br />

Schlimmstenfalls würde man zwar zum Einsatzort gelangen,<br />

um doch bald wieder unverrichteter Dinge umzukehren, da der Atemluftvorrat<br />

die kritische 50-Prozent-Marke erreicht hat.<br />

„Manches Gebiet lag außerhalb der Reichweite unserer Atemschutzgeräte,<br />

sodass wir eine Antwort auf diese Frage finden mussten.<br />

Wenn das Rettungspersonal nicht mobil genug ist, um seine<br />

Arbeit zu verrichten, können wir keine Bergleute dorthin schicken!<br />

Es gab“, sagt Markus Uchtenhagen, „keinen umfassenden Plan, um<br />

schnell zu den tiefsten Bereichen der Mine vorzudringen.“ Dieses<br />

Problem betraf nicht nur Musselwhite, sondern auch weitere Goldcorp-Standorte<br />

sowie Gruben anderer Bergbauunternehmen. Der<br />

Goldcorp-Sicherheitsbeauftragte schloss sich mit einem weiteren<br />

Experten kurz, um nach praktikablen Lösungen auf das veränderte Risikoprofil<br />

ausladender Gruben zu suchen. Gemeinsam mit Kent Armstrong,<br />

der für Dräger weltweit als Geschäfts entwickler im Bereich<br />

Bergbau tätig ist, spielte Uchtenhagen über Monate verschiedene<br />

Goldstandard für die Grubenrettung:<br />

Mit dem MRV 9000 lassen sich auch<br />

die entlegensten Winkel unter Tage erreichen<br />

42 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


BERGBAU<br />

WIRTSCHAFT<br />

Szenarien durch, wie sich das Reichweitenproblem unter Tage lösen<br />

ließe. Sie erörterten und verwarfen diverse Ideen – etwa zusätzliche<br />

Atemschutzgeräte an verschiedenen Punkten unter Tage zu deponieren<br />

oder eine Rettungskapsel als Anhänger hinter dem bestehenden<br />

Fahrzeug mitzuführen. „Da es keine brauchbare Lösung auf<br />

dem Markt gab, blieb am Ende der Gedanke, gemeinsam ein Fahrzeug<br />

zu entwickeln. Wir waren nicht nur Ideengeber, sondern auch<br />

der erste Kunde für etwas, das es so noch nicht gab“, erinnert sich<br />

Uchtenhagen.<br />

Wenn Atemschutzgeräte an Grenzen stoßen<br />

Kent Armstrong verweist auf ein Grubenfeuer im Jahr 1965 in der<br />

MacIntyre-Mine in Kanada als Wendepunkt. Das Unglück in rund<br />

1.500 Metern Tiefe führte vor Augen, dass Atemschutzgeräte mit<br />

zwei Stunden Einsatzdauer nicht mehr ausreichen, um in immer tieferen<br />

Gruben sicher und effektiv zu arbeiten. Drägers Kreislauf-Atemschutzgerät<br />

BG 174 schloss Mitte der 1960er-Jahre erstmals diese<br />

Sicherheitslücke. Es versorgte Einsatzkräfte mit bis zu vier Stunden<br />

Atemluft. Doch selbst dieser neue Standard reicht heute nicht mehr<br />

Mobile Gasmesstechnik<br />

hilft, Risikofaktoren<br />

im<br />

Wetterstrom<br />

zu kontrollieren<br />

aus, wenn die Hin- und Rückreise zum entferntesten Punkt einer<br />

Grube fast zwei Stunden in Anspruch nimmt. Gleichzeitig sind dem<br />

Ausbau mobiler Systeme physische Grenzen gesetzt: „Niemand kann<br />

ein Gerät auf dem Rücken tragen, das acht bis neun Stunden Atemluft<br />

vorhält“, erklärt Armstrong. Eine bessere Mobilisierung der Retter<br />

allein löst das Problem ebenso wenig. Rettungsfahrzeuge, die wie ein<br />

geländetauglicher Krankenwagen in die Grube einfahren, um Feuer<br />

zu bekämpfen und Verletzte zu versorgen, während die Bergleute in<br />

Flucht- und Rettungskammern ausharren, sind nichts Neues. „Derartige<br />

Lösungen sind seit einigen Jahren im Einsatz. Was bislang<br />

fehlte, war ein Fahrzeug mit einer Luftversorgung, die von der Umgebungsluft<br />

unabhängig ist“, sagt Armstrong. „In den Gesprächen mit<br />

Goldcorp stellte sich heraus, dass die beste Lösung aus einem Fahrzeug<br />

mit luftdichter Fahrerkabine und Kassette, gemeint ist die Rettungskammer,<br />

besteht, in dem ein Rettungsteam sicher unterwegs<br />

ist – und das eigene Atemschutzgerät erst dann aktiviert, wenn es<br />

am Einsatzort angekommen ist.“<br />

Eine solche „Rettungskammer mit Allradantrieb“ entwarfen Uchtenhagen<br />

und Armstrong in enger Abstimmung mit weiteren Experten<br />

bei Goldcorp sowie dem Bereich Engineered Solutions von Dräger,<br />

der über jahrzehntelange Erfahrung mit Atemluftversorgungssystemen<br />

verfügt. Zudem stießen sie auf einen weiteren erfahrenen Hersteller:<br />

die auf Bergbaufahrzeuge spezialisierte Maschinenfabrik Hermann<br />

Paus. Von der ersten Skizze bis zum fertigen Fahrzeug vergingen<br />

rund zweieinhalb Jahre, in denen alle drei Unternehmen die technischen<br />

Anforderungen ausarbeiteten und immer wieder Änderungen<br />

vornahmen. „Wir haben ein neues Konzept erfolgreich von der Idee<br />

in die Tat umgesetzt – und damit auch gezeigt, wie Grubenrettung im<br />

21. Jahrhundert aussehen kann. Seitdem ist das Interesse für solche<br />

Fahrzeuge merklich gestiegen“, sagt Armstrong.<br />

Bis zu 60 Prozent Steigfähigkeit und 33 km/h schnell<br />

Mit einer Spitzengeschwindigkeit von bis zu 33 Stundenkilometern<br />

und einer Steigfähigkeit von bis zu 60 Prozent ist das Fahrzeug<br />

auch für den rauen Einsatz unter Tage ausgelegt. Voll beladen<br />

wiegt es rund neun Tonnen. Fahrerkabine und Kassette sind<br />

FOTOS: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA (3), DOUG GIBBONS/GOLDCORP INC<br />

Rettungsinsel:<br />

Bis zu 96 Stunden<br />

Schutz bietet diese<br />

Dräger Flucht- und<br />

Rettungskammer vor<br />

lebensbedrohenden<br />

Kontaminationen<br />

und Gasen – je nach<br />

Ausbaustufe finden<br />

hier bis zu 20 Menschen<br />

Unterschlupf<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />

43


Robustes<br />

Rettungsfahrzeug<br />

mit Formel-1-<br />

Charakter<br />

In der mobilen<br />

Rettungskammer überwacht<br />

ein Dräger X-am<br />

7000 die Konzentration von<br />

Sauerstoff, Kohlenmonoxid<br />

und Kohlendioxid<br />

mit einem Luft-Spülsystem ausgestattet, das die Besatzung mit<br />

Atemluft versorgt. Je nachdem, wie viele Personen an Bord sind,<br />

beträgt die Betriebszeit bis zu fünf Stunden. Anderthalb Stunden<br />

für die Einfahrt, zwei Stunden am Einsatzort, und anderthalb Stunden<br />

für die Rückfahrt.<br />

Sobald die mit persönlichem Atemschutz ausgerüsteten Rettungskräfte<br />

das Fahrzeug verlassen haben, kann der Luftstrom für die verbliebene<br />

Besatzung heruntergefahren werden, um Atemluft zu sparen.<br />

Fahrerkabine plus Kassette bieten neun Personen Platz – einschließlich<br />

eines Schleifkorbs, um verletzte Kumpel in Sicherheit zu bringen.<br />

Damit liegt man deutlich über der in Kanada gesetzlich vorgeschriebenen<br />

Rettungsteamstärke von fünf Personen. In den Fahrzeugen,<br />

die von Goldcorp genutzt werden, strömt Atemluft aus sechs Gasflaschen<br />

mit jeweils 6.000 PSI. Hier wurde eine Lösung gewählt, die<br />

man sonst nur von Boxenstopps in der Formel-1 gewohnt ist. „Es ist<br />

uns wichtig, das Fahrzeug nach einem Einsatz so schnell wie möglich<br />

wieder bereitzuhalten“, beschreibt Uchtenhagen die Anforderungen.<br />

Deshalb entwickelte man ein hydraulisches Hubsystem, mit dem die<br />

Gasflaschen binnen 15-20 Minuten gegen einen unverbrauchten Satz<br />

ausgetauscht werden können. Das Fahrzeug verfügt zudem über ein<br />

Gasüberwachungssystem, das die Konzentration von Sauerstoff, Stickstoffdioxid,<br />

Methan und Kohlenmonoxid in der Umgebungsluft sowie<br />

von Sauerstoff, Kohlendioxid und Kohlenmonoxid im Inneren misst.<br />

Sobald Grenzwerte über- oder unterschritten werden, weisen visuelle<br />

und akustische Signale darauf hin. Fest installierte Wärmebildkameras,<br />

vorn wie hinten, lösen Handheld- Varianten ab. Drei Bildschirme<br />

(zwei in der Kabine, einer in der Kassette) helfen dem Team bei<br />

der Orientierung in staubiger oder verrauchter Umgebung sowie bei<br />

der Suche nach Vermissten.<br />

Durch dick und dünn<br />

Gebaut hat den Koloss auf Rädern die Maschinenfabrik Hermann<br />

Paus, ein deutscher Mittelständler, der sich seit mehr als 40 Jahren<br />

auf die Fertigung robuster Fahrzeuge für den Einsatz im Bergbau<br />

spezialisiert hat. Paus fertigt mit einer Belegschaft von 250 Mitarbeitern<br />

jährlich mehr als 150 Fahrzeuge. „Jedes ist an die Erfordernisse<br />

eines Kunden und die Bedingungen einer bestimmten Grube angepasst“,<br />

sagt Geschäftsführer Franz-Josef Paus. Zur Realisierung der<br />

Idee mussten alle drei Unternehmen regelmäßig an einem Tisch zusammenkommen.<br />

„Die ungewöhnlich enge transatlantische Zusam-<br />

1 Luft-Spülsystem mit Dosierpanel<br />

2 Feuerlöschanlage<br />

3 Kommunikationssystem<br />

4 Notausstieg<br />

5 Luftdichte Fahrerkabine und Kassette<br />

6 Klimaanlage<br />

7 Ergonomische Sitze<br />

2<br />

8 Schleifkorb<br />

9 Atemluftspeicher<br />

10 Gaswarnsystem<br />

3<br />

9<br />

1<br />

5<br />

44 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


BERGBAU<br />

WIRTSCHAFT<br />

1<br />

10<br />

menarbeit hat zum Erfolg geführt“, sagt Paus. „Mit diesem Fahrzeug<br />

können Grubenbetreiber ihre Rettungskonzepte zeitgemäß organisieren<br />

und erweitern.“<br />

Die eigentlichen Herausforderungen zeigten sich erst in der Planung<br />

und Umsetzung. Auf den ersten Blick, so der Unternehmer, ging<br />

es darum, eine autarke Rettungskammer auf Rädern zu entwerfen<br />

und sie auf einer bestehenden Karosserie zu befestigen. Doch in den<br />

Diskussionen über das genaue Design stieß man immer wieder auf<br />

praktische Anforderungen, die Veränderungen verlangten. Dabei stellte<br />

sich etwa heraus, dass die Sitze den ergonomischen Bedürfnissen<br />

der Retter angepasst werden mussten. Da die Kreislauf-Atemschutzgeräte<br />

am Mann getragen werden, haben die Vordersitze des<br />

MRV 9000 keine Rückenlehnen. Nicht zuletzt musste auch das Design<br />

der Türen modifiziert werden, um dem Rettungsteam ein ungehindertes<br />

Ein- und Aussteigen zu ermöglichen. Eine Handvoll Paus-<br />

Mitarbeiter benötigte anschließend 15 Monate, um die feinjustierten<br />

Pläne in die Tat umzusetzen. „Dabei war es wichtig, dass wir einen<br />

ersten Kunden an Bord hatten“, sagt Kent Armstrong. „Ein derartiges<br />

Fahrzeug kostet mehrere hunderttausend Dollar. Das heißt, man<br />

kann es nicht einfach probeweise bauen und auf den Markt bringen<br />

in der Hoffnung, dass sich die Branche dafür interessiert.“<br />

4<br />

8<br />

6<br />

7<br />

Im vergangenen Jahr wurden die ersten beiden leuchtend gelb<br />

lackierten Exemplare des MRV 9000 an Goldcorp geliefert –<br />

und stehen nun in der Musselwhite- und der Porcupine-Mine in<br />

Timmins bereit. Denis Leduc, Notfall- und Sicherheitskoordinator<br />

der Musselwhite-Mine, hat sein über 70 Mann starkes Team rasch in<br />

den Umgang mit dem neuen Gefährt eingearbeitet. „Es ist ein aufregender<br />

Neuzugang, der uns mehr Handlungsfreiheit gibt, um in<br />

Notfall situationen schnell und sicher reagieren zu können.“<br />

„Jede Mine stellt eigene Anforderungen“<br />

Das erste Feedback anderer Bergbauunternehmen auf das neue<br />

Rettungsfahrzeug ist positiv, berichten Markus Uchtenhagen und<br />

Kent Armstrong. „Jede Mine ist anders angelegt und stellt ihre eigenen<br />

Anforderungen“, sagt Uchtenhagen. Doch auch Goldcorp hat<br />

noch andere Gruben, für die sich das MRV eignete – jene, die aufgrund<br />

ihres Alters besonders tief und ausgedehnt sind. „Ein derartiges<br />

Fahrzeug kann obendrein wirtschaftliche Vorteile bieten“, ergänzt<br />

er. „Traditionell besitzen die meisten Gruben an der Erdoberfläche<br />

eine Infrastruktur und unter Tage ein Layout, bei dem der Haupteingang<br />

als ausziehender Wetterschacht dient. Mit dem MRV lassen<br />

sich Betriebskosten sogar senken, da man keine zusätzlichen, kostspieligen<br />

Belüftungsschächte anlegen muss, um Rettungskräften den<br />

Zugang zu frischer Atemluft zu gewährleisten.“<br />

Gleichwohl muss sich das MRV 9000 erst noch seinen Platz im<br />

Rettungssortiment einer Grube erobern. „Es geht nicht nur darum, ein<br />

neues Fahrzeug anzuschaffen und damit auf alles vorbereitet zu sein,<br />

sondern es vielmehr in ein modernes Sicherheits- und Rettungskonzept<br />

zu integrieren“, erklärt Dräger-Manager Armstrong. „Die Bergbauindustrie<br />

hat zur Kenntnis genommen, was da entwickelt wurde<br />

und muss sich jetzt Gedanken darüber machen, ob und wie es in ihr<br />

individuelles Sicherheitskonzept passt – technisch wie ökonomisch.“<br />

Das erfordert Anpassungen bei Dimension und Ausstattung, die sich<br />

nach den Anforderungen einer Grube und den gesetzlichen Bestimmungen<br />

eines Landes richten. „Insofern“, sagt Armstrong, „gibt es<br />

kein Grubenrettungsfahrzeug, das sich für alle Bergwerke gleich gut<br />

eignet. Doch es gibt jetzt eine verlässliche Antwort auf die Frage, wie<br />

Grubenrettung im 21. Jahrhundert funktionieren kann.“<br />

5<br />

Ergonomie für den<br />

Ernstfall heißt zum Beispiel,<br />

die Sitze so zu gestalten, dass<br />

die Einsatzkräfte mit dem Atemschutzgerät<br />

auf dem Rücken<br />

Platz nehmen können<br />

FOTOS: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA<br />

Das Außen im Blick<br />

behalten vier Dräger<br />

Polytron 8000.<br />

Sie messen die untere<br />

Explosionsgrenze<br />

sowie die Konzentration<br />

verschiedener Gase<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />

45


Zukunft<br />

Ob Auto, Fahrrad oder Gaswarngerät: Die Werkzeuge des<br />

Alltags sind immer dann am nützlichsten, wenn sie genau dort<br />

sind, wo man sie gerade braucht. Sie zu seinem Eigentum<br />

zu zählen wird dagegen für manchen zur Last.<br />

Text: Frank Grünberg<br />

C<br />

Carsharing boomt. Die Mitglieder des<br />

Bundesverbands CarSharing e. V. (bcs)<br />

zählten Anfang 2016 fast 1,3 Millionen<br />

Kunden in Deutschland – gut ein Fünftel<br />

mehr als noch im Jahr zuvor. Die Zahl<br />

der Städte und Gemeinden mit einem entsprechenden<br />

Angebot erhöhte sich auf<br />

537, ein Plus von knapp zehn Prozent.<br />

Und doch fristet Carsharing immer<br />

noch ein Nischendasein. Gemessen an<br />

einer Gesamtbevölkerung von 81 Millionen<br />

Menschen und mehr als 12.200 Kommunen<br />

bleiben die Quoten im niedrigen<br />

einstelligen Prozentbereich. Hoch sind<br />

dagegen die Wachstumsraten. Sogar die<br />

Automobilhersteller nehmen den Trend<br />

zum Teilen inzwischen so ernst, dass sie<br />

mit eigenen Angeboten in diesem Markt<br />

mitmischen. Denn viele Menschen wollen<br />

wählen können zwischen Kaufen<br />

und Mieten. Anbieter, die ihre Produkte<br />

nur verkaufen, könnten künftig Probleme<br />

bekommen. Aus Kundensicht liegen<br />

die Vorteile des Carsharing auf der<br />

Hand. Gegen die Zahlung eines Mitgliedsbeitrags<br />

und einer nutzungsabhängigen<br />

Gebühr muss man sich weder um Kauf,<br />

Pflege und Reparatur noch um Versicherung<br />

oder Steuern kümmern. Zudem lässt<br />

sich – je nach Bedarf – zwischen verschiedenen<br />

Fahrzeugtypen wählen, die oft nur<br />

wenige Monate alt und damit technisch<br />

auf dem neuesten Stand sind. Sie tragen<br />

auch dazu bei, dass weniger Autos die<br />

Städte zuparken. Eine aktuelle bcs-Studie<br />

zeigt, dass ein Carsharing-Fahrzeug<br />

bis zu 20 Privat-Pkws ersetzen kann. In<br />

innenstadtnahen Bezirken besitzen fast<br />

80 Prozent der Carsharing-Kunden gar<br />

kein eigenes Auto mehr. Diese Menschen<br />

machen sich individuell mobil – durch<br />

eine Kombination aus Auto, Fahrrad, Bus<br />

und Bahn. Selbst Fahrräder werden oft<br />

nicht mehr gekauft, sondern bei Bedarf<br />

kurzfristig gemietet. Eigentum hat hier<br />

ausgedient, auch als Statussymbol.<br />

Technik verändert das Leben<br />

Dabei ist die Idee der Autovermietung gar<br />

nicht neu. Am 15. Januar 1896 – zehn Jahre<br />

nachdem Carl Benz das erste Vehikel<br />

ins Rollen brachte – gründete der Pariser<br />

Automobilclub die erste Autovermietung<br />

der Welt. Weniger, um damit Geld zu verdienen,<br />

sondern um die Menschen mit<br />

den motorisierten Fahrzeugen vertraut zu<br />

machen. In Deutschland öffnete die erste<br />

Autovermietung 1927 in Hamburg. Seitdem<br />

hatte sich an diesem Geschäfts modell<br />

über Jahrzehnte nicht viel geändert. Kunden<br />

müssen die Autos meist abholen und<br />

wieder abgeben, dafür viel Papierkram<br />

erledigen und die Miete mindestens für<br />

einen Tag entrichten. Die Organisation ist<br />

mit Aufwand verbunden. Die Pioniere des<br />

FOTO: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA; ILLUSTRATIONEN: PICFOUR, ISTOCKPHOTO<br />

46 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


KAUFEN ODER MIETEN?<br />

WIRTSCHAFT<br />

in der Nische<br />

FOTO: BLIND<br />

Mobil und sicher:<br />

Dräger verkauft nicht<br />

nur Sicherheitstechnik,<br />

sondern vermietet<br />

sie auch<br />

Carsharing setzten dem vor rund 30 Jahren<br />

ein anderes Konzept entgegen. Sie wollten<br />

Autos zeitlich flexibel und ortsnah nutzen,<br />

um einzukaufen oder übers Wochenende<br />

wegzufahren: anmelden, einsteigen, losfahren<br />

– und dort abstellen, wo es gerade<br />

passt. Dieser Vision ist die Branche heute<br />

sehr nahe gekommen. Internet und Smartphones<br />

machen es möglich. Die Suche<br />

nach einem freien Auto erfolgt in Echtzeit,<br />

per App – sie zeigt auch, wo sich das nächstgelegene<br />

befindet. Die Fahrzeuge sind mit<br />

Bordcomputern, GPS-Sendern und Mobilfunkeinheiten<br />

ausgestattet, die Standort<br />

und Fahrzeugdaten zu jeder Zeit übermitteln<br />

können. Auch die Schlüssel hängen<br />

oft nicht mehr in einem nahgelegenen<br />

Tresor, weil sich die Türen mit einer<br />

Chipkarte öffnen lassen. Meist braucht es<br />

heute nicht einmal mehr feste Park plätze.<br />

Nach Gebrauch wird das Fahrzeug einfach<br />

dort abgestellt, wo es dem Nutzer gerade<br />

passt. Die Unterschiede zum gekauften<br />

Auto schwinden nicht zuletzt durch solche<br />

Annehmlichkeiten. Damit ist Car sharing<br />

der Beweis dafür, wie digitale Technik das<br />

Leben verändern kann. Die Anbieter wiederum<br />

sind aufgefordert, ihre Serviceund<br />

Logistikdienstleistungen laufend zu<br />

verbessern. Wo befinden sich gerade welche<br />

Fahrzeuge? In welchem Zustand sind<br />

sie? Wann wurden sie zuletzt gewartet? Wer<br />

im modernen Mietmarkt mitspielen will,<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />

47


WIRTSCHAFT<br />

KAUFEN ODER MIETEN?<br />

Mein oder dein? Diese Frage<br />

stellt sich mittlerweile bei vielen<br />

Gütern des täglichen Bedarfs<br />

Erweitertes Portfolio<br />

Dräger bietet seine Sicherheitstechnik seit zehn Jahren auch zur Miete an.<br />

Mit drei Servicepaketen richtet man sich nun auch an neue Kundengruppen.<br />

FOTOS: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA<br />

Um Kunden aus den Bereichen<br />

Feuerwehr, Energie- und Wasserversorgung<br />

sowie der Pharma-,<br />

Metall- und Elektroindustrie noch<br />

besser zu versorgen, hat Dräger<br />

sein Serviceportfolio erweitert<br />

Sicherheitsprüfungen in Raffinerien folgen einem festen Turnus. Alle fünf<br />

Jahre, das ist gesetzlich vorgeschrieben, müssen beispielsweise Druckbehälter<br />

gewartet werden. Ganze Anlagen stehen dann mehrere Wochen lang still.<br />

Weil in dieser Zeit auch andere Instandsetzungsmaßnahmen stattfinden, schnellt<br />

der Bedarf an Sicherheitstechnik auf einen Schlag in die Höhe. „Das hat uns vor<br />

zehn Jahren auf die Idee gebracht, unsere Geräte auch zu vermieten“, sagt<br />

Thielo Hammer, Leiter des Portfolio-Managements. „Das war der Startschuss für<br />

die Rental & Safety Services von Dräger.“<br />

Hammer zeichnet dafür verantwortlich, die Mietangebote in kunden gerechte<br />

Pakete zu schnüren. Dafür stehen ihm und seinem Team weltweit rund<br />

85.000 Geräte zur Verfügung, die sich auf 16 Lager verteilen und etwa 1.500 verschiedene<br />

Produkte umfassen: von Atemschutzmasken bis hin zu Fahrrädern und<br />

explosionsgeschützten Funkgeräten. Dabei werden nicht nur Produkte vermietet<br />

(Rental Services), sondern auch ganzheitliche Lösungen wie mobile Wartungs- und<br />

Ex-Ox-Ausgabestationen („Rental Robots“), CSE Monitoring, Sicherheitspersonal<br />

oder die Bereitstellung und Beratung aus den Bereichen Shutdown Safety sowie<br />

On-Site Safety Services. Der Umsatz des Geschäftsbereichs liegt jährlich im mittleren<br />

zweistelligen Millionen-Euro-Bereich. Gräbt man sich damit nicht das Wasser im<br />

klassischen Produktgeschäft ab? „Für uns schließen sich Miete und Kauf nicht aus –<br />

vielmehr ergänzen sie einander“, sagt Hammer. „Es gibt eben Kunden, für die sich<br />

ein Kauf partout nicht lohnt.“ Pauschal ließe sich die Frage, wann man mit einer Mietlösung<br />

besser gestellt sei, nicht beantworten. Entscheidend dafür ist etwa, ob die<br />

Produkte lang- oder kurzfristig genutzt und welche Servicepakete genau benötigt<br />

werden – und, ob man sie zentral oder dezentral einsetzt.<br />

Um Kunden aus den Bereichen Feuerwehr, Energie- und Wasserversorgung<br />

sowie der Pharma-, Metall- und Elektroindustrie noch besser zu erreichen, hat Dräger<br />

sein Serviceportfolio im Bereich „Rental Services“ kürzlich erweitert und das<br />

Angebot „Basic“ um zwei weitere ergänzt. Die beiden neuen Pakete („Advanced“<br />

und Professional“) richten sich an diejenigen, die gemietete Sicherheitstechnik<br />

nicht selbst warten wollen. In der Variante „Advanced“ werden alle Wartungs-,<br />

Kalibrierungs- und Instandsetzungsarbeiten von einer Dräger-Werkstatt übernommen.<br />

In der „Professional“-Variante geschieht das vor Ort, beim Kunden. Die Deutsche<br />

Telekom gehört zu den größten Rental-Advanced-Kunden in Deutschland. Zusätzlich<br />

unterstützt Dräger mit einem Webtool bei der Verwaltung der Mietflotte.<br />

So bleibt transparent, welche Geräte wo im Einsatz sind und gegebenenfalls<br />

ausgetauscht werden müssen. Kontakt: thielo.hammer@draeger.com<br />

48 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


muss diese Fragen in Echtzeit beantworten<br />

können, ein leistungsfähiges Flottenmanagement<br />

vorausgesetzt. Das gilt auch<br />

jenseits von Autos und Fahrrädern.<br />

Mein oder dein? Diese Frage stellt<br />

sich inzwischen bei fast allen beweglichen<br />

Gütern – auch bei Gaswarngeräten. Die<br />

Deutsche Telekom etwa hat sich für die<br />

Miete von 1.800 mobilen Gaswarn geräten<br />

(Typ: Dräger X-am 5600) entschieden.<br />

Diese werden benötigt, damit Verlege- und<br />

Wartungsarbeiten an Leitungen gefahrlos<br />

durchgeführt werden können. Die Leitungen<br />

liegen oft in Schächten oder Kanälen,<br />

in denen Sauerstoffmangel, giftige Gase<br />

und explosive Dämpfe auftreten können.<br />

Um die Mitarbeiter frühzeitig vor diesen<br />

Gefahren zu warnen, sind alle mit entsprechenden<br />

Geräten ausgerüstet. Früher<br />

unterhielt das Unternehmen dafür<br />

einen eigenen Gerätepool. Die Erfahrungen<br />

zeigten jedoch, dass die flexible<br />

Bereitstellung von geprüfter und gewarteter<br />

Technik an unterschiedlichen Einsatzorten<br />

nicht zur vollen Zufriedenheit realisiert<br />

werden konnte. Zum einen, weil es<br />

am nötigen Know-how fehlte, die Geräte<br />

regelmäßig zu kalibrieren und damit einsatzbereit<br />

zu halten. Zum anderen, weil<br />

der logistische Aufwand sehr hoch ist,<br />

die 45 Standorte, mit ihren jeweils 20 bis<br />

120 Technikern, zuverlässig mit funktionstüchtigen<br />

Geräten zu versorgen.<br />

Stets einsetzbare Technik<br />

Dräger liefert nicht nur die Gaswarn geräte,<br />

sondern verantwortet auch das Flottenmanagement<br />

mithilfe einer webbasierten<br />

Software. Die Logistik wurde dabei spezifisch<br />

auf die Bedürfnisse der Deutschen<br />

Telekom zugeschnitten. Die Geräte werden<br />

in wiederverwendbaren Verpackungen<br />

geliefert, die einen doppelten Vorteil<br />

bieten: Sie ermöglichen die unkomplizierte<br />

Rücksendung auf dem Postweg, da sie<br />

bereits mit allen notwendigen Adressen<br />

versehen sind – zudem dienen sie als Ladestation,<br />

die das Aufladen der Geräte auch<br />

in den Fahrzeugen der Servicetechniker<br />

erlaubt. Die Technik ist somit stets einsatzbereit<br />

und erhöht die Mobilität und Sicherheit<br />

der Mitarbeiter.<br />

Stück<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

Die drei Varianten des Dräger Rental Service:<br />

Basic Advanced Professional<br />

Service<br />

1 Mietgeräte (einsatzbereit)<br />

2 Lieferung frei Haus<br />

3 Pick-Up-Service<br />

4 Wartung<br />

5 Fachgerechte Reparaturen<br />

6 Reparatur beim Dräger Service<br />

7 Reparatur beim Kunden<br />

8 Wiederverwendbare Verpackung<br />

9 Geräteversicherung<br />

10 Reparatur nach unsachgemäßem<br />

Gebrauch *<br />

0<br />

Service und Kosten im Paket enthalten Service kann zusätzlich gebucht werden<br />

Service für das Paket nicht erforderlich * Kundenindividuelle Kostenkalkulation<br />

Mieten oder kaufen? Eine Musterrechnung:<br />

Ein Unternehmen besitzt 20 mobile Gasmessgeräte (Typ: Dräger X-am 5000).<br />

Im Rückblick der letzten drei Jahre haben diese in mehr als der Hälfte aller Monate<br />

ausgereicht, um den Bedarf zu decken (siehe unten). Maximal wurden zusätzlich<br />

15 Messgeräte benötigt. Wäre es günstiger gewesen, diese zu mieten oder zu kaufen?<br />

In diesem Fall ergibt die Kalkulation der Gesamtkosten ein klares Ergebnis:<br />

Durch die Miete der zusätzlich benötigten Geräte in der Variante „Rental Basic“<br />

hätte der Kunde fast die Hälfte der Kosten gespart.<br />

Jan<br />

Feb<br />

Flexibler, tatsächlicher Bedarf über drei Jahre<br />

40.000 €<br />

20.000 €<br />

Dräger X-am 5000 Ex 2<br />

O 2<br />

CO/H 2<br />

N 1<br />

S<br />

Dräger X-am 5000 Ex 2<br />

O 2<br />

CO/H 2<br />

N 1<br />

S<br />

0<br />

Mrz<br />

Apr<br />

Mai<br />

Jun<br />

Jul<br />

Aug<br />

Sep<br />

Spitzenabdeckung<br />

durch Mietgeräte<br />

Okt<br />

Nov<br />

Dez<br />

50 %<br />

Jan<br />

Feb<br />

Mrz<br />

Apr<br />

Mai<br />

Jun<br />

Spitzenabdeckung durch Kauf<br />

(inkl. Gesamtbetriebskosten)<br />

Jul<br />

Aug<br />

Sep<br />

Okt<br />

Nov<br />

Dez<br />

Jan<br />

Feb<br />

Mrz<br />

Apr<br />

Mai<br />

Die Berechnungsgrundlage beruht auf dem Fallbeispiel aus der<br />

obigen Grafik, die Auswertung auf realistischen Schätzungen<br />

und Annahmen; sie kann aber keine Allgemeingültigkeit beanspruchen.<br />

Das Schaubild ist eine theoretische Beispieldarstellung.<br />

Die tatsächlichen Einsparungen hängen von den jeweiligen<br />

Rahmenbedingungen des Einzelfalls ab und variieren deshalb.<br />

Jun<br />

Jul<br />

Aug<br />

Sep<br />

Okt<br />

Nov<br />

Dez<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />

49


WISSENSCHAFT<br />

FLÜSSIGGAS<br />

GUTE<br />

Gasmotoren gehört die Zukunft in der internationalen<br />

Schifffahrt. Gasmesstechnik macht den Wechsel<br />

von Schweröl zu flüssigem Erdgas sicherer – sie kommt<br />

auch in Anlagen zum Einsatz, die Schiffe in Häfen mit<br />

Strom versorgen. Rußpartikel, Schwefel- und Stickoxide<br />

sind dann fast kein Thema mehr.<br />

Text: Peter Thomas<br />

50 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


AUSSICHTEN<br />

Netzwerk Ozeane:<br />

Die Grafik zeigt den Schiffsverkehr<br />

auf den Weltmeeren<br />

im Jahr 2012. Gelbe Linien<br />

stehen für die Routen von<br />

Containerschiffen, Tanker<br />

sind rot dargestellt, Schüttgutfrachter<br />

blau<br />

ILLUSTRATION: PAUL MALYUGIN/THINKSTOCK; KARTE: SHIPMAP.ORG<br />

WWenn die AIDAsol in Hamburg vor<br />

Anker geht, schaltet sie ihre Motoren ab.<br />

Denn während der Liegezeit des Kreuzfahrtschiffs<br />

übernimmt seit 2016 die<br />

LNG-Hybrid-Barge „Hummel“ die Stromversorgung.<br />

Der Schubleichter des Unternehmens<br />

Becker Marine Systems hat zwei<br />

Container mit bis zu je 17 Tonnen flüssigem<br />

Erdgas (Liquefied Natural Gas, LNG)<br />

an Bord. Daraus erzeugen Generatoren<br />

Strom.<br />

Die Stromversorgung von Hochseeschiffen<br />

in Häfen ist nicht einfach,<br />

teilweise verbrauchen sie am Kai so viel<br />

Energie wie eine Kleinstadt. Starkstromleitungen<br />

dauerhaft zu verlegen ist teuer.<br />

Eine Hybrid-Barge erreicht dagegen flexibel<br />

jedes Schiff, egal wo es vor Anker gegangen<br />

ist. Nach dem gleichen Prinzip funktionieren<br />

die viel größeren schwimmenden<br />

Kraftwerke „Karpowership“ des türkischen<br />

Unternehmens Karadeniz Energy, die mit<br />

LNG oder Schweröl betrieben werden. Sie<br />

leisten zwischen 30 und 470 Megawatt,<br />

die Hummel kommt immerhin auf bis zu<br />

7,5 Megawatt. Das reicht aus, um auch sehr<br />

energiehungrige Kreuzfahrtschiffe zu versorgen.<br />

Bei einer Liegezeit von etwa acht<br />

Stunden verbrauchen sie bis zu 40 Megawattstunden<br />

Strom, benötigen somit eine<br />

Versorgungsleistung von fünf Megawatt.<br />

Abschied vom Schweröl<br />

Bislang laufen meist die eigenen Motoren<br />

der Kreuzfahrtschiffe weiter, wenn sie<br />

irgendwo auf der Welt am Kai liegen. Die<br />

Maschinen erzeugen dann über ihre Gene-<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />

51


WISSENSCHAFT<br />

FLÜSSIGGAS<br />

Einsatz von LNG<br />

als Schiffstreibstoff<br />

wird zunehmen<br />

ratoren den benötigten Strom, während<br />

die Passagiere durch die jeweilige Stadt<br />

flanieren. Welche Emissionen dabei entstehen,<br />

hängt vom verwendeten Treibstoff<br />

ab. Am schlechtesten schneidet Schweröl<br />

ab, der bislang wichtigste Energielieferant<br />

für die internationale Schifffahrt.<br />

Deren dicke Abgaswolken mit viel Stickoxiden,<br />

Schwefeloxiden, Ruß und Feinstaub<br />

sind ein Gesundheits- und Umweltrisiko.<br />

Besser sieht die Bilanz bei Schiffen<br />

mit Abgasreinigung (Scrubber) aus. Sauberer<br />

als Schweröl ist der teurere Marinedieselkraftstoff,<br />

den heute die meisten<br />

Schiffe als Energielieferanten im Hafen<br />

nutzen. LNG schließlich schneidet hinsichtlich<br />

der Emissionen am besten ab.<br />

Seine ökologischen Vorteile hebt auch Max<br />

Kommorowski hervor, Leiter des Bereichs<br />

LNG Hybrid bei Becker Marine Systems:<br />

„Schwefeloxide und Rußpartikel finden<br />

sich überhaupt nicht mehr im Abgas, Stickoxide<br />

werden um bis zu 80 Prozent verringert,<br />

der Kohlendioxidausstoß sinkt um bis<br />

zu 20 Prozent.“ Bei Neubauten entscheiden<br />

sich deshalb heute immer mehr Reedereien<br />

für einen Gasantrieb. Auch AIDA<br />

setzt bei der nächsten Schiffsgeneration,<br />

die bis 2020 in Dienst gestellt werden<br />

soll, auf einen reinen LNG-Antrieb. „Bisher<br />

gibt es zwar erst rund 100 Schiffe mit<br />

LNG-Antrieb weltweit, aber viele befinden<br />

sich noch im Bau – insofern dürfte die Verbreitung<br />

dieser Technik in den kommenden<br />

Jahren exponentiell zunehmen“, sagt<br />

Maria Dimitrova, die bei Dräger die Fokusindustrie<br />

„Schiffbau“ betreut. Zudem gibt<br />

es Retrofit-Projekte, bei denen bestehende<br />

Schiffe mit Gasmotoren oder Dual-Fuel-<br />

Technik für den Wechsel zwischen Gas<br />

und einem anderen Treibstoff ausgestattet<br />

werden (siehe Interview, Seite 53).<br />

Kluger Übergang<br />

Aber was ist mit der umweltfreundlichen<br />

Energieversorgung im Hafen für die große<br />

Bestandsflotte mit älterer Motorentechnik?<br />

Hier setzt Becker Marine Systems mit der<br />

Hafenpanorama mit<br />

sauberer Energie:<br />

Macht die AIDAsol (links)<br />

in Hamburg fest, liefert<br />

die Hummel (rechts vorn)<br />

Strom aus LNG. Die Energie<br />

wird mit Starkstromkabeln<br />

übertragen (oben)<br />

52 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


Dräger PIR 7000:<br />

infrarot-optischer<br />

Transmitter, der den<br />

LNG-Betrieb an<br />

Bord der Hybrid-<br />

Barge Hummel<br />

überwacht<br />

Hummel an. „Die Idee für die LNG-Hybrid-Barge<br />

entstand 2012“, sagt Max Kommorowski.<br />

Mit AIDA als Partner hat das<br />

Unternehmen sein schwimmendes Kraftwerk<br />

zur Serienreife entwickelt, gebaut<br />

und 2015 in Betrieb genommen. Bis zum<br />

Saison ende 2016 wird die Barge wohl mehr<br />

als 30 Einsätze absolviert haben.<br />

Das Risiko beherrschen<br />

Das Gas wird in Containern an Bord geliefert.<br />

Aus der tiefkalten Flüssigphase wird<br />

das LNG dann verdampft und als klassisches<br />

Erdgas von den Motoren verbrannt.<br />

Damit steigt auch das Risiko, denn austretendes<br />

Gas birgt eine hohe Explosionsgefahr.<br />

„Deshalb wird der Betrieb an Bord<br />

der Barge mit zahlreichen Sensoren überwacht“,<br />

sagt Peter Wesselbaum, Experte<br />

für stationäre Gaswarnsysteme bei Dräger.<br />

„Zum Einsatz kommt eine redundante<br />

FOTOS: DR. KARL-HEINZ HOCHHAUS, GEORG WENDT/DPA, DRÄGERWERK AG & CO. KGAA<br />

FOTO: S. BARTA<br />

Dr.-Ing.<br />

Thomas Spindler<br />

ist Leiter des<br />

Bereichs Upgrades &<br />

Retrofits Four-Stroke<br />

Engines bei MAN<br />

PrimeServ<br />

„LNG wird immer wichtiger“<br />

MAN PrimeServ, die Servicemarke von MAN Diesel & Turbo, macht mit<br />

maßgeschneiderten Retrofits Viertakt-Schiffsdiesel fit für Flüssigerdgas.<br />

Herr Dr. Spindler, welches Potenzial sehen Sie in den<br />

kommenden Jahren für Retrofits, bei denen bestehende Schiffe<br />

mit herkömmlichen Motoren auf Dual-Fuel-Technologie mit<br />

LNG als alternativem Treibstoff umgerüstet werden?<br />

Das Potenzial ist erheblich: Retrofits sichern die langfristige<br />

Einsatzfähigkeit bestehender Schiffsantriebsanlagen angesichts immer<br />

strengerer Schwefel-Grenzwerte im Treibstoff. Dual-Fuel-Technik wird<br />

in den nächsten Jahren dazu beitragen, dass sich LNG als Schiffstreibstoff<br />

weiter durchsetzt: Mit jedem erfolgreichen Retrofit, bei dem wir Viertakt-<br />

Schiffsdiesel LNG-tauglich machen, steigern wir die Nachfrage nach LNG.<br />

Wir planen, Dual-Fuel Retrofit-kits für weitere Motorentypen zu entwickeln,<br />

die bisher noch nicht umgerüstet werden konnten. Das gilt für verschiedene<br />

Anwendungen wie Kreuzfahrtschiffe, Passagierfähren und Frachtschiffe.<br />

So wird LNG für viele Kunden zu einer Option.<br />

Wie genau läuft das Retrofit für den Dual-Fuel-Betrieb mit LNG ab?<br />

Ein gutes Beispiel dafür ist ein Projekt, das wir gerade abschließen:<br />

Die weltweit erste Umrüstung eines 1.000-TEU-Containerschiffs der Reederei<br />

Wessels, das mit einem MAN-Motor des Typs 8L48/60B angetrieben wird.<br />

Dieser Motor wird mit den Komponenten eines Serienmotors 51/60DF zum<br />

Dual-Fuel Motor umgebaut. Hinzu kommt die komplette Speicher-, Steuerungsund<br />

Messtechnik für LNG. Jedes Retrofit wird individuell geplant und in<br />

mehreren Schritten umgesetzt. Vom ersten Konzeptschritt bis zum erfolgreichen<br />

Projektabschluss dauert ein Retrofit durchschnittlich etwa ein Jahr.<br />

Hat MAN mit dem Kauf des Geschäftszweig Marine Fuel<br />

Gas Supply System von Cryo AB eine besondere Kompetenz<br />

im Sektor LNG erworben?<br />

MAN Diesel & Turbo hat mit dieser Übernahme einen strategisch wichtigen<br />

Zukauf für die Zukunft getätigt. Denn LNG wird als Kraftstoff für die<br />

Schifffahrt immer wichtiger. Unseren Kunden können wir so im Dual-Fuel-<br />

Segment und bei reinen LNG-Anlagen Gesamtlösungen aus einer<br />

Hand anbieten. Damit setzen wir uns an die Spitze des Marktes.<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />

53


WISSENSCHAFT<br />

FLÜSSIGGAS<br />

PowerPacs<br />

sollen auf<br />

Containerschiffen<br />

Strom liefern<br />

Streckenüberwachung mit Open-Path-<br />

Geräten. Dazu gibt es Punktmessungen<br />

über Infrarotsensoren in definierten<br />

Bereichen – vor allem mit dem Dräger PIR<br />

7000.“ Die Sensoren für punktuelle Messungen<br />

arbeiten vor allem an möglichen<br />

Leckagestellen, überwachen aber auch den<br />

Abluftstrom der Anlagen. Die Gasaufbereitungsanlage,<br />

Herzstück des Systems, wird<br />

mit beiden Verfahren überwacht.<br />

Nicht nur in Häfen, auch in den küstennahen<br />

Bereichen von Nord- und Ostsee,<br />

aber auch an der Ost- und West küste der<br />

USA gelten strenge Grenzwerte für Schwefeldioxid-,<br />

Stickoxid- und Rußpartikelemissionen<br />

von Schiffs motoren. Diese Emission<br />

Control Areas (ECA) wurden von der<br />

Internationalen Seeschifffahrts-Organisation<br />

(International Maritime Organization,<br />

IMO) festgelegt. Zuletzt wurden die Vorschriften<br />

für diese Zonen 2015 verschärft.<br />

Außerhalb gelten noch deutlich lockerere<br />

Eiskalte Energie<br />

Regelungen, weshalb viele Reedereien auf<br />

Dual-Fuel- Technologie setzen. Dabei wird<br />

innerhalb der ECA mit Gas, außerhalb mit<br />

Schweröl gefahren. Ab 2020 sollen weltweit<br />

viel strengere Emissionsregeln gelten.<br />

„Dann dürfte es sehr schwer werden,<br />

überhaupt noch mit Schweröl zu fahren“,<br />

sagt Dräger- Expertin Dimitrova. LNG habe<br />

daher ein großes Zukunftspotenzial.<br />

Gute Aussichten attestiert auch Max<br />

Kommorowski dem verflüssigten Erdgas.<br />

Dabei werde die Hybridtechnik auf absehbare<br />

Zeit eine wichtige Rolle spielen, um<br />

vor Anker liegende Schiffe zu versorgen.<br />

Hier denkt der Ingenieur nicht nur an<br />

LNG-Hybrid-Barges wie die Hummel, die<br />

Becker Marine Systems mit bis zu 14-Megawatt<br />

Leistung bauen könnte. Auch Containerschiffe<br />

hat das Unternehmen im Blick.<br />

Sie liegen meist zwischen 24 und 48 Stunden<br />

am Terminal, um gelöscht und wieder<br />

beladen zu werden. In dieser Zeit will man<br />

sie mit so genannten LNG PowerPacs versorgen:<br />

1,5-Megawatt- Kraftwerke im Format<br />

von vier 40-Fuß-Containern, die aufgrund<br />

ihrer kompakten Größe komplett auf<br />

das Schiff gesetzt werden. Im kommenden<br />

Jahr soll es so weit sein – als erster Einsatzort<br />

käme wieder Hamburg in Frage. Nachfrage<br />

dafür sollte es ausreichend geben.<br />

Schließlich wird hier jährlich Fracht im<br />

Umfang von 3,2 Millionen 20-Fuß-Containern<br />

(TEU) von Schiffen aus aller Welt<br />

umgeschlagen.<br />

Liquified Natural Gas (LNG) ist die unter –160 Grad Celsius kalte Flüssigphase von Erdgas.<br />

LNG lässt sich außerhalb von Leitungsnetzen effizient transportieren und lagern, weil<br />

es ein 600-fach kleineres Volumen als nicht komprimiertes Erdgas hat. Zwar muss beim<br />

LNG-Transport Energie für die Kühlung aufgewendet werden, das gilt aber auch für<br />

den Transport in Pipelines, wo entlang der Strecke der Druck regelmäßig erhöht werden<br />

muss. Transportiert wird LNG traditionell mit Tankschiffen. Der Einsatz als Schiffstreibstoff<br />

bedarf dennoch neuer Regelungen. Seit 2015 ist der IGF-Code des IMO in Kraft (International<br />

Code for Ships Using Gas or Other Low-Flashpoint Fuels), der unter anderem Art und<br />

Anzahl der notwendigen Messköpfe vorschreibt. Im Vordergrund steht dabei der Explosionsschutz.<br />

In inertisierten Bereichen muss zudem der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre<br />

(beispielsweise durch Geräte der Dräger-Polytron-Familie) gemessen werden. Wegen<br />

des kontinuierlichen Ausbaus der Produktions- und Transportkapazitäten von LNG<br />

wird der Treibstoff immer günstiger. Auch das macht ihn für die Schifffahrt interessant.<br />

ILLUSTRATIONEN: PICFOUR<br />

EMISSIONEN<br />

CO 2<br />

-Verbrauch, um eine<br />

Tonne Fracht einen Kilometer<br />

weit zu transportieren:<br />

Containerschiff, 18.000 TEU<br />

3<br />

Gramm<br />

Güterzug<br />

21<br />

Gramm<br />

Lastwagen, 40 Tonnen<br />

80<br />

Gramm<br />

Flugzeug<br />

435<br />

Gramm<br />

54 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


WELCHER VERKEHRSSEKTOR<br />

STÖSST WIE VIEL<br />

TREIBHAUSGASE AUS?<br />

Zahlen für die Europäische Union<br />

(Stand 2013):<br />

WIE VIEL SCHWEFEL ENTHALTEN<br />

WELCHE TREIBSTOFFE?<br />

LNG<br />

0,0<br />

PROZENT<br />

Personenkraftwagen<br />

43,2 %<br />

Schwere<br />

Nutzfahrzeuge<br />

und Busse<br />

19,3 %<br />

Internationale<br />

Schifffahrt<br />

12 %<br />

Internationaler<br />

Flugverkehr<br />

11,6 %<br />

Leichte<br />

Nutzfahrzeuge<br />

8,7 %<br />

Binnenschifffahrt<br />

1,4 %<br />

LKW-DIESEL<br />

0,001 PROZENT<br />

MARINEDIESEL LS-MGO<br />

(Häfen)<br />

0,1 PROZENT<br />

SCHWERÖL LOW SULPHUR IFO 380<br />

(Emissionskontrollzonen, ECA)<br />

1,0 PROZENT<br />

SCHWERÖL IFO 380<br />

(Hochsee)<br />

2,5 PROZENT<br />

Inlandsflüge<br />

1,4 %<br />

Andere<br />

Verkehrsmittel<br />

0,9 %<br />

Motorräder<br />

0,9 %<br />

Eisenbahnen<br />

(ohne elektrische<br />

Traktion)<br />

0,6 %<br />

DIE BAUSTEINE<br />

DER WELTWIRTSCHAFT<br />

Container tragen besonders stark<br />

zum Wachstum des Schiffsverkehrs bei.<br />

Die weltweite Kapazität an Containerschiffen,<br />

angegeben in Twenty-Foot- Equivalent-<br />

Unit (TEU), beträgt 2016 rund 20 Millionen TEU.<br />

Die weltweite (für die Schifffahrt verwendete)<br />

Containerflotte umfasst rund 40 Millionen TEU.<br />

Die größten Containerschiffe der Welt tragen<br />

heute mehr als 18.000 TEU – im Jahr 1967<br />

waren es noch 700.<br />

ILLUSTRATION: CONSTANTINE PANKIN/SHUTTERSTOCK<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />

55


Die Hauptstadt-<br />

Die Berliner Feuerwehr ist die größte und älteste Berufsfeuerwehr Deutschlands.<br />

Doch für die Brandschützer zählt nicht nur die Vergangenheit – auch deshalb engagieren<br />

sie sich bei Forschungsprojekten und kämpfen gegen den Nachwuchsmangel.<br />

Text: Peter Thomas<br />

Einsätze in der Großstadt umfassen typische<br />

Gebäudebrände ebenso wie den Rettungsdienst<br />

und Großschadenslagen. Fast 400.000 Mal im<br />

Jahr rückt die Berliner Feuerwehr aus<br />

Feuer<br />

V<br />

Von wegen Feierlaune – Silvester kann auch anstrengend<br />

sein: Mehr als 1.500 Einsätze in nur zehn Stunden,<br />

Einsatzbereitschaft für 380 Fahrzeuge, Doppelbesetzung<br />

der Leitstelle mit mehr als 50 Beamten. Das war der<br />

Jahreswechsel 2015/2016 aus Sicht der Berliner Feuerwehr.<br />

Hinter der Statistik dieses mit Abstand einsatzstärksten Abends<br />

des ganzen Jahres stecken auch Löscheinsätze, bei denen<br />

die Beamten mit Böllern beworfen wurden. Hinzu kam der<br />

Brandschutzdienst für eine Großveranstaltung mit<br />

mehreren hunderttausend Besuchern.<br />

Es sind Nächte wie diese, die das öffentliche Bild von Deutschlands<br />

größter und ältester ziviler Feuerwehr prägen: Hohe<br />

Einsatzdichte, spektakuläre Alarme, schwierige Bedingungen.<br />

Und das, so die regelmäßigen Schlagzeilen des Boulevard, gilt<br />

nicht nur zum Jahreswechsel: „Brennende Mülltonnen im<br />

Prenzlauer Berg, Barrikaden in Friedrichshain“. Oder:<br />

„Großeinsatz: Berliner Feuerwehr räumt ICE in Spandau“.<br />

Herausforderung Zukunft<br />

Die Wirklichkeit sieht glücklicherweise nüchterner aus.<br />

„Die Berliner Feuerwehr hat für eine Großstadt ein durchaus<br />

typisches Einsatzaufkommen“, sagt Landesbranddirektor<br />

Wilfried Gräfling. Dass die Einsatzzahlen kontinuierlich<br />

56 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


IN METROPOLEN<br />

BRANDSCHUTZ<br />

Wie alles begann<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Berliner Feuerwehr gegründet –<br />

ihre Geschichte ist so abwechslungsreich wie die der Hauptstadt.<br />

wehr<br />

steigen, sei keine Berliner Besonderheit. Die wichtigste<br />

Herausforderung für den Brandschutz in der Hauptstadt sieht<br />

Gräfling denn auch in der Gestaltung der Zukunft und nicht<br />

in medienwirksamen Großlagen. „Daran arbeiten wir seit Jahren<br />

konzentriert.“ Ein Ergebnis sind etwa attraktive Karriereangebote<br />

bei der Feuerwehr, um dem demografischen Wandel<br />

entgegenzuwirken. Aber auch die aktive Forschung für Brandund<br />

Katastrophenschutz gehört dazu. Sabina Kaczmarek leitet<br />

den Bereich Forschung bei der Berliner Feuerwehr. Im Mai<br />

2016 ist sie für ihre Leistungen von der Vereinigung zur Förderung<br />

des Deutschen Brandschutzes e. V. (vfdb) mit dem Excellence<br />

Award ausgezeichnet worden. Finanziert werden die<br />

Projekte vor allem vom Bundesministerium für Bildung und<br />

FOTOS: FEUERWEHR-DOKU, SEBASTIAN HAASE<br />

1851: Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen, befiehlt die Gründung<br />

einer Berufsfeuerwehr in Berlin. Grund dafür ist die Zunahme von Großbränden<br />

in der von schnellem Wachstum, Verdichtung und Industrialisierung<br />

geprägten Stadt. Erster Branddirektor ist Ludwig Carl Scabell.<br />

1850er-Jahre: Siemens und Halske beginnen mit der Installation<br />

eines elektrischen Feuermeldenetzes. Erster Neubau einer Feuerwache,<br />

zudem wird das Leitungsnetz für die Trinkwasserversorgung mit mehr<br />

als 1.500 Hydranten für den Brandschutz nutzbar gemacht.<br />

1870er- und 1880er-Jahre: Mechanisierung des Brandschutzes<br />

durch Dampfspritzen, die von Pferden gezogen werden.<br />

Die erste Drehleiter wird in Dienst gestellt.<br />

1900er-Jahre: Die Umstellung des Fahrzeugparks<br />

auf Automobile beginnt.<br />

1930er-Jahre: Gleichschaltung der Feuerwehr während der<br />

NS-Zeit als Feuerlöschpolizei. Der Reichstagsbrand 1933 gehört<br />

über seine politischen Nachwirkungen hinaus zu den großen<br />

Einsätzen vor dem Zweiten Weltkrieg.<br />

1940er-Jahre: Nach Ende des Zweiten Weltkriegs (1945) erfolgt drei<br />

Jahre später die organisatorische Teilung der Feuerwehr in Ost und West.<br />

1950er-Jahre: Die Ostberliner Feuerwehr wird der Volkspolizei<br />

angeschlossen.<br />

1960er-Jahre: Die Westberliner Feuerwehr übernimmt<br />

den Rettungsdienst im westlichen Teil der Stadt.<br />

1990: Durch die Wiedervereinigung entsteht wieder eine gemeinsame<br />

Berliner Feuerwehr mit mehreren Tausend Berufsfeuerwehrleuten.<br />

Qualifikation zählt:<br />

In der Aus- und<br />

Weiterbildung spielt<br />

die Berliner Feuerwehrund<br />

Rettungsdienstakademie<br />

(BFRA) mit<br />

fast 100 Beschäftigten<br />

eine Schlüsselrolle<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016<br />

57


BRANDSCHUTZ<br />

IN METROPOLEN<br />

Das große Einsatzspektrum<br />

der Berliner Feuerwehr<br />

spiegelt sich auch in<br />

Trainings- und Übungsanlagen<br />

wider – sie reichen<br />

vom eigenen U-Bahn-<br />

Übungstunnel (links) bis<br />

zum Fahr simulator für<br />

Großfahrzeuge (unten)<br />

Weichen<br />

für die Zukunft<br />

Forschung im Rahmen des seit 2007 aufgelegten Programms<br />

„Forschung für die zivile Sicherheit“, aber auch durch Mittel<br />

der Europäischen Union. Neun Projekte haben die Berliner<br />

Brandschützer bereits mit Partnern aus der Wissenschaft<br />

abgeschlossen, weitere vier laufen derzeit. Dabei geht es um<br />

Druckluftschaum als alternatives Löschmittel (AERIUS), ausfallsichere<br />

Lagebildinformationen für organisationsübergreifende<br />

Krisenstäbe (AlphaKomm), situationsbezogene Einbindungen<br />

von Freiwilligen in urbane Krisenlagen über eine App<br />

(ENSURE) und um die Nutzung moderner Sensorik zur Verbesserung<br />

von Lösch-, Rettungs- und Evakuierungsmaßnahmen<br />

in unterirdischen Verkehrsanlagen (SenSE4Metro).<br />

OSZE empfiehlt Forschungsprojekte<br />

„Wir schauen grundsätzlich über den Tellerrand“, fasst<br />

Sabina Kaczmarek die Bandbreite zusammen. Das gilt auch<br />

für die geografische Verteilung der Partner. Bei SenSE4Metro<br />

arbeite man mit Wissenschaftlern aus Indien zusammen.<br />

„Bei allen Projekten sind wir vor allem Praxispartner“, sagt<br />

Kaczmarek. „Voraussetzung für das Engagement der Berliner<br />

Feuerwehr ist jeweils, dass ein Projekt eine konkrete Verbesserung<br />

für die Bürger oder für die Sicherheit der Einsatzkräfte<br />

bringt – und sich auch praktisch umsetzen lässt.“<br />

Zwei dieser Projekte werden bereits von der Organisation für<br />

Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) empfohlen:<br />

„TankNotStrom“ hat die sichere Energie- und Kraftstoffversorgung<br />

kritischer Infrastrukturen bei langfristigen Stromausfällen<br />

zum Ziel. Und das Programm „Kat-Leuchttürme“<br />

schafft feste wie mobile Anlauf- und Informationsstellen für<br />

Bürger, wenn im Katastrophenfall Strom- und Kommunikationsnetze<br />

länger ausfallen. Bereits in die Praxis umgesetzt wurden<br />

die Erfahrungen aus dem Projekt „Stroke-Einsatz-Mobil“<br />

(STEMO). Die Berliner Feuerwehr hat als weltweit erster Rettungsdienst<br />

einen Computertomografen dauerhaft in einem<br />

Rettungstransportwagen (RTW) verbaut – das Gerät ist telemedizinisch<br />

mit dem Krankenhaus verbunden. So konnte<br />

die Zeit von der Diagnose bis zum Beginn der Thrombolysebehandlung<br />

um bis zu 25 Minuten verringert werden. Die<br />

Erfahrung mit dem spezialisierten RTW war Grundlage dafür,<br />

dass das Berliner Abgeordnetenhaus die Anschaffung von<br />

vier weiteren Stroke-Mobilen beschlossen hat.<br />

Forschung für die Zukunft von Brandschutz, Rettungsdienst<br />

und Katastrophenschutz produziert selten so bunte<br />

Schlagzeilen wie ein spektakulärer Großeinsatz. Doch die Berliner<br />

Feuerwehr stellt damit wichtige Weichen für die Zukunft –<br />

für sich, die Bürger und Hilfsorganisationen in aller Welt.<br />

58 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


FOTOS: BERLINER FEUERWEHR(2), SEBASTIAN HAASE; ILLUSTRATIONEN: ISTOCKPHOTO<br />

„Wir schauen nach vorn“<br />

Wilfried Gräfling ist seit zehn Jahren Landesbranddirektor und Leiter<br />

der Berliner Feuerwehr. Gräfling hat in Bochum Elektrotechnik<br />

sowie Wirtschaftswissenschaften studiert. Nach dem Referendariat<br />

in Leverkusen wechselte er 1983 nach Berlin und war von<br />

2001 bis 2006 Vertreter des Landesbranddirektors.<br />

Herr Gräfling, was macht die Arbeit der Berliner Feuerwehr aus?<br />

Zunächst einmal stehen wir vor ähnlichen Herausforderungen wie die Feuerwehren<br />

in jeder anderen Großstadt. Aber Berlin ist ja nicht nur Deutschlands größte Kommune,<br />

mit 3,5 Millionen Einwohnern, sondern hat als Hauptstadt zudem viele besondere<br />

Einrichtungen, für die es gesonderte Einsatzpläne gibt. Dazu gehören etwa der<br />

Reichstag und das Bundeskanzleramt. Wenn von dort ein Alarm eingeht, rücken<br />

automatisch mehr Fahrzeuge, Einsatz- und Führungskräfte aus. Eine Besonderheit<br />

stellen auch Botschaften dar, die exterritoriales Gebiet sind. Und während wir wenige<br />

Hochtempoabschnitte im Straßennetz haben, gibt es in Berlin viele unterirdische<br />

Verkehrsanlagen. Für derartige Einsätze trainieren die Einsatzkräfte in einer eigenen<br />

Übungsanlage, die in einer Stichstrecke des U-Bahn-Netzes eingerichtet ist.<br />

Immer wieder wird von mangelndem Respekt gegenüber<br />

Brandschützern berichtet. Ist das in Berlin ein Thema?<br />

Ich denke, dass der Mangel an Respekt nicht nur Feuerwehrleute betrifft,<br />

sondern sich in allen Teilen der Gesellschaft auswirkt. Das führt nicht automatisch<br />

zu Gewalt – aber man sollte das Risiko nicht verharmlosen. Wir bereiten unsere<br />

Feuerwehrleute so gut wie möglich auf kritische Situationen vor. Dazu gibt es<br />

Fortbildungen, in denen Beamte und Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehren lernen,<br />

sich in bedrohlichen Situationen entsprechend zu verhalten – und zu deeskalieren.<br />

Aber auch den Umgang mit psychologischen Belastungen trainieren wir.<br />

Berlin ist fast 900 Quadratkilometer groß.<br />

Ist das eine Herausforderung für die Kommunikationstechnik?<br />

Wir setzen auf digitalen BOS-Funk. Er funktioniert gut, könnte aber besser funktionieren<br />

– insbesondere in Objekten mit analogen Gebäudefunkanlagen, die Bestandsschutz<br />

haben. Eine Besonderheit ist, dass wir die auf den Fahrzeugen eingesetzten<br />

Computer seit Neuestem mit der FIRE-App unterstützen, die von Linnart Bäker<br />

entwickelt wurde. Die App erzeugt aus den Daten des Leitrechners aktuelle Einsatzinformationen<br />

für den C-, B- und A-Dienst. Dazu gehören Adressen, Kartenausschnitte,<br />

Angaben über Einsatzkräfte, Löschwasserversorgungs- und objektspezifische Feuerwehrpläne.<br />

Wir haben die App im vergangenen Jahr auf der Interschutz vorgestellt.<br />

Sie ist ein gutes Beispiel für unsere Maxime, Innovationen aus der Praxis für die Praxis<br />

zu entwickeln. Die Kommunikation mit der Bevölkerung ist genauso wichtig. Deshalb<br />

werden Katwarn-Alarme in Berlin nicht nur über das Smartphone angezeigt, sondern<br />

auch auf Bildschirmen der Verkehrsbetriebe und digitalen Werbetafeln im Stadtbild.<br />

Welche Ziele hat sich die Berliner Feuerwehr für die Zukunft gesetzt?<br />

Zum Beispiel wollen wir eingehende Notrufe noch besser differenzieren und klassifizieren.<br />

Denn das entscheidet, was wir mit welchen Ressourcen bedienen. Und bei der<br />

Nachwuchsförderung schaffen wir beispielsweise durch die Zugangsmöglichkeiten<br />

zum mittleren Dienst bereits heute Strukturen für die Zukunft. Auch technisch<br />

schauen wir nach vorn: Zu den wissenschaftlich begleiteten Forschungsprojekten der<br />

Berliner Feuerwehr gehört ein Vorhaben, bei dem Druckluftschaum erprobt wird. Die<br />

Anwendung hat das Potenzial, die gleiche Menge Löschmittel mit einem Bruchteil an<br />

Ressourcen zu erzeugen. Bei all diesen Schritten ist es nicht nur wichtig, die Mitarbeiter<br />

zu begeistern, sondern auch ihr umfangreiches Know-how einfließen zu lassen.<br />

Berliner<br />

Brandschutz<br />

in Zahlen<br />

Sicherheit für 3,5 Millionen<br />

Menschen – auf fast 900 Quadratkilometern<br />

Landesfläche.<br />

3.900 Mitarbeiter,<br />

zuständig für 3,5<br />

Millionen Einwohner,<br />

rund 390.000<br />

Einsätze im Jahr –<br />

Berlins Feuerwehr ist<br />

die älteste, größte und am häufigsten<br />

alarmierte Feuerwehr Deutschlands.<br />

Im Einsatzdienst besetzen jeweils<br />

550 Berufsfeuerwehrleute rund<br />

um die Uhr die 34 Feuerwachen und<br />

33 Rettungsdienststützpunkte.<br />

Üblich sind Zwölf-Stunden-Schichten mit<br />

Personalwechsel um 7 Uhr und 19 Uhr.<br />

Unterstützung erhalten die<br />

hauptamtlichen Kräfte von<br />

57 Freiwilligen<br />

Feuerwehren im<br />

892 Quadratkilometer<br />

großen Gebiet des<br />

Landes Berlin – sie<br />

zählen mehr als<br />

1.400 Mitglieder. Ein direkter Vergleich<br />

mit anderen europäischen Hauptstädten<br />

ist schwierig, zu sehr unterscheiden sich<br />

die Strukturen und Rahmenbedingungen.<br />

Beispielsweise untersteht die Brigade<br />

de Sapeurs-Pompiers de Paris mit<br />

ihren 8.000 Einsatzkräften dem Militär.<br />

Die London Fire Brigade ist für die<br />

Sicherheit von mehr als doppelt so vielen<br />

Einwohnern wie in Berlin verantwortlich,<br />

fährt aber ohne Rettungsdienst nur ein<br />

Viertel der Einsätze. Und die Vigili del<br />

Fuoco stechen hinsichtlich ihrer<br />

Geschichte heraus: In Rom beruft man<br />

sich auf eine Geschichte<br />

hauptberuflichen<br />

Brandschutzes, die<br />

bis ins erste<br />

Jahrhundert<br />

nach Christus<br />

zurückreicht.<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016 59


ESSAY<br />

GESELLSCHAFT<br />

Trügt der Schein?<br />

Glaubt man vielen Medien,<br />

wird die Welt von<br />

Tag zu Tag schlechter.<br />

Tatsächlich<br />

entwickelt sie sich<br />

zum Besseren, wie<br />

viele Indikatoren zeigen.<br />

Ein Zwischenruf.<br />

Text: Nils Schiffhauer<br />

60 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


Allen Rückschlägen zum Trotz<br />

Die Welt ist besser geworden, trotz mancher<br />

Rückschläge. Ein genauer Blick bestätigt diese<br />

Entwicklung, zeigt aber auch Lösungen und<br />

Handlungsbedarf auf: etwa bei der Gesundheit,<br />

die laut WHO „vollständiges körperliches,<br />

geistiges und soziales Wohlergehen“<br />

umfasst; hier dargestellt an den Parametern<br />

Ernährung, Lebenserwartung und Hygiene.<br />

FOTO: UNSCHULDSLAMM/PHOTOCASE.DE, ILLUSTRATIONEN: PICFOUR<br />

S<br />

Sobald man die Zeitung aufschlägt<br />

oder die unzähligen Tweets und Nachrichten<br />

verfolgt, blickt man schnell in<br />

eine Welt voller Gewalt, Katastrophen<br />

und Krisen. Wer jedoch die eigenen<br />

Lebensumstände – wie Ernährung, Wohnung,<br />

Familienverhältnisse, Einkommen,<br />

Gesundheit und die Sicherheit der selbst<br />

genutzten Transportmittel – dagegenhält,<br />

kann für sich, seine Familie und Freunde<br />

zu einem ganz anderen Bild kommen. Die<br />

überwiegende Mehrheit der Menschen<br />

sieht ihr Leben als „normal“ an, wenngleich<br />

es von Land zu Land und zwischen<br />

den Einkommensschichten objektiv deutliche<br />

Unterschiede gibt. Und wer als<br />

Feuer wehrmann, Notärztin oder Polizist<br />

fast täglich mit Negativem konfrontiert<br />

wird, der hat sich genau diese Abschaffung<br />

von Not und Elend zur anstrengenden<br />

Lebensaufgabe gemacht.<br />

Leben im Paralleluniversum<br />

Die Wirklichkeit der Welt und ihr Bild in<br />

den Medien klaffen mitunter weit auseinander.<br />

Einige Medien lenken den Blick<br />

bewusst auf das Abseitige – sie dramatisieren,<br />

skandalisieren und führen mit süffisanten<br />

Geschichten jeden Tag aufs Neue<br />

vor, wie recht der Volksmund hat, wenn<br />

er von der Schadenfreude als der größten<br />

Freude spricht. Diese Tendenz zur Verzerrung<br />

hat mit den sozialen Medien deutlich<br />

zugenommen. Jeder Unfall, jeder Tatort<br />

ist rasch von Schaulustigen mit ihren<br />

Handys umringt. Bilder und Videos werden<br />

in Echtzeit ins Netz gestellt – geteilt und<br />

gelikt schwärmen sie hunderttausendfach<br />

aus. Wenn aber das nicht die Realität der<br />

Welt ist, wie wirklich ist dann die Wirklichkeit?<br />

Der Wissenschaftler Paul Watzlawick,<br />

ab 1976 Psychiatrieprofessor an der Stanford<br />

University, stellte diese Frage nicht<br />

nur, sondern unterstreicht in seiner Antwort<br />

die fast ausschließliche Bedeutung<br />

der vielfältigen Formen von Kommunikation,<br />

die ein Weltbild prägen. Zeigt die<br />

öffentliche Kommunikation eine Ausnahmewelt,<br />

frisst sich genau die in die Köpfe.<br />

„Menschen beurteilen die Situation<br />

nicht nach ihrer persönlichen Lage, sondern<br />

nach dem, was sie etwa im Fernsehen<br />

sehen – irgendwann leben sie in<br />

einem Paralleluniversum“, hat der Nobelpreisträger<br />

für Wirtschaft Paul Krugman<br />

beobachtet.<br />

Geistiger Kurzschluss<br />

dank Glückshormon<br />

Sensationsgier und Schaulust sind<br />

ur-menschliche Eigenschaften. Sie haben<br />

mit Neugierde zu tun, und dem unbewussten<br />

Wunsch nach Bestätigung der<br />

eigenen Unversehrtheit beim Betrachten<br />

des Leids anderer. „Berichte über Gewalt<br />

und die Abwertung anderer Menschen<br />

können eine Dopamindusche in Gang setzen“,<br />

sagt der renommierte Hirnforscher<br />

Professor Gerald Hüther. Die Ausschüttung<br />

dieses als Glückshormon bezeichneten<br />

Neurotransmitters sei für viele Menschen<br />

so attraktiv, dass sie hierfür die im<br />

Frontalhirn angelegten Kontrollfunktionen<br />

umgingen, die sonst ihre niederen<br />

Instinkte kontrollierten. So machen sie<br />

sich biologisch (wieder) zum Affen. Lustgewinn<br />

durch Zuschauen ohne Anstrengung<br />

– ob live oder im Fernsehen. „Ein<br />

Spaß ohne Aufwand“, wie der Psychiater<br />

und Soziologe Professor Fritz B. Simon<br />

ERNÄHRUNG<br />

Die Produktivität der Landwirtschaft<br />

ist unglaublich gestiegen. So wuchs der<br />

Hektarertrag von Weizen allein in Deutschland<br />

zwischen 1900 und 2010 um das<br />

Vierfache. Ernährte ein Landwirt früher<br />

rund vier Mitbürger, so sind es heute 131 –<br />

ein Erfolg von Forschung, Technisierung,<br />

Züchtung und moderner Bewirtschaftung.<br />

Gleichwohl ist in vielen Ländern das<br />

Gespenst der Unterernährung noch<br />

immer nicht gebannt. Für 2015 meldet die<br />

Welternährungsorganisation FAO, dass<br />

10,8 Prozent aller Menschen unterernährt<br />

sind, in Afrika sogar jeder Fünfte. Doch<br />

die Situation hat sich verbessert: 1991<br />

hungerten noch 18,6 Prozent der Weltbevölkerung,<br />

in Afrika mehr als jeder Vierte.<br />

LEBENSERWARTUNG<br />

Sie stieg laut WHO zwischen 1990 und 2013<br />

weltweit von 64 auf 71 Jahre. Nach wie<br />

vor ist sie eng an das Einkommen gekoppelt –<br />

Höherverdiener leben durchschnittlich<br />

17 Jahre länger. Dennoch konnte gerade die<br />

untere der vier WHO-Einkommensschichten<br />

dank besserer ärztlicher Versorgung und<br />

Hygiene ihre Lebenserwartung am stärksten<br />

steigern: um 17 Prozent. Umgekehrtes gilt<br />

für Neugeborene, die das erste Lebensjahr<br />

nicht erreichen. Dieser Wert hat sich<br />

zwischen 1990 und 2013 von 33,3 auf 20,0<br />

reduziert (je 1.000 Lebendgeburten).<br />

HYGIENE<br />

Der Zugang zu Toiletten wurde von 1990<br />

bis 2015 von 54 auf 68 Prozent der Weltbevölkerung<br />

gesteigert. In den am wenigsten<br />

entwickelten Ländern verdoppelte sich<br />

diese Zahl fast – von 20 auf 38 Pro zent der<br />

Einwohner. Doch weiterhin sterben weltweit<br />

jährlich 700.000 Kinder an Durchfall, den<br />

bessere hygienische Verhältnisse verhindern<br />

könnten. Daran arbeiten Regierungen<br />

und private Organisation, wie etwa die<br />

Bill & Melinda Gates Foundation mit ihrer<br />

Initiative „Die Toilette neu erfinden“.<br />

DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016<br />

61


ESSAY<br />

GESELLSCHAFT<br />

BILDUNG<br />

Nach einer Untersuchung der UNESCO<br />

ist die Analphabetenrate von 1999 bis<br />

2014 weltweit von 12,7 auf 9,4 Prozent<br />

zurückgegangen – und wer lesen kann,<br />

hat auch die Chance auf ein höheres<br />

Einkommen. Liegt der Wert der<br />

Analphabeten in den am wenigsten<br />

entwickelten Ländern bei 32 Prozent, so<br />

ist er in den Ländern mit dem höchsten<br />

Einkommen mit unter 0,5 Prozent kaum<br />

noch messbar. Das Internet hat den<br />

Zugang zu weiterer Bildung beinahe<br />

entmaterialisiert. Die Zahl der Internetanschlüsse<br />

stieg weltweit von 121 Millionen<br />

im Jahr 1997 auf geschätzt gut<br />

3,4 Milliarden in 2016. Damit hat fast<br />

jeder zweite der 7,35 Milliarden Weltbürger<br />

Zugang zu vielen oft kostenlosen<br />

und hochwertigen Angeboten, unter<br />

denen seit 2008 das Konzept kostenloser<br />

Onlinekurse besonders hervorsticht.<br />

Diese „Massive Open Online Courses“<br />

ermöglichen das Fernstudium selbst an<br />

Spitzenuniversitäten wie Harvard und<br />

Stanford oder an der LMU München.<br />

GEWALT<br />

Wo viele Medien eine Welt voller Gewalt<br />

sehen, sieht die Welt tendenziell eine<br />

Abnahme von Gewalt. Diese Erkenntnis<br />

verdankt sich einer Untersuchung<br />

des Harvard-Professors Steven Pinker.<br />

Im Ergebnis hält der Psychologe und<br />

Hirn forscher fest: „Die Gewalt ist über<br />

lange Zeiträume immer weiter zurückgegangen,<br />

und heute dürften wir in der<br />

friedlichsten Epoche leben, seit unsere<br />

Spezies existiert.“ Dieser Rückgang sei<br />

ein Ergebnis des jahrtausendelangen<br />

Zivilisationsprozesses, dank dessen die<br />

Menschheit trotz aller Kriege und<br />

Exzesse „auch Wege gefunden hat, um<br />

für einen immer größeren Anteil die<br />

Möglichkeit zu schaffen, in Frieden zu<br />

leben und eines natürlichen Todes zu<br />

sterben.“ Eine Entwicklung, die in der<br />

Welt unterschiedlich ausgeprägt ist.<br />

Und immer wieder gibt es Rückschläge,<br />

wie die relativ neue Gewaltform des<br />

Terrorismus als asymmetrische Kriegsführung<br />

zeigt. Die Zahl der Terrortoten<br />

steigt tendenziell und lag 2015 bei 28.328<br />

Opfern – gegenüber 2012 eine Verdreifachung.<br />

Doch selbst da durch ändert<br />

sich das Gesamtbild kaum: Über längere<br />

Zeiträume gesehen, ist das Leben der<br />

Menschen sicherer geworden.<br />

Kritisch<br />

bleiben<br />

und<br />

Lösungen<br />

miteinbeziehen<br />

sagt. Die Wirklichkeit ist<br />

komplex, sie zu verstehen<br />

bedeutet Arbeit. Ein<br />

Flugzeugabsturz beherrscht die Schlagzeilen,<br />

zieht weltweites Interesse auf sich,<br />

erzeugt wohliges Grauen und macht Angst<br />

vor der nächsten Flugreise. Man nimmt<br />

das Auto! Und das, obwohl die Zivilluftfahrt<br />

im Durchschnitt der letzten fünf<br />

Jahre lediglich 428 Todesopfer pro Jahr<br />

forderte. Schon vor sechs Jahren stellte<br />

das Statistische Bundesamt fest: Bezogen<br />

auf die Personenkilometer sei das Flugzeug<br />

das sicherste Transportmittel, und<br />

919 Mal sicherer als das Auto. Eine derartige<br />

Einordnung wird niemals Spitzenmeldung,<br />

denn sie setzt kaum Dopamin<br />

frei. Und doch gibt es eine Gegenbewegung.<br />

Sie stammt aus der positiven Psychologie<br />

und greift seit den 1990er-Jahren<br />

die ursprünglich 1954 von Abraham<br />

Maslow geprägte Auffassung wieder auf,<br />

dass die Psychologie sich nicht nur mit<br />

den menschlichen Defiziten beschäftigen<br />

sollte, sondern auch die Grundlagen der<br />

positiven Aspekte des Menschseins erforschen<br />

möge. Erkenntnisse daraus zieht<br />

auch der konstruktive Journalismus. Der<br />

bleibt kritisch, versetzt den Leser aber<br />

nicht mehr in einen permanenten Erregungszustand,<br />

sondern bezieht lösungsorientierte<br />

Ansätze mit ein. Mit „wissen<br />

und sich kümmern“ beschrieb der britische<br />

Kriegsreporter Martin Bell dieses<br />

Konzept, das Leser wie Zuschauer auch<br />

darin befähigt, etwas zu verändern. Der<br />

britische „Guardian“ zielt etwa in diese<br />

Richtung, aber auch Web-Projekte wie<br />

„Perspective Daily“ („Für einen Journalismus,<br />

der fragt, wie<br />

es weitergeht“) oder<br />

„The Correspondent“<br />

(„From ‚news‘ to ‚new‘“) – beide durch<br />

Crowdfunding finanziert. Sie alle wollen<br />

Wissen vermitteln und Vorgänge einordnen,<br />

um Leser zur Verbesserung der Verhältnisse<br />

zu bewegen und nicht in eine<br />

„erlernte Hilfslosigkeit“ fallen zu lassen,<br />

wie sie erstmals 1967 der amerikanische<br />

Psychologie professor Martin E. P. Seligman<br />

beschrieb.<br />

Die Welt ist besser<br />

geworden – wirklich?<br />

Dass die Welt tatsächlich besser geworden<br />

ist, lässt sich nachweisen. Das<br />

Entwicklungsprogramm der Vereinten<br />

Nationen (UNDP) hat mit seinem<br />

Human Development Index (HDI) eine<br />

Maßzahl für den Grad menschlicher Entwicklung<br />

geschaffen. Der kombiniert<br />

und gewichtet die Gesundheit, Bildung<br />

und Wirtschaftskraft eines Landes sowie<br />

die Einkommensverteilung in einer einzigen<br />

Zahl: Die unterste Entwicklungsstufe<br />

ist 0, die oberste hat einen Wert<br />

von 1. Für die Jahre 1990 bis 2014 stieg<br />

der HDI weltweit um fast 20 Prozent –<br />

von 0,597 auf 0,711. Dabei machten<br />

die am wenigsten entwickelten Staaten<br />

annähernd doppelt so gute Fortschritte:<br />

ihr Wert stieg von 0,368 auf 0,505 (rund<br />

37 Prozent). Der Blick auf diese Entwicklung<br />

sollte jeden ermutigen, genau dort<br />

anzuknüpfen.<br />

Wie denken Sie darüber? Schreiben<br />

Sie uns: draegerheft@draeger.com<br />

62 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016


PRODUKTE<br />

SERVICE<br />

Auf<br />

einen<br />

Blick<br />

Einige DRÄGER-<br />

PRODUKTE dieser<br />

Aus gabe finden sich<br />

hier im Überblick – in<br />

der Reihenfolge ihres<br />

Erscheinens. Zu jedem<br />

Produkt gehört ein<br />

QR-Code, der sich mit<br />

einem Smartphone<br />

oder Tablet scannen<br />

lässt. Danach öffnet sich<br />

die jeweilige Produktinformation.<br />

Haben Sie<br />

Fragen zu einem Gerät<br />

oder zum <strong>Drägerheft</strong>?<br />

Schreiben Sie uns:<br />

draegerheft@draeger.com<br />

SmartPilot View Die Software<br />

unterstützt Anästhesisten<br />

durch die Berechnung und<br />

Visualisierung komplexer<br />

Anästhesiemitteleffekte – und<br />

zeigt auf dieser Basis den<br />

aktuellen Status sowie prognosti<br />

zierten weiteren Verlauf des<br />

Narkoselevels an. Seite 8<br />

SmartCare/PS Das automatisierte<br />

System entwöhnt<br />

In ten siv patienten vom Beatmungsgerät<br />

und lässt sie wieder<br />

eigenständig atmen. Seite 10<br />

X-am 7000 Misst gleichzeitig<br />

und kontinuierlich bis zu fünf<br />

Gase – für die Überwachung der<br />

Umgebungsluft in industriellen<br />

Bereichen. Seite 44<br />

PIR 7000 Infrarot-Gastransmitter<br />

für die zuverlässige<br />

Detektion von brennbaren<br />

Gasen und Dämpfen.<br />

Seite 53<br />

Linea Flush Universell einsetzbare<br />

Wandversorgungseinheit<br />

für spezielle Anforderungen in<br />

unterschiedlichen Bereichen.<br />

Seite 16<br />

Polytron 8000-Familie<br />

Druckfest gekapselte Transmitter<br />

für die Überwachung von<br />

brennbaren und toxischen Gasen<br />

sowie Sauerstoff. Seite 54<br />

Babylog VN500 Integrierte<br />

Beatmungslösung für Früh- und<br />

Neugeborene. Seite 35


EINBLICK ALCOTEST 3820<br />

8<br />

1<br />

Diskreter<br />

Check<br />

für<br />

jedermann<br />

3 2<br />

Bringt mehr Sicherheit:<br />

Schutzkappe abnehmen, Mundstück<br />

aufsetzen, einschalten, pusten, kurz<br />

warten und ablesen. So einfach lässt sich<br />

der Promillegehalt des Blutes über den<br />

Atemalkohol bestimmen<br />

7<br />

FOTO: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA / DRÄGERHEFT 2/2016; SEITE 64<br />

Mit dem Alcotest 3820 kennt jeder<br />

(nach drei bis 25 Sekunden; abhängig<br />

von der Gerätetemperatur und<br />

den gemessenen Konzentrationen)<br />

seinen Promillepegel: beim Feiern,<br />

aber auch am Morgen danach. Hierfür<br />

setzt man das Mundstück 1 auf<br />

das hemdtaschengroße Gerät und<br />

pustet in die Öffnung, bis das Tonsignal<br />

verstummt – oder, diskreter noch: bis<br />

bei abgeschaltetem Lautsprecher 2<br />

ein Klicken spürbar ist. Dann nämlich<br />

wird der vom Drucksensor gesteuerte<br />

Hubmagnet aktiviert und entnimmt<br />

dem Atemstrom einen Kubikzentimeter<br />

tiefer Lungenluft. Die Probe<br />

wird nach 1,3 Liter Atemluft oder<br />

nach zwei Sekunden genommen,<br />

wobei die Ausatemluft hygienisch<br />

durch das Mundstück gepustet wird –<br />

und nicht in das Gerät, wo sie zu<br />

Kondensation und Verunreinigung<br />

führen könnte. Mithilfe des elektrochemischen<br />

Sensors misst das Alcotest<br />

3820 den Alkohol ge halt der Atemluft,<br />

errechnet daraus den Promillegehalt<br />

des Blutes und zeigt ihn auf dem<br />

Display 3 an. Die Technik ist die<br />

gleiche wie in den Dräger-Geräten, die<br />

weltweit unter anderem von Polizisten<br />

für jährlich etwa 30 Millionen Messungen<br />

ver wendet werden. Eine interne<br />

Langzeit batterie 4 reicht für rund 1.500<br />

<strong>Test</strong>s, die USB-Schnittstelle 5 wird<br />

nur für Servicezwecke benötigt. Sobald<br />

das Gerät über den Taster 6 mit spürbarem<br />

Druckpunkt eingeschaltet wird,<br />

signalisiert der leuchtende Ring 7 die<br />

Betriebsbereitschaft. Das Mundstück,<br />

drei liegen dem Gerät bei, wird von<br />

einer Kappe 8 geschützt und lässt sich<br />

einfach in der Spülmaschine reinigen.<br />

Will man es selbst noch mal verwenden,<br />

schützt es die Mundstückkappe bis zum<br />

nächsten <strong>Test</strong> vor Verunreinigung.<br />

Das Display informiert in mehreren<br />

Sprachen plus Grafiken über jeweilige<br />

Betriebszustände, die aktuelle<br />

<strong>Test</strong>nummer oder die letzten zehn<br />

Messwerte mit Datum und Uhrzeit.<br />

VIDEO: SO FUNKTIONIERT<br />

DAS ALCOTEST 3820<br />

Präzise Messtechnik<br />

bietet zuverlässige Kontrolle<br />

des Atemalkohols.<br />

www.draeger.com/400/3820

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