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Berner Kulturagenda 2017 N° 11

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23. – 29. März <strong>2017</strong> Anzeiger Region Bern 21<br />

3<br />

Keine Lust auf Zivilisation<br />

Mezzosopranistin Claude Eichenberger spielt Venus in<br />

Wagners Oper «Tannhäuser» am Stadttheater Bern. Regie<br />

führt das spanische Enfant terrible Calixto Bieito.<br />

Philipp Zinniker<br />

Claude Eichenberger gefällt die Figur<br />

der Venus, die sie in der Wagner-Oper<br />

«Tannhäuser» am Stadttheater Bern<br />

spielt. Gemeinhin stelle man sich unter<br />

einer Venus eine über eigene Bedürfnisse<br />

erhabene Göttin vor, die mit wallendem<br />

Haar in einer Muschel stehe,<br />

sagt sie. Ihre Venus sei hingegen eine<br />

Frau, die wisse was sie wolle und klare<br />

Forderungen stelle. Der Venusberg ist<br />

«Es sind Aussteiger»: Claude Eichenberger und Daniel Frank in «Tannhäuser».<br />

Natur pur. Äste nehmen die Bühne ein.<br />

«Tannhäuser und Venus sind Aussteiger,<br />

die keine Lust auf Zivilisation haben»,<br />

so die Mezzosopranistin.<br />

Die Oper in drei Akten schildert einen<br />

urmenschlichen Konflikt. Der Minnesänger<br />

Tannhäuser (Daniel Frank) ist<br />

hin – und hergerissen zwischen der<br />

sinnlichen Welt des Venusbergs und<br />

den Konventionen der höfischen Welt,<br />

zwischen der erotischen Göttin (Eichenberger)<br />

und der keuschen Elisabeth<br />

(Liene Kinca).<br />

Typisch romantisch<br />

Im zweiten Akt findet schliesslich<br />

der legendäre Sängerkrieg statt (Musikalische<br />

Leitung: Kevin John Edusei). Es<br />

kommt zum Eklat, weil Tannhäuser seine<br />

sinnliche Vision von Liebe offenbart.<br />

Tannhäusers Wunsch nach Ausbruch<br />

wird diszipliniert, die Konventionen<br />

sind zu stark. Ein typisch romantischer<br />

Stoff, der 1845 in Dresden uraufgeführt<br />

wurde. Später schuf Wagner eine Pariser<br />

Version, auf die sich der Regisseur<br />

Calixto Bieito beruft. Dabei wurde der<br />

erste Akt mit dem gewichtigen Auftritt<br />

der Liebesgöttin stark aufgeblasen. So<br />

kann Eichenberger als Venus im Busch<br />

aus dem Vollen schöpfen.<br />

Bieito gilt als Skandalregisseur,<br />

denn die Operninszenierungen des Katalanen<br />

waren in der Vergangenheit oft<br />

von Sex und Gewalt dominiert. In Bern<br />

triumphierte er 2013 mit Händels bildgewaltiger<br />

Oper «Il Trionfo del Tempo e<br />

del Disinganno». Eichenberger hat Bieito<br />

während der Proben als «wortkarg,<br />

aber äusserst charismatisch» erlebt.<br />

Helen Lagger<br />

Stadttheater Bern. Premiere: <br />

Sa., 25.3., 18 Uhr (ausverkauft)<br />

Vorstellungen bis 30.4.<br />

www.konzerttheaterbern.ch<br />

Christiane Wagner und Gilles Tschudi als Annie und Jackie O’Shea.<br />

Im Geldfieber<br />

«6 aus 45» am Theater an der Effingerstrasse basiert auf<br />

der irischen Komödie «Waking Ned Devine». Ein Lottogewinn<br />

löst Zwist und Intrigen unter Dorfbewohnern aus.<br />

«Für ein kleines Land hat Irland einen<br />

grossen Beitrag zur Literatur, Musik<br />

und Komödie in der Welt geleistet», so<br />

der britische «Telegraph». Fürwahr, es<br />

ist ja die Heimat von James Joyce,<br />

Oscar Wilde und schwarzhumorigen<br />

Filmen wie «Waking Ned Devine» von<br />

Kirk Jones. Am Theater an der Effingerstrasse<br />

inszeniert Markus Keller<br />

mit «6 aus 45» eine Bühnenadaption<br />

des Films von 1998, der in einem Dorf<br />

auf der Isle of Man gedreht wurde. Die<br />

Titelfigur Ned fällt, geschockt von seinem<br />

Lottogewinn, tot um, worauf andere<br />

Dorfbewohner die 17 Millionen<br />

ergaunern wollen.<br />

Severin Nowacki<br />

Die beauftragte Autorin Simone Füredi<br />

interessierte sich bereits in ihren<br />

Effinger-Stücken «Kleine Fische»<br />

(2010) und «Clochard» (2009) für die<br />

«kleinen Leute». Ihr sei die «Mentalität<br />

der ländlichen Bevölkerung sehr<br />

vertraut», wird sie im Programmheft<br />

zitiert. An ihrem Wohnort im Simmental<br />

habe sie selber schon einige<br />

skurrile Geschichten erlebt.<br />

Céline Graf<br />

Das Theater an der Effingerstrasse,<br />

Bern. Premiere: Sa., 25.3., 20 Uhr<br />

Vorstellungen bis 21.4.<br />

www.dastheater-effingerstr.ch<br />

Kunsthandel zwischen Justiz und Moral<br />

Das Erbe der Kunstsammlung Gurlitt für das Kunstmuseum<br />

Bern hat für Aufsehen gesorgt. Drei Journalisten der<br />

«<strong>Berner</strong> Zeitung» haben den «Gurlitt-Komplex» zu Papier<br />

gebracht. Im Kunstmuseum wird das Buch vorgestellt.<br />

Was mit einer (unrechtmässigen)<br />

Beschlagnahmung von Raubkunst-<br />

Gemälden aus dem Privatbesitz Cornelius<br />

Gurlitts begann und mit einer<br />

grossen Erbschaft für das <strong>Berner</strong><br />

Kunstmuseum noch lange nicht zu<br />

Ende ist, ist zum (kunst)historischen<br />

«Gurlitt-Komplex» angewachsen.<br />

Die <strong>Berner</strong> Journalisten Oliver Meier,<br />

Michael Feller und Stefanie Christ rollen<br />

den Komplex vom Medienhype bis zur<br />

Restitution in einer vorbildlichen Publikation<br />

auf. Das Buch «Der Gurlitt-Komplex.<br />

Bern und die Raubkunst», das im<br />

Kunstmuseum Bern Vernissage feiert,<br />

behandelt das Thema umfassend und<br />

liefert genau recherchierte Fakten. Damit<br />

wird die medial zum milliardenschweren<br />

Nazi-Raubkunst-Skanda aufgebauschte<br />

Geschichte auf den Boden<br />

der Tatsachen geholt: Erst sieben der<br />

1578 beschlagnahmten Werke wurden<br />

als nationalsozialistische Raubkunst<br />

identifiziert und teils restituiert.<br />

Über den Fall Gurlitt hinaus wirft die<br />

Publikation einen kritischen Blick auf<br />

die Schweizer und <strong>Berner</strong> Verstrickungen<br />

des Kunsthandels und der öffentlichen<br />

Museen im «Spannungsfeld von<br />

Recht und Moral». Die zwiespältige<br />

Rolle der <strong>Berner</strong> Auktionshäuser Kornfeld<br />

und Ketterer wird beleuchtet.<br />

Gleichzeitig nehmen die Häuser selbst<br />

Stellung zum Fall. Ebenso wird die Faktenlage<br />

und rechtliche Situation der<br />

Provenienzforschung mit Beispielen<br />

jenseits von Gurlitts Erbe behandelt.<br />

Kunstmuseum Bern<br />

So., 26.3., <strong>11</strong> Uhr<br />

www.kunstmuseumbern.ch<br />

Katja Zellweger<br />

Belastete Herkunft: «Dünen und Meer, Fehmarn» von Ernst Ludwig Kirchner.<br />

Kunstmuseum Bern<br />

Pegelstand<br />

Kolumne<br />

von Simon Jäggi<br />

Neben der Wohltat, am Morgen nicht<br />

mehr Kappe, Handschuhe, Schal, dicke<br />

Jacke und gefütterte Schuhe anziehen<br />

zu müssen und dabei nicht zu vergessen,<br />

dass die Kleinen ebendas<br />

angezogen haben, hat der Frühling<br />

weitere Vorzüge: Die Glühweinstände<br />

sind verschwunden. Ich versuche das<br />

jetzt gar nicht durch die Tulpe zu sagen:<br />

In der steifen Kälte mit aufgekratzten<br />

Bürolisten «im Bitz herumzustehen»<br />

und an heissem Fusel zu<br />

nippen – dieses Phänomen verstehe<br />

ich nicht. Warum gibt es so viele Menschen,<br />

die daran soviel Freude finden?<br />

Es gibt wohl nur eine Erklärung: Es<br />

geht gar nicht darum, was man tut, es<br />

geht darum, dass man es mit vielen<br />

Menschen zusammen tut (auch Event<br />

genannt).<br />

Soeben hat die Museumsnacht in<br />

Bern stattgefunden. Über <strong>11</strong>0 000 Eintritte<br />

verzeichnen die Organisatoren.<br />

«Es geht nicht darum, was<br />

man tut, es geht darum,<br />

dass man es mit vielen<br />

Menschen zusammen tut.»<br />

Das freut mich, schliesslich arbeite ich<br />

in einer Institution, die daran teilgenommen<br />

hat. Auch finde ich es viel<br />

nachvollziehbarer, dass die Leute in<br />

der Frühlingsfrische lustwandeln und<br />

ein paar Museen besuchen. Ein bisschen<br />

absurd ist der Erfolg der Museumsnacht<br />

trotzdem. Da haben die Museen<br />

fast das gesamte Jahr geöffnet<br />

und man könnte in aller Ruhe präparierte<br />

Nashörner oder Klee-Bilder anschauen<br />

gehen, aber nein, man geht<br />

genau an jenem Abend, an dem 30 000<br />

andere Leute dasselbe vorhaben.<br />

Ich kritisiere das keinesfalls, nur<br />

wundere ich mich einmal mehr über<br />

die Menschenart. Aber wie in so vielem<br />

ist auch hier Pragmatismus nicht<br />

fehl am Platz: Als Kulturveranstalter<br />

sollte man sich über die Eventisierung<br />

nicht ärgern, gerade jene Kultursparten,<br />

die etwas Mühe haben, Publikum<br />

anzuziehen, sollten sich die Eventaffinität<br />

des Publikums vielleicht zunutze<br />

machen. Wie wäre es damit: Das<br />

Schlauchboot-Neue-Musik-Festival –<br />

in 1000 Schlauchbooten gondelt das<br />

Publikum von Thun nach Bern und<br />

hört atonale Kompositionen aus<br />

Boom-Boxen.<br />

Simon Jäggi ist Sänger der Kummerbuben<br />

und im Naturhistorischen Museum<br />

Bern zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit.<br />

Er hat Familie und hält<br />

Hühner.<br />

Illustration: Rodja Galli, a259

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