04/2017
Fritz + Fränzi
Fritz + Fränzi
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Fr. 7.50 4/April <strong>2017</strong><br />
Monatsinterview<br />
Wie Kinder von<br />
psychisch kranken<br />
Eltern leiden<br />
Hochbegabt<br />
Woran man schlaue<br />
Kinder erkennt –<br />
und wie sie<br />
gefördert werden<br />
Sinnvoll oder ungerecht?<br />
Hausaufgaben
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ganze Familie.<br />
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30. April <strong>2017</strong><br />
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Mimo kennenlernen
Editorial<br />
Bild: Geri Born<br />
Nik Niethammer<br />
Chefredaktor<br />
Liebe Leserin, lieber Leser<br />
Nach 44 Jahren lüfte ich ein Geheimnis. Einige der Deutschaufsätze in der<br />
Primarschulzeit («Mein schönstes Ferienerlebnis», «Ein Tag bei meinem Grossvater»)<br />
habe ich nicht allein geschrieben. Meine Mutter, eine frühere Journalistin,<br />
hat mir dabei geholfen. Wir haben so lange an jedem Satz geschraubt, bis es passte.<br />
Meine Mutter hat ganze Arbeit geleistet: Für die meisten Aufsätze erhielt ich<br />
von Lehrer Niederer eine glatte 6 und durfte sie ins goldene Buch übertragen.<br />
Ich erwähne das deshalb, weil wir uns bei den Arbeiten am vorliegenden Dossier<br />
«Hausaufgaben» intensiv mit diesen Fragen beschäftigt haben. Sollen Eltern ihre<br />
Kinder bei den Hausaufgaben unterstützen? Und wenn ja – wie? Die Experten<br />
sind sich uneins: Hausaufgaben sind für die Schüler, nicht für die Eltern, lautet<br />
eine Botschaft. Eine andere: Eltern müssen ihre Kinder davon abhalten, zu lange<br />
an den Hausaufgaben zu sitzen. Eine dritte These lautet: Hausaufgaben sind ein<br />
Bindeglied zwischen Schule und Elternhaus. Wenn Eltern sich bei den Hausaufgaben<br />
ihrer Kinder engagieren, zeigen sie Interesse. Und wissen, was ihr Kind<br />
in der Schule so treibt.<br />
«Wissenschaftlich gesehen<br />
wären die wichtigsten<br />
Schulfächer Musik, Sport,<br />
Theaterspielen, Kunst<br />
und Handarbeiten.»<br />
Manfred Spitzer, deutscher Hirnforscher,<br />
Psychologe und Buchautor<br />
Die Frage, wie viel Hausaufgaben sinnvoll sind oder ob sie<br />
nicht besser abgeschafft werden sollten, wird seit Jahren<br />
leidenschaftlich debattiert. «Es gibt kein einziges Argument<br />
für Hausaufgaben in den ersten sechs Schuljahren», sagt<br />
Kinderarzt und Buchautor Remo Largo. «Mit Auswendiglernen,<br />
Prüfungen und Noten wird in unseren Schulen eine<br />
Treibjagd veranstaltet, die nichts bringt.» Largo wünscht<br />
sich mehr Individualität im Unterricht und eben auch beim<br />
Lernen. «Es ist die Herausforderung für Eltern und Lehrpersonen,<br />
herauszufinden, wie das Kind mit welchen<br />
Lernerfahrungen in seiner Entwicklung unterstützt werden<br />
kann.»<br />
Persönlich halte ich eine Verlagerung der Hausaufgaben in die Schule als geeignetste<br />
Massnahme, um Schule und Freizeit besser zu trennen und die Chancenungleichheiten<br />
nicht weiter zu verstärken. Es ist leider eine Tatsache, dass Kinder<br />
aus bildungsferneren Schichten selten Unterstützung bei den Hausaufgaben<br />
erhalten. Dasselbe gilt für Schüler mit Vollzeit arbeitenden Eltern.<br />
Die Hilfe meiner Mutter habe ich damals gerne angenommen. Trotzdem: Aus<br />
einiger Distanz und mit dem heutigen Wissen sehe ich ihr Engagement kritisch.<br />
Als zweifacher Vater interessiere ich mich selbstverständlich für die Hausaufgaben<br />
meiner Kinder – aber ich werde mich hüten, diese für sie zu erledigen.<br />
Sind Hausaufgaben sinnvoll oder ungerecht? – ab Seite 12.<br />
Herzlichst – Ihr Nik Niethammer<br />
850 Lehrstellen in 25 Berufen | www.login.org
Inhalt<br />
Ausgabe 4 / April <strong>2017</strong><br />
Viele nützliche Informationen finden Sie auch auf<br />
fritzundfraenzi.ch und<br />
facebook.com/fritzundfraenzi.<br />
Augmented Reality<br />
Dieses Zeichen im Heft bedeutet, dass Sie digitalen Mehrwert<br />
erhalten. Hinter dem ar-Logo verbergen sich Videos und<br />
Zusatzinformationen zu den Artikeln.<br />
Psychologie & Gesellschaft<br />
38 Adipositas<br />
Kinder, die mehr wiegen, als Mediziner<br />
empfehlen, haben es schwer. Wie kann<br />
ihnen geholfen werden?<br />
42 Geschwister – Verbündete und<br />
Rivalen<br />
Kronprinz, Nästhäkchen oder Sandwichkind?<br />
Die Geschwisterkonstellation<br />
ist nicht unwichtig – und sollte<br />
von Eltern berücksichtigt werden.<br />
10<br />
Dossier: Hausaufgaben<br />
10 Hausaufgaben: Lust und Frust<br />
Kinder erhalten einen Verweis, wenn sie die<br />
Hausaufgaben nicht erledigen. Das drängt<br />
die Eltern in die Ermahner-Rolle. Wie nötig<br />
und sinnvoll sind Hausaufgaben wirklich?<br />
Bild: Désirée Good / 13 Photo<br />
18 So vermeidet man Knatsch um Ufzgi<br />
Neun Tipps für Eltern.<br />
32 «Hausaufgaben sind reine<br />
Zeitverschwendung!»<br />
Der deutsche Bildungsjournalist und<br />
Buchautor Armin Himmelrath im Interview.<br />
36 «Was habe ich da nur angerichtet?»<br />
Eine Seklehrer berichtet aus der Praxis.<br />
Cover<br />
Ufzgi sind in jeder<br />
Familie ein Thema –<br />
und häufig Grund für<br />
Konflikte.<br />
Hausaufgaben, unser<br />
Dossier-Thema im April.<br />
Bilder: Désirée Good / 13 Photo, Filipa Peixeiro / 13 Photo, Sandra Lutz Hochreutener, Gabi Vogt / 13 Photo<br />
4
44<br />
52<br />
62<br />
Kurt Albermann, woran erkennt man<br />
Kinder, deren Mutter depressiv ist?<br />
Die Kraft der Klänge – wenn Musik zu<br />
Therapiezwecken eingesetzt wird.<br />
Hochbegabte Kinder brauchen mehr Input,<br />
als in der Regelschule gegeben wird.<br />
Erziehung & Schule<br />
52 Musiktherapie<br />
Mit Klängen, Tonfolgen und<br />
Rhythmen einen Zugang zu<br />
kleinen Patienten finden.<br />
59 Schreiben – ein Kinderspiel!<br />
Schreib- und Kritzelübungen<br />
verbessern die Schreibmotorik.<br />
62 Schlaue Köpfe<br />
Hochbegabte Kinder sollen im<br />
Programm «Atelier Plus» speziell<br />
gefördert werden. Eine Reportage.<br />
Ernährung & Gesundheit<br />
70 Verhütung<br />
Die Pille ist bei Mädchen das<br />
beliebteste Verhütungsmittel. Seit<br />
diesem Jahr ist ein neues Präparat auf<br />
dem Markt – für Teenager geeignet.<br />
Digital & Medial<br />
74 Facebook-Mamis<br />
Sich mit Gleichgesinnten zu<br />
vernetzen, ist wichtig. Besonders für<br />
Mütter. Die «Basler Mamis 2.0»<br />
stehen sich mit Rat und Tat zur Seite,<br />
im Internet.<br />
78 Digitale Kommunikation<br />
Wie funktioniert Snapchat?<br />
79 Mixed Media<br />
Rubriken<br />
03 Editorial<br />
06 Entdecken<br />
43 Stiftung Elternsein<br />
Ellen Ringier über das Privileg der<br />
freien Meinungsäusserung.<br />
44 Monatsinterview<br />
Kinder, deren Mutter oder Vater<br />
psychisch erkrankt, geraten schnell<br />
in die Erwachsenenrolle, sagt<br />
Kinderpsychiater Kurt Albermann.<br />
50 Jesper Juul<br />
Der Familientherapeut über<br />
Wahrhaftigkeit und die Frage, wann<br />
sich Eltern in die Beziehungen ihrer<br />
Kinder einmischen dürfen.<br />
56 Fabian Grolimund<br />
Wie können wir die Zeit mit unseren<br />
Kindern geniessen – trotz prall<br />
gefüllter To-do-Liste?<br />
58 Michèle Binswanger<br />
Unsere Kolumnistin über das<br />
Heranreifen zur Frau und das Recht,<br />
seine Grenzen zu verteidigen.<br />
60 Leserbriefe<br />
Service<br />
76 Verlosung<br />
80 Sponsoren/Impressum<br />
80 Abo<br />
81 Buchtipps<br />
82 Eine Frage – drei Meinungen<br />
Der Freund des Sohnes bezeichnet<br />
alles und jeden als «schwul». Müssen<br />
Eltern so etwas dulden?<br />
Die nächste Ausgabe erscheint<br />
am 4. Mai <strong>2017</strong>.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>5
Entdecken<br />
Kinder halten jung!<br />
Grosseltern, die sich um ihre Enkel<br />
kümmern, leben länger. Dies fanden<br />
Forscher der Max-Planck-Gesellschaft<br />
in München heraus. In einer Studie<br />
wurden 500 Menschen im Alter zwischen<br />
70 und 103 Jahren untersucht.<br />
Aber Achtung: Wer es übertreibt mit<br />
dem Hüten, bekommt Stress – und<br />
der schadet der Gesundheit.<br />
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3 FRAGEN<br />
an Walter Bircher, Jury-Präsident des Schweizer Schulpreises<br />
«Schüler sollten gerne in diese Schule gehen»<br />
Zum dritten Mal wird in diesem Jahr der Schweizer Schulpreis verliehen.<br />
Bis zum 15. Juni können sich Schulen um die Teilnahme bewerben. Walter<br />
Bircher weiss, welche Schulen gute Chancen haben.<br />
Interview: Evelin Hartmann<br />
Herr Bircher, was zeichnet eine gute Schule aus?<br />
Um dies festzustellen, sollte man sich drei Ebenen von Schule genauer<br />
anschauen. Zum einen die Schule als Organisation, System. Nimmt sie die<br />
gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen wahr und passt sie<br />
sich, wo es sinnvoll ist, durch Neuerungen an? Zum anderen die Lehrpersonen.<br />
Sind sie bereit und fähig, Schule als Lern- und Lebensort aktiv<br />
mitzugestalten? Sie müssen sich also immer mitverantwortlich für die<br />
Profession und ihr Umfeld sehen. Und sie sollten einen guten Unterricht<br />
gestalten mit viel Lernzeit, klaren Strukturen und individueller Förderung.<br />
Welches ist die dritte Ebene?<br />
Diese betrifft die Schüler selbst. Wie werden sie in ihrer Individualität<br />
wahrgenommen und gefördert, inwieweit wird ihre Kreativität, ihr<br />
Sozialverhalten entwickelt? Grundsätzlich gilt: Schüler sollten gerne in<br />
diese Schule gehen.<br />
Kann eine Schule auch in einem dieser Bereiche besonders<br />
herausstechen?<br />
Ja, aber ohne die anderen dabei zu vernachlässigen. Um sich bewerben zu<br />
können, sind sechs Kriterien zu erfüllen, die auf unserer Website einsehbar<br />
sind.<br />
Infos auf www.schweizerschulpreis.ch und wwww.canisi-edition.com<br />
Bei 94 % aller Befragten einer Umfrage zum<br />
Thema Heimat lösen Landschaften Heimatgefühle<br />
aus, meistens sind es Berge. In den Traditionen<br />
finden 91 Prozent der Befragten eine Heimat.<br />
Im Vordergrund stehen dabei die individuellen<br />
Rituale in der eigenen Familie.<br />
(Quelle: Das Stapferhaus Lenzburg hat 1000 Menschen zum Thema Heimat befragt.<br />
Aufhänger ist die Ausstellung «Heimat. Eine Grenzerfahrung».)<br />
Du hast Recht!<br />
«Welche Rechte haben eigentlich wir<br />
Kinder?» Das wird sich der eine oder<br />
andere Junge oder das eine oder<br />
andere Mädchen fragen und bekommt<br />
jetzt von Gleichaltrigen eine Antwort …<br />
Denn um für das Thema Kinderrechte<br />
ein Bewusstsein zu schaffen, hat die<br />
Kinderlobby Schweiz ein bunt<br />
illustriertes Buch herausgegeben –<br />
aus Kindersicht geschrieben.<br />
«Kinder kennen ihre Rechte. Kinder erklären die Kinderrechte»<br />
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Bilder: fotolia, ZVG<br />
6 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>7
Entdecken<br />
«Junge Frauen, findet den<br />
richtigen Mann! Es ist<br />
entscheidend, dass man die<br />
wichtigen Fragen früh klärt:<br />
Wer schaut wann zu den Kindern,<br />
wer arbeitet wie viel?»<br />
Claudine Esseivas Ratschlag an junge Frauen, die Familie und<br />
Karriere anstreben, in einem Interview auf www.cash.ch<br />
Claudine Esseiva<br />
ist FDP-Politikerin<br />
und Beraterin.<br />
Nina, äh, Emma, äh, Katja<br />
Wer Geschwister hat, kennt das vermutlich nur<br />
zu gut: Eltern bringen die Namen ihrer Kinder<br />
gerne durcheinander. Ein Ausdruck mangelnder<br />
Zuneigung sei das aber nicht. Tatsächlich<br />
scheinen wir Informationen zu unserem<br />
näheren sozialen Umfeld im Gedächtnis unter<br />
einer einzigen Beziehungskategorie<br />
abzuspeichern und ebenso abzurufen. Dieses<br />
Fazit ziehen Forscher der amerikanischen<br />
Duke University. Sie befragten mehr als<br />
1800 Probanden unter anderem, ob und wenn ja<br />
von wem sie schon einmal falsch angesprochen<br />
worden seien. Typischerweise waren die<br />
Verwechsler Familienmitglieder und oft wurde<br />
statt des echten Namens der des Bruders oder<br />
der Schwester genannt.<br />
Mach<br />
doch nicht<br />
so einen<br />
Lärm!<br />
Am 26. April <strong>2017</strong> findet der<br />
Internationale Tag gegen Lärm<br />
unter dem Motto «Ruhe fördert»<br />
statt. Im Mittelpunkt steht dabei,<br />
wie sich der Lärm auf Kinder<br />
auswirkt. Julia Dratva, die<br />
Leiterin der Forschungsstelle<br />
Gesundheitswissenschaften an<br />
der Hochschule für Angewandte<br />
Wissenschaften ZHAW in<br />
Winterthur, sagt, was Eltern<br />
zum Thema Lärm und Gehör<br />
interessieren könnte ...<br />
Ob Lärm schädlich ist oder nicht,<br />
hängt von der Frequenz, dem<br />
Schallpegel und der Dauer eines<br />
Geräuschs ab. Ein kurzer, einmaliger,<br />
aber sehr lauter Knall kann<br />
schädigend für das Gehör sein,<br />
ebenso wie ein weniger hohes<br />
Geräusch direkt am Ohr, dafür aber<br />
über längere Zeit. Entscheidend ist<br />
die Gesamtbelastung.<br />
Grundsätzlich gilt: Ab einem<br />
Dauerschallpegel von 60 Dezibel<br />
(Surren einer Näh m aschine)<br />
können Stress reaktionen im<br />
Schlaf auftreten, ab 90 Dezibel<br />
(schwerer LKW) können das<br />
Gehör und die Gesundheit<br />
Schaden nehmen. Die<br />
Schmerzgrenze liegt bei 120<br />
Dezibel (Düsenjäger), dann hält<br />
sich ein Mensch automatisch die<br />
Ohren zu. Auch Kinder.<br />
Kognitive Leistungen können<br />
unter hoher Lärm belastung leiden.<br />
Studien belegen bei Kindern eine<br />
geringere Lernleistung durch<br />
Lärmbelastung.<br />
Wir nehmen ständig Geräusche<br />
wahr. Doch eine Dauerbeschallung<br />
mit hohen Dezibel schränkt die<br />
Regeneration der Haarzellen des Ohrs,<br />
sprich die Abnehmer und Weiterleiter<br />
der Schallwellen, ein. Also öfter<br />
für weniger Lärm sorgen.<br />
Einen Knopf im Ohr haben ist cool! Das<br />
Wissen, ab wann Musikhören schädlich<br />
sein kann, erlaubt es Jugendlichen aber,<br />
einen guten Umgang damit zu finden.<br />
Grundsätzlich gilt: die Lautstärke der<br />
Geräte nicht ausreizen und bei zusätzlichen<br />
Lärmquellen nicht aufdrehen.<br />
Eltern sind dabei Vorbilder, von Anfang an.<br />
Infos zum Tag gegen Lärm auf www.laerm.ch<br />
8 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi April <strong>2017</strong>9
Nie mehr<br />
Hausaufgaben?<br />
Sie sorgen in vielen Familien regelmässig für Frust und Ärger:<br />
Hausaufgaben. Sind Hausaufgaben wirklich nötig? Warum schafft<br />
man sie nicht einfach ab? Und mit welchen Tricks geht das Lernen<br />
leichter? Eine Annäherung an ein hoch emotionales Thema.<br />
Text: Claudia Landolt Bilder: Désirée Good / 13 Photo<br />
Lehrer und<br />
Schüler sind<br />
uneins, wie viel<br />
das Büffeln nach<br />
der Schule bringt.<br />
10 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>11
Dossier<br />
Dienstagnachmittag,<br />
15 Uhr 15. Fernando,<br />
12 Jahre alt, kommt<br />
nach Hause und setzt<br />
sich gleich an den<br />
Schreibtisch in seinem Zimmer. Er<br />
hat Hausaufgaben. Mathe, eines seiner<br />
Lieblingsfächer. Fernando soll<br />
Bruchteile in Quadraten benennen.<br />
Das fällt ihm leicht. Nach 20 Minuten<br />
ist er fertig. «Hausaufgaben<br />
stressen mich selten», sagt Fernando.<br />
«Ich mache sie immer sofort<br />
nach der Schule.» Seine Mutter würde<br />
liebend gerne einmal einen Blick<br />
auf seine Arbeiten werfen, doch<br />
Fernando will das nicht. «Ich lerne<br />
ja für mich selbst, nicht für meine<br />
Mutter», sagt er.<br />
Hach. Es gibt sie also, jene Kinder,<br />
für die Hausaufgaben eine Fingerübung<br />
sind, nicht mehr als ein<br />
Zeitvertreib. Für alle anderen sind<br />
Hausaufgaben alles andere: ein lästiges<br />
Übel, ein Quell des Unverständnisses,<br />
eine pädagogische Gängelei,<br />
ein Reizthema.<br />
Seit einigen Monaten ist die<br />
Debatte um Sinn und Unsinn von<br />
Hausaufgaben neu entfacht. Die<br />
Vizepräsidentin des Schweizer<br />
Schulleiterverbands, Lisa Lehner,<br />
plädierte in diesem Magazin für eine<br />
Schule ohne Hausaufgaben. Auch<br />
ihr Kollege, der Verbandspräsident<br />
Bernard Gertsch, sprach sich für<br />
Änderungen aus. Hausaufgaben, so<br />
fordert er, sollten im Sinne der<br />
Chancengleichheit zu Schulaufgaben<br />
werden. Schüler, die sich zu<br />
Hause an niemanden wenden könnten,<br />
seien nämlich durch klassische<br />
Hausaufgaben benachteiligt.<br />
Auch in anderen Ländern wird<br />
heftig über den Wert von Hausaufgaben<br />
gestritten. In Spanien werden<br />
sie bestreikt und in Israel will man<br />
sie ganz abschaffen. Das Video einer<br />
Lehrerin aus Texas, USA, in dem sie<br />
erklärt, warum sie Hausaufgaben<br />
ablehnt, wurde zum Youtube-Hit.<br />
Und in Deutschland erreicht das<br />
Thema politische Dimensionen: Die<br />
Grünen wollen zusammen mit der<br />
Landesschülervertretung Hausaufgaben<br />
gleich flächendeckend ab -<br />
schaffen.<br />
Ist es tatsächlich sinnvoll, auf<br />
Hausaufgaben zu verzichten? Was<br />
bringen Kindern Hausaufgaben und<br />
was nicht? Was wäre eine Alternative?<br />
Und was meinen Lehrpersonen<br />
dazu, was wünschen sich Kinder<br />
und deren Eltern? Diesen Fragen<br />
geht dieses Dossier nach.<br />
Die Schule ohne Hausaufgaben<br />
ist kein Hirngespinst. Es gab sie<br />
schon mal – nämlich im Kanton<br />
Schwyz. 1993 entschloss sich das<br />
Bildungsdepartement, alle Hausaufgaben<br />
abzuschaffen. Die Lerninhalte<br />
seien fortan in die Unterrichtszeit<br />
zu integrieren, die Wochenstundenzahl<br />
wurde um eine Stunde erhöht.<br />
Das machte die Kinder glücklich,<br />
nicht aber deren Eltern. Nach nur<br />
vier Jahren wurde der Versuch beerdigt<br />
– auf Druck der Eltern. Die<br />
Regierung hob die Regelung 1997<br />
wieder auf.<br />
Hausaufgaben als Kontrollmittel<br />
Eltern sind tatsächlich weniger<br />
hausaufgabenkritisch als erwartet.<br />
Viele der für dieses Dossier be -<br />
fragten Eltern gaben an, Hausaufgaben<br />
im Sinne eines Kontrollinstrumentes<br />
zu befürworten. «So<br />
1993 schaffte der Kanton<br />
Schwyz die Hausaufgaben ab;<br />
1997 führte er sie wieder ein –<br />
auf Druck der Eltern. >>><br />
12
Dossier<br />
Aus Ufzgi sollen<br />
Schulaufgaben<br />
werden, fordern<br />
Experten.<br />
13
Dossier<br />
Viele Eltern<br />
fühlen sich<br />
verpflichtet, bei<br />
Hausaufgaben<br />
zu helfen.<br />
14
Dossier<br />
Eltern helfen bei den<br />
Hausaufgaben aus Sorge,<br />
das Kind komme nicht mit<br />
im Bildungswettbewerb.<br />
«Früher hatte ich<br />
weniger Ufzgi»<br />
Die Drittklässlerin Elin, 9, fand Hausaufgaben<br />
früher einfacher: Es gab weniger. An die<br />
Umstellung musste sie sich erst gewöhnen.<br />
«Ich fand Ufzgi früher besser, da waren es weniger.<br />
Heute habe ich manchmal vier Sachen auf. Daran<br />
musste ich mich zuerst gewöhnen. Am besten kann ich<br />
Gedichte auswendig lernen. Nach den Aufgaben gehe<br />
ich am liebsten in mein Zimmer und male. Eine Schule<br />
ohne Hausaufgaben könnte ich mir sehr gut vorstellen.<br />
Meine frühere Lehrerin sagte uns oft, geht raus, eure<br />
Aufgabe heisst: Wasserschlacht! Das fand ich natürlich<br />
toll. Ich frage mich aber, ob man ganz ohne Hausaufgaben<br />
auch so schnell vorwärtskommen würde.»<br />
Das sagt ihre Mutter: «Kommen meine Kinder heim,<br />
frage ich sie oft: Habt ihr Ufzgi? Ich tue das, weil ich<br />
es sinnvoll finde, dass sie lernen, ihre Zeit einzuteilen<br />
und sich zu organisieren. Das Priorisieren von Arbeiten<br />
lernen die Kinder in der Schule nämlich nicht. So ist<br />
es schon mal vorgekommen, dass es dann plötzlich<br />
am Freitagnachmittag einen regelrechten Hausaufgabenstau<br />
gab – was zu Frust bei allen Beteiligten<br />
führte. Das möchte ich natürlich verhindern. Elin<br />
erledigt viel selbständig. Ihr älterer Bruder auch, vor<br />
allem seit er einen neuen Lehrer hat. Dank Wochenplänen<br />
hat er gelernt, seine Aufgaben zu strukturieren.<br />
Früher gab es deswegen oft ein Gstürm.»<br />
>>> weiss ich ungefähr, wo mein<br />
Sohn steht», sagt eine Mutter. Hausaufgaben<br />
stellen eine Verbindung<br />
zwischen der Schule und dem<br />
Elternhaus her. Oder wie es in einem<br />
Merkblatt des Kantons Luzern<br />
heisst: «Hausaufgaben sind ein<br />
Fenster zur Schule und geben den<br />
Eltern Einblick, was dort läuft.»<br />
Manche Mütter und Väter belassen<br />
es nicht dabei. Eine Studie des<br />
deutschen Pädagogen Thomas<br />
Hardt zeigt, dass Eltern ihren Kindern<br />
regelmässig bei den Hausaufgaben<br />
helfen. Sie wollen, dass diese<br />
gut erledigt werden. Sie tun das aus<br />
Sorge, ihr Kind könnte im Bildungswettbewerb<br />
nicht bestehen. So be <br />
werten 56 Prozent der Eltern die<br />
Tatsache, dass ein Kind pro Tag<br />
weniger als eine Stunde Hausaufgaben<br />
erledigen muss, als Indiz dafür,<br />
dass dieses Kind von der Schule<br />
nicht ausreichend gefordert wird.<br />
Eltern wuchsen mit Ufzgi auf<br />
Das nur der elterlichen Bildungsbeflissenheit<br />
zuzuschreiben, wäre aber<br />
falsch, meint der Bildungsjournalist<br />
und Buchautor Armin Himmelrath.<br />
«Schliesslich wird Eltern seit Jahrzehnten<br />
eingetrichtert, dass das<br />
häusliche Pauken am Nachmittag, in<br />
den Abendstunden und am Wochenende<br />
irgendwie der Reifung und<br />
Bildung der Kinder dient.» (Siehe<br />
auch Interview auf Seite 32.)<br />
Tatsächlich sind Hausaufgaben<br />
schon lange ein pädagogisches In <br />
strument. Bereits in Schulordnungen<br />
aus dem 15. Jahrhundert werden<br />
diese Arbeitspflichten erwähnt und<br />
>>><br />
geregelt. Hausaufgaben dien<br />
15
Dossier<br />
Elterliche Einmischung ist<br />
leider schlecht, weil sie das<br />
Selbstbewusstsein untergräbt.<br />
>>> ten schon damals dazu, Kindern<br />
das selbständige Arbeiten einzuüben<br />
und den in der Schule<br />
behandelten Stoff eigenständig<br />
nachzuarbeiten und zu vertiefen.<br />
Daran hat sich wenig geändert.<br />
Nahezu der gleiche Wortlaut findet<br />
sich fast zwei Jahrhunderte später in<br />
einem Merkblatt des Kantons Zürich<br />
zur Volksschule: «Kinder lernen<br />
durch Hausaufgaben selbständig zu<br />
lernen, sich die Arbeitszeit einzuteilen<br />
und Verantwortung für das Lernen<br />
zu übernehmen.»<br />
Grosses Konfliktpotenzial<br />
Doch die Gesellschaft hat sich radikal<br />
verändert. Die Grossfamilie existiert<br />
kaum mehr, Alleinerziehende<br />
oder Patchworkfamilien haben sich<br />
etabliert, und Mütter und Väter<br />
gehen beide ihren Berufen nach.<br />
Solche Formulierungen zu den<br />
Hausaufgaben gehen jedoch von<br />
einem optimalen Zustand aus, der<br />
mit der heutigen Realität oft wenig<br />
zu tun hat. So kritisiert Jürg Brühlmann<br />
von der Pädagogischen Ar <br />
beitsstelle des Dachverbands Schweizer<br />
Lehrerinnen und Lehrer LCH in<br />
der «NZZ»: «Viele Kinder können<br />
die Aufgaben zu Hause kaum erledigen,<br />
weil sie kein eigenes Zimmer<br />
haben, der Fern seher läuft oder die<br />
Geschwister stören.»<br />
Klassische Hausaufgaben bergen<br />
viel Konfliktpotenzial: zum einen,<br />
weil sie zeitaufwendig sind und<br />
nicht alle Kinder verstehen, was<br />
genau sie zu erledigen haben; zum<br />
anderen, weil niemand da ist, der<br />
ihnen helfen könnte, oder die Lernatmosphäre<br />
für sie nicht stimmt.<br />
Und dort, wo jemand zu Hause ist,<br />
kommt es womöglich zu Konflikten,<br />
weil Eltern unweigerlich in die Rolle<br />
des Hilfslehrers schlüpfen. Sie<br />
kontrollieren oder versuchen, die<br />
Hausaufgaben zu verstehen, mahnen,<br />
drohen und sanktionieren mit<br />
Fernseh- oder Handyentzug aus<br />
Sorge, das Kind könnte die Aufgaben<br />
nicht machen oder vergessen,<br />
was vielerorts einen Verweis oder<br />
mindestens einen Eintrag im Pflichtenheft<br />
zur Folge hat.<br />
Diese elterliche Einmischung ist<br />
grundsätzlich schlecht. Zu diesem<br />
Schluss kommt eine Studie, in der<br />
1700 Eltern und Schüler über einen<br />
längeren Zeitraum befragt wurden.<br />
Das Resultat – erschienen im «Journal<br />
of Educational Research» >>><br />
Wann sind Hausaufgaben verboten?<br />
In der Schweiz sind Hausaufgaben vom<br />
Vormittag auf den Nachmittag, vom Vortag<br />
eines Feiertags auf den nächsten Schultag<br />
und über die Ferien nicht erlaubt. Ob sie<br />
übers Wochenende und über einen freien<br />
Nachmittag beispielsweise zulässig sind,<br />
ist strittig. So sieht das Schulreglement des<br />
Kantons Zug etwa vor, dass sie vom Freitag<br />
auf den Montag verboten sind, während<br />
der Kanton Zürich dies lascher handhabt.<br />
Experten sind sich einig, dass sie über einen<br />
freien Nachmittag nicht erteilt werden<br />
sollten, weil dies dem Anspruch der Kinder<br />
auf Erholung und Freizeit entgegensteht.<br />
«Auch Kinder haben den Feierabend verdient»,<br />
sagt etwa Gabriel Romano, Erziehungswissenschaftler,<br />
in einem Interview.<br />
Umso mehr, als die Lektionenzahl derart<br />
zugenommen hat, dass sich Hausaufgaben<br />
erübrigt hätten, weil die Schüler tagsüber<br />
genug lernten: «Die Volksschule ist ein<br />
Fulltime-Job.»<br />
16
Dossier<br />
Hausaufgaben<br />
sind seit<br />
Einführung der<br />
Schulpflicht<br />
Standard.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>17
Dossier<br />
«Knatsch bei den<br />
Hausaufgaben –<br />
das muss nicht sein»<br />
Die neun besten Tipps, wenn<br />
Hausaufgaben ein Reizthema sind –<br />
von STEP-Kursleiterin Liselotte Braun.<br />
1 Machtkämpfe um Ufzgi<br />
Hausaufgaben sind in erster Linie eine<br />
Sache zwischen Kind und Lehrperson. Viele<br />
Eltern fühlen sich jedoch voll dafür verantwortlich.<br />
Aus Angst um die beruflichen<br />
Chancen ihrer Kinder üben sie bewusst<br />
oder unbewusst Druck aus. Dies bewirkt<br />
meist Widerstand, und es entsteht ein<br />
Machtkampf. Wenn Eltern Verantwortung<br />
abgeben und das Kind ermutigen, selbstverantwortlich<br />
die Ufzgi zu machen, ist<br />
das Kind kooperativer. Es wird in seinem<br />
Selbstbewusstsein gestärkt und lernt für<br />
die Zukunft.<br />
2 Was tun, wenn es eskaliert?<br />
Bei Konflikten gilt erst einmal: sich<br />
beruhigen, durchatmen, das Kind nicht<br />
anschreien. Das Bewusstsein, dass Hausaufgaben<br />
nicht in der Verantwortung der<br />
Eltern sind, hilft, dem Kind in Ruhe zu<br />
begegnen. So können Eltern die Unlust<br />
oder die Wut des Kindes akzeptieren: «Es<br />
sieht so aus, als hättest du überhaupt<br />
keinen Bock, die Ufzgi zu machen – weil es<br />
so viele oder weil sie so schwierig sind?»<br />
Dadurch fühlt sich das Kind verstanden.<br />
Vielleicht äussert es dann plötzlich, was<br />
eigentlich der Hintergrund seiner Unlust<br />
ist. Oder die Lösung besteht darin, die<br />
Hausaufgaben auf später zu verschieben.<br />
Mit der respektvoll ausgesprochenen<br />
Aussage «Du kannst die Ufzgi machen,<br />
dann hast du alles erledigt, oder du machst<br />
sie nicht und riskierst einen Eintrag – du<br />
entscheidest», übertragen die Eltern dem<br />
Kind die Verantwortung, und es lernt aus<br />
den Folgen seiner Entscheidung.<br />
3 Angst vor einem Verweis<br />
Viele Eltern wollen das Kind vor einem<br />
negativen Erlebnis wie z. B. einem Verweis<br />
bewahren. Sie nehmen ihm aber damit<br />
die Erfahrung, welche Folgen seine Entscheidung<br />
hat. Eine solche Erfahrung darf<br />
man dem Kind zutrauen. Wichtig ist, dass<br />
Eltern bei einem negativen Erlebnis nicht<br />
moralisieren und sagen: «Siehst du, ich<br />
habs dir ja gesagt!»<br />
4 Hausaufgaben dauern lang<br />
Dafür gibt es verschiedene Gründe.<br />
Manchmal macht das Kind zu viele Hausaufgaben,<br />
weil ihm der Auftrag nicht klar<br />
ist oder es etwas falsch verstanden hat. Oft<br />
erlebe ich auch, dass das Kind mit diesem<br />
Verhalten die Aufmerksamkeit der Eltern<br />
sucht. Es denkt: «Wenn ich Probleme habe,<br />
sind meine Eltern da und haben Zeit für<br />
mich.» Oder aber seine Erfahrung lehrt es,<br />
dass die Eltern schliesslich die Aufgaben<br />
lösen. Es gibt aber auch Kinder, die überfordert<br />
und sehr entmutigt sind, weil sie die<br />
erwartete Leistung nicht erbringen können.<br />
Weiter überschätzen Eltern oft die Konzentrationsfähigkeit<br />
des Kindes. Hilfreich<br />
ist es, immer wieder mal eine kurze Pause<br />
einzuschieben.<br />
5 Elterliche Hilfe – ja oder nein?<br />
Eltern helfen manchmal, damit das Kind<br />
schneller fertig ist. Doch so lernt es nicht,<br />
auch mal an etwas dranzubleiben. Andere<br />
Eltern helfen, um bei der Lehrperson einen<br />
guten Eindruck zu machen. Die Lehrperson<br />
weiss dann aber nicht, was das Kind<br />
18 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Laut Studien<br />
sind Qualität und<br />
Menge der Ufzgi<br />
entscheidend für<br />
die Motivation.<br />
Hausaufgaben sind schlicht<br />
und einfach «Hausfriedensbruch»,<br />
schreibt «Der Spiegel».<br />
>>> – besagt, dass sowohl die Leistungsentwicklung<br />
im Lesen als auch<br />
die Deutschnoten bei Kindern,<br />
deren Eltern häufig bei den Hausaufgaben<br />
halfen, schlechter ausfallen.<br />
Ausserdem untergraben diese<br />
Einmischungsversuche die Selbständigkeit<br />
der Schüler.<br />
Eingriff in den Familienalltag<br />
Den Eltern werde zu viel pädagogische<br />
Verantwortung übertragen,<br />
lautet ein weiterer Vorwurf der<br />
Hausaufgabengegner. Armin Himmelrath<br />
sagt, mit Hausaufgaben bürdeten<br />
Lehrpersonen den «Eltern die<br />
Verantwortung für das Gelingen der<br />
kindlichen Schullaufbahn in einem<br />
Mass auf, wie das aus schulpädagogischer<br />
Sicht zwar seit Jahrhunderten<br />
praktiziert wird, erziehungswissenschaftlich<br />
aber kaum seriös zu<br />
begründen ist». Das sei, um das<br />
berühmte Bonmot des Nachrichtenmagazins<br />
«Der Spiegel» zu zitieren,<br />
schlicht und einfach «Hausfriedensbruch».<br />
Dass Eltern die Hausaufgaben<br />
überwachen, miterledigen und<br />
sich für die schulische Heimarbeit<br />
ihrer Kinder verantwortlich fühlen,<br />
ist nicht erst seit <strong>2017</strong> Alltag.<br />
Wenn Hausaufgaben Bestandteil<br />
der Erziehung sind, kann das in vielen<br />
Familien ein tägliches Ärgernis<br />
darstellen. Das Kind hat keine >>><br />
effektiv verstanden hat. Sinnvoller ist es,<br />
bei andauernden Problemen das Gespräch<br />
mit der Lehrperson zu suchen.<br />
6 Danebensitzen – ja oder nein?<br />
Keinesfalls sollten Eltern die ganze Zeit<br />
neben dem Kind sitzen. Das vermittelt<br />
dem Kind das Gefühl: «Ich kann es nicht<br />
allein.» Wenn das Kind die Hausaufgaben<br />
noch nicht selbständig erledigt, können<br />
die Eltern fragen, was an Hausaufgaben<br />
ansteht, und das Kind entscheidet, womit<br />
es beginnen will. Bei konkreten Fragen<br />
können Eltern natürlich Hilfe bieten. Die<br />
Initiative muss jedoch vom Kind kommen.<br />
Viele Kinder mögen es, die Aufgaben dort<br />
zu erledigen, wo sich die Mutter, der Vater<br />
oder die Geschwister aufhalten. Oft ist das<br />
der Küchen- oder Wohnzimmertisch.<br />
7 Ufzgi gehen vergessen, die Lust fehlt<br />
Dann kann man fragen: Was würde dir<br />
helfen, dran zu denken? Was macht dir<br />
denn genau keine Lust? Oder man schreibt<br />
zusammen mit dem Kind eine To-do-Liste<br />
mit den verschiedenen Hausaufgaben,<br />
inklusive Pausenzeiten. Manche Kinder<br />
spornt es an, die erledigten Sachen<br />
abhaken zu können.<br />
8 Das kapier ich ja doch nicht!<br />
Entmutigte Kinder benötigen viel Ermutigung,<br />
schon die kleinste Bemühung sollte<br />
beachtet und positiv bestätigt werden. Mit<br />
der Zeit sind die Eltern manchmal selber<br />
entmutigt oder hilflos. Das spürt das Kind<br />
und wird noch entmutigter. Oft ist da eine<br />
externe Aufgabenhilfe sinnvoll. Wichtig ist<br />
auch, dass sich Eltern Hilfe holen. Oft sind<br />
Hausaufgaben auch ein möglicher Punkt,<br />
um bestehende Spannungen auszutragen.<br />
Wenn es etwa Krach in der Schule gab, oder<br />
das Kind sich von einer Lehrperson oder<br />
den Eltern nicht verstanden fühlt. Dann<br />
ist es wichtig, dass die Eltern dem Kind<br />
zuhören und seine Gefühle ernst nehmen.<br />
9 Feste Zeiten – ja ode nein?<br />
Es ist sicher hilfreich, wenn es eine<br />
gewisse Routine gibt. Kinder sind jedoch<br />
unterschiedlich. Manche brauchen Unterstützung,<br />
wie z. B. einen Arbeitsplan.<br />
Andere sind sehr selbständig, da reicht<br />
es zu fragen: «Wann machst du die Hausaufgaben,<br />
vor oder nach dem Spielen? Du<br />
entscheidest.» Die Abmachung sollte dann<br />
auch eingehalten werden.<br />
Die wichtigsten Tipps<br />
zusammengefasst<br />
Bei Konflikten sich nicht in einen Machtkampf<br />
einlassen, dem Kind etwas zutrauen<br />
und ihm die Verantwortung übergeben. Nur<br />
Unterstützung geben, wo es wirklich nötig<br />
ist. Die Gefühle des Kindes ernst nehmen<br />
und auch kleine Fortschritte bemerken.<br />
STEP<br />
Das Systematische Training für Eltern<br />
und Pädagogen (STEP) basiert auf<br />
liebevoll-konsequenter Erziehung,<br />
Anerkennung und Ermutigung. Ziel ist,<br />
das Selbstvertrauen von Eltern und<br />
Kindern zu stärken, sodass Eltern lernen,<br />
dem Entwicklungsprozess der Kinder zu<br />
vertrauen und sie dabei zu begleiten, zu<br />
fordern und zu fördern. Grundlage von<br />
STEP ist die Individualpsychologie nach<br />
Alfred Adler und Rudolf Dreikurs.<br />
www.instep-online.ch<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>19
Dossier<br />
Besonders für Mütter und<br />
Väter von schulmüden<br />
Kindern sind Hausaufgaben<br />
ein ständiges Reizthema.<br />
>>> Lust, nach sieben Lektionen<br />
noch Wörter abzuschreiben. Es ist<br />
ihm nicht ganz klar, wie viel wirklich<br />
zu erledigen ist, und es telefoniert<br />
bei seinen Freunden herum. Es<br />
kriegt die Krise, wenn es die Aufgaben<br />
in der Schule vergessen hat.<br />
Oder es schafft es einfach nicht, diese<br />
in einer angemessenen Zeit zu<br />
erledigen.<br />
Eine Mutter klagt, dass Hausaufgaben<br />
zu Hause ein ständiger Reibungspunkt<br />
seien. Wenn sie nicht<br />
ständig nachfrage, ob ihr Sohn<br />
Hausaufgaben erledigen müsse,<br />
«läuft da nur wenig». Hausaufgaben<br />
seien etwas, was man immer im<br />
Auge behalten müsse, auch am<br />
Wochenende. Das dränge sie in die<br />
Rolle der Ermahnerin und führe zu<br />
Unwohlsein. Eine andere Mutter<br />
klagt, ihr 13-jähriges Kind habe mit<br />
den täglichen Hausaufgaben und<br />
dem Büffeln für Tests sowie dem<br />
Sporttraining und Musikunterricht<br />
in der 6. Klasse ein «sehr, sehr» grosses<br />
Pensum.<br />
Wie viel ist erlaubt?<br />
Wie viele Hausaufgaben erlaubt sind,<br />
entscheiden die Kantone. Diese sind<br />
laut Bundesverfassung für die Schulrechte<br />
zuständig. Sie nehmen ihre<br />
Kompetenz aber unterschiedlich<br />
wahr und haben das Schulwesen oft<br />
nicht bis ins letzte Detail geregelt. Es<br />
existiert kein Bundesgesetz, das bei<br />
Hausaufgaben eine zeitliche Begrenzung<br />
vorsieht. Fehlen auch im kantonalen<br />
Schulrecht Richtlinien zur<br />
maximalen Belastung der Schülerinnen<br />
und Schüler, kommt das Arbeitsgesetz<br />
zur Anwendung. Es schreibt<br />
für Jugendliche ab 15 Jahren >>><br />
«Wörtli lerne<br />
ich gern»<br />
Emilia, 10, und ihr Bruder Giacomo,<br />
8, erledigen die Ufzgi am liebsten<br />
mit ihren Freunden.<br />
Emilia: «Wörtlilernen mache ich lieber<br />
als Matheaufgaben, denn da habe<br />
ich oft noch Fragen. Ich arbeite nach<br />
Wochenplan, das finde ich anstrengend,<br />
weil es oft nach Stress aussieht. Andererseits<br />
hilft es mir, die Aufgaben einzuteilen.<br />
Es stört mich aber, wenn eine Fachlehrerin<br />
dann noch Ufzgi auf den Wochenplan<br />
der Hauptlehrerin dazugibt. Am liebsten<br />
mache ich sie mit meinen Freundinnen.»<br />
Giacomo: «Lesen ist meine liebste<br />
Hausaufgabe, Arbeitsblätter in Mathe<br />
mache ich am wenigsten gern, nur<br />
Logicals finde ich cool. Ich vergesse die<br />
Ufzgi höchstens, wenn ich Fussballtraining<br />
habe. Sowieso erledige ich alles in der<br />
Aufgabenstunde im Hort, damit ich<br />
nachher frei habe und spielen kann.»<br />
Das sagt ihr Vater: «Hausaufgaben<br />
abschaffen? So weit würde ich nicht<br />
gehen. Was ich als Problem erachte, ist die<br />
Menge. Zweit- und Viertklässler haben ein<br />
Mengengerüst zu bewältigen, das ihnen<br />
jegliche Freizeit raubt, den guten wie<br />
den weniger guten Schülerinnen, reinste<br />
Fleissarbeit. Viele haben ja noch das<br />
eine oder andere Hobby. Und so sitzen<br />
sie dann bis spät oder am Wochenende<br />
hinter den Büchern, anstatt zu schlafen<br />
oder mit anderen Kindern ihre Freizeit<br />
zu verbringen. Oft braucht es auch die<br />
Hilfe der Eltern. Es darf aber nicht davon<br />
ausgegangen werden, dass Eltern ihren<br />
Kindern dabei dunter die Arme greifen<br />
müssen. Das ist nicht der Job der Eltern.<br />
Zudem tun sich hier gesellschaftliche<br />
Ungleichheiten auf.»<br />
20
Dossier<br />
Auch bei den Ufzgi<br />
helfen ältere<br />
Geschwister oft<br />
den jüngeren, sagt<br />
die Forschung.<br />
21
Dossier<br />
Im Schnitt<br />
wenden<br />
Schweizer Kinder<br />
vier Stunden pr o<br />
Woche für Ufzgi<br />
auf.<br />
22 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
eine Höchstarbeitszeit von<br />
täglich 9 Stunden vor, die innerhalb<br />
eines Zeitraumes von 12 Stunden<br />
liegen soll. Bei 14-Jährigen liegt die<br />
Höchstarbeitszeit bei 40 Stunden.<br />
Für jüngere Kinder muss dieser Wert<br />
entsprechend tiefer liegen. Im Schulalltag<br />
eingebürgert hat sich folgende<br />
Praxis: 10 Minuten pro Klassenstufe<br />
und pro Tag. Ein Erstklässler sollte<br />
also nicht mehr als 10 Minuten pro<br />
Tag, ein Sechstklässler höchstens 60<br />
Minuten pro Tag an den Hausaufgaben<br />
sitzen (Prüfungsvorbereitung<br />
inklusive).<br />
Das entspricht den Zahlen der<br />
OECD-Studie aus dem Jahr 2012.<br />
Sie untersuchte in 38 Ländern der<br />
Welt, wie viel Zeit pro Woche für<br />
Hausaufgaben aufgewendet wird.<br />
Das Ergebnis: in der Schweiz 4 Stunden<br />
pro Woche, in Finnland 3, in<br />
Russland 9, in Deutschland und<br />
Frankreich knapp 5 Stunden.<br />
Geringe Wirksamkeit<br />
Ob Hausaufgaben etwas bringen, ist<br />
umstritten. Neue Studien zeigen:<br />
Manchen schaden sie sogar. Der<br />
neuseeländische Pädagoge John Hattie<br />
gilt als Referenz auf diesem Ge -<br />
biet. In seinem Buch «Lernen sichtbar<br />
machen» trug er Befunde aus<br />
über 50 000 Studien mit mehr als 80<br />
Millionen Schülern zusammen. Er<br />
wollte herausfinden, welche Voraussetzungen<br />
und Bedingungen Kindern<br />
beim Lernen helfen.<br />
Faktoren, die den Lernerfolg fördern,<br />
sind beispielsweise eine gute<br />
Schüler-Lehrer-Beziehung oder<br />
bestimmte Lerntechniken wie wiederholendes<br />
Lesen. Hausaufgaben<br />
fördern den Lernerfolg dagegen nur<br />
sehr wenig. Und selbst dieser >>><br />
Studien zeigen:<br />
Hausaufgaben haben nicht<br />
den erhofften Lerneffekt.<br />
23
Dossier<br />
Hausaufgaben machen<br />
Schüler nicht klüger und<br />
auch nicht dümmer.<br />
>>> geringe Nutzen ist mit Vorsicht<br />
zu betrachten. Denn er hängt vom Zeitaufwand<br />
ab, den die Schülerinnen und<br />
Schüler in ihre Hausarbeiten investieren<br />
müssen. Je mehr Aufwand, desto<br />
geringer sei der Profit, lautet Hatties<br />
Fazit. Profitieren würden im Durchschnitt<br />
vor allem ältere und leistungsstärkere<br />
Schüler.<br />
Auch Armin Himmelrath hat für<br />
sein Buch «Hausaufgaben, nein danke»<br />
unzählige Studien untersucht. «Aus<br />
wissenschaftlicher Sicht gibt es keine<br />
einzige Studie, die belegt, dass Leistung<br />
oder Wissen durch das systematische<br />
Erledigen von Hausaufgaben gesteigert<br />
werden kann», fasst er zusammen. «Im<br />
Gegenteil: Selbstwirksamkeitserfahrungen,<br />
Motivationssteigerungen,<br />
Selbststrukturierung bleiben in aller<br />
Regel auf der Strecke.»<br />
«Ohne Ufzgi wäre mein<br />
Thek leichter»<br />
Die beiden Fünftklässlerinnen Simin, knapp 11,<br />
und Marilu, 11, würden die Hausaufgaben lieber<br />
in einer zusätzlichen Stunde in der Schule<br />
erledigen.<br />
Simin: «Ich frage mich, wer Hausaufgaben erfunden<br />
hat. Ich fände es viel besser, wenn man alle Ufzgi in der<br />
Schule machen könnte. Dann hätte ich mehr Zeit für<br />
mich, zum Musikmachen, Spielen oder um mich mit<br />
Freundinnen zu treffen. Ausserdem wäre dann mein<br />
Thek nicht so schwer. Ich mache Hausaufgaben nicht<br />
allzu gern und bin froh, dass wir nicht so viele haben.<br />
Dass es einen Eintrag gibt, wenn man sie vergessen hat,<br />
finde ich nicht gut. Auch regt es mich auf, wenn Eltern<br />
sich immer in die Hausaufgaben einmischen.»<br />
Marilu: «Ich mache sehr gern Hausaufgaben, aber<br />
manchmal finde ich es sehr anstrengend, neben dem<br />
vielen Training nicht nur den Schulstoff nachzuholen,<br />
sondern auch noch Hausaufgaben zu machen. Dann<br />
denke ich wieder, ohne das alles wäre mir doch recht<br />
langweilig! Um meine Zeit gut einzuteilen, mache ich<br />
Ufzgi auf dem Weg ins Training, im Zug oder im Auto. Ich<br />
will mindestens zwei Tage die Woche ohne Aufgaben und<br />
Training sein. Meistens mache ich meine Ufzgi allein.<br />
Nacharbeiten erledige ich mit Mama. Manchmal geht es<br />
besser mit meinem Papa oder mit meinem Gotti.»<br />
Hausaufgaben abschaffen?<br />
Pädagogen an den Hochschulen plädieren<br />
schon lange für die Abschaffung der<br />
Hausaufgaben. Als eine «heilige Kuh»,<br />
an der nicht gerüttelt werden darf, als<br />
eine «Pille mit fast ausschliesslich negativen<br />
Nebenwirkungen» bezeichnet sie<br />
ein Dozent einer Fachhochschule. Er<br />
möchte aus Angst vor Repressionen<br />
anonym bleiben. Hausaufgaben brauche<br />
es nicht, sagt er, man könne sie<br />
getrost weglassen. Denn: Die Schüler<br />
würden nicht klüger und auch nicht<br />
dümmer.<br />
Auch Lehrpersonen, Pädagogen an<br />
der Front, stellen die klassischen Hausaufgaben<br />
infrage. In der Recherche zu<br />
diesem Dossier sprachen wir mit<br />
unzähligen Lehrpersonen, die Hausaufgaben<br />
in neuen Formen zu >>><br />
24
Dossier<br />
Erwachsene<br />
überschätzen<br />
die Fähigkeit der<br />
Kinder, sich zu<br />
konzentrieren.<br />
Pausen sind<br />
notwendig.<br />
25
Dossier<br />
26 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
>>> integrieren versuchen. Einige<br />
Beispiele:<br />
• Eine Mittelstufenlehrerin unterwandert<br />
das System, indem sie<br />
ihren Schülern nur noch selten<br />
Hausaufgaben erteilt. Stattdessen<br />
sagt sie: Geht raus, spielt!<br />
• Ein Oberstufenlehrer unterrichtet<br />
in Arbeitseinheiten, in<br />
denen Aufgaben integriert sind.<br />
Seine Teamkollegen halten auf<br />
einer grossen Tafel alle Aufgaben<br />
fest. Das verhindert, dass<br />
Kinder an manchen Tagen<br />
gleich dreifach Hausaufgaben<br />
Hausaufgaben abschaffen<br />
bedeutet, den Unterricht<br />
grundlegend zu ändern.<br />
Dazu sind nicht alle bereit.<br />
zu erledigen haben, an anderen<br />
Tagen hingegen gar keine.<br />
• Ein Lehrer glaubt, das Thema<br />
sei deshalb nicht totzukriegen,<br />
weil Lehrpersonen mittels<br />
Hausaufgaben die unterschiedlichen<br />
Arbeitsgeschwindigkeiten<br />
der Schüler ausgleichen<br />
könnten. Wenn Kinder zu Hause<br />
den Stoff aufholen, kann die<br />
Lehrperson anderntags in der<br />
gesamten Lerngruppe dieselbe<br />
Geschwindigkeit und dasselbe<br />
Niveau an den Tag legen. Die<br />
Hausaufgaben abzu >>><br />
Hausaufgaben in der Schule –<br />
welche Alternativen gibt<br />
es bereits?<br />
In der Gemeinde Neuheim ZG wurde<br />
schon vor einigen Jahren eine Eltern-<br />
Lehrer-Gruppe gegründet, die unter<br />
anderem zwei Mal pro Woche kostenlose<br />
Hausaufgaben betreuung für<br />
Primarschulkinder anbietet. Das<br />
Gymnasium Bäumlihof in Basel hat<br />
2010 begonnen, ganze Klassen ohne<br />
Stundenplan zu unterrichten, und<br />
Hausaufgaben durch Schulaufgaben<br />
ersetzt. Diese werden in der sogenannten<br />
individuellen Lernzeit erledigt. Bereits<br />
etabliert hat sich an vielen Schulen die<br />
sogenannte Aufgabenhilfe oder<br />
Aufgabenstunde im Hort. Dabei können<br />
Kinder nach dem regulären Unterricht<br />
oder als Freifach Aufgaben und Prüfungsvorbereitungen<br />
mit qualifiziertem<br />
Personal erledigen. Die Aufgabenhilfe<br />
ist aber nicht überall kostenfrei.<br />
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Dossier<br />
Sind Kinder ohne<br />
Hausaufgaben<br />
motivierter und<br />
glücklicher? Das<br />
ist die zentrale<br />
Frage.<br />
28
Dossier<br />
«Ufzgi stressen<br />
mich selten»<br />
Der Sechstklässler Fernando, 12,<br />
erledigt seine Hausaufgaben<br />
immer gleich nach Schulschluss.<br />
«Ich habe eine sehr nette Lehrerin. Sie<br />
gibt uns nicht viele Hausaufgaben. Einen<br />
Teil davon können wir bereits in der<br />
Schulstunde erledigen. Meine erledige<br />
ich immer sofort nach der Schule und<br />
brauche dafür maximal eine halbe<br />
Stunde. Meine liebsten Fächer sind<br />
Deutsch und Mathe. Nur am Montag, da<br />
stressen mich Hausaufgaben. Da habe<br />
ich bis 17 Uhr Schule und anschliessend<br />
noch Fussballtraining. Da bin ich müde<br />
und habe sie deswegen auch schon<br />
vergessen, das gibt dann ein Strichli.<br />
Hat man sechs, wird man sanktioniert.<br />
Notendoping durch Nachhilfe<br />
Ein weiterer Aspekt der Hausaufgabendiskussion<br />
ist, dass eine ganze Branche<br />
von den Arbeiten lebt, welche Lehrerinnen<br />
und Lehrer delegieren: der Nachhilfemarkt.<br />
Er würde ohne Hausaufgaben<br />
erheblich schrumpfen. In der Schweiz<br />
braucht jeder dritte Schüler Nachhilfe,<br />
um die Hausaufgaben und Prüfungen zu<br />
schaffen. Die Nachhilfequote in der 8. und<br />
9. Klasse ist innerhalb von drei Jahren von<br />
knapp 30 auf 34 Prozent angestiegen,<br />
wie der Bildungsforscher Stefan Wolter<br />
in einem Interview mit der «Sonntags<br />
Zeitung» sagte. Insgesamt 63 000<br />
Jugendliche müssen nach Unterrichtsschluss<br />
die Schulbank drücken. Das<br />
schaffen aber nur Gutverdienende: Für<br />
das Notendoping auf der Oberstufe<br />
blättern Eltern in der Schweiz pro Jahr<br />
«100 bis 300 Millionen Franken» hin,<br />
schätzt Bildungsexperte Wolter.<br />
Das möchte ich natürlich vermeiden.<br />
Ich habe aber Kollegen, die arbeiten viel<br />
länger an den Aufgaben als ich. Eine<br />
Schule ohne Aufgaben fänd ich natürlich<br />
klasse, obwohl ich damit keine Probleme<br />
habe.»<br />
Das sagt seine Mutter: «Ich bin<br />
unglaublich stolz, wie selbständig<br />
Fernando seine Hausaufgaben erledigt.<br />
Er will auf keinen Fall, dass ich mich einmische<br />
oder ihn gar kontrolliere. Daran<br />
halte ich mich. Nur wenn er zwei oder<br />
drei Wochen mal gar nichts von Aufgaben<br />
oder einem Test erzählt, hake ich nach.<br />
Und Französischwörter, die darf ich ihn<br />
auch abfragen. Wenn ich so zurückdenke,<br />
habe ich eigentlich nie kontrolliert. Als<br />
er jünger war, fragte ich dann und wann<br />
mal nach, aber nie extrem und schon<br />
gar nicht täglich. Ich finde auch, dass er<br />
genug Zeit hat, um zu spielen und rauszugehen.»<br />
>>> schaffen, hiesse folglich, den<br />
Unterricht grundlegend zu<br />
ändern. Dazu seien viele nicht<br />
bereit.<br />
Personalisierte Hausaufgaben<br />
Entscheidend ist auch die Qualität.<br />
Laut Ulrich Trautwein von der Universität<br />
Tübingen ist sie ein entscheidender<br />
Faktor für die Lern- und<br />
Schulkarriere. In Mathematik etwa<br />
falle der Lernerfolg höher aus, wenn<br />
die Lehrpersonen sich auch für den<br />
Lösungsweg interessierten, selbst<br />
wenn dieser Fehler aufweise. Denselben<br />
Effekt erzielt man, wenn<br />
Schüler bei Hausaufgaben über<br />
etwas Neues nachdenken müssen.<br />
Und Schüler gaben an, vom Nutzen<br />
der Hausaufgaben überzeugt zu sein,<br />
wenn diese ihrer Meinung nach gut<br />
vorbereitet und in den Unterricht<br />
integriert sind. Das bedeutet in der<br />
heutigen Schülerwelt vor allem eins:<br />
Individualisierung. «Hausaufgaben<br />
müssten personalisiert werden. Die<br />
Lehrer sollen die Schüler dort abholen,<br />
wo sie gerade sind», sagt Christoph<br />
Schmid, Professor an der Pädagogischen<br />
Hochschule Zürich.<br />
Denn Schüler würden manchmal in<br />
Sachen Selbständigkeit und -disziplin<br />
überschätzt. «Dabei ist der Sinn<br />
der Hausaufgaben ja, dass die Kinder<br />
Vertrauen in ihr Können gewinnen<br />
und Erfolgserlebnisse haben.»<br />
Das ist in manchen Schulen<br />
schon Alltag. Die deutsche Gesamtschule<br />
Barmen in Wuppertal erhielt<br />
2015 den Deutschen Schulpreis, weil<br />
sie möglich macht, «dass alle an ihr<br />
Ziel kommen», wie es in der Laudatio<br />
hiess. Dort dauert die Schulstunde<br />
60 statt 45 Minuten. Haus- >>><br />
Der Sinn von Hausaufgaben<br />
ist, dass Kinder Vertrauen<br />
in ihr Können gewinnen.<br />
29
Dossier<br />
Aufgaben in den<br />
Unterricht<br />
einbauen hiesse,<br />
dass daheim nur<br />
noch für Tests<br />
gelernt würde.<br />
3 Fragen<br />
an Achim Arn, der in Wil SG mit<br />
seiner Kollegin Darinka Egli eine<br />
altersgemischte, integrative<br />
Unterstufen klasse unterrichtet. Bei<br />
ihnen bestimmen die Schülerinnen<br />
und Schüler die Menge und das<br />
Niveau der Hausaufgaben selbst.<br />
«Hausaufgaben<br />
sollen Freude<br />
machen»<br />
Herr Arn, wie sieht das Hausaufgabenkonzept<br />
Ihrer Klasse aus?<br />
Erstens: Das Kind muss die Hausaufgabe<br />
wollen! Die Motivation liegt also beim<br />
Kind. Zweitens: Es muss sich darin kompetent<br />
fühlen, es muss sich das, was es<br />
zu Hause arbeiten soll, vorstellen können<br />
und sich darin sicher fühlen. Drittens: Die<br />
Hausaufgaben entstehen aus dem, was<br />
im Unterricht entsteht, und fliessen auch<br />
da wieder hinein. Viertens soll das Kind<br />
Anerkennung erhalten. Es bekommt ein<br />
Feedback zu dem, was es erarbeitet hat.<br />
Die Schüler erhalten von uns also nichts<br />
aufgebrummt, sondern das Angebot, etwas<br />
Sinnvolles für sich zu arbeiten. Die Hausaufgaben<br />
sollen ihnen Freude machen!<br />
Wie sieht das in der Praxis aus?<br />
Um jedem Kind in seiner Einzigartigkeit<br />
gerecht zu werden, arbeiten wir ohne<br />
Lehrmittel und Arbeitsblätter. Die Kinder<br />
haben dafür leere Hefte, die sie selbst mit<br />
ihren Arbeiten füllen. Jedes Heft ist so<br />
einmalig, wie die Kinder es selbst sind. In<br />
diese Hefte kommen auch die Hausaufgaben.<br />
Natürlich sollen und müssen diese<br />
zum einzelnen Kind passen. Das heisst zum<br />
Beispiel, dass sie uns nach dem gemeinsamen<br />
Plus-Rechnen fragen, ob wir ihnen<br />
noch Aufgaben ins Heft schreiben könnten.<br />
Meist sagen sie uns auch genau, wie diese<br />
auszusehen haben und wie viele sie wollen.<br />
Das ist zwar aufwendig, lohnt sich aber. Wir<br />
sind gerade dabei, die «vier Elemente» zu<br />
erforschen. Da liegt es nahe, die Kinder zu<br />
ermutigen, die Experimente aus der Schule<br />
mit ihren Eltern zu Hause zu wiederholen<br />
und ihnen alles zu erklären. Das macht<br />
allen Spass und alle lernen etwas dabei!<br />
Wie gehen die Eltern damit um?<br />
Ich glaube, alle finden es gut! Natürlich ist<br />
es für die Eltern am Anfang etwas ungewohnt.<br />
Doch das ändert sich rasch: Sie<br />
sehen, wie fleissig ihre Kinder in der Schule<br />
und je nach Situation auch zu Hause<br />
arbeiten. Dazu sehen sie die Lernerfolge<br />
der Kinder. So wächst das Vertrauen, dass<br />
man mit Freude mehr lernt als mit Angst<br />
und Druck. Viele Eltern finden es auch sehr<br />
entlastend, weil unsere Hausaufgaben<br />
keinen Familienstress produzieren. Denn<br />
die Kinder wählen ihre Hausaufgaben sehr<br />
bewusst. Hat ein Kind an einem Abend noch<br />
Training oder sonst Programm, hält es sich<br />
zurück. An einem regnerischen Mittwoch<br />
nehmen dann deutlich mehr Kinder etwas<br />
zum Arbeiten nach Hause. Auf jeden Fall<br />
erzählen uns die Eltern immer wieder, dass<br />
die Kinder ihre Hausaufgaben von sich aus<br />
anpacken und sie sehr selbständig lösen<br />
können. Das muss auch so sein, denn wir<br />
schreiben und entwickeln die Aufgaben ja<br />
nicht für die Eltern!<br />
Weitere Informationen über Darinka Eglis<br />
und Achim Arns Klasse, das Schulhaus<br />
Prisma und dessen Schulkonzept:<br />
www.prisma-wil.ch<br />
30 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
>>> aufgaben sind Arbeitsstunden,<br />
nicht drangehängt an den Unterricht,<br />
sondern um 10.30 Uhr, zweibis<br />
dreimal pro Woche. Die Aufgaben,<br />
die die Schüler lösen müssen,<br />
sind massgeschneidert. Sind sie<br />
erledigt, gibts ein Kreuz ins Schülerlogbuch.<br />
Die Eltern unterschreiben<br />
dieses Büchlein jede Woche und<br />
erfahren so, welche Fortschritte ihr<br />
Kind macht.<br />
In einer Schule im Aargau haben<br />
Lehrpersonen klassendurchmischte<br />
Unterrichtseinheiten und fix in den<br />
Stundenplan integrierte Lernatelierstunden<br />
eingebaut, in denen Schüler<br />
an ihren Aufträgen arbeiten. Zu<br />
Hause sollte nur Zeit für die Prüfungsvorbereitung<br />
bleiben.<br />
Und in einer Primarschule in Wil<br />
SG hat ein Klassenteam gar ein eigenes<br />
Hausaufgabenkonzept erarbeitet.<br />
Die Lehrpersonen geben den<br />
Schülern nur Aufgaben, wenn diese<br />
es wollen; zudem nur solche, die in<br />
den Unterricht integriert sind, und<br />
nur solche, in denen sich der Schüler<br />
kompetent fühlt. Will das Kind keine<br />
Hausaufgaben, bekommt es auch<br />
keine. Das Resultat: Sehr viele Kinder<br />
kommen und fragen selbst nach<br />
zusätzlichen Aufgaben.<br />
>>><br />
Claudia Landolt<br />
ist mit pflichtbewussten Kindern gesegnet,<br />
zumindest in Sachen Hausaufgaben. Dass<br />
es auch anders sein kann, bekommt sie mit,<br />
wenn ihre Kids mit ihren Kollegen Facetime-<br />
Konferenzen und Chatorgien betreiben oder<br />
sich über Ufzgi-Jobsharing unterhalten.<br />
Buchtipps<br />
Don Dinkmeyer, Gary D. McKay: STEP –<br />
Das Elternbuch. Beltz-Verlag, 2012,<br />
um 18 Fr.<br />
Armin Himmelrath: Hausaufgaben, nein<br />
danke! Warum wir uns so bald wie möglich<br />
von den Hausaufgaben verabschieden<br />
sollten. hep-Verlag, 2015, um 16 Fr.<br />
Links<br />
• www.step-online.ch<br />
• www.schuelerrechte.ch<br />
• www.sgb.ch > Lehrlings- und<br />
Jugendrechte<br />
Veranstaltungen<br />
Hausaufgaben, ein alter Zopf, der<br />
abgeschnitten gehört? Podiumsdiskussion<br />
am Campus PH Zürich, 12. Juni <strong>2017</strong>, 18 bis<br />
20 Uhr, u. a. mit Fabian Grolimund,<br />
Akademie für Lerncoaching.<br />
www.phzh.ch > Weiterbildung<br />
Damit die Natur ihre Freiräume<br />
behält: Wir unterstützen<br />
den Wildnispark Zürich.<br />
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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi April <strong>2017</strong>31
Dossier<br />
«Hausaufgaben sind reine<br />
Zeitverschwendung»<br />
Der deutsche Lehrer und Journalist Armin Himmelrath hat sich jahrelang mit<br />
dem Thema Hausaufgaben beschäftigt und wissenschaftliche Grundlagen aus<br />
über 500 Jahren untersucht. Seine Bilanz ist vernichtend. Interview: Claudia Landolt<br />
«Die Studienlage<br />
ist eindeutig:<br />
Hausaufgaben haben<br />
keinen Bildungswert.»<br />
Herr Himmelrath, Sie lehnen Hausaufgaben<br />
ab. Warum?<br />
Es gibt über 500 Jahre alte Schulverordnungen,<br />
die sich mit dem Thema<br />
Privatarbeit befassen, denn so hiessen<br />
Hausaufgaben damals. In diesen<br />
wird davon ausgegangen, dass zusätzliches<br />
Lernen etwas bringt. Also<br />
habe ich mir die Wissenschaft angeschaut,<br />
die sich in den vergangenen<br />
130 Jahren mit dem Thema auseinandergesetzt<br />
hat. Dabei habe ich<br />
etwas Erstaunliches festgestellt: Es<br />
gibt keine einzige Studie, welche die<br />
Wirksamkeit von Hausaufgaben<br />
belegt.<br />
Keine einzige? Kaum zu glauben.<br />
Dachte ich auch. Also hab ich weitergeforscht,<br />
auch international.<br />
Und herausgefunden: Es gibt wirklich<br />
nur ganz, ganz dünne Zusammenhänge<br />
zwischen Hausaufgaben<br />
und Lernerfolg, die manchmal hergestellt<br />
werden. Aber diese sind<br />
keinesfalls so zu bewerten, dass<br />
Hausaufgaben per se einen Bildungswert<br />
oder einen Zuwachs an<br />
Kenntnissen bei Schülern bewirkten.<br />
Bereits in den 1960er-Jahren<br />
belegte der Erziehungswissenschaftler<br />
Bernhard Wittmann, dass nach<br />
einem viermonatigen Versuch bei<br />
Drittklässlern, Hausaufgaben wegzulassen,<br />
diese nicht schlechter<br />
waren im Rechtschreiben als solche,<br />
die Aufgaben erhalten hatten. Dasselbe<br />
galt für das Fach Mathematik.<br />
Dennoch sind Hausaufgaben in der<br />
Schule Standard. Woran liegt das?<br />
Nun ja, Eltern wird seit Jahrhunderten<br />
eingetrichtert – und die meisten<br />
von ihnen haben es selbst auch so<br />
erlebt –, dass das häusliche Lernen<br />
am Nachmittag und Abend irgendwie<br />
der Reifung und Bildung der<br />
Kinder dient. Wir alle sind mit<br />
Hausaufgaben sozialisiert worden.<br />
Auch wird geglaubt, dass Hausaufgaben<br />
irgendwie eine erzieherische<br />
Wirkung haben. Nur der Nachweis<br />
dazu fehlt.<br />
Eltern hören immer wieder, wie wichtig<br />
Hausaufgaben seien als Repeti tion<br />
des behandelten Stoffes oder auch<br />
zur Entwicklung der Selbständigkeit.<br />
Ja, bloss fehlen die Beweise dazu.<br />
Beim genaueren Hinsehen merkt<br />
man, wie schwammig diese Formulierungen<br />
letztlich sind. Sie beschwören<br />
nichts anderes als die Festigung<br />
des Erlernten, ohne dass es Belege<br />
dafür gibt. Dennoch gehören für<br />
sehr viele Menschen unter uns<br />
Hausaufgaben einfach irgendwie<br />
dazu. Sie sind im kollektiven<br />
Gedächtnis der Menschen so verankert,<br />
dass jeder denkt, das müsse so<br />
sein. Und auch Eltern gingen mal<br />
zur Schule, und die sagen dann, die<br />
eigene Hausaufgabenzeit habe ja<br />
wohl niemandem geschadet. Das ist<br />
dann so etwas wie ein Totschlagargument.<br />
Um es noch drastischer<br />
auszudrücken: Ein Mediziner oder<br />
ein Physiker, der stolz sagt, er benutze<br />
noch die Methoden von vor 50<br />
oder 100 Jahren, hätte sich sofort<br />
selbst disqualifiziert. In der Pädagogik<br />
aber, beim Thema Hausaufgaben,<br />
ist das ein ganz normales Argument.<br />
Wie sind Sie denn überhaupt auf das<br />
Thema gekommen?<br />
Irgendwann in meiner Zeit als Bildungsjournalist<br />
habe ich festgestellt,<br />
dass es eben nicht so ist, dass zusätzliche<br />
Lernzeit in Form von Hausaufgaben<br />
auch zusätzlichen Lernerfolg<br />
bringt. Und wenn man dann wirklich<br />
genauer hinguckt und Studien<br />
anschaut, wo Kinder, die mehrere<br />
Jahre keine Hausaufgaben hatten,<br />
mit Kindern verglichen wurden, die<br />
mehrere Jahre Hausaufgaben ma <br />
chen mussten, so stellt man fest: Es<br />
gibt keine Lernunterschiede. Der<br />
einzige Unterschied ist: Die Kinder<br />
ohne Hausaufgaben waren motivierter.<br />
Hausaufgaben sind oft Stoff für Konflikte<br />
in der Familie.<br />
Absolut. Hausaufgaben verursachen<br />
mehr Probleme als Lösungen, das<br />
sagen sogar Lehrer und Studenten<br />
im Lehramt in Internetforen. Schon<br />
1982 urteilte ein deutscher Lehrer<br />
aus Flensburg, Hausaufgaben seien<br />
bloss mit einem «Riesenaufwand<br />
32 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
etriebene, sinnlose Handgelenksübungen<br />
der Kinder». Sehr, sehr<br />
viele Eltern beklagen die Belastung<br />
durch die Hausaufgaben und beschreiben<br />
den Streit, der ins Familienleben<br />
hineingetragen wird.<br />
Eltern ärgern sich auch über die<br />
Disziplinierungsmassnahmen, zu<br />
denen sie sich gezwungen fühlen,<br />
damit die Kinder die Aufgaben erledigen.<br />
Das einzig Positive, das sie<br />
den Hausaufgaben abgewinnen<br />
können, ist, dass sie den Eindruck<br />
haben, damit noch ein wenig im<br />
Bilde zu sein, was ihr Kind in der<br />
Schule gerade so lernt.<br />
Wie war das bei Ihnen? Sie haben drei<br />
Kinder zwischen 17 und 21 Jahren,<br />
also reiche Hausaufgabenerfahrung.<br />
Anfangs war ich total unkritisch. Ich<br />
dachte, Hausaufgaben seien einfach<br />
ein Teil der Schulperformance. Und<br />
anfänglich machen die Kinder die<br />
Hausaufgaben ja auch sehr gern,<br />
freuen sich darauf. Hausaufgaben<br />
zu haben, macht sie auch ein bisschen<br />
stolz. Aber Kinder sind sehr<br />
unterschiedlich. Mein ältester Sohn<br />
ist sehr zielorientiert, bei ihm gab es<br />
wegen Hausaufgaben nie viel Stress.<br />
Ganz anders mein zweiter Sohn, bei<br />
dem funktionierte die logische<br />
Argumentationskette ganz und gar<br />
nicht. Er ist der Typ, der gern das<br />
lernt, was ihn interessiert, ist also<br />
intrinsisch motiviert. Alles andere<br />
ist schwierig, und Druck erzeugt bei<br />
ihm nur das Gegenteil. Ich verbrachte<br />
insgesamt Jahre, in denen meine<br />
Kinder widerwillig am Küchentisch<br />
sassen und mich mit ihrer Lustlosigkeit<br />
zur Verzweiflung brachten.<br />
Irgendwann begann ich zu zweifeln:<br />
Muss das denn sein? So begann ich<br />
zu recherchieren.<br />
Immer häufiger liest man von Schulen,<br />
die Hausaufgaben bestreiken<br />
oder ganz abgeschafft wollen. Kommt<br />
jetzt die Wende?<br />
Wir befinden uns in einem vielfältigen<br />
Transformationsprozess. Es ist<br />
gut, dass Debatten darüber laufen.<br />
Die Gesellschaft, in der wir uns<br />
bewegen, ist individualistisch, die<br />
Arbeitswelt setzt auf Diversität, und<br />
in der Schule hat individuelles Lernen<br />
längst Einzug gehalten. Doch<br />
können wir in diesen individualistischen<br />
Zeiten mit heterogenen<br />
Klassen wirklich 25 Kindern dieselben<br />
Hausaufgaben geben, dieselben<br />
Prüfungsfragen stellen, die gleichen<br />
Lernziele setzen? Darüber müssen<br />
sich Pädagogen Gedanken machen.<br />
Die Politik nicht?<br />
Das erachte ich zumindest in<br />
Deutschland als aussichtslos, denn<br />
hier ist Schulpolitik Länderpolitik<br />
und ein letztes Feld für Eigenständigkeit,<br />
da mischt sich der Bund<br />
nicht ein. Aber ich bin überzeugt,<br />
dass man dieses System unterwandern<br />
und eine kleine Revolte anzetteln<br />
kann, ohne dass gleich die Politik<br />
mitmischt.<br />
Sie fordern, dass Lehrer der Hausaufgabendoktrin<br />
entgegentreten?<br />
Ja. Viele Lehrer sind sich bewusst,<br />
dass die eigene Hausaufgabenpraxis<br />
zwar nicht den Worten, wohl aber<br />
dem Sinn der gesetzlichen Vorgaben<br />
widerspricht. Das ist oft der Anlass,<br />
über kleinere Veränderungen im<br />
Schulalltag nachzudenken.<br />
Wie könnten solche Veränderungen<br />
aussehen?<br />
In einem ersten Schritt mit dem<br />
Lehrerkollegium schauen, wer wann<br />
wie viele Hausaufgaben erteilt. Oder<br />
mit den Schülern darüber diskutieren,<br />
wie sie das Thema Hausaufgaben<br />
empfinden. In einem zweiten<br />
Schritt die Hausaufgaben reduzieren.<br />
Das kann sein, nur noch an<br />
einem oder zwei Tagen Hausaufgaben<br />
vorzusehen. In einem dritten<br />
Schritt könnten Lehrer aus Hausaufgaben<br />
Schulaufgaben machen.<br />
Also individuelle Lernzeiten in den<br />
Schulstunden einplanen. Manche<br />
nennen diese auch Trainings- oder<br />
Arbeitsstunden. Darin werden<br />
Schülern gemäss ihrem Leistungsniveau<br />
individuelle Aufgaben gegeben,<br />
die sie im Unterricht erledigen<br />
– selbständig, aber eben unter professioneller<br />
Supervision der anwesenden<br />
Pädagogen.<br />
«Es ist nie zu spät für<br />
eine besssere Schule.<br />
Das Ende der Hausaufgaben<br />
könnte ein Anfang sein.»<br />
Wie könnten solche Aufgabenstunden<br />
aussehen?<br />
Es könnte einen Aufgabenpool<br />
geben, aus dem sich die Schüler<br />
bedienen. Sie können diese Aufgaben<br />
dann in der Klasse so lösen, wie<br />
es ihrer Lernstruktur entspricht:<br />
manche alleine in Stillarbeit, andere<br />
im Team mit anderen Kindern, wieder<br />
andere holen sich vielleicht Hilfe<br />
beim Lehrer. Der zweite wichtige<br />
Punkt ist ein gutes Feedback – und<br />
das muss individuell sein, also wirklich<br />
auf jeden einzelnen Schüler<br />
eingehen. Man merkt schon: Das<br />
kostet richtig viel Zeit, da müssen<br />
der Unterricht und die ganze Schule<br />
komplett neu organisiert werden.<br />
Das bedingt ein radikales Umdenken.<br />
Ja, aber es ist auch eine grosse Chance.<br />
Es ist nie zu spät für eine bessere<br />
Schule. Das Ende der Hausaufgaben<br />
könnte ein Anfang sein. Das Ende<br />
der Hausaufgaben würde nicht nur<br />
zu glücklicheren Schülern führen,<br />
es gäbe auch stressfreiere Lehrer und<br />
Eltern.<br />
Zur Person<br />
Armin Himmelrath, 50, ist freier<br />
Bildungs- und Wissenschaftsjournalist und<br />
Moderator. Nach seinem Lehramtsstudium<br />
in Deutschland arbeitet er heute u. a. für den<br />
«Spiegel», SpiegelOnline, Deutschlandradio<br />
und den WDR. Ausserdem unterrichtet<br />
er als Lehrbeauftragter an mehreren<br />
Universitäten und hat zahlreiche Bücher<br />
zu Bildungsthemen verfasst. Er hat drei<br />
Kinder und lebt in Köln.<br />
Fortsetzung des Dossiers auf Seite 36 >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>33
Liebe Mütter,<br />
wünscht euch das perfekte<br />
Muttertagsgeschenk!<br />
Machen Sie es Ihren Liebsten dieses Jahr einfach und wünschen<br />
Sie sich zum Muttertag etwas wirklich Sinnvolles: Eine Spende<br />
in Ihrem Namen ermöglicht es der Stiftung Elternsein, Familien<br />
in der Schweiz gezielt zu unterstützen.<br />
Am 14. Mai ist Muttertag. Zeit für<br />
eine ernst gemeinte Liebeserklärung<br />
an den «Fels in der Brandung des<br />
Familienalltags» – und Zeit, dem<br />
besten Mami der Welt Danke zu<br />
sagen. Wünschen Sie sich von Ihren<br />
Liebsten dieses Jahr ein Geschenk,<br />
das nicht nur Ihnen Freude macht,<br />
sondern auch wichtig und sinnvoll<br />
ist – eine Spende an die Stiftung<br />
Elternsein. Die finanzielle Zuwendung<br />
in Ihrem Namen erlaubt es der<br />
Stiftung, die vielfältigen Aktivitäten<br />
zur Unterstützung von Eltern schulpflichtiger<br />
Kinder fortzuführen und<br />
weiter auszubauen. Zum Beispiel<br />
mit einer Kampagne gegen Cybermobbing,<br />
die in den kommenden<br />
Wochen lanciert wird. Wir finden,<br />
ein schöneres Geschenk kann man<br />
einer Mutter gar nicht machen!
Liebe Mutter<br />
Stiftung Elternsein<br />
Die Stiftung Elternsein begleitet Eltern<br />
von schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen.<br />
Ziel der unabhängigen Stiftung<br />
ist es, zu sensibilisieren, aufzuklären und<br />
zu informieren – mit aktuellen Beiträgen<br />
aus den Themenkreisen Familie, Erziehung<br />
und Schule.<br />
Weil es für den anspruchsvollsten Job der Welt keine<br />
Ausbildung gibt, unterstützt die 2001 gegründete<br />
Stiftung Eltern mit lösungsorientierten, praktisch<br />
anwendbaren Antworten auf Erziehungs- und Bildungsfragen.<br />
Die Stiftung Elternsein nimmt sich<br />
der Sorgen und Unsicherheiten von Eltern an und<br />
fördert gleichzeitig den gesellschaftlichen Dialog.<br />
Als Herausgeberin des «Schweizer ElternMagazins<br />
Fritz+Fränzi» führt die Stiftung Informations- und<br />
Sensibilisierungskampagnen durch und bietet ratsuchenden<br />
Eltern zudem zahlreiche Kurzfilme zu<br />
relevanten Themen wie Konfliktlösung, Medienkonsum,<br />
Schulangst, Depression und der Stärkung der<br />
Sozialkompetenzen.<br />
www.elternsein.ch<br />
Unser «Dankeschön» für jede Spende:<br />
eine Karte für die beste Mutter der Welt.<br />
Danke für alles,<br />
liebe Mutter!<br />
Mit Ihrer Spende zeigen Sie der besten Mutter der Welt, dass<br />
Ihnen auch das Wohlergehen anderer Familien am Herzen liegt.<br />
Nutzen Sie den freien Platz für eine persönliche Widmung!<br />
Versand nach Spendeneingang. Wenns pressiert, kann die Karte auch<br />
per E-Mail (katja.schaffner@elternsein.ch) angefordert werden.<br />
Die Spende in Deinem Namen an die Stiftung Elternsein kommt<br />
Müttern, Vätern – vor allem aber Kindern in der Schweiz zugute.<br />
Sie alle danken Dir dafür von ganzem Herzen!
Dossier<br />
«Was habe ich als Lehrer<br />
nur angerichtet?»<br />
Hausaufgaben sorgen in vielen Familien regelmässig für Streit und rote Köpfe.<br />
Unser Kolumnist ist Seklehrer und weiss, wie eine gute Hausaufgabenpraxis<br />
aussieht. Und wie Dramen abgewendet werden können. Text: Samuel Zingg<br />
Ich bin perplex. Wieso hält<br />
sich der Schüler nicht an<br />
meine Anweisungen? Was<br />
habe ich nur angerichtet?<br />
Es ist Montagvormittag,<br />
ich sitze in einem Elterngespräch,<br />
nach vier Lektionen Unterricht. Am<br />
Tag zuvor, am Sonntagabend, er <br />
reichte mich um 17 Uhr der Anruf<br />
einer aufgebrachten Mutter: «Das<br />
kann so nicht weitergehen!», teilte<br />
sie mir am Telefon mit. Sie habe<br />
nach dreieinhalb Stunden Mathehausaufgaben<br />
die «Reissleine» gezogen<br />
und dem Sohn die Mathematiksachen<br />
weggenommen.<br />
Dramen wegen Hausaufgaben<br />
kommen leider viel zu oft vor.<br />
Eltern streiten mit ihren Kindern,<br />
drohen ihnen mit Fernsehverbot<br />
und Handyentzug. Oder die ganze<br />
Familie brütet stundenlang über<br />
scheinbar unlösbaren Hausaufgaben.<br />
Auch das Gegenteil gibt es:<br />
«Niemand» interessiert sich daheim<br />
für die Hausaufgaben – da meldet<br />
sich dann die Schule bei den Erziehungsberechtigten.<br />
Wir Lehrpersonen<br />
erfahren von diesen Dramen<br />
oft erst, wenn die Situation bereits<br />
verfahren ist. Oftmals weitet sich<br />
dann das Drama von zu Hause am<br />
Familientisch zu einem Streitgespräch<br />
mit den zuständigen Lehrpersonen<br />
aus.<br />
Nun sitze ich also mit Mutter<br />
und Sohn an diesem Gespräch. Die<br />
Mutter schildert, dass ihr Sohn in<br />
der vergangenen Woche «nur für<br />
Ihre Matheaufgaben, Herr Zingg»,<br />
zehn Stunden aufgewendet habe.<br />
Sie ist sehr erbost, und ich verstehe<br />
die Welt nicht mehr. Ich war der<br />
Ansicht, ich hätte Hausaufgaben für<br />
etwa 20 Minuten gegeben. Was<br />
stimmt hier nicht?<br />
Als Lehrperson auf der Sekundarstufe<br />
I mache ich mir sehr wohl<br />
Gedanken, wie viele und vor allem<br />
welche Art Hausaufgaben ich den<br />
Lernenden erteile. Aus meiner eigenen<br />
Schulzeit kenne ich noch das<br />
«Fertigmachen» von Aufgaben, das<br />
«Aufholen». Heute weiss man aus<br />
verschiedenen Forschungsarbeiten,<br />
dass diese Hausaufgaben keinen<br />
Gute Hausaufgaben sind<br />
abwechslungsreich, attraktiv und<br />
können selbständig gelöst werden.<br />
Lernzuwachs bewirken, sondern<br />
die Schüler und Schülerinnen eher<br />
demotivieren.<br />
Eine gute Hausaufgabenpraxis<br />
sieht wie folgt aus:<br />
• Hausaufgaben sollen von den<br />
Jugendlichen selbständig gelöst<br />
werden können.<br />
• Übungsaufgaben dürfen vorkommen,<br />
sollten aber eher die<br />
Ausnahme bilden.<br />
• Kluge Aufgaben sind abwechslungsreich,<br />
attraktiv, handlungsorientiert<br />
und werden selbständig<br />
verstanden. Dann braucht es<br />
weniger, um den gleichen Lernzuwachs<br />
zu erreichen.<br />
• Quantitativ sollte man lieber re <br />
gelmässig wenige als punktuell<br />
viele Hausaufgaben geben.<br />
• Damit Hausaufgaben bedeutsam<br />
und lernwirksam werden können,<br />
soll regelmässig individuelles,<br />
förderorientiertes Feedback<br />
zu den Hausaufgaben erfolgen.<br />
Um auf das Elterngespräch zurückzukommen:<br />
Welcher Art waren die<br />
besagten Hausaufgaben, die das<br />
Drama ausgelöst haben?<br />
Bei mir sollen die Schülerinnen<br />
und Schüler nicht mehr als 20<br />
Minuten Hausaufgaben pro Tag für<br />
Mathe ma chen. Trotzdem hat dieser<br />
Schüler länger daran gearbeitet.<br />
Wieso? Weil er ehrgeizig ist und es<br />
unbedingt perfekt machen will. Das<br />
ist lobenswert, aber ich möchte das<br />
nicht.<br />
36 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Ich habe also der Mutter den Auftrag<br />
gegeben, die Hausaufgaben nach<br />
spätestens 30 Minuten abzubrechen.<br />
Wenn die Aufgaben in dieser Zeit<br />
nicht erledigt werden können, liegt<br />
der Fehler bei mir, weil ich mich<br />
unklar ausgedrückt oder eine für<br />
den Schüler zurzeit noch nicht lösbare<br />
Hausaufgabe aufgegeben habe.<br />
Die Mutter war erleichtert. Weitere<br />
Dramen konnten abgewendet werden.<br />
Zwar macht der Schüler noch<br />
heute manchmal während mehr als<br />
30 Minuten Hausaufgaben, aber die<br />
Situation hat sich deutlich gebessert.<br />
Dann und wann ist er sogar bereits<br />
nach 15 Minuten fertig.<br />
Was erwarte ich als Lehrperson<br />
generell von den Eltern in Sachen<br />
Hausaufgaben? Es hat sich gezeigt,<br />
dass Interesse ohne dauernde Kontrolle<br />
förderlich ist. Ich wünsche<br />
mir, dass Eltern bei ihren Sprösslingen<br />
nachfragen, auch mal in ein<br />
Heft schauen und mit ihrem Kind<br />
darüber sprechen, woran es gerade<br />
arbeitet. Sie sollen ihre Hilfe anbieten,<br />
nicht fachliche, sondern organisatorische<br />
Hilfe, und vor allem ein<br />
ruhiges Umfeld schaffen, sodass ihr<br />
Kind konzentriert und somit speditiv<br />
lernen und arbeiten kann. Und<br />
nicht zuletzt erwarte ich von den<br />
Eltern, dass sie mich kontaktieren,<br />
wenn es Probleme mit den Hausaufgaben<br />
oder der Schule gibt.<br />
Man stelle sich vor, die Mutter<br />
hätte sich nicht gemeldet. Der Schüler<br />
wäre in der Folge immer frustrierter<br />
geworden, seine Leistungen<br />
wären wahrscheinlich gesunken.<br />
Als Lehrperson hätte ich dann<br />
immer mehr nachgefragt und<br />
schliesslich, nach einem Monat<br />
oder zwei, die Eltern zu einem<br />
Gespräch eingeladen, weil ihr Sohn<br />
ungenügende Leistungen erbracht<br />
hätte. Dieses Elterngespräch wäre<br />
dann mit Sicherheit für alle unangenehmer<br />
ausgefallen. Da bin ich<br />
gerne bereit, mehrere Elterngespräche<br />
wie das eben geschilderte zu<br />
führen. Deshalb, liebe Eltern, kontaktieren<br />
Sie uns Lehrpersonen bei<br />
Fragen oder Problemen frühzeitig<br />
– es hilft allen Beteiligten.<br />
Als Lehrperson habe ich aber<br />
nicht nur Erwartungen an Eltern,<br />
sondern auch an Schulen und<br />
Gemeinden. Es gibt Schülerinnen<br />
und Schüler, welche nach der<br />
Unterrichtszeit alleine zu Hause<br />
sind. Ihre Betreuungspersonen<br />
arbeiten noch oder schlafen, da sie<br />
in einem Schichtbetrieb arbeiten.<br />
Diese Jugendlichen können die<br />
Hausaufgabensituation oftmals<br />
nicht alleine bewältigen. Für diese<br />
Kindern, die nach der<br />
Schule allein zu Hause sind,<br />
sollte nach dem Unterricht<br />
eine kostenlose Betreuung<br />
zur Verfügung stehen.<br />
Fälle soll die Schule eine kostenlose<br />
Betreuung nach Unterrichtsschluss<br />
zur Verfügung stellen. So können<br />
die Kompetenzen, welche wir mit<br />
den Hausaufgaben fördern möchten,<br />
erfolgreich trainiert werden,<br />
und die Chancengleichheit ist bestmöglich<br />
gewährt.<br />
Samuel Zingg<br />
ist Lehrperson an der Sekundarstufe I in<br />
Buchholz GL und Mitglied der<br />
Geschäftsleitung des LCH. Der Vater einer<br />
vierjährigen Tochter und eines zweijährigen<br />
Sohnes wohnt in Mollis GL.<br />
Im nächsten Heft:<br />
Väter<br />
Bild: iStockphoto<br />
Bin ich ein guter Vater? Welche Werte möchte ich<br />
meinem Kind vermitteln? Und werde ich den grossen<br />
Erwartungen an mich gerecht? Warum Väter<br />
für die Kindsentwicklung so wichtig sind. Und was<br />
sie so besonders macht – unser Dossier im Mai.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>37
Psychologie & Gesellschaft<br />
Übergewicht –<br />
wenn Essen krank macht<br />
Warum werden Kinder wie der zehnjährige Luca übergewichtig? Welches sind die Folgen einer<br />
Adipositas? Und was könnte Luca helfen? Text: Nadine Messerli-Bürgy und Simone Munsch<br />
Luca ist 10 Jahre alt und<br />
übergewichtig. Er leidet<br />
unter seinen Gewichtsproblemen<br />
und hat schon<br />
oft versucht, abzunehmen.<br />
Bisher ohne Erfolg. Oft wird er<br />
von seinen Mitschülern wegen seiner<br />
Gewichtsprobleme gehänselt.<br />
Der Bub fühlt sich daher häufig<br />
wertlos und wirkt traurig.<br />
Luca ist mit seinen Gewichtsproblemen<br />
nicht alleine. Nahezu jedes<br />
fünfte Kind in der Schweiz ist übergewichtig<br />
oder erreicht ein Gewicht,<br />
das im Verhältnis zu seiner Körpergrösse<br />
deutlich erhöht ist und damit<br />
für Fachpersonen in den Bereich der<br />
Adipositas fällt.<br />
Adipöse Kinder leiden häufig an<br />
depressiven Stimmungen und an<br />
vermehrten Ängsten. Angststörungen<br />
wie soziale Phobien, Trennungsängste,<br />
aber auch Depressionen sind<br />
keine Seltenheit. Fachpersonen<br />
gehen davon aus, dass sich Depressionen<br />
und Angstprobleme aufgrund<br />
der erhöhten psychischen<br />
Belastung durch die Adipositas und<br />
die damit einhergehende Stigmatisierung<br />
entwickeln können.<br />
Die Körperfülle macht das Ge <br />
wichtsproblem für die Mitmenschen<br />
sichtbar. So führen Hänseleien in<br />
der Schule, Ausgrenzung durch Mitschüler,<br />
Ausschluss von bestimmten<br />
Freizeitaktivitäten wie Sport, aber<br />
auch Einschränkungen im Alltag für<br />
das Kind zu einer ständigen Auseinandersetzung<br />
mit der Gewichtsproblematik.<br />
Die Sitze im Bus sind zu<br />
klein, die Schulbänke zu eng.<br />
Sich als Versager fühlen<br />
Diese Auseinandersetzung ist für ein<br />
adipöses Kind sehr belastend. Im<br />
Vergleich zu gleichaltrigen Normalgewichtigen<br />
sind solche negativen<br />
Erlebnisse bei übergewichtigen Kindern<br />
weitaus häufiger zu beobachten<br />
und damit die psychische Belastung<br />
höher. Die Folgen dieser Belastung<br />
sind ein geringer Selbstwert und ein<br />
negatives Bild der eigenen Person<br />
und des Körpers. Nicht selten entwickeln<br />
Kinder in der Folge Ängste<br />
oder depressive Verstimmungen.<br />
Stress und negative Gefühle<br />
bewältigen adipöse Kinder mit<br />
emotionalem Essen, was das<br />
Problem zusätzlich verstärkt.<br />
Kinder mit Ge wichtsproblemen<br />
nehmen sich oft als Versager wahr.<br />
Diäten beinhalten meist rigide Einschränkungen<br />
und sind somit selten<br />
über längere Zeit von Erfolg gekrönt.<br />
Solche wiederholten erfolglosen<br />
Diätversuche führen häufig dazu,<br />
dass adipöse Kinder sich als willenlos<br />
einschätzen und den Mut verlieren,<br />
sich mit ihren Gewichtsproblemen<br />
auseinanderzusetzen. Als Folge<br />
werten sich adipöse Kinder selbst ab,<br />
sind frustriert und haben Angst, sich<br />
mit Gleichaltrigen zu treffen.<br />
Dieser Rückzug begünstigt den<br />
«Teufelskreis», indem Frust und<br />
Enttäuschung zu emotionalem<br />
38 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Bild: iStockphoto<br />
Über essen führen. Emotionales<br />
Essen bei adipösen Kindern dient<br />
dazu, Stress oder negative Gefühle<br />
mit Essen zu bewältigen, was das<br />
Gewichtsproblem zusätzlich verstärkt.<br />
Einige adipöse Kinder neigen<br />
auch zu erhöhter Impulsivität und<br />
Hyperaktivität und haben Schwierigkeiten,<br />
zu kontrollieren, was und<br />
wie viel sie essen. Die Folge davon<br />
kann eine übermässige Kalorienzufuhr<br />
sein. Treten solche Essanfälle<br />
regelmässig auf und werden von<br />
Gefühlen des Kontrollverlusts sowie<br />
von starken Schuld- und Schamgefühlen<br />
begleitet, sollten weitere Hinweise<br />
auf eine zusätzliche Essstörung,<br />
die Binge-Eating-Störung BES,<br />
abgeklärt werden. BES ist eine Essstörung,<br />
bei der es immer wieder zu<br />
Heisshungeranfällen kommt.<br />
Die Gründe für Übergewicht sind<br />
vielschichtig<br />
Übergewicht und Adipositas entstehen<br />
durch eine erhöhte Energiezufuhr<br />
im Vergleich zum Energiever-<br />
brauch. Die überschüssige Energie,<br />
zugeführt durch Nahrungsmittel,<br />
wird im Körper in Fettdepots umgewandelt<br />
und gespeichert. Nebst der<br />
genetischen Veranlagung zur Fettspeicherung<br />
sowie einer erhöhten<br />
Ansprechbarkeit auf Nahrungsreize,<br />
die dadurch als besonders positiv<br />
empfunden werden, spielen Lernmechanismen<br />
im Umfeld und in der<br />
Familie der Kinder eine wichtige<br />
Rolle.<br />
So lernt ein Kind bereits von früh<br />
an am Modell der Bezugspersonen,<br />
welche Nahrungsmittel bevorzugt<br />
werden, welche Portionengrössen<br />
geschöpft werden oder wie schnell<br />
gegessen wird. Auch der Umgang<br />
der Eltern mit ihrem eigenen Körper<br />
und Gewicht spielt eine Rolle bei der<br />
Entwicklung und Aufrechterhaltung<br />
von Gewichtsproblemen der Kinder.<br />
So können stetige Gewichtssorgen<br />
der Eltern die Gewichtsprobleme<br />
von Kindern beeinflussen.<br />
Die ständige Beschäftigung mit<br />
Gewicht und Diät kann dazu führen,<br />
dass Kinder den natürlichen >>><br />
Welches Behandlungsprogramm<br />
ist bei Kindern erfolgreich?<br />
In der Schweiz bietet unter anderem der Schweizer<br />
Fachverband Adipositas im Kindes- und Jugenalter<br />
Informationen über Behandlungsprogramme für<br />
unterschiedliche Altersgruppen an, www.akj-ch.ch. Ein<br />
weiteres, auf seine fünfjährige Wirksamkeit geprüftes<br />
Behandlungsprogramm, Training für adipöse Kinder<br />
und deren Eltern, TAKE, liegt von Roth und Munsch<br />
(2010) vor. Es richtet sich an Kinder im Alter von<br />
acht bis zwölf Jahren und deren Eltern. Dabei werden<br />
die Eltern zu verschiedenen Themen der Gewichtsproblematik<br />
geschult.<br />
Ziel ist, den Eltern Informationen und Strategien<br />
zu vermitteln, um ihre Kinder bei der gesunden<br />
Ernährung und gutem Essverhalten sowie bei der<br />
Bewegungsförderung zu unterstützen. Des Weiteren<br />
sollen Eltern als wichtigste Trainer ihrer Kinder ausgebildet<br />
werden, wenn es darum geht, die psychische<br />
Belastung des Kindes zu vermindern. Themenbeispiele<br />
sind Umgang mit Hänseleien, Aufbauen des<br />
Selbstwertgefühls, bessere Akzeptanz des eigenen<br />
Körpers. Im Zentrum für Psychotherapie an der Universität<br />
Freiburg (www.unifr.ch/psychotherapie/de)<br />
wird TAKE je nach Alter des Kindes nur mit Eltern oder<br />
als Eltern-Kind-Programm durchgeführt. Bei älteren<br />
Kindern oder Jugendlichen werden entsprechende<br />
Inhalte direkt mit dem Jugendlichen erarbeitet.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>39
Psychologie & Gesellschaft<br />
Wenn Eltern sich zu wenig<br />
bewegen, tragen sie dazu bei,<br />
dass ihr Kind an Gewicht<br />
zunimmt.<br />
>>> Zugang zu Nahrungsmitteln<br />
verlieren.<br />
Weiter beeinflussen Stress in der<br />
Familie, wie beispielsweise die<br />
Krankheit eines Elternteils oder<br />
schwere Lebensereignisse, aber auch<br />
finanzielle Sorgen der Eltern den<br />
Umgang des Kindes mit Nahrung,<br />
Körper und Gewicht. Zudem spielt<br />
eine eingeschränkte Bewegungsaktivität<br />
eine wichtige Rolle bei der<br />
Entwicklung von Übergewicht und<br />
Adipositas.<br />
Geringe Möglichkeiten, sich frei<br />
zu bewegen, ein fehlender Zugang<br />
zu einem Spielplatz, Sportplatz oder<br />
offenem Gelände und bewegungsarme<br />
Freizeitaktivitäten der Eltern<br />
beeinflussen die Gewichtsproblematik<br />
des Kindes. Häufige sitzende<br />
Tätigkeiten wie Fernsehen, Lesen,<br />
Computerspiele und so weiter be <br />
günstigen die Gewichtszunahme<br />
ebenfalls.<br />
Unbehandeltes Übergewicht hat<br />
gesundheitliche Folgen<br />
Werden Übergewicht oder Adipositas<br />
nicht behandelt, kann das zu<br />
Beeinträchtigungen im psychischen<br />
und auch im körperlichen Bereich<br />
führen. Adipöse Kinder haben aufgrund<br />
häufiger Ausgrenzung ein<br />
höheres Risiko, Verhaltensauffällig<br />
Praktische Ausbildung<br />
Kleinkinderbetreuung<br />
Infos unter www.ibk-berufsbildung.ch<br />
Unsere<br />
Mediadaten:<br />
www.fritzundfraenzi.ch<br />
So lernen wir.<br />
– 5./6. Primarstufe<br />
– Sekundarstufe<br />
– 10. Schuljahr<br />
– Fachmittelschule<br />
Mitten<br />
in<br />
Zürich<br />
www.fesz.ch | <strong>04</strong>3 268 84 84<br />
Waldmannstr. 9 | 8001 Zürich
keiten zu entwickeln. Zudem weisen<br />
adipöse Kinder im Verlauf häufiger<br />
Depressionen und Angststörungen<br />
auf.<br />
Weiter steigt mit dem Gewichtsproblem<br />
das körperliche Gesundheitsrisiko.<br />
Adipöse Kinder leiden<br />
häufiger an Fettstoffwechselstörungen,<br />
Bluthochdruck, Diabetes Typ II<br />
oder am Schlaf-Apnoe-Syndrom<br />
(Beschwerdebild, das durch Atemstillstände,<br />
Apnoen, während des<br />
Schlafs verursacht wird).<br />
Die schweren psychischen und<br />
körperlichen Folgen machen deutlich,<br />
wie wichtig die Früherkennung<br />
und die Behandlung sind. Bisherige<br />
Untersuchungen haben gezeigt, dass<br />
etablierte Behandlungsprogramme<br />
eine kurzfristige und langfristige<br />
Gewichtsreduktion des Kindes be <br />
wirken und damit Gesundheitsfolgen<br />
verhindern können.<br />
>>><br />
Nadine Messerli-Bürgy<br />
PD Dr. phil., Mutter von zwei Kindern, arbeitet<br />
seit 2014 als Senior Researcher in der Abteilung<br />
für Klinische Psychologie und Psychotherapie<br />
am Departement für Psychologie sowie am<br />
Institut für Familienforschung und -beratung<br />
der Universität Freiburg. Sie ist klinische<br />
Psychologin und wissenschaftliche<br />
Mitarbeiterin der Schweizer Kinderstudie «Swiss<br />
Preschooler’s Health Study» (SPLASHY) .<br />
Simone Munsch<br />
Prof. Dr. phil., Mutter von drei Kindern, ist seit<br />
2011 Ordinaria für Klinische Psychologie und<br />
Psychotherapie am Departement für<br />
Psychologie der Universität Freiburg. Sie ist<br />
Präsidentin des Instituts für Familienforschung<br />
und -beratung und Co-Leiterin der Akademie<br />
für Verhaltenstherapie bei Kindern und<br />
Jugendlichen. Simone Munsch ist klinische<br />
Psychologin, Psychotherapeutin BAG und<br />
Supervisorin.<br />
Wann spricht man bei einem Kind<br />
von Übergewicht oder Adipositas?<br />
Das Vorliegen von Übergewicht oder<br />
Adipositas wird durch die Berechnung des<br />
Body-Mass-Indexes (Körpergewicht geteilt<br />
durch Körpergrösse im Quadrat) festgestellt.<br />
Bei Kindern und Jugendlichen werden das<br />
Alter und das Geschlecht in der Beurteilung<br />
berücksichtigt. Gemäss Arbeitsgemeinschaft<br />
Adipositas im Kindes- und Jugendalter gelten<br />
Kinder ab der 90. Perzentile (Gewichtskurve)<br />
als übergewichtig, ab der 97. Perzentile als<br />
adipös.<br />
BMI-Rechner: www.akj-ch.ch/de > Familien<br />
> BMI-Rechner<br />
Vorteil Volg :<br />
Nah & einfach.<br />
Mit dem<br />
Velo auf<br />
Einkaufs-<br />
tour.<br />
«<br />
Besorgungen im Dorf mache<br />
ich am bequemsten mit dem<br />
Velo. Auch das Einkaufen im<br />
nahen Volg-Laden.<br />
»<br />
Barbara Ries, Velofahrerin und<br />
seit jeher Volg-Kundin<br />
brandinghouse<br />
Einkaufen im Dorf ist bequem, umweltfreundlich<br />
und zeit sparend. Nähe bedeutet bei Volg persönlicher<br />
Kontakt zwischen Kunden, Ladenpersonal und<br />
lokalen Produzenten. Wer das schätzt, weiss: Gäbe<br />
es den Dorfladen nicht, man müsste ihn erfinden!<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Volg .Im Dorf daheim.<br />
In Eiken AG zuhause.<br />
April <strong>2017</strong>41
Psychologie & Gesellschaft<br />
Geschwister –<br />
Verbündete und Rivalen<br />
Geschwister kann man sich nicht aussuchen, und so liegt es nahe, dass<br />
sich Brüder und Schwestern nicht einfach so vertragen. Ein entspanntes<br />
Miteinander und mehr Gelassenheit helfen, Konflikte zu entschärfen.<br />
Text: Susan Edthofer<br />
Um den Alltag zu meistern, müssen Familien<br />
mit unterschiedlichen Persönlichkeiten<br />
und Reibereien innerhalb der<br />
Geschwisterreihe zurechtkommen. Hilfreich<br />
sind dabei eine Portion Gelassenheit<br />
und ein gewisses Grundvertrauen, dass Kinder ihre<br />
Auseinandersetzungen selber regeln. Doch Geschwister<br />
spielen auch zusammen, gehen gemeinsam auf Entdeckungsreisen,<br />
lernen von- oder miteinander. Und sie<br />
treten als Verbündete gegenüber ihren Eltern, anderen<br />
Kindern oder Erwachsenen auf.<br />
Jedem Kind seine Art von Zuwendung<br />
Geschwisterbeziehungen prägen die individuelle Entwicklung<br />
des Kindes. Oft wundern sich Eltern, dass ihre<br />
Kinder so unterschiedlich sind. Gerade weil sie verschieden<br />
sind und nie die gleichen Erfahrungen machen, ist<br />
es auch unmöglich, sie genau gleich zu erziehen. Um<br />
sich angenommen zu fühlen, braucht jedes Kind eine<br />
andere Art von Zuwendung. Wichtig ist, dass Eltern<br />
reagieren, wenn ein zu grosses Ungleichgewicht zwischen<br />
den Geschwistern besteht, wenn zum Beispiel die<br />
grosse Schwester stark dominiert und sich die kleine<br />
Schwester stets unterwirft. Beansprucht der ältere Bruder<br />
durch sein auffälliges Verhalten viel Aufmerksamkeit,<br />
sollte darauf geachtet werden, dass das ruhigere<br />
Geschwister nicht untergeht.<br />
Geschwister beeinflussen das Verhalten<br />
Zwar haben Kinder persönliche Veranlagungen, doch<br />
ob sie als Einzelkind oder mit Geschwistern aufwachsen,<br />
ist nicht bedeutungslos. Etwas über Geschwisterkonstellationen<br />
zu wissen, ist hilfreich.<br />
Dass das erste Kind sehr viel Aufmerksamkeit von<br />
Eltern und Grosseltern erfährt, liegt in der Natur der<br />
Sache. Beim Erstgeborenen wird jeder Lernschritt mit<br />
Bewunderung oder allenfalls mit Besorgnis quittiert.<br />
Mit der Ankunft eines Geschwisters gerät der Status des<br />
Kronprinzen, der Kronprinzessin ins Wanken. Kaum<br />
verwunderlich also, wenn Rivalitätsgefühle auftauchen.<br />
«Geschwister sind<br />
verschieden. Sie<br />
gleich zu erziehen,<br />
ist unmöglich.»<br />
Susan Edthofer ist Redaktorin<br />
im Bereich Kommunikation<br />
von Pro Juventute.<br />
Für das mittlere Kind ist die Situation ebenfalls<br />
nicht einfach. Es muss sich mit einem<br />
älteren und wahrscheinlich überlegenen Geschwister<br />
arrangieren und steht gleichzeitig im Schatten des Nesthäkchens.<br />
Weil sie eher um ihre Position buhlen müssen,<br />
verhalten sich mittlere Kinder oft provokativer, fordernder<br />
oder gar aggressiver.<br />
Da innerhalb der Familie die Rollen verteilt sind,<br />
wird das jüngste Kind in ein bestehendes Gefüge hineingeboren.<br />
Von allen umsorgt und entsprechend verwöhnt,<br />
gelingt es ihm meist mit Leichtigkeit, alle um<br />
den Finger zu wickeln. Trotz mehr Nachsicht fühlen sich<br />
Nesthäkchen manchmal ungerecht behandelt. Einmal<br />
mehr zeigt sich, dass Fingerspitzengefühl bei der Kindererziehung<br />
unentbehrlich ist.<br />
Was Eltern tun können – vier Tipps<br />
• Üben Sie sich im Umgang mit Streitereien unter Geschwistern in<br />
Gelassenheit.<br />
• Vertrauen Sie auch darauf, dass Kinder ihre Auseinandersetzung<br />
selber regeln. Statt einen Streit durch ein Machtwort zu beenden,<br />
können Sie Möglichkeiten zur Lösungsfindung aufzeigen.<br />
• Ihre Kinder sind verschieden, und es ist unmöglich, sie genau gleich<br />
zu erziehen. Setzen Sie ähnliche, aber nicht die gleichen Massstäbe<br />
und geben Sie jedem Kind die Zuwendung, die es braucht.<br />
• Reagieren Sie, wenn ein zu grosses Ungleichgewicht zwischen den<br />
Geschwistern besteht. Achten Sie darauf, dass kein Kind zu stark<br />
dominiert und das andere sich unterwerfen muss.<br />
Pro Juventute Elternberatung<br />
Bei Pro Juventute Elternberatung können Eltern und Bezugspersonen von<br />
Kindern und Jugendlichen jederzeit telefonisch (058 261 61 61) oder online<br />
(www.projuventute-elternberatung.ch) Fragen zum Familienalltag und zur<br />
Erziehung stellen. Ausser den normalen Telefongebühren fallen keine Kosten<br />
an. In den Elternbriefen und Extrabriefen finden Eltern Informationen für<br />
den Erziehungsalltag. Mehr Infos: www.projuventute.ch<br />
42 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Stiftung Elternsein<br />
«Lassen Sie uns NEIN sagen!»<br />
Ellen Ringier über das Privileg, in einer Gesellschaft zu leben, in der jede und jeder seine<br />
Meinung frei äussern darf – und sollte.<br />
Bild: Maurice Haas / 13 Photo<br />
Dr. Ellen Ringier präsidiert<br />
die Stiftung Elternsein.<br />
Sie ist Mutter zweier Töchter.<br />
Täglich begegnen mir in den Medien Meldungen,<br />
die mich unsäglich wütend<br />
machen. Und das sind alles andere als Fake<br />
News! Umso dankbarer bin ich, das Glück<br />
zu haben, in einer Gesellschaft zu leben,<br />
die sich nicht einfach alles bieten lassen<br />
muss. Was für eine Erleichterung, Ereignissen<br />
wie den folgenden, zufällig zitierten<br />
mit einem NO, einem leidenschaftlichen<br />
NEIN, entgegentreten zu können, ohne<br />
dafür im Gefängnis zu landen!<br />
Nehmen wir die folgenden Beispiele:<br />
• Eine Burka-Kollektion präsentiert von Topmodels auf<br />
dem Laufsteg soll ein Zeichen der Toleranz sein? Burka<br />
(Ganzkörperschleier) und Hidschab (Kopftuch)<br />
sind Zeichen der Unterdrückung der Frau. Ist es zulässig<br />
oder nicht eher verantwortungslos, diese durch<br />
einen Modetrend zu verharmlosen? NO zu einer Toleranz,<br />
die keine ist, sondern bloss eine neue Geschäftsidee!<br />
• Täglich ringen Eltern in allen Berufen darum, ihre<br />
Arbeitspflichten korrekt zu erfüllen. Täglich passiert<br />
es jedoch, dass Kinder krank werden, dass eine Betreuung<br />
auf die Schnelle nicht organisiert werden kann,<br />
dass Eltern mit den Kindern zum Arzt oder ins Krankenhaus<br />
fahren müssen. Darf da der Arbeitgeberverband<br />
sinngemäss fordern, dass sich berufstätige Eltern<br />
besser zu organisieren hätten, Hauptsache, sie erschienen<br />
rechtzeitig zur Arbeit? NO, Pünktlichkeit am<br />
Arbeitsplatz ist mit Sicherheit nicht die «Hauptsache»!<br />
Es geht ganz und gar nicht, dass der Arbeitgeberverband<br />
seine Mitglieder sozusagen dazu auffordert, Härte<br />
zu zeigen, wo Mitgefühl angezeigt wäre.<br />
• Ausgerechnet die Partei, die vorgibt, sich ganz besonders<br />
für die Interessen aller Bürger stark zu machen,<br />
fordert nun die Abschaffung der Öffentlichkeit im<br />
eidgenössischen Beschaffungswesen! Endlich haben<br />
wir ein Öffentlichkeitsgesetz, das es den Medien<br />
ermöglicht, an Dokumente zu gelangen, die beispielsweise<br />
korrupte Vergaben von Aufträgen im SECO, im<br />
Staatssekretariat für Wirtschaft, belegten. Soll die<br />
Deckung von Beamten, die ihre privaten Interessen in<br />
den «Dienst» der Öffentlichkeit stellen, wieder aufgehoben<br />
werden? NO!<br />
• In den letzten Jahren ist es zusehends Mode geworden,<br />
die Aufgabe und Tätigkeit der Schweizerischen Radiound<br />
Fernsehgesellschaft SRG zu hinterfragen. Die No-<br />
Billag-Initiative will die SRG finanziell zurückbinden.<br />
Angeblich der gleich langen Spiesse mit den privaten<br />
Sendern zuliebe. Die Arbeit der öffentlich-rechtlichen<br />
(Schweizer) Fernsehanstalt ist reglementiert, die SRG<br />
ist per Konzessionsbedingungen dazu verpflichtet, uns<br />
einen Service public zu liefern. Auch wenn dies durch<br />
Einnahmen von Gebühren und Werbegeldern allein<br />
nicht kostendeckend geleistet werden kann. Wollen<br />
wir wirklich eine Schwächung der SRG? NO, wenn<br />
man wie ich daran glaubt, dass die SRG zu den effizientesten<br />
Vertretern der «Vierten Gewalt» gehört!<br />
Die Liste der Unsinnigkeiten liesse sich beliebig verlängern!<br />
Wie schön, dass wir hierzulande weder Trump<br />
noch Orban, weder Le Pen noch Wilders und auch keine<br />
AfD brauchen:<br />
• Wir haben eine aufmerksame Medienlandschaft, welche<br />
diese Themen zur Diskussion bringt.<br />
• Wir haben funktionierende Parlamente, welche diese<br />
Probleme aufnehmen und zu einer Lösung bringen.<br />
• Und wir haben das Instrument der Volksbefragung,<br />
bei dem wir alle einfach unsere Stimm- und Wahlzettel<br />
ausfüllen, um den Verrücktheiten mit einem «nein<br />
danke» ein Ende zu machen!<br />
Make NO great again! Lassen Sie uns NEIN sagen!<br />
STIFTUNG ELTERNSEIN<br />
«Eltern werden ist nicht schwer,<br />
Eltern sein dagegen sehr.» Frei nach Wilhelm Busch<br />
Oft fühlen sich Eltern alleingelassen in ihren Unsicherheiten,<br />
Fragen, Sorgen. Hier setzt die Stiftung Elternsein<br />
an. Sie richtet sich an Eltern von schulpflichtigen Kindern<br />
und Jugendlichen. Sie fördert den Dialog zwischen<br />
Eltern, Kindern, Lehrern und die Vernetzung der elternund<br />
erziehungsrelevanten Organisationen in der<br />
deutschs prachigen Schweiz. Die Stiftung Elternsein<br />
gibt das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi heraus.<br />
www.elternsein.ch<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>43
Kurt Albermann<br />
ist ärztlicher<br />
Leiter des<br />
Instituts<br />
Kinderseele<br />
Schweiz iks.
Monatsinterview<br />
«Viele Kinder schämen sich<br />
für die Krankheit ihrer Eltern –<br />
und fühlen sich schuldig»<br />
Kinder, deren Mutter oder Vater psychisch erkrankt, werden oft in eine Erwachsenenrolle<br />
gedrängt. Der Kinderpsychiater Kurt Albermann erklärt, warum sie häufig übersehen<br />
werden, worunter sie am meisten leiden und wie es Betroffenen gelingt, zu einem<br />
harmonischen Familienleben zurückzufinden. Interview: Sandra Casalini Bilder: Filipa Peixeiro / 13 Photo<br />
Sozialpädiatrisches Zentrum<br />
Winterthur, erster Stock. Kurt<br />
Albermanns Händedruck zur<br />
Begrüssung ist fest, sein Lächeln<br />
charmant. Mit einer einladenden<br />
Geste weist er den Weg in ein<br />
Sitzungszimmer und offeriert Kaffee.<br />
Während des Gesprächs haut er<br />
mehrmals so fest auf den Tisch, dass<br />
das Getränk aus der Tasse zu<br />
schwappen droht. «Ich bin<br />
manchmal ein bisschen lebhaft»,<br />
sagt er dann und lächelt.<br />
spielsweise Kinder mit einer depressiven<br />
Mutter oder einem Vater leiden?<br />
Ich erinnere mich an eine Vierzehnjährige<br />
mit zwei jüngeren Geschwistern,<br />
die sich an unsere Beratungsstelle<br />
gewandt hat. Seit sie denken<br />
konnte, kümmerte sie sich um die<br />
Mutter und um ihre Ge schwister.<br />
«Ich gehe in der<br />
Schweiz von bis zu<br />
300 000 betroffenen<br />
Kindern aus.»<br />
Und was erwartete den Teenager nach<br />
der Schule?<br />
Im besten Fall eine «funktionierende»<br />
Mutter. Es kam aber auch vor,<br />
dass die Tochter die Sanität rufen<br />
musste, weil sich die Mutter nicht<br />
wecken liess. Auf dem Nachttisch<br />
lagen Tablettenpackungen. Die ständige<br />
Unsicherheit und Sorge um die<br />
Mutter veränderte die Hierarchie zu<br />
Hause. Die Vierzehnjährige übernahm<br />
die Rolle der Erwachsenen. Sie<br />
musste schon früh ihre eigenen Bedürfnisse<br />
hintanstellen. Oft war sie<br />
selbst traurig. Und wütend.<br />
Mit welchen Folgen?<br />
Sie hatte kaum Kolleginnen, schämte<br />
sich, jemanden mit nach Hause zu<br />
bringen. In der Klasse wurde sie ausgegrenzt,<br />
weil sie nie Zeit hatte und<br />
manchmal komisch war. Sie ging<br />
auch nicht zum Sport. Von den Problemen<br />
ihrer Mutter wusste niemand<br />
etwas, ihr wäre es peinlich gewesen,<br />
darüber zu sprechen. Die Leistungen<br />
in der Schule waren gut, obwohl sie<br />
sich oft unendlich müde fühlte.<br />
Man schätzt, dass in der Schweiz<br />
20 000 bis 50 000 Kinder mit einem<br />
psychisch erkrankten Elternteil leben.<br />
Woher kommt diese Zahl?<br />
Herr Albermann, Sie nennen Kinder,<br />
die mit einem psychisch erkrankten<br />
Elternteil aufwachsen, in einer Studie<br />
«vergessene Kinder». Warum?<br />
Weil diese Kinder häufig nicht auffallen.<br />
Sie sprechen nicht darüber,<br />
wie es ihnen geht und dass die Eltern<br />
ein Problem haben. So übersieht<br />
man ihre Bedürfnisse in der Situation,<br />
in der sie leben.<br />
Ist es nicht eher so, dass gerade diese<br />
Kinder oft auffällig sind in ihrem Verhalten?<br />
Manchmal schon. Aber der Zusammenhang,<br />
dass ein Elternteil eine<br />
psychische Erkrankung hat, wird<br />
übersehen.<br />
Können Sie einen Fall nennen, der<br />
Wie sah ihr Tag konkret aus?<br />
Sie überlegte bereits am Vortag, was<br />
es morgen zu Mittag geben sollte,<br />
und kaufte dafür ein. Ihre Eltern<br />
waren geschieden. Die Mutter kam<br />
phasenweise vor Müdigkeit kaum<br />
aus dem Bett. Deshalb weckte das<br />
Mädchen morgens die jüngeren<br />
Geschwister, half beim Ankleiden,<br />
machte Zmorge und Znüni. Sie<br />
schaffte es kaum zum Unterricht,<br />
weil sie die Schwester noch in den<br />
Kindergarten und den Bruder zu den Sie stammt aus einer Umfrage, die<br />
zeigt, unter welchen Belastungen bei- Nachbarn bringen musste.<br />
wir in Winterthur bereits vor >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>45
zehn Jahren gemeinsam mit<br />
der Hochschule für Soziale Arbeit<br />
und der Integrierten Psychiatrie<br />
Winterthur – Zürcher Unterland ipw<br />
gemacht haben. Ich persönlich halte<br />
diese Zahlen für eher konservativ. In<br />
Deutschland rechnet man mit gut<br />
«Jedes dritte Kind<br />
von Eltern mit<br />
psychischen<br />
Störungen erkrankt<br />
ebenfalls.»<br />
drei Millionen betroffenen Kindern<br />
und Jugendlichen. Auf die Schweiz<br />
heruntergerechnet wären das etwa<br />
300 000.<br />
Wie wirkt sich eine psychische<br />
Störung von Vater oder Mutter auf<br />
die Gesundheit der Kinder aus?<br />
Etwa ein Drittel erkrankt ebenfalls,<br />
ein Drittel hat immer wieder mal<br />
psychische Probleme und ein Drittel<br />
schafft es, gesund zu bleiben.<br />
Eine elterliche psychische Belastung<br />
ist also ein Risikofaktor, ebenfalls zu<br />
erkranken?<br />
Ja, bei den einen Erkrankungen mehr<br />
als bei anderen – und es lässt sich<br />
nicht voraussagen, ob ein Kind tatsächlich<br />
erkranken wird. Aber die<br />
Gefahr, an einer Depression zu erkranken,<br />
ist zum Beispiel bis zu sieben<br />
Mal höher, wenn man einen de <br />
pressiven Elternteil hat.<br />
Also können tiefgreifende oder chronische<br />
Stresserlebnisse der Eltern an die<br />
nächste Generation «vererbt» werden.<br />
Das ist möglich und liegt unter anderem<br />
an den sogenannten epigenetischen<br />
Einflüssen: Unsere Zellen verändern<br />
sich, wenn wir unter<br />
chronischem Stress stehen. Diese<br />
gespeicherten Informationen können<br />
auf zellulärer Ebene an nachfolgende<br />
Generationen weitergegeben<br />
werden.<br />
Ohne dass betroffene Eltern dagegen<br />
etwas tun können?<br />
Es gibt auch gesund erhaltende Faktoren.<br />
Wenn die Mutter trotz psychischer<br />
Erkrankung in der Lage ist, die<br />
Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen<br />
und altersangemessen auf es<br />
einzugehen, ist die Gefahr, dass es<br />
erkrankt, viel geringer, als wenn es<br />
vernachlässigt wird.<br />
Mit welchen Störungen sind Sie in<br />
ihrem Arbeitsalltag am häufigsten<br />
konfrontiert?<br />
Bei Müttern sind es depressive Störungen,<br />
bei Vätern Suchterkrankungen.<br />
Häufig sind es auch Ängste oder<br />
traumatische Belastungsstörungen,<br />
zum Beispiel nach einer Scheidung.<br />
Das ist für Kinder doppelt schwierig,<br />
da sie selbst auch unter der Trennung<br />
leiden.<br />
Kommt es oft vor, dass sich Kinder<br />
von psychisch erkrankten Eltern<br />
selbst bei Betreuungsstellen melden?<br />
Nein. Je nach Krankheit und Situation<br />
wächst ein Kind ja schon in so<br />
einer gewissermassen «ver-rückten»,<br />
also veränderten Umgebung auf und<br />
kennt gar nichts anderes. Es ist<br />
alters abhängig und schon eher die<br />
Ausnahme, dass ein Kind erkennt,<br />
dass der Vater oder die Mutter ein<br />
Problem hat.<br />
Trotzdem leidet ein solches Kind unter<br />
dem Verhalten des kranken Elternteils.<br />
Ja. Kinder schämen sich oder fühlen<br />
sich gar schuldig am Verhalten der<br />
Mutter oder des Vaters. So reden sie<br />
nicht darüber, dass es sie belastet,<br />
wenn zum Beispiel ihr Mami tagelang<br />
im Bett liegt. Psychische Krankheiten<br />
werden in unserer Gesellschaft<br />
tabuisiert, deshalb verbieten<br />
Eltern ihren Kindern auch oft, darüber<br />
zu sprechen.<br />
Auch weil man befürchtet, dass einem<br />
die Kinder weggenommen werden.<br />
Wenn ein Elternteil psychisch angeschlagen<br />
ist, wird ihm nicht automatisch<br />
das Kind weggenommen. Es<br />
gibt viele Unterstützungsmöglichkeiten<br />
zu Hause oder Einrichtungen,<br />
in denen Kinder nur für eine gewisse<br />
Zeit platziert werden. Hier in<br />
Winterthur haben Christine Gäumann<br />
und ich mit Partnerorganisationen<br />
unter dem Namen wikip solche<br />
Angebote initiiert: SOS-Kinderbetreuung,<br />
Patenfamilien oder<br />
Elterngruppen. Andernorts gibt es<br />
ähnliche Angebote. Bei einer Beratung<br />
schaut man gemeinsam, welche<br />
Unterstützung es braucht.<br />
Verstehen Kinder überhaupt, was mit<br />
Mama oder Papa los ist?<br />
Kleine Kinder empfinden das Verhalten<br />
oft als normal – sie haben ja<br />
keinen Vergleich. Spätestens wenn<br />
sie in den Kindergarten kommen,<br />
realisieren sie aber, dass es in anderen<br />
Familien anders läuft. Dann wird<br />
der Leidensdruck grösser. Man kann<br />
nicht, wie die anderen, Gspänli mit<br />
nach Hause nehmen. Weil der schizophrene<br />
Vater alle Fenster mit Brettern<br />
zugenagelt hat. Oder weil die<br />
Mutter eine Zwangsstörung hat und<br />
den fremden Dreck fürchtet.<br />
Es gibt aber noch einen anderen<br />
Elternteil.<br />
Oftmals handelt es sich bei betroffenen<br />
Müttern um Alleinerziehende.<br />
Wenn es einen präsenten anderen<br />
Elternteil gibt, der die Kinder unterstützt,<br />
kann dieser die Belastung<br />
kompensieren. Es kommt übrigens<br />
auch ab und zu vor, dass Kinder die<br />
Krankheit des Elternteils gar nicht<br />
als so extreme Belastung empfinden,<br />
sondern sie zu gewissen Zeiten sogar<br />
gut finden.<br />
«Kleine Kinder<br />
empfinden das<br />
Verhalten ihrer<br />
Eltern als normal –<br />
Vergleiche fehlen.»<br />
Wie bitte?<br />
Ein Kollege von mir hat ein Buch<br />
über seine Kindheit mit einem Vater<br />
mit bipolarer Störung geschrieben,<br />
bei der Stimmung und Verhalten<br />
unkontrollierbar zwischen manischen<br />
und depressiven Phasen hinund<br />
herschwanken. Er fand das als<br />
46
Monatsinterview<br />
Kind zeitweise toll. In guten Phasen<br />
hatte er den besten Vater überhaupt,<br />
der mit seinem Sohn Ausflüge unternahm,<br />
ihn mit Geschenken überhäufte.<br />
In depressiven Phasen lag der<br />
im Bett und trank, und der Sohn<br />
hielt sich einfach vom Vater fern.<br />
Das klingt, als ob es manchmal gar<br />
nicht so schlimm ist, einen psychisch<br />
kranken Elternteil zu haben.<br />
Das stimmt so natürlich nicht. Gerade<br />
bei bipolaren Störungen kommt<br />
es immer wieder zu gefährlichen<br />
Situationen. Man braust in einer<br />
manischen Phase mit dem Kind auf<br />
dem Nebensitz mit 200 Sachen über<br />
die Autobahn. Oder verschuldet sich<br />
total, weil man dem Kind ein Pferd<br />
gekauft hat.<br />
Sprechen Sie von Fällen aus Ihrer<br />
eigenen Praxis?<br />
Nicht aus meiner, aber eine Kollegin<br />
hatte eine Patientin, die plötzlich mit<br />
einem Pferd auftauchte und das auf<br />
der Veranda «deponierte». Solche<br />
Anekdoten sind witzig zum Erzählen,<br />
aber im Alltag sind sie für die<br />
Familien nicht lustig. >>><br />
Kurt Albermann<br />
hilft betroffenen<br />
Eltern und Kindern,<br />
ein normales<br />
Familienleben zu<br />
führen.
Was soll ich denn zum Beispiel<br />
als Nachbarin machen, wenn ich das<br />
Gefühl habe, nebenan leben Kinder<br />
mit einer psychisch kranken Mutter?<br />
Erst mal die betroffene Person an <br />
sprechen. Wenn ich mir nach einem<br />
«Eine Meldung an<br />
die KESB ist heikel.<br />
Doch wir haben<br />
auch die Pflicht,<br />
aufeinander<br />
zu schauen.»<br />
Gespräch immer noch grosse Sorgen<br />
mache, kann ich eine Gefährdungsmeldung<br />
bei der KESB machen. Das<br />
ist zwar heikel und ein Eingriff in die<br />
Privatsphäre. Aber wir leben in einer<br />
Gemeinschaft und haben auch die<br />
Pflicht, aufeinander zu schauen.<br />
Wenn eine solche Mutter in psychiatrische<br />
Behandlung kommt – was<br />
passiert dann mit den Kindern?<br />
Ich setze mich dafür ein, dass Eltern<br />
in solchen Fällen automatisch kompetent<br />
und professionell beraten und<br />
unterstützt werden, was leider noch<br />
lange nicht überall der Fall ist. Wichtig<br />
ist, dass man einen Notfallplan<br />
macht: Was soll das Kind im Falle<br />
eines Zusammenbruchs der Mutter<br />
tun? An wen kann es sich wenden?<br />
Das setzt voraus, als Vater oder Mutter<br />
mit den Kindern über die eigene<br />
psychische Störung zu reden.<br />
Das ist extrem wichtig. Man muss<br />
sich als Erwachsener trauen, den<br />
Kindern einzugestehen, dass es<br />
einem gerade nicht gut geht. Man<br />
soll fragen, wie es den Kindern geht,<br />
und ihre Fragen beantworten. Das<br />
klappt am besten in einem beratenden<br />
Umfeld, zum Beispiel gemeinsam<br />
mit einem Psychologen.<br />
Soll man eine psychische Krankheit<br />
im Umfeld der Kinder – Schule, Eltern<br />
der Freunde – kommunizieren?<br />
Grundsätzlich muss das nicht sein.<br />
Wenn es für das Verständnis wichtig<br />
ist, zum Beispiel weil das Kind sich<br />
in der Schule nicht konzentrieren<br />
kann, kann man in einem Gespräch<br />
mit der Lehrperson auch sagen, dass<br />
man gerade in einer schwierigen<br />
Situation ist, ohne auf die konkrete<br />
Diagnose einzugehen. Wenn ein<br />
Vertrauensverhältnis besteht, kann<br />
eine offene Kommunikation aber<br />
auch hilfreich sein und zum Verständnis<br />
beitragen.<br />
Was passiert, wenn der betroffene<br />
Elternteil nicht fähig ist, für seine<br />
Kinder zu sorgen?<br />
Dann wird versucht, zu einer gemeinsamen<br />
Lösung zu kommen. Ist<br />
er oder sie nicht einsichtig, erfolgt<br />
im Notfall eine Gefährdungsmeldung<br />
an die KESB. Sie hat die<br />
Aufgabe, nach den aktuellen Belastungen<br />
und nach Unterstützungsmöglichkeiten<br />
zu schauen.<br />
Falls es zu einem Entzug kommt – wie<br />
erklärt man das einem Kind?<br />
Bei kleineren Kindern machen wir<br />
das gern mit Bilderbüchern. Es gibt<br />
«Wichtig ist, dass<br />
Kinder wissen, dass<br />
sie nicht schuld sind<br />
am Verhalten von<br />
Mami oder Papi.»<br />
zum Beispiel eines über eine Fuchsfamilie.<br />
Immer, wenn Vater Fuchs<br />
den grünen Mantel anhat, ist er<br />
komisch. Dann kann er nicht für<br />
Kurt Albermann mit Fritz+Fränzi-Autorin Sandra Casalini.<br />
Zur Person<br />
Dr. med. Kurt Albermann ist Facharzt für<br />
Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie,<br />
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Chefarzt<br />
am Sozialpädiatrischen Zentrum SPZ Winterthur. Der<br />
Buchautor («Wenn Kinder aus der Reihe tanzen»)<br />
ist ärztlicher Leiter des Instituts Kinderseele Schweiz<br />
(iks) der Schweizerischen Stiftung zur Förderung<br />
der psychischen Gesundheit von Kindern und<br />
Jugendlichen, das Fachpersonen berät und<br />
betroffene Familien unterstützt. Albermann ist<br />
Vater von vier erwachsenen Kindern.<br />
48 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Monatsinterview<br />
seine Kinder sorgen. Aber er ist<br />
immer noch der Papi. Jugendlichen<br />
kann man die Sachverhalte natürlich<br />
anders erklären. Wichtig ist, dass die<br />
Kinder wissen, dass sie nicht schuld<br />
sind am Verhalten oder an der<br />
Krankheit von Mami oder Papi.<br />
Es gibt aber auch psychisch kranke<br />
Eltern, die ihre Kinder konkret gefährden.<br />
Ja. Ich habe Kinder gesehen, die von<br />
der stark überlasteten Mutter buchstäblich<br />
an die Wand geknallt wurden.<br />
Oder einen Jungen, dem von<br />
der Mutter in einem schweren schizophrenen<br />
Schub die Pulsadern aufgeschnitten<br />
wurden. Da darf nicht<br />
lange gefackelt werden, die Kinder<br />
müssen sofort weg von den Eltern.<br />
Später kann man die Situation analysieren<br />
und schauen, wie die Beziehung<br />
weiter gestaltet werden kann.<br />
Mit Verlaub – aber eine Mutter, die<br />
ihrem Sohn die Pulsadern aufschneidet,<br />
darf diesen nie wieder sehen ...<br />
Der Fall liegt zehn Jahre zurück. Die<br />
Psychiater der Mutter meinten, sie<br />
brauche den Kontakt zu ihrem Sohn,<br />
um gesund zu werden. Der Junge<br />
hatte Angst, ein Wiedersehen mit der<br />
Mutter nicht zu überleben! Das zeigt,<br />
dass auch Fachleute immer wieder<br />
überfordert sind. Ich kenne einen<br />
psychisch erkrankten Vater, der seine<br />
kleinen Kinder in einer Extremsituation<br />
aus dem Fenster warf. Der Mann<br />
war in Therapie, nimmt weiterhin<br />
Medikamente und hat heute ein herzliches<br />
Verhältnis zu den Kindern.<br />
Ist es auch möglich, als betroffene<br />
Familie ein normales Familienleben zu<br />
führen?<br />
Wenn man davon ausgeht, dass jeder<br />
zweite Mensch im Laufe seines<br />
Lebens irgendwann psychisch erkrankt<br />
und etwa jeder zehnte eine<br />
psychische Störung hat, muss es<br />
möglich sein.<br />
Wie gestaltet sich das Familienleben<br />
nach einer Erkrankung und einer Therapie?<br />
Das ist von der Krankheit und den<br />
möglichen Folgen abhängig. Nicht<br />
selten plagen die Eltern Schuldgefühle.<br />
Das ist nachvollziehbar, aber<br />
wenig hilfreich. Wenn es gelingt, als<br />
Familie die Entstehungsgeschichte<br />
zu verstehen und die Rahmenbedingungen<br />
anzupassen – ausreichende<br />
Entlastung und notwendige Unterstützung<br />
zu ermöglichen –, kann das<br />
Familienleben harmonischer sein als<br />
vor der Erkrankung.<br />
>>><br />
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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>49
Kolumne<br />
Redet ehrlich, aber liebevoll miteinander<br />
Eine Mutter hört einem Gespräch ihrer Tochter mit ihren Freundinnen zu. «Wann sollte<br />
ich mich als Erwachsene in die Beziehung der Kinder einmischen?», fragt sie Jesper<br />
Juul.<br />
Jesper Juul<br />
ist Familientherapeut und Autor<br />
zahlreicher internationaler Bestseller<br />
zum Thema Erziehung und Familien.<br />
1948 in Dänemark geboren, fuhr er<br />
nach dem Schulabschluss zur See, war<br />
später Betonarbeiter, Tellerwäscher<br />
und Barkeeper. Nach der<br />
Lehrerausbildung arbeitete er als<br />
Heimerzieher und Sozialarbeiter<br />
und bildete sich in den Niederlanden<br />
und den USA bei Walter Kempler zum<br />
Familientherapeuten weiter. Seit 2012<br />
leidet Juul an einer Entzündung der<br />
Rückenmarksflüssigkeit und sitzt im<br />
Rollstuhl.<br />
Jesper Juul hat einen erwachsenen<br />
Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter<br />
Ehe geschieden.<br />
Eine Mutter erzählt in<br />
einem Brief an Jesper<br />
Juul von ihrer siebenjährigen<br />
Tochter Lena und<br />
einem Gespräch, das sie<br />
mit ihren Freundinnen Julia und<br />
Kim geführt hat. Julia durfte zu<br />
ihrem Geburtstag zwei Freundinnen<br />
für ein Wochenende zu sich nach<br />
Hause einladen. Zu unserer Tochter<br />
Lena sagte Julia: «Du bist eingeladen!»<br />
Lena fragte, ob denn Kim<br />
nicht auch eingeladen sei. Julia:<br />
«Nein, nur du und eine andere<br />
Freundin.»<br />
Daraufhin sagte unsere Tochter,<br />
dass Julia ja nicht unbedingt vor Kim<br />
über dieses Thema reden müsse,<br />
wenn sie nicht eingeladen sei! Julia<br />
erwiderte, dass Kim an die «normale»<br />
Party, die sie auch noch mache,<br />
kommen könne. Unsere Tochter hatte<br />
plötzlich keine Lust auf das<br />
Wochenende und sagte dies ihrer<br />
Freundin, die darauf erwiderte:<br />
«Dann kann ich ja jetzt Kim einladen.»<br />
Kim antwortete, dass sie keine<br />
Lust habe.<br />
Beim Zuhören kamen viele<br />
Gefühle in mir hoch. Ich überlegte,<br />
wie das für mich wäre, wenn jemand<br />
so mit mir reden und mich mal ein-<br />
Verbote lähmen. Gleichwürdige<br />
Dialoge dagegen aktivieren und<br />
entwickeln das Gehirn.<br />
und mal ausladen würde. Wie ist das<br />
unter Kindern? Sprechen sie die<br />
Dinge direkt an und halten so etwas<br />
besser aus als wir Erwachsenen?<br />
Während des Gesprächs habe ich<br />
mich mehrmals gefragt, ob ich etwas<br />
sagen soll und, wenn ja, was. Ich<br />
konnte sowohl mit Julia wie auch<br />
mit unserer Tochter mitfühlen. Julia<br />
wollte unsere Tochter aufrichtig einladen.<br />
Die Antwort unserer Tochter<br />
fand ich ehrlich und stark, weil sie<br />
einfach keine Lust hatte, ohne Kim<br />
an die Party zu gehen.<br />
Inwieweit sollte ich mich als<br />
Erwachsene in die Beziehung zwischen<br />
Kindern einmischen?<br />
Jesper Juul antwortet<br />
Das ist ein wunderbares Beispiel<br />
dafür, wie Kinder Erwachsene in spirieren<br />
und ihre Normen und soziale<br />
Spielregeln in Frage stellen. Kurz<br />
gesagt: Als Elternteil können Sie zwei<br />
Wege gehen: Entweder gehen Sie den<br />
erziehenden und moralisierenden<br />
Weg oder den fragestellenden und<br />
beziehungsaufbauenden Weg. Den<br />
ersten Weg kennen wir alle. Wenn<br />
wir diesen gehen, fühlen sich die<br />
Kinder «falsch» – ganz unabhängig<br />
davon, wie nett und pädagogisch die<br />
Botschaft vermittelt wird – und die<br />
Erwachsenen «richtig». Ende der<br />
Geschichte!<br />
Ich empfehle den anderen, beziehungsaufbauenden<br />
Weg. Das bedeutet<br />
in der Praxis, dass Sie einige<br />
Stunden später zu Ihrer Tochter zum<br />
Beispiel sagen: «Erinnerst du dich an<br />
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren<br />
50 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Kinder sollten lernen, über ihre<br />
eigenen Gedanken, Gefühle,<br />
Erlebnisse und Werte zu sprechen<br />
statt über die anderer Menschen.<br />
das Gespräch, das du mit deinen<br />
Freundinnen heute hattest? Es ging<br />
darum, wer zur Party eingeladen ist<br />
und wer nicht. Obwohl ich Ehrlichkeit<br />
für wichtig halte, war ich ein<br />
bisschen schockiert, als ich mitbekommen<br />
habe, wie ehrlich ihr zu <br />
ein ander wart. Ich frage mich, ob ihr<br />
euch gegenseitig verletzt habt. Ich<br />
weiss es nicht. Ich weiss nur, dass es<br />
mich verletzt hätte. Wie war es für<br />
dich?»<br />
Diese Fragen können zu einem<br />
spannenden Dialog zwischen Mutter<br />
und Tochter führen, in dem beide<br />
einander besser kennenlernen.<br />
Der Dialog wird auch sicher bewirken,<br />
dass Ihre Tochter über ihre<br />
Beziehung zu ihren Freundinnen zu<br />
philosophieren beginnt. Vielleicht<br />
hat die Aussage der Freundin auch<br />
Ihre Tochter verletzt – oder sie hat<br />
das Gefühl, dass die Freundinnen<br />
sich gegenseitig verletzt haben. Dieses<br />
Gespräch eröffnet Ihnen die<br />
Möglichkeit, Ihre Erfahrung und<br />
Werte mit Ihrer Tochter zu teilen.<br />
Kinder und Jugendliche brauchen<br />
stets die Inspiration der Erwachsenen,<br />
um über ihr eigenes Verhalten<br />
und die eigenen Meinungen nachdenken<br />
und reflektieren zu können.<br />
Sie brauchen ganz selten Richter.<br />
Kritik und Verbote lähmen, gleichwürdige<br />
Dialoge dagegen aktivieren<br />
und entwickeln das Gehirn.<br />
Eine verbale Botschaft kann erst<br />
wirklich verstanden werden, wenn<br />
wir auch den Tonfall und die Körpersprache<br />
dazu kennen. Die drei<br />
Mädchen bei Ihnen zu Hause scheinen<br />
miteinander so «cool» gewesen<br />
zu sein, dass sie sich ganz ohne Wut<br />
und Scham mit Tatsachen konfrontieren<br />
konnten. Bei dieser Gelegenheit<br />
möchte ich den Eltern dieser<br />
drei Mädchen mein Kompliment<br />
dafür aussprechen, dass es ihnen<br />
gelungen ist, ihren Kindern die Entwicklung<br />
der persönlichen Sprache<br />
zu ermöglichen.<br />
In weiterer Folge lernen wir<br />
immer mehr die soziale Sprache<br />
dazu. Diese kann vielleicht als oberflächlich<br />
bezeichnet werden, allerdings<br />
hilft sie uns dabei, unsere eigenen<br />
Grenzen und die von anderen<br />
zu schützen. Es ist sehr wertvoll,<br />
neben der persönlichen Sprache<br />
auch über die soziale Sprache zu verfügen.<br />
Kinder lernen sie am besten<br />
und am schnellsten, wenn sie Er <br />
wachsene untereinander beobachten.<br />
Erwachsene haben oft das Be <br />
dürfnis, den Kindern beizubringen,<br />
wie sie «nett» miteinander reden.<br />
Dies fördert den Lernprozess der<br />
Kinder selten. Die wichtigste Ur <br />
sache dafür ist wahrscheinlich, dass<br />
Belehrung und Kritik von den Er <br />
wachsenen eben nicht «nett» ist, und<br />
genau dieses Verhalten macht sie<br />
unglaubwürdig.<br />
Sich ausgeschlossen zu fühlen<br />
oder auch nur die Angst davor sitzt<br />
tief in vielen von uns. Deswegen<br />
wollen wir auch unsere Kinder<br />
davor schützen. Es ist ein schöner<br />
Gedanke, der sich aber nur auf einer<br />
oberflächlichen und sozialen Ebene<br />
abspielt – also in der Beziehung zu<br />
Menschen, die uns nicht speziell<br />
wichtig sind. In Freundschaften und<br />
Liebesbeziehungen funktioniert es<br />
nicht, immer «nett» zu sein. Hier<br />
müssen wir früher oder später lernen,<br />
uns zu zeigen und auch in kleinen<br />
Dingen Nein zu sagen, wenn<br />
wir nicht wollen, dass die Beziehung<br />
in die Brüche geht oder zur totalen<br />
Selbstverleugnung führt.<br />
Ehrlichkeit als meine authentische<br />
Aussage über mich selbst ist für<br />
meine persönlichen Beziehungen<br />
immer konstruktiv. Ehrlichkeit hingegen<br />
als meine Meinung über dich<br />
ist fast nie ehrlich. Wenn wir ab und<br />
zu in Bezug auf unsere Gefühle und<br />
Meinungen über andere Menschen<br />
ehrlich sein müssen, sollte die Ehr<br />
lichkeit immer mit der Liebe Hand<br />
in Hand gehen.<br />
In diesem Punkt brauchen Kinder<br />
Inspiration und Begleitung von<br />
Erwachsenen. Kinder sollten lernen,<br />
über ihre eigenen Gedanken, Gefühle,<br />
Erlebnisse und Werte zu sprechen<br />
statt über die anderer Menschen.<br />
Dieses Lernen fängt zum Beispiel<br />
damit an, wenn die Tochter der<br />
Nachbarn läutet und Ihre Tochter<br />
fragt, ob sie mit ihr spielen mag.<br />
Wenn Sie merken, dass Ihre Tochter<br />
Ja sagt, aber Nein meint, braucht sie<br />
Ihre Hilfe, um herauszufinden, wie<br />
sie am besten ihre eigenen Bedürfnisse<br />
und Grenzen wahren kann,<br />
ohne den anderen zu kränken oder<br />
zu verletzen.<br />
Das ist eine Kunst, die nur wenige<br />
von uns Erwachsenen beherrschen.<br />
Deshalb entscheiden wir uns<br />
oft für die einfachste Lösung: Wir<br />
lehren Kinder, auf eine «nette» Art<br />
(also unantastbar) zu lügen. Das verletzt<br />
den anderen auch, aber wir<br />
haben dabei ein Alibi, und nach vielen<br />
Jahren Praxis verschwindet der<br />
bittere Beigeschmack – fast!<br />
Haben auch Sie eine Frage an Jesper Juul,<br />
die er persönlich beantworten soll?<br />
Dann schreiben Sie uns eine E-Mail an<br />
redaktion@fritzundfraenzi.ch oder<br />
einen Brief an: Schweizer ElternMagazin<br />
Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97,<br />
8008 Zürich<br />
Die Kolumnen von Jesper Juul entstehen<br />
in Zusammenarbeit mit<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>51
Erziehung & Schule<br />
Mit Musik ausdrücken,<br />
was unaussprechlich ist<br />
Klänge, Rhythmen, Tonfolgen – über die Mittel der Musik versuchen Therapeuten einen Zugang<br />
zu ihren jungen Patienten zu finden. Ein wichtiges Element der Musiktherapie ist dabei der Safe Place,<br />
ein sicherer Raum, der es den Kindern ermöglichen soll, sich mitzuteilen.<br />
Text: Sibylle Dubs<br />
Safe Place – ein<br />
Kind in Therpaie soll<br />
sich hier sicher und<br />
geborgen fühlen.<br />
52 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Bild: Sandra Lutz Hochreutener<br />
Ein Raum voller Musikinstrumente.<br />
Darin be <br />
wegt sich Nadia. Die<br />
Zehnjährige schlägt auf<br />
Trommeln, Becken und<br />
Gong ein. Dazu stösst sie Schreie<br />
aus. Ihre Musiktherapeutin steht am<br />
Rand, begleitet sie auf dem Xylofon.<br />
Sie spielt kleine Antworten auf<br />
Nadias wildes Spiel und gibt musikalische<br />
Impulse. Doch das Mädchen<br />
scheint diesen Versuch einer<br />
Kontaktaufnahme nicht zu beachten.<br />
Als Betrachter stellt man sich<br />
das hyperaktive Kind im Alltag vor,<br />
wie Nadia aneckt, wie sie aufgefordert<br />
wird, still zu sein, wie ihr<br />
Umfeld vielleicht leidet. Man fragt<br />
sich, wie die Therapeutin dieses<br />
stürmische Mädchen, das gerade<br />
mit unglaublicher Kraft gegen die<br />
Rahmentrommel knallt, stoppen<br />
kann.<br />
Bei dieser Szene handelt es sich<br />
um eine Videosequenz, entstanden<br />
im Rahmen der Musiktherapeuten-<br />
Ausbildung an der Zürcher Hochschule<br />
der Künste ZHdK. Sandra<br />
Lutz Hochreutener schaut auf den<br />
Bildschirm. Sie ist die Leiterin des<br />
Masters of Advanced Studies für klinische<br />
Musiktherapie an der ZHdK<br />
und praktiziert selbst seit 36 Jahren.<br />
«Die Therapeutin hält das aus»,<br />
kommentiert sie die Sequenz mit<br />
Nadia.<br />
Ein Therapieraum ist nicht der<br />
Ort für Kritik und Kontrolle. Im<br />
Gegenteil: Wenn sich das Verhalten<br />
des Kindes verändern soll, muss für<br />
das Mädchen ein sogenannter Safe<br />
Place, ein sicherer Raum, geschaffen<br />
werden. «Ein Kind muss sich so<br />
angenommen und geschützt fühlen,<br />
dass es alle Seiten von sich zeigen<br />
kann: die wilden, harmonischen<br />
oder die bösen.»<br />
Dann kommt im Film ein wichtiger<br />
Moment. Nadia nimmt wahr,<br />
dass die Therapeutin ihren Schlag<br />
auf das Becken auf dem Xylofon wiederholt.<br />
Das Mädchen hält inne,<br />
nimmt Blickkontakt auf, schlägt<br />
erneut auf das Becken und stoppt<br />
sogleich den Nachhall, um zu hören,<br />
ob ihr Spiel wieder eine Antwort<br />
erhält. Als der Xylofonton erklingt,<br />
gibt Nadia einen freudigen Jauchzer<br />
von sich. Ein kleiner Schritt ist<br />
getan, der Beginn einer Beziehung<br />
zwischen Nadia und ihrer Therapeutin,<br />
ein erstes Ankommen in einem<br />
Im Safe Place<br />
lernt ein Kind,<br />
seine Gefühle auch<br />
ausserhalb des<br />
Therapieraums zu<br />
regulieren.<br />
Raum, der zum Safe Place des Mädchens<br />
werden soll. Ziel wird sein,<br />
dass das Mädchen den Safe Place<br />
verinnerlicht. Dann wird sie auch<br />
ausserhalb des Therapieraums besser<br />
fähig sein, ihre Gefühle zu regulieren<br />
und Kontakte zu knüpfen. So<br />
ein Prozess kann lange dauern.<br />
Kommunikation durch<br />
verschlossene Türen<br />
Der Safe Place bildet die Grundlage<br />
für die therapeutische Arbeit, sagt<br />
Sandra Lutz Hochreutener und<br />
erzählt von einem Mädchen aus ihrer<br />
Praxis. Wegen eines frühkindlichen<br />
Traumas beherrschte Angst ihr<br />
Leben. Das war auch im Therapieraum<br />
nicht anders. «Ich sagte, okay,<br />
du kannst dir eine Hütte bauen und<br />
dich drin verstecken, und du >>><br />
Ein Tanz im Park<br />
Musiktherapie ist ein psycho -<br />
therapeu tisches Therapieverfahren, das<br />
für Menschen jeden Alters als Einzeloder<br />
Gruppentherapie angeboten wird.<br />
Die rund 300 Musiktherapeutinnen und<br />
Therapeuten in der Schweiz arbeiten in<br />
Kliniken oder Praxen. Häufige Indikationen<br />
für Musiktherapien bei Kindern sind<br />
Mutismus und andere Kommunikationsstörungen,<br />
Depressionen, psychosomatische<br />
Erscheinungsformen wie<br />
Kopf- oder Bauchweh, Essstörungen oder<br />
Autismus. Die Behandlungen erfolgen<br />
nach Überweisung von Sozialdiensten<br />
oder Ärzten oder auf private Empfehlung.<br />
Die Kosten werden von den Zusatzversicherungen<br />
der Krankenkassen<br />
oder von der IV übernommen.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>53
Erziehung & Schule<br />
>>> kannst auch ein Stofftier mitnehmen.»<br />
wir uns nicht anschauen», sagt Sandra<br />
eröffnet sich ein «schöpferischer<br />
Wochenlang versteckte sich das<br />
Mädchen die ganze Therapie hindurch<br />
in ihrem Haus aus Stühlen,<br />
Decken und Kissen. «Mit der Zeit<br />
gab es Kontakt von innen nach<br />
aussen: Das Mädchen hat auf der<br />
Flöte Töne gespielt, und ich habe<br />
von aussen mit einer anderen Flöte<br />
geantwortet. So hat sich langsam<br />
Kontakt angebahnt.» Daraus entwickelten<br />
Lutz Hochreutener. «Deshalb ist<br />
es auch bei verschlossenen Menschen<br />
ein effizientes Mittel. Die<br />
Schale, die rundherum ist, wird mit<br />
der Musik sanft durchbrochen.»<br />
Wie in jeder Psychotherapie gibt<br />
es auch bei der Musiktherapie eine<br />
Vielzahl von Methoden, die bei den<br />
Patienten individuell eingesetzt werden.<br />
Raum, in welchem Wandlung und<br />
Erneuerung stattfinden kann»,<br />
schreibt Sandra Lutz Hochreutener<br />
in ihrem Buch «Spiel-Musik-Therapie».<br />
Das Buch basiert auf 540 Tonprotokollen<br />
aus ihrer Praxisarbeit,<br />
welche sie analysierte. Die Fallbeispiele<br />
zeigen eindrücklich die Vielfalt<br />
und Möglichkeiten der Musiktherapie.<br />
sich instrumentale «Gesprä<br />
Mit einem Lied in die Sprache<br />
Anders als Reden<br />
che». Es folgten gegenseitige Besuche,<br />
bis eines Tages das Mädchen berührt und Auch Lieder spielen – gerade in<br />
kommen<br />
statt der Hütte einen Platz für sie<br />
Kombination mit der Improvisation<br />
stimuliert Musik<br />
beide einrichtete. Das Dach «brauche<br />
sie nicht mehr», hätte sie beiläu<br />
gleichzeitig te «spontane Singen mit Text» ist<br />
– eine wichtige Rolle. Das sogenannfig<br />
gesagt.<br />
eine lustvolle Form, die es Kindern<br />
mehrere Sinne.<br />
Musik hat gegenüber dem Reden<br />
erleichtert, Worte zu finden, um sich<br />
den Vorteil, dass sie mehrere Sinne<br />
gleichzeitig berührt und stimuliert.<br />
Man hört den Klang, spürt die Vi <br />
bration, sieht und fühlt die Instrumente<br />
in ihren unterschiedlichen<br />
Grössen und Materialien. Und<br />
Musik spricht sowohl körperlich wie<br />
auch auf der Gefühlsebene an.<br />
«Wenn ich hinten in der Ecke einen<br />
kleinen Ton spiele, ist der andere im<br />
Raum davon beeinflusst, auch wenn<br />
Zentral ist die Improvisation:<br />
das Spielen jenseits von Richtig oder<br />
Falsch. Improvisation kann helfen,<br />
Spannungen abzubauen oder Hindernisse<br />
zu überwinden. Sie wird<br />
auch eingesetzt, um sich in der Therapie<br />
einem Thema zu nähern. Oft<br />
folgen ihr auch Rollenspiele oder<br />
Gespräche. Bei der Improvisation<br />
auszudrücken.<br />
Eine Videoaufnahme zeigt ein<br />
Mädchen, welches gegenüber ihrer<br />
Therapeutin sitzt. Beide haben eine<br />
Gitarre. Die Siebenjährige schlägt<br />
rhythmisch über die Saiten. Die<br />
Therapeutin übernimmt die Bewegung<br />
genau und lässt dabei ihre<br />
Gitarre in harmonischer Abfolge<br />
klingen. Dies gibt einen musikalischen<br />
Boden. Das Mädchen singt<br />
Musiktherapie als Gewaltprävention:<br />
«TrommelPower» in Schulen<br />
Die «TrommelPower»-Methode ist ein spezifisches<br />
Konzept für die präventive Arbeit<br />
in Schulhäusern. Musiktherapeutisch geschulte<br />
Trainer besuchen Klassen, bei denen<br />
Ausgrenzung, Verweigerung, Konflikte,<br />
Unsicherheit oder Angst ein Thema<br />
sind.<br />
Entwickelt wurde die Methode von<br />
einem Team um den Münchner Kinderund<br />
Jugendpsychotherapeuten Andreas<br />
Wölfl: «Die Trommel kann sowohl Kraft<br />
und Stärke als auch Ärger und Wut ausdrücken.<br />
Im Trommelspiel können die verschiedenen<br />
Qualitäten erfahren werden<br />
und die Kinder lernen beides zu unterscheiden.»<br />
Die Grundlagen der Methode stammen<br />
aus der klinischen Arbeit mit aggressiven<br />
Jugendlichen. «In der Analyse der Biografien<br />
gewaltbereiter Jugendlicher wurde<br />
schnell deutlich, dass eine frühzeitigere<br />
Auseinandersetzung mit dem Thema bei<br />
vielen eine negative Gewaltkarriere hätte<br />
verhindern können», stellt Wölfl fest.<br />
«TrommelPower» will mit den Ressourcen<br />
und der Spielfreude der Schüler ihre Kompetenzen<br />
im Umgang mit Stress, Spannungen,<br />
Angst und Konflikten fördern.<br />
Durch das gemeinsame musikalisch-kreative<br />
Erleben entsteht häufig auch ein anderer<br />
Kontakt zwischen Lehrperson und<br />
den Schülern, der die Beziehung offener<br />
und vertrauter macht.<br />
Das Projekt wird auch in der Schweiz angeboten.<br />
Infos: www.trommelpower.org.<br />
54 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
dazu in ein Mikrofon: «Hallo liebe<br />
Freunde, ich bin so alleine.»<br />
Das Mädchen findet Worte, die<br />
ihre eigenen Gefühle ausdrücken.<br />
Dabei zeigt es körperlich kaum<br />
Emotionen. In seinem spontan<br />
erfundenen Lied trifft es einen<br />
Hund, einen Husky. «Hallo, liebe<br />
Freunde, ich bin so alleine» wird<br />
zum Refrain. Schliesslich geht das<br />
Das sogenannte<br />
«spontane Singen»<br />
hilft Kindern,<br />
Worte zu finden,<br />
um sich<br />
auszudrücken.<br />
Mädchen mit dem Hund in den<br />
Wald. Da steht ein böser Räuber.<br />
Der Singfluss ist auf einmal unterbrochen.<br />
Die Situation steht offensichtlich<br />
für ein Trauma. Die Therapeutin<br />
bricht nicht ab, sondern<br />
macht auf der Gitarre ein Zwischenspiel.<br />
«Wenn die Sprache versiegt,<br />
trägt die Melodie weiter», schreibt<br />
Lutz Hochreutener dazu in ihrem<br />
Buch.<br />
Tatsächlich findet das Mädchen<br />
während des musikalischen Intermezzos<br />
zu einer Lösung: «Husky, ich<br />
setze mich auf dich drauf und dann<br />
rennen wir schnell weg.» Und die<br />
Therapeutin stärkt die Lösung: «Wir<br />
rennen, rennen, rennen, rennen,<br />
rennen weg.» Nach dem Lied schreit<br />
das sonst scheue Mädchen, so laut<br />
es kann, «Hallo!» in das Mikrofon.<br />
Es bemerkt, wie die Instrumente im<br />
Raum widerhallen. Dann schreit es<br />
nochmals und nochmals.<br />
Zurück zu Nadia. Drei Monate<br />
sind seit ihrer wilden ersten Therapiesitzung<br />
vergangen. Eine neue<br />
Filmaufnahme zeigt den gleichen<br />
Ort. Nach zehn Therapiesitzungen<br />
scheint er ein Safe Place für Nadia<br />
geworden zu sein. Sie spielt rhythmisch<br />
auf der Lotusflöte, und die<br />
Therapeutin stützt den Rhythmus<br />
mit der Trommel. Nadia versucht,<br />
gleichzeitig zur Flöte auch andere<br />
Instrumente zu spielen. Es gelingt<br />
ihr.<br />
Doch dann verliert sie den<br />
Rhythmus, den sie so lange wiederholte.<br />
Sie geht zur Therapeutin, die<br />
sanft weiterspielt. Nadia hält das<br />
Ohr an die Trommel und stimmt<br />
wieder mit ein. Es ist eine neue Qualität<br />
von Beziehung, welche das<br />
Mädchen hier erlebt. «Die verstehen<br />
sich», denkt der Betrachter und ist<br />
berührt.<br />
>>><br />
Sibylle Dubs<br />
ist Musiklehrerin an der Musikschule<br />
Konservatorium Zürich. Daneben macht sie einen<br />
Master in elementarer Musikpädagogik an der<br />
Zürcher Hochschule der Künste. Die Mutter von zwei<br />
Kindern ist Juristin und hat viele Jahre als<br />
Fernsehjournalistin gearbeitet, bevor sie ihre Liebe<br />
zur Musik und zu Kindern zu ihrem Beruf machte.<br />
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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
* Preis exkl.<br />
April <strong>2017</strong>55<br />
Bearbeitungsgebühr,<br />
individuelle Nebenkosten<br />
gemäss Internet.
Elterncoaching<br />
Die To-do-Liste kommt<br />
auch mal ohne Sie klar<br />
Es gibt nichts Spannenderes, als mit einem Kind an der Hand die Welt zu<br />
entdecken. Unser Kolumnist weiss, wie es auch vielbeschäftigten Eltern<br />
gelingt, Dinge bewusster zu erleben und zu geniessen.<br />
Fabian Grolimund<br />
ist Psychologe und Autor («Mit<br />
Kindern lernen»). In der Rubrik<br />
«Elterncoaching» beantwortet<br />
er Fragen aus dem Familienalltag.<br />
Der 37-Jährige ist verheiratet<br />
und Vater eines Sohnes, 4,<br />
und einer Tochter, 1. Er lebt<br />
mit seiner Familie in Freiburg.<br />
www.mit-kindern-lernen.ch<br />
www.biber-blog.com<br />
Als Eltern fragen wir<br />
uns, was wir unseren<br />
Kindern für ihr Le <br />
ben mitgeben möchten.<br />
Dazu gehören<br />
Liebe, ein gesundes Selbstwertgefühl<br />
und vielleicht eine gute Ausbildung.<br />
Wir können uns aber auch fragen,<br />
was unsere Kinder sich möglichst<br />
lange bewahren sollen und<br />
was wir von ihnen lernen möchten.<br />
Dazu gehört für mich die Fähigkeit,<br />
zu geniessen und zu staunen. Denn<br />
darin sind kleine Kinder wahre<br />
Meister.<br />
Zeit und Raum für Genuss<br />
Um etwas geniessen zu können,<br />
müssen wir uns darauf einlassen<br />
können. Und wir müssen es uns gönnen.<br />
Als vielbeschäftigte Eltern ist<br />
das nicht so einfach. Vor allem dann<br />
nicht, wenn man die Redewendung<br />
«Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen!»<br />
verinnerlicht hat.<br />
In Zeiten von Internet und<br />
E-Mail ist es schwierig geworden,<br />
die Arbeit nach Feierabend ganz<br />
hinter sich zu lassen – und zu Hause<br />
Warten Sie nicht darauf,<br />
bis Sie Zeit finden,<br />
das Leben zu geniessen.<br />
Beginnen Sie gleich jetzt damit.<br />
erwartet die meisten von uns wieder<br />
eine prall gefüllte To-do-Liste. Viele<br />
von uns hätten rund um die Uhr<br />
etwas zu tun. Wenn wir erst Pause<br />
machen, wenn wir zu erschöpft sind,<br />
um weiterzumachen, schaffen wir<br />
keine guten Voraussetzungen für<br />
den Genuss.<br />
Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn<br />
wir diese Philosophie hinterfragen<br />
und da und dort Momente des<br />
Genusses in unseren Alltag einstreuen,<br />
ohne dass wir uns diese zuerst<br />
durch das Abarbeiten aller Aufgaben<br />
verdienen müssen. Es wäre<br />
wahrscheinlich auch für unsere Kinder<br />
hilfreich, wenn sie lernen, dass<br />
Arbeit und Vergnügen sich abwechseln<br />
dürfen – oder dass Arbeit und<br />
Vergnügen gar keine Gegensätze<br />
sind, sondern Arbeit auch ein Vergnügen<br />
sein kann.<br />
Sogar bei Arbeiten, die wir nur<br />
un gern machen, können wir uns<br />
fragen, wie wir sie vergnüglicher ge <br />
stalten könnten. Machen diese vielleicht<br />
zu zweit mehr Spass? Oder an<br />
einem schönen Ort?<br />
Warten Sie nicht darauf, bis Sie<br />
Zeit finden, das Leben zu geniessen.<br />
Gönnen Sie sich solche Phasen<br />
gleich jetzt und lassen Sie die To-do-<br />
Liste mal warten. Das Schöne an der<br />
Arbeit ist, dass sie uns nicht davonläuft<br />
und sie uns meist auch niemand<br />
wegnimmt, wenn wir uns<br />
zeitweise nicht darum kümmern.<br />
Nach einem schönen Erlebnis kann<br />
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />
56 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
man den Elan gleich mitnehmen und<br />
in guter Stimmung wieder loslegen.<br />
Sich auf Alltägliches einlassen<br />
Genuss hat viel mit einer bestimmten<br />
Haltung und Hingabe zu tun.<br />
Wenn wir es uns vornehmen, können<br />
wir fast alles geniessen: eine<br />
Auto- oder Zugfahrt, einen Tee oder<br />
Kaffee, eine kleine Runde Extraschlaf<br />
am Morgen, wenn wir den<br />
Wecker etwas früher stellen, damit<br />
wir noch ein wenig dösen dürfen,<br />
die Sonne oder den Regen. Wenn wir<br />
uns und anderen Zeit schenken,<br />
können wir andere Menschen<br />
geniessen: den Partner, die Kinder,<br />
Freunde.<br />
Dazu müssen wir nichts weiter<br />
tun, als uns zu überlegen, was wir in<br />
den nächsten Stunden mit Genuss<br />
angehen möchten. Diese Frage hilft<br />
dabei, den Moment bewusster zu<br />
erleben und da und dort eine kleine<br />
Portion Extragenuss einzustreuen:<br />
Die Autofahrt wird schöner, wenn<br />
wir uns entweder ganz auf das Fahrerlebnis<br />
konzentrieren oder es mit<br />
unserer Lieblingsmusik oder einem<br />
mitreissenden Hörspiel anreichern.<br />
Der Spaziergang mit dem Kind wird<br />
interessanter, wenn wir unseren<br />
Blick für die Natur öffnen und<br />
gemeinsam Pflanzen, Tiere und<br />
schöne Steine entdecken.<br />
Mut zum Blödsinn<br />
Viele von uns Erwachsenen sind<br />
durchdrungen vom Gedanken, sich<br />
stets nützlich zu machen. «Mach<br />
etwas Sinnvolles!», rufen wir unseren<br />
Kindern zu. Sich und sein Leben<br />
ständig zu optimieren und dauernd<br />
irgendwelchen Zielen oder Pflichten<br />
nachzujagen, kann uns jedoch ermüden.<br />
Ab und zu sollten wir den Mut<br />
haben, unsere Zeit zu verschwenden<br />
und in irgendwelchem Blödsinn zu<br />
schwelgen.<br />
Denn der Genuss liegt oft in den<br />
Dingen, die weder gesund noch<br />
sinnvoll sind: ein gutes Glas Wein,<br />
Süssigkeiten, fettiges Essen. Wenn<br />
wir uns diese Sachen gönnen, ohne<br />
ein schlechtes Gewissen zu haben,<br />
essen und trinken wir nicht mehr<br />
davon – aber wir geniessen sie stärker.<br />
Das Gleiche gilt für die etwas<br />
bescheuerten Hobbys, die wir gerne<br />
vor anderen geheim halten. Wenn<br />
ich morgens müde bin, dann liegt<br />
das oft daran, dass meine Kinder<br />
mich in der Nacht mehrmals ge -<br />
weckt haben. Manchmal trägt<br />
je doch Geralt die Schuld – mein<br />
Hexer, mit dem ich durch die wunderschön<br />
gestaltete Welt von «The<br />
Witcher 3» streife, mit Silber- und<br />
Stahlschwert gegen Monster und<br />
Banditen kämpfe und dabei das eine<br />
oder andere Herz schöner Zauberinnen<br />
erobere. So ein Abenteuer kann<br />
auch mal bis 2 Uhr morgens dauern.<br />
Peinlich? Ja. Aber spannend! Und<br />
die prachtvoll animierten Landschaften<br />
dieses Spiels «tun meinen<br />
Augen so gut».<br />
Viele von uns geniessen von Zeit<br />
zu Zeit etwas, das sie als peinlich<br />
empfinden. Die Amerikaner kennen<br />
dafür den Begriff «guilty pleasures»<br />
und umschreiben damit die Dinge,<br />
die wir gerne mögen – und von<br />
denen wir gleichzeitig das Gefühl<br />
haben, sie nicht mögen zu sollen.<br />
Die Playstation habe ich so platziert,<br />
dass meine Eltern sie nicht sehen,<br />
wenn sie zu Besuch kommen. Den<br />
Satz «ich hatte gehofft, diese Phase<br />
hättest du durch!» will ich nicht<br />
unbedingt hören. Dafür weiss ich,<br />
warum meine Mutter beim Telefonieren<br />
unruhig wird: Im Hintergrund<br />
läuft «Rosamunde Pilcher»,<br />
und sie mag es nicht so recht zugeben.<br />
Meine Frau liebt Vampirromane<br />
und meine Kollegin schaut in der<br />
Freizeit den Bachelor und «Zwischen<br />
Tüll und Tränen».<br />
Wenn wir diese Hobbys und Vorlieben<br />
schon vor anderen verheimlichen:<br />
Zumindest uns selbst könnten<br />
wir sie zugestehen und uns<br />
ihnen mit ganzer Wonne und roten<br />
Ohren hingeben. Und vielleicht<br />
gönnen wir diese Momente in<br />
Fragen Sie Ihre Kinder, wenn<br />
sie von der Schule nach Hause<br />
kommen: «Was möchtest du<br />
heute gerne noch machen?»<br />
gesundem Mass unseren Kindern<br />
und Jugendlichen, ohne ihnen mit<br />
dem Satz «Mach etwas Sinnvolles!»<br />
in den Ohren zu liegen.<br />
Kurztipps zum Thema «Geniessen»<br />
• Starten Sie den Tag mit der Frage:<br />
Was habe ich heute Schönes vor?<br />
• Fragen Sie Ihre Kinder, wenn sie<br />
von der Schule nach Hause kommen:<br />
«Was möchtest du heute<br />
gerne noch machen?»<br />
• Gönnen Sie sich entspannende<br />
Momente – auch wenn noch<br />
nicht alles erledigt ist. Ihre Todo-Liste<br />
kommt auch mal ohne<br />
Sie klar.<br />
• Planen Sie den Genuss. Suchen<br />
Sie sich bereits am Mittag den<br />
Film aus, den Sie gerne sehen<br />
möchten – anstatt am Abend einfach<br />
reinzuzappen. Fragen Sie<br />
sich, wie Sie sich die Zug- oder<br />
Autofahrt zur Arbeit und zurück<br />
versüssen könnten.<br />
• Vermiesen Sie sich selbst und<br />
Ihren Kindern lustvolle Momente<br />
nicht, indem sie scheinbar<br />
sinnlose Vergnügen als kindisch,<br />
nutzlos oder peinlich abwerten.<br />
Halten Sie sich stattdessen an das<br />
Zitat von Will Ferrell: «Kindisch<br />
ist ein Wort, das langweilige<br />
Menschen verwenden, um lustige<br />
Menschen zu beschreiben.»<br />
In der nächsten Ausgabe:<br />
Kinder unter Druck<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>57
Kolumne<br />
Kräftig in<br />
die Eier treten<br />
Michèle Binswanger<br />
Die studierte Philosophin<br />
ist Journalistin und Buchautorin.<br />
Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen,<br />
ist Mutter zweier Kinder<br />
und lebt in Basel.<br />
Erinnere ich mich daran zurück, wann ich mich zum ersten<br />
Mal als Frau fühlte, gibt es diesen einen Moment. Es war nicht<br />
der unvermeidliche rote Fleck in der Unterhose, nicht die<br />
schamvoll umklammerte Packung Tampons, sondern ein<br />
Auto. Mit quietschenden Reifen nahm es die Kurve, ein Mann<br />
beugte sich heraus und brüllte mir hinterher: «Geiler Arsch, du Stute!»<br />
Ich zeigte ihm den Finger – meinen heimlichen Stolz, solches Interesse<br />
zu erwecken, beschloss ich zu ignorieren.<br />
Meine Tochter ist ebenfalls fünfzehn, bald eine Frau. Neulich erzählte<br />
sie mir vom Ausgang. Sie war auf einer Party ihres Gymnasiums, eine<br />
öffentliche Veranstaltung in einer städtischen Halle. Die Musik war<br />
schrecklich, die Jungs peinlich, aber sie hatten grossen Spass. Oh, und<br />
ihre Gruppe von Mädchen sei übel begrabscht worden, erzählte sie beiläufig.<br />
Offensichtlich war da ein Mann, ein Erwachsener, der sich ihrer Gruppe<br />
näherte, die Kolleginnen an den Hintern fasste und meine Tochter, als<br />
sie sich schützend davor stellte, in die Brust kniff. Ich meinte mich verhört<br />
zu haben. «So ein Schwein!», rief ich: Wer das gewesen sei, jemand,<br />
den sie kenne? Hatte ihn sonst jemand gekannt? Sie lächelte unsicher,<br />
überrascht von meiner Reaktion: «Chill, Mama, so schlimm war es<br />
nicht.» Chill? Kommentarlos in die Eier treten sollte man so einen.<br />
Was meine Tochter mir signalisierte, ist beruhigend. Dass ich mir keine<br />
Sorgen machen muss, dass das ein Idiot war und sie mit der Erfahrung<br />
klarkommt. Ob meine Tochter aber auch wusste, was ich meine, bezweifle<br />
ich. Nämlich, dass sich kein Mann solch niederträchtige Übergriffe<br />
erlauben darf. Und keine Frau und schon gar kein Mädchen sich das<br />
gefallen lassen muss. Ganz egal, wie schlimm der Übergriff empfunden<br />
wird oder eben nicht.<br />
Die Pubertät ist eine Zeit der körperlichen Revolutionen. Haare<br />
spries sen, Brüste knospen, Hüften wachsen. Und die Blicke auf der Strasse<br />
verändern sich, wenn man als sexuelles Wesen wahrgenommen wird.<br />
Die Verwandlung wird oft von psychische Krisen begleitet, die sich in<br />
dieser Zeit in Form von Essstörungen oder Selbstverletzungen zeigen<br />
können. Dahinter steckt das Bedürfnis, die Kontrolle zurückzugewinnen,<br />
seine physischen und psychischen Grenzen zu manifestieren.<br />
Was braucht es, um sich in einer Wohnung, einer neuen Stadt, mit<br />
einem neuen Menschen heimisch zu fühlen? Es braucht Erfahrungen.<br />
Man holt Brot aus der Bäckerei zwei Strassen weiter, erlebt, wie der Park<br />
nebenan sich mit den Jahreszeiten verändert. Und genau so funktioniert<br />
es mit der Sexualität. Es geht darum, sich diesen neuen Körper und diese<br />
neue Persönlichkeit zu entdecken. Und vor allem zu erkennen, wo die<br />
Grenzen liegen und wie man sie schützt.<br />
Meine Tochter wird ihren eigenen Weg finden. Ich habe sie derweil für<br />
einen Krav-Maga-Kurs angemeldet. Dort lernt man effektive und gnadenlose<br />
Selbstverteidigungstechniken. Damit sie den nächsten Täter<br />
kräftig in die Eier treten kann.<br />
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren<br />
58 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
In Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Post<br />
Erziehung & Schule<br />
Kritzeln – Krakeln – Kleckern:<br />
Spiele zur Schreibmotorik<br />
Gut ausgebildete motorische Fertigkeiten erleichtern den späteren<br />
Handschrifterwerb in der Schule. Hier folgen drei spielerische Schreib- und<br />
Kritzelideen für den geübten Umgang mit Stift und Papier. Text: Johanna Oeschger<br />
Allerlei zum Schreiben<br />
«Wie schreibt man das?» Viele Kinder<br />
werden neugierig auf die Schreibweise<br />
von Wörtern, wenn sie einmal die ersten<br />
Buchstaben entdeckt haben. Eltern können<br />
die Wörter vorschreiben – oder<br />
helfen, sie aus Papier auszuschneiden,<br />
aus Teig- oder Knetwürsten zu formen,<br />
mit Schaum auf den Spiegel zu schreiben,<br />
mit dem Finger im Sand oder einem<br />
Zweig im Schlamm. Kinder freuen sich<br />
über die Spuren ihres Schreibens.<br />
Blind zeichnen<br />
Kinder können beim Malen oder Schreiben<br />
die Augen schliessen, verbinden<br />
oder ein Blatt vor das Gesicht halten.<br />
Fehlt plötzlich die visuelle Kontrolle<br />
beim Zeichnen oder Schreiben, werden<br />
die Bewegungen der Hand stärker wahrgenommen<br />
und prägen sich intensiver<br />
ein.<br />
Hintergrund<br />
Schreiben ist anstrengend und<br />
fordert Anfänger ganz speziell:<br />
Sie müssen nicht nur den Textinhalt<br />
planen, ordnen und ausformulieren,<br />
sondern auch viel Konzentration<br />
für das Formen der<br />
Buchstaben auf dem Papier aufwenden.<br />
Ist diese Grundfähigkeit<br />
erst einmal automatisiert, wird<br />
das Arbeitsgedächtnis entlastet<br />
und kann sich mit den übrigen<br />
Aufgaben des Schreibprozesses<br />
befassen. Ab der Primarstufe<br />
wird die flüssige und leserliche<br />
Handschrift deshalb systematisch<br />
geübt. Beim Basteln, Malen<br />
und Kritzeln verbessern Kinder<br />
ihre motorischen Fähigkeiten<br />
und lernen so schneller, von<br />
Hand zu schreiben.<br />
Katz und Maus<br />
Zwei Spieler halten je einen Stift im Dreipunktgriff<br />
(Stift zwischen Daumen,<br />
Zeig- und Mittelfinger) und führen ihn<br />
über ein Blatt. Spieler 1 spielt die «Katze»,<br />
Spieler 2 die «Maus». Wenn sich die<br />
Stiftspitzen berühren, ist die Maus<br />
gefangen.<br />
App-Tipp<br />
Bild: Plainpicture<br />
Kids Paint<br />
Eine App speziell für Kinder mit verschiedenen<br />
Utensilien zum Kritzeln, Zeichnen, Ausmalen<br />
oder Verzieren von Fotos. Für Tablet oder<br />
Smartphone (iOS und Android). Kosten: Fr. 1.–.<br />
Johanna Oeschger<br />
ist Literatur- und Sprachwissenschaftlerin,<br />
unterrichtet Deutsch und Englisch<br />
auf der Sekundarstufe II und arbeitet als<br />
Mediendidaktikerin bei LerNetz.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>59
Der Weg zu Franz Ziegler führt vorbei<br />
am Kindergarten und der Dorfschule.<br />
Kindergeschrei, da n wieder Sti le.<br />
Noch schne l die Dorfstra se<br />
überqueren, und man steht vor<br />
einem schn ewei sen Haus, dahinter<br />
grasen Kühe und Schafe. «Sie haben<br />
es aber schön hier!», sage ich, als die<br />
Tür aufgeht. Franz Ziegler lächelt:<br />
«Nicht wahr? In Zäziwil scheint seit<br />
Monaten die Sonne.»<br />
He r Ziegler, eine Mu ter, total<br />
gestre st, sagt im Zorn zu ihrer<br />
kleinen Tochter: «Manchmal würde<br />
ich dich am liebsten verkaufen!»<br />
Da hat die Mu ter ihre Tochter ge <br />
schlagen, würde ich sagen.<br />
Geschlagen?<br />
Ja, mit Worten. Verbale Gewalt ist<br />
die typischste Form von psychischer<br />
Gewalt. Deshalb spricht man auch<br />
Wie definiert man genere l psychische<br />
oder s elische Gewalt an Kindern?<br />
Monatsinterview<br />
von Wortschlägen.<br />
Das ist ein sehr komplexes und weites<br />
Thema. Psychische Gewalt ka n<br />
von einem einfachen Nebensatz wie<br />
«Kapierst du das eigentlich nie?» bis<br />
zum verbalen Treiben in den Selbst<br />
Auf jeden Fa l. In dem Moment, in<br />
mord führen: «Ich wünschte, du<br />
Erpre sen, Lächerlichmachen, De<br />
wärst tot.» Das wichtigste Merkmal Selbstvertrauens und das Vertrauen<br />
Mit dem Kind nicht mehr zu reden<br />
beziehungsweise ihm zu vermitteln,<br />
mütigen, Isolieren, Ignorieren oder<br />
auch permanente Schuldzuweisungen.<br />
dir, ist eine Form von Erpre sung.<br />
von psychischer Gewalt ist, da s<br />
vermi teln, sei es durch Drohen,<br />
Eltern ihrem Kind das Gefühl von<br />
Minderwertigkeit oder Wertlosigkeit<br />
Ein Fünfjähriger wi l sein Zimmer nicht<br />
aufräumen, die Mu ter redet auf ihn<br />
ein, nichts pa siert. Irgendwa n sagt<br />
sie gar nichts mehr. Auch auf die verunsicherte<br />
Nachfrage des Kindes hin,<br />
«Mama, was ist de n?», schweigt sie<br />
beharrlich. Ka n man in diesem Fa l<br />
von seelischer Gewalt sprechen?<br />
in andere zu untergraben anfange,<br />
reden wir von psychischer Gewalt.<br />
ich lieb dich nur, we n dein Zimmer<br />
aufgeräumt ist, und trete auch erst<br />
da n wieder in sozialen Kontakt mit<br />
Und we n sich die Mu ter nur zurückzieht,<br />
um am Ende nicht die Fa sung<br />
zu verlieren?<br />
Das ist eine andere Situation. Es ist<br />
ein Unterschied, ob sich eine Mu ter<br />
ein Timeout von zehn Minuten<br />
nimmt, dieses auch al solches deklariert,<br />
um da n wiede ruhiger mit<br />
dem Kind sprechen zu kö nen, oder<br />
ob sie beha rlich schweigt und jeden<br />
Versuch des Kindes, wieder mit ihr<br />
in Kontakt zu treten, boykottiert.<br />
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Eine<br />
13-Jährige kommt wiederholt mit<br />
schlechten Noten nach Hause, am<br />
Nachmi tag möchte sie mit ihren<br />
Freundi nen reiten gehen. «Lern du<br />
erst einmal vernünftig rechnen, so<br />
blöd wie du ka n man doch gar nicht<br />
sein», macht ihr Vater ihren Freizeitplan<br />
zunichte. Was tut er mit diesem<br />
Satz seiner Tochter an?<br />
Franz Ziegler<br />
beschäftigt sich<br />
schon seit über<br />
25 Jahren mit<br />
Kinderschutz.<br />
Er studierte<br />
Heilpädagogik<br />
und Psychologie.<br />
3<br />
Entspa nung.<br />
«Jeder verdient<br />
eine Chance»<br />
Erziehung & Schule<br />
Erziehung & Schule<br />
« Eltern, holt euch Hilfe!»<br />
Drohen, Erpressen, Demütigen – im Familiena ltag können nicht nur Ohrfeigen Kinder<br />
verletzen. Psychische Gewalt ist die häufigste Form von Gewalt gegen Minderjährige,<br />
sagt der Psychologe und Heilpädagoge Franz Ziegler. Der Kinderschutzexperte über<br />
ein Phänomen, das schwer einzugrenzen ist, aber quasi jede Familie betri ft.<br />
Interview: Evelin Hartma n Bilder: Ruben Wy tenbach / 13 Photo<br />
«Mit dem Kind<br />
nicht mehr zu<br />
reden, ist eine<br />
Form der<br />
Erpressung.»<br />
dem ich die Entwicklung seines ><br />
32 März <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
«Wie kann man nur so<br />
ausländerfeindlich sein?!»<br />
Eine Chance<br />
für Mohamed<br />
Ob man ans Gymnasium kommt oder nicht, entscheidet die Herkunft. Das ist leider<br />
auch in der Schweiz noch immer so. Das Programm ChagALL so l für mehr<br />
Chancengleichheit sorgen. Junge, begabte Migrantinnen und Migranten werden<br />
dabei für eine höhere Schu laufbahn fit gemacht. Eine Erfolgsgeschichte.<br />
Text: Evelin Hartma n Bilder: Roshan Adihe ty / 13 Photo<br />
52<br />
Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
(Konterleserbrief zum Leserbrief von Marco Specker<br />
zum Artikel «Eine Chance für Mohamed», Heft 3/<strong>2017</strong>)<br />
Für eine be sere<br />
Konzentration:<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Februar <strong>2017</strong> 53<br />
Mohamed (rechts)<br />
und die anderen<br />
Teilnehmer lernen<br />
Übungen zur<br />
«Worte können einen ein halbes<br />
Leben lang verfolgen»<br />
(Monatsinterview zum Thema psychische<br />
Gewalt, Heft 3/<strong>2017</strong>)<br />
Ein äusserst wertvoller Artikel, der bewusst macht, wie<br />
mächtig Sprache ist. Besonders prägend entfalten sich<br />
negative, kühle und gezielt eingesetzte Worte, die einen<br />
ein halbes Leben lang verfolgen können.<br />
Ein Beispiel: Meine erste Handarbeitslehrerin war<br />
sich politisch mit meinem Vater nicht einig und liess<br />
ihren Unmut über seine Haltung an mir aus mit der<br />
Bemerkung: «Jetzt kommst wieder du mit deinen zwei<br />
linken Händen.» Es gelang ihr in drei Jahren, mein<br />
Selbstbewusstsein in allem, was Handarbeit betraf, für<br />
Jahre zu zerstören, so dass ich immer zitterte, wenn ich<br />
etwas vorzeigen wollte. Als ich die Prüfung für die<br />
Bezirksschule Aarau mühelos bestand, fragte sie: «Wie<br />
kann jemand, der keinen geraden Saum hinbringt, so<br />
etwas erreichen?»<br />
Ich wurde später Lehrerin und unterrichtete gern,<br />
aber erst die eigenen Kinder brachten mich von der<br />
fixen Idee ab, ich hätte zwei linke Hände, indem sie mich<br />
einfach immer wieder voller Vertrauen fragten und<br />
baten: Mami, bitte hilf mir. Mami, kannst du das wieder<br />
flicken? Mami, wie geht das? Ich hüte mit meinem<br />
Mann regelmässig unsere Enkelbuben, und wie Sie<br />
sehen, ist mir dieser despektierliche Satz, diese<br />
Beurteilung oder Verurteilung durch die Handarbeitslehrerin<br />
immer noch bewusst.<br />
Ursula Fehr, Eglisau (auf www.fritzundfraenzi.ch)<br />
Ich bin auch geschockt, aber auch fassungslos und traurig! Und zwar<br />
ob des von Fremdenhass triefenden Leserbriefs von Marco Specker.<br />
Was bringt Menschen wie ihn dazu, so ausländerfeindlich zu sein und<br />
zu glauben, etwas Besseres zu sein? Nur weil wir das grosse Glück<br />
haben, in einem verhältnismässig sicheren und schönen Land leben zu<br />
dürfen, haben wir nicht das Recht, andere, die zudem Krieg und Gewalt<br />
miterleben müssen, zu diskriminieren. Niemand kann etwas für seine<br />
Hautfarbe, seine Herkunft und seine Wurzeln. Statt Hetze zu betreiben,<br />
Angst zu schüren, Ausländer vorzuverurteilen, auszugrenzen besser<br />
integrieren, etwas mehr Dankbarkeit zeigen – dafür, auf der sonnigen<br />
Seite des Lebens leben zu dürfen, fernab von Krieg, Gewalt, Terror und<br />
Menschenrechtsverletzungen. Im Gegensatz zu Herrn Specker lehren<br />
wir unseren Kindern, dass es weder auf die Herkunft, Hautfarbe,<br />
Religion noch auf die Sprache ankommt, sondern allein auf den<br />
Menschen, dessen innere Werte und Charakter. Jeder hat eine Chance<br />
verdient! Herr Specker: In rund 195 Ländern sind auch Sie Ausländer!<br />
Andrea Mordasini, Bern (per Mail)<br />
«Mit Herzblut und<br />
Kompetenz produziert»<br />
(Spezialheft Gesundheit, Heft 3/<strong>2017</strong>)<br />
Das haut auch einen alten Mediengaul aus den<br />
Socken: Eure neue Nummer mit der Gesundheits-<br />
Beilage ist bewundernswert. Ich weiss und bedaure<br />
es, dass ein solches Medium, das mit viel Herzblut<br />
und grosser Kompetenz produziert wird, im Tsunami<br />
des Internets zu wenig Beachtung findet. Leider zählt<br />
heute der geile Reiz mehr als wahre Werte und Inhalte.<br />
Hans Jürg Deutsch, Ringier AG, Projekte/Beratung<br />
(per Mail)<br />
60 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Jesper J ul<br />
ist Familientherapeut und Autor<br />
zahlreicher internationaler Bestse ler<br />
zum Thema Erziehung und Familien.<br />
1948 in Dänemark geboren, fuhr er<br />
nach dem Schulabschlu s zur S e, war<br />
später Betonarbeiter, Te lerwäscher<br />
und Bark eper. Nach der<br />
Lehrerausbildung arbeitete er als<br />
Heimerzieher und Sozialarbeiter<br />
und bildete sich in den Niederlanden<br />
und den USA bei Walter Kempler zum<br />
Familientherapeuten weiter. Seit 2012<br />
leidet J ul an einer Entzündung der<br />
Rückenmarksflüssigkeit und sitzt im<br />
Ro lstuhl.<br />
Jesper J ul hat einen erwachsenen<br />
Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter<br />
Ehe geschieden.<br />
Kolumne<br />
ein Ma n und ich<br />
sind seit acht Jahchen<br />
ha te.<br />
ren verheiratet<br />
und haben eine<br />
über Selbstmordgedanken gespro-<br />
Ich arbeite, habe promoviert und<br />
bin total erschöpft. Wir haben auch<br />
siebenjährige,<br />
wunderbare Tochter. Als ich ihn<br />
ich im A leingang. Unterstützung<br />
ten Gewohnheit. Alkohol war ein<br />
ke nenlernte, hat er oft getrunken.<br />
finanzie le Probleme. Und a les, was<br />
mit unserer Tochter zu tun hat, re gle<br />
Begleiter jeder Auseinandersetzung.<br />
Das wurde mit der Zeit zu einer fes-<br />
bekomme ich gar keine – und zwar<br />
Er arbeitet vorwiegend nachmit-<br />
momentan auf ein Telefongespräch<br />
reduziert.<br />
tags und abends. Seine Präsen zu<br />
Hause beschränkt sich meist auf den<br />
So ntag. Erst we n sein Schlafbedürfnis<br />
gedeckt ist, hat er für die<br />
Tochter etwas Zeit, die er am liebsten<br />
in der Wohnung verbringt. Ich mu s<br />
seit Anfang an. Die Kommunikation<br />
zwischen mir und meinem Ma n ist<br />
Unsere Tochter spürt die Frustration<br />
und Nervosität meinerseits und<br />
ist unglücklich, da sie wenig von<br />
ihrem Papa hat. Sie vermi st seine<br />
oft intervenieren, damit es zu einer<br />
gemeinsamen Aktivität kommt.<br />
Sie hat keine Strategi entwickelt,<br />
sendung, oder wir e sen zusammen.<br />
Die Ro lenaufteilung in der Familie<br />
ist kla sisch: Der Ma n bringt das<br />
Geld nach Hause, die Frau steht hinterm<br />
Herd und erzieht die Kinder.<br />
Damit bin ich nicht einverstanden.<br />
Ich bin anders erzogen worden, füg-<br />
A lerdings ka n sie nicht diploma-<br />
te mich aber zum Wohl des Kindes. tisch sein.<br />
Nach Jahren mu ste ich feststellen,<br />
da s mein Ma n depre siv ist. Er<br />
hat das auch zugegeben, nachdem er<br />
Aufmerksamkeit und leidet darunter.<br />
Seit einem Jahr ist sie sehr wei-<br />
Dann schaut er mit ihr eine Kinder-<br />
ausgeschlo sen, sagt öfters, sie habe<br />
um nach einem Ersatz oder Ausweg<br />
zu suchen, we n sie ausgeschlo sen<br />
nerlich, fühlt sich oft von Kindern<br />
einen schlechten Tag und sei traurig.<br />
wird. Sonst gibt sie gern den Ton an,<br />
das liegt in ihrem Temperament.<br />
Eigentlich fühlen wir uns beide<br />
ausgeschlo sen, nicht wahrgenommen.<br />
Unsere Bedürfni se werden<br />
gar nicht erkannt. Ich bewege mich<br />
in einem Teufelskreis.<br />
Ich habe Hilfe gesucht, gehe zur<br />
Kindertherapeutin meiner Tochter<br />
und ka n in Gesprächen etwas von<br />
und verstehen. Auch das Verhalten<br />
meinem Frust erke nen, begründen<br />
meiner Tochter spreche ich an, da<br />
I lustration: Petra Dufkova/Die I lustratoren<br />
sie mir gegenüber seit Jahren grob<br />
ist. Und ich habe vor, mit meinem<br />
Ma n bei unserem Hausarzt seine<br />
Depre sion und Behandlungsmöglichkeiten<br />
zu besprechen.<br />
Ic habe über eine Trennung<br />
nachgedacht. Aber ich befürchte,<br />
da s es da n gar keinen Austausch<br />
mehr zwischen Tochter und Vater<br />
gibt. Anderseits bietet eine glückliche<br />
Mu ter wohl mehr Halt als eine<br />
überforderte und unglückliche, die<br />
keinen Ausweg sieht. Wie sehen Sie<br />
das, He r J ul?<br />
Antwort von Jesper J ul<br />
Vielen Dank für Ihr Vertrauen und<br />
di ehrliche, direkte Art, mit welcher<br />
Sie Ihre Familiensituation schildern;<br />
das ist für mich und auch für viele<br />
andere Familien, die mit ähnlichen<br />
Problemen kämpfen, hilfreich. Es<br />
gibt aber eine wesentliche Information,<br />
die ich Ihrem Brief nicht entnehmen<br />
kann: Lieben Sie Ihren<br />
Ma n? Ich frage das deshalb: So lten<br />
Si es nicht tun, ist es für mich<br />
schwer vorste lbar, woher Sie die<br />
Energie und das Durc haltevermögen<br />
nehmen werden, um die nächsten<br />
drei bis fünf Jahre zu überstehen,<br />
unabhängig davon, welche Entscheidung<br />
Sie treffen.<br />
Ich bin überzeugt davon, da s der<br />
Schmerz Ihrer Tochter Ihnen schon<br />
gezeigt hat, da s Sie ihr keinen<br />
Gefa len damit getan haben, die<br />
L ere Ihrer Ehe über so viele Jahre<br />
hinweg zu erdulden. Sie beide sind<br />
der Dynamik zum Opfer gefa len,<br />
welche vom inkompetentesten Mitglied<br />
der Familie, Ihrem Ma n, definiert<br />
wird.<br />
Es braucht immer zwei Personen,<br />
um eine destruktive Beziehung zu<br />
schaffen, und in Ihrem Fa l haben<br />
Sie Ihrem Ma n die Macht gegeben,<br />
die er jetzt hat. Es ist, als ob Sie ihm<br />
die Autoschlü sel in die Hand drücken<br />
und ihn darum bitten würden,<br />
mit Ihnen a len betrunken zu fahren.<br />
Vor einem moralischen Richter<br />
verliert der Alkoholisierte immer,<br />
aber im richtigen Leben sind Sie beide<br />
gleicherma sen verantwortlich,<br />
und nur Ihre Tochter ist das Opfer.<br />
Ic hebe dies in der Hoffnung<br />
hervor, da s Sie damit anfangen werden,<br />
Ihre wertvo le Energie dafür zu<br />
verwenden, für sich selber zu kämpfen<br />
und nicht gegen ihn. Je länger Sie<br />
so weitermachen wie bisher, je<br />
schuldiger wird er sich fühlen, und<br />
Schuld macht ihn durstig. Wenn es<br />
Ihnen gelingt, die Verantwortung<br />
für sich selber und Ihre Tochter zu<br />
übernehmen, kö nt es ihn dazu<br />
inspirieren, die Verantwortung für<br />
sein Leben zu übernehmen.<br />
We n es wahr ist, da s er seit vielen<br />
Jahren unter einer starken De <br />
pre sion leidet, hat er den de struktivsten<br />
Weg, damit umzugehen,<br />
gewählt, nämlich zu einem introvertierten,<br />
unverantwortlichen, selbstzerstörerischen<br />
Ma n und Vater zu<br />
werden. Ich sage bewu st «gewählt»,<br />
weil es andere Möglichkeiten gab,<br />
zum Beispiel den Schmerz mit<br />
Ihnen zu teilen oder profe sione le<br />
Hilfe in Anspruch zu nehmen.<br />
Diese schlechte Wahl war in der<br />
Hinsicht ansteckend, als Sie und<br />
Ihre Tochter seine Strategie kopiert<br />
haben. Ihnen und der Zu kunft Ihrer<br />
Tochter zuliebe und um möglicherweise<br />
eine si nvo le Partnerschaft zu<br />
schaffen, mü sen Sie jetzt verantwortlich<br />
werden und eine der folgenden<br />
Entscheidungen treffen:<br />
1. We n Ihre Liebe für ihn erschöpft<br />
ist, schulden Sie es Ihnen beiden,<br />
sich von ihm scheiden zu la sen.<br />
Di ersten Monate, nachdem Sie<br />
und Ihre Tochter ausgezogen sind,<br />
werden zeigen, ob er sich emotional<br />
als Teilzeitvater qualifizieren<br />
möchte. Der erste Schri t ist, mit<br />
dem Trinken aufzuhören.<br />
2. We n Sie ihn immer noch lieben,<br />
so wie er ist, mü sen Sie von ihm<br />
verlangen, da s er zur Kur geht<br />
und trocken wiederkommt. Solang<br />
er an einem Programm teilnimmt,<br />
geben Sie ihm alle Unterstützung,<br />
welche sein Betreuer<br />
vorschlägt. Denken Sie nie, da s<br />
Ihre Liebe ihn heilen ka n. Nur er<br />
selber ka n sich heilen, und Sie<br />
können ihn in den folgenden<br />
Monaten und Jahren dabei unterstützen.<br />
We n Ihr Hausarzt ihn<br />
als klinisch depre siv diagnostiziert<br />
und ihm Antidepre siva verschreibt,<br />
mu s er am selben Tag<br />
mit dem Trinken aufhören und<br />
nicht warten, bis er sich weniger<br />
depre siv fühlt. Sie und Ihre Tochter<br />
mü sen in Bezug auf Ihren<br />
Umgang miteinande realistische<br />
Erwartungen haben. Sehr oft<br />
erzeugen Antidepre siva ein mattes<br />
Gefühlsleben.<br />
Ganz gleich, welche Entscheidung<br />
Sie treffen, für Ihre Tochter wird es<br />
das Geschenk ihres Lebens sein.<br />
Nicht nur die Beziehung zu ihrem<br />
Vater wird viel klarer, Sie bekommt<br />
auch in Ihnen ein weibliches Vorbild,<br />
da sich weigert, ein Opfer zu sein.<br />
Sie mu s da sehr bald lernen.<br />
Die Kolumnen von Jesper J ul entstehen<br />
in Zusammenarbeit mit<br />
Leserbriefe<br />
«Bleibt nur die Trennung?»<br />
(«Kämpfen Sie für sich selbst, nicht<br />
gegen Ihren Mann», Heft 2/<strong>2017</strong>)<br />
Kämpfen Sie für sich selbst,<br />
nicht gegen Ihren Mann!<br />
Ein Familienvater trinkt, zieht sich zurück, wirkt depressiv. Seine Familie leidet darunter.<br />
Die siebenjährige Tochter fühlt sich allein und ausgeschlo sen. Seine Frau bi tet Jesper Juul<br />
um Rat – und bekommt eine Antwort, die sie vor eine grundlegende Entscheidung ste lt.<br />
M<br />
Es braucht immer zwei<br />
Personen, um eine destruktive<br />
Beziehung zu scha fen.<br />
Werden Sie für Ihre Tochter ein<br />
weibliches Vorbild, da sich weigert,<br />
ein Opfer zu sein. Sie muss das<br />
sehr bald lernen.<br />
36 Februar <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Februar <strong>2017</strong> 37<br />
«Diese Familie braucht echte Hilfe»<br />
(«Kämpfen Sie für sich selbst, nicht gegen Ihren<br />
Mann», Heft 2/<strong>2017</strong>)<br />
Mir erscheint Jesper Juuls Antwort aufgrund der vorliegend geschilderten<br />
Lage nachvollziehbar. Beim Lesen empfinde ich die Anfrage der Mutter als<br />
Bitte um Rechtfertigung einer Trennung. Nachvollziehbar, und aus meiner<br />
Sicht sehr verständlich.<br />
Mein Mann trinkt ebenfalls viel und regelmässig Alkohol. Er ist ein<br />
liebevoller Papa und Ehemann, aufmerksam, fürsorglich. Er wirkt<br />
praktisch nie betrunken. Alles läuft, der Job, der Haushalt (den grösstenteils<br />
er schmeisst), die Familie. Für ihn gibt es keinen Grund, etwas zu<br />
ändern. Aber ich möchte nicht, dass unsere beiden Kinder in einem<br />
Umfeld aufwachsen, in dem solche Mengen Alkohol «normal» sind.<br />
Auch ich habe an eine Trennung gedacht. Doch der Psychologe in der<br />
Suchtberatung hat mir andere Sichtweisen aufgezeigt. Dass z. B. das<br />
Suchtproblem für die Kinder durch die Trennung nicht gelöst wird. Dass<br />
ihr Papa in die «Jetzt erst recht»-Position gehen könnte und ich weniger<br />
mitbekäme, was laufe. Er sagte, dass eine Trennung zu einer Therapie<br />
führen könnte oder auch nicht. Dass das weder in meiner Macht noch in<br />
meiner Verantwortung stehe. Dass es vielmehr meine Erwartung sei, dass<br />
mein Mann meine Sicht übernehme und sich dieser unterordne, statt dass<br />
ich ihm die Verantwortung eines selbständigen Erwachsenen überlasse,<br />
seinen eigenen Umgang und Ausweg aus der Situation zu finden.<br />
So frage ich mich bei der Antwortmöglichkeit zwei, die Jesper Juul<br />
gegeben hat: Was ist die Konsequenz, wenn sich der Mann gegen eine<br />
Entwöhnungskur entscheidet? Es würde mich unheimlich interessieren,<br />
ob er wirklich nur den Weg der Trennung sieht.<br />
Madeleine (per Mail)<br />
Jesper Juul mag eine grosse Ahnung von vielem haben, doch mit<br />
der Psychiatrie scheint er sich nicht auszukennen. Dieser<br />
Dampfhammer-Text ist brandgefährlich. Er kann eine sehr rasche<br />
und sehr gravierende Dynamik auslösen. Dass der alkoholkranke<br />
Vater für eine Therapie aus dem System genommen wird, ist<br />
sicher sinnvoll. Aber ohne peitschenden Mahnfinger in der Luft.<br />
Das ist 100 Prozent kontraproduktiv. Es gibt Probleme, die sich<br />
nicht mit einem markigen Textchen lösen lassen. Diese Familie<br />
benötigt echte Hilfe. Die Mutter wird leider noch viel Geduld und<br />
Energie aufbringen müssen, es gibt keine Blitzwunder.<br />
Ich kenne Menschen, die Angehörige durch Suizid verloren<br />
haben. Das ist für alle Hinterbliebenen die schlimmstmögliche<br />
Wendung.<br />
Markus Urs Leutwyler (via Facebook)<br />
Schreiben Sie uns!<br />
Ihre Meinung ist uns wichtig! Was machen wir gut?<br />
Was könnten wir besser machen? Lassen Sie es uns<br />
wissen! Sie erreichen uns über: leserbriefe@fritzundfraenzi.ch<br />
oder Redaktion Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97, 8008 Zürich.<br />
Und natürlich auch über Twitter: @fritzundfraenzi<br />
oder Facebook: www.facebook.com/fritzundfraenzi.<br />
Kürzungen behält sich die Redaktion vor.<br />
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richtigen Zeitpunkt kann aufgehen, wenn sich kaufen in der Börsenhausse weniger (teure),<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi April <strong>2017</strong>61<br />
die Finanzmärkte nach der Investition positiv ent<br />
bei tiefen Kursen dafür mehr (günstige) Anteile.
Hochbegabt –<br />
na und?<br />
Im Atelier Plus in Arth-Goldau SZ<br />
werden hochbegabte Schüler<br />
unterrichtet. Sie sind intelligent,<br />
wissbegierig und kontaktfreudig –<br />
aber vor allem sind sie ganz normale<br />
Kinder. Ein Unterrichtsbesuch.<br />
Text: Matthias von Wartburg Fotos: Gabi Vogt / 13 Photo<br />
Schulhaus Sonnegg, erster<br />
Stock. An der Tür des Ateliers<br />
Plus streckt einem<br />
Albert Einstein die Zunge<br />
entgegen. «Er er forschte<br />
die Zeit und den Raum», steht unter<br />
der Bleistiftzeichnung geschrieben.<br />
Wer den Raum betritt, sieht acht<br />
weisse Labormäntelchen an einer<br />
Kleiderstange. Auf dem Labortisch<br />
stehen Re agenzgläser, Trichter, Flaschen,<br />
Pipetten und Petri schalen.<br />
Im hinteren Bereich des Zimmers<br />
steht ein Aquarium. Die Schülerpulte<br />
sind zu vier Arbeitsstationen<br />
zusammengestellt. Darauf Laptops,<br />
Mikroskope und Lupen.<br />
Hier im Atelier Plus werden<br />
hochbegabte Kinder gefördert. Jede<br />
Woche verlassen sie an einem Vormittag<br />
ihre Regelklasse, streifen die<br />
Labormäntel über und werden zu<br />
kleinen Forscherinnen und Forschern.<br />
Das Förderprogramm be <br />
steht seit zehn Jahren. Es ist ein Pionierprojekt.<br />
>>><br />
Die<br />
hochbegabten<br />
Kinder<br />
werden einmal<br />
in der Woche<br />
im Atelier Plus<br />
gefördert.<br />
62 <br />
April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>63
Erziehung & Schule<br />
>>> 08.01 Uhr, die ersten Schüler<br />
betreten den Raum. Jonas, elf Jahre<br />
alt, packt seinen Zauberwürfel mit<br />
den verschiedenfarbigen Flächen<br />
aus, drehen, schrauben, drehen,<br />
schrauben, kurzes Innehalten – drehen,<br />
schrauben. «Ich kann ihn in 38<br />
Sekunden lösen. Der Weltrekord<br />
liegt bei 4 Sekunden.» Jonas will<br />
einen neuen Zauberwürfel entwickeln.<br />
«Dafür werde ich das System<br />
eines älteren Würfels mit dem<br />
Innenleben des neusten Exemplars<br />
kombinieren.»<br />
Hochbegabte Kinder als solche<br />
überhaupt zu erkennen, ist die grosse<br />
Herausforderung. Noch vor zehn<br />
Jahren galt die Prämisse: Ab einem<br />
IQ von 130 gilt ein Kind als hochbegabt.<br />
«Von dieser Definition sind<br />
wir längst abgekommen», sagt Victor<br />
Müller-Oppliger. Der Schweizer<br />
Experten schätzen, dass in der<br />
Schweiz 10 bis 15 Prozent der<br />
Kinder hochbegabt sind<br />
und gefördert werden sollten.<br />
Experte in Sachen Hochbegabung<br />
leitet den Masterstudiengang Begabungsförderung<br />
an der Fachhochschule<br />
Nordwestschweiz, bei dem<br />
sich aktive Lehrkräfte zum Thema<br />
Hochbegabung weiterbilden.<br />
«Der klassische IQ-Test greift viel<br />
zu kurz. Er verengt die Hochbegabung<br />
auf eine akademische Intelligenz.<br />
Dabei gibt es zum Beispiel<br />
auch musikalische, gestaltende,<br />
sozia le und kreative Begabungen,<br />
die sich mit IQ-Tests nicht erfassen<br />
lassen», sagt Müller-Oppliger.<br />
Die derzeit in der Wissenschaft<br />
anerkannte Definition der Hochbegabung<br />
bestehe aus verschiedenen<br />
Aspekten: «Hochbegabung wird<br />
definiert als Möglichkeit zu Hochleistungen,<br />
die im Vergleich zu<br />
Gleichaltrigen durch Exzellenz, Seltenheit,<br />
Produktivität, Demonstrierbarkeit<br />
und besonderen Wert auffallen.»<br />
Im Atelier Plus bittet Thomas<br />
Berset die Schüler an den Konferenztisch.<br />
Als Beobachter erhält<br />
man den Eindruck, die Lehrperson<br />
spreche zu einer Gymnasialklasse<br />
und nicht zu Zweit- bis Fünftklässlern.<br />
«Wir sind heute etwas dezimiert.<br />
Minus drei. Ein Junge ist<br />
krank, zwei sind am Skitag.» Die<br />
morgendliche Konferenz beginnt,<br />
die Kinder sprechen über den Stand<br />
Der grösste<br />
Unterschied zum<br />
Unterricht in der<br />
Regelschule: Im<br />
Atelier Plus<br />
haben die Kinder<br />
viel mehr Zeit.<br />
>>><br />
64 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
ihrer Forschung. Der neunjjährige<br />
Jeremia untersucht momentan den<br />
Körper von Salzwasserkrebsen. Die<br />
Tierchen sind nur wenige Millimeter<br />
lang. Sie zu untersuchen, braucht<br />
Geduld und technische Hilfsmittel.<br />
Jeremia präsentiert ein stark vergrössertes<br />
Foto. «Ich habe diese Härchen<br />
hier entdeckt. Die haben wir vorher<br />
noch nie gesehen. Wir vermuten,<br />
dass nur die Männchen solche Härchen<br />
am Körperende haben.» – «Das<br />
wäre natürlich spannend», sagt<br />
Karol, 11 Jahre, «das wäre ein weiteres<br />
Merkmal für die Geschlechterunterscheidung.»<br />
Solche Förderprogramme gibt es<br />
längst nicht an jeder Schweizer Schule.<br />
Hochbegabte Kinder gibt es aber<br />
überall. Der Experte Victor Müller-<br />
Oppliger sagt: «Wir gehen davon<br />
aus, dass 10 bis 15 Prozent der Kinder<br />
das Potenzial hätten, mehr zu<br />
leisten. Und diese Kinder sollte man<br />
unbedingt fördern.»<br />
Dabei sei die Förderung von<br />
Hochbegabten in der Schweiz nach<br />
wie vor keine Selbstverständlichkeit.<br />
«Es ist grobfahrlässig, dass wir nicht<br />
besser hinschauen. Es ist problematisch<br />
für hochbegabte Kinder, die<br />
sich nicht verstanden fühlen und<br />
leiden. Und es ist ein Problem für die<br />
Volkswirtschaft, denn wir verpassen<br />
die Chance, Begabungen zu fördern,<br />
auf die unsere Gesellschaft zum<br />
Erhalt ihrer Wohlfahrt dringend<br />
angewiesen ist.»<br />
Im Atelier Plus meldet sich der<br />
neunjährige Noel zu Wort: «Wir<br />
fragten uns: Können die Salzwasserkrebse<br />
riechen? Wir haben einen<br />
Versuch gemacht, in dem wir acht<br />
Krebse und Algenfutter in eine Petrischale<br />
gegeben haben. Unsere Vermutung<br />
war, dass alle acht zum Futter<br />
schwimmen. Das war dann aber<br />
nicht der Fall. Wir fanden heraus,<br />
dass das Licht einen Einfluss hat. Die<br />
Salzwasserkrebse schwimmen weg<br />
vom Sonnenlicht.» Noel erhält den<br />
Auftrag, das Experiment mit der<br />
doppelten Versuchszeit zu wiederholen.<br />
«Die Schüler sollen lernen, sich<br />
in andere Projekte hineinzudenken<br />
und konstruktive Kritik anzubringen.<br />
Gleichzeitig lernen die Kinder<br />
so, andere Ideen anzunehmen und<br />
Kritik zu ertragen. Heute war es<br />
diesbezüglich noch harmlos», sagt<br />
Thomas Berset.<br />
Berset war ursprünglich Primarlehrer,<br />
promovierte später in Biologie<br />
und war lange in der Forschung<br />
tätig. Warum er beim Atelier Plus<br />
arbeitet? «Ich wollte den hochbegabten<br />
Kindern die Möglichkeit geben,<br />
das naturwissenschaftliche Forschen<br />
zu entdecken. Ausserdem betreibe<br />
ich Lernforschung und entwickle<br />
Lernmittel. Die hochbegabten Kinder<br />
sind sozusagen Teil meines Forschungsprojektes.<br />
Habe ich eine<br />
neue Idee für ein Lernmittel, teste<br />
ich sie hier bei meinen Schülern.»<br />
Thomas Berset schaut zu, wie<br />
Noel mit einer Pipette acht Salzwasserkrebse<br />
aus dem Aquarium fischt,<br />
um sie später für seinen Test in die<br />
Petrischale zu geben. «Ich gebe<br />
ihnen Strukturen vor, aber innerhalb<br />
dieser Strukturen haben sie alle<br />
Freiheiten», sagt die Lehrperson.<br />
«Der grösste Unterschied zum<br />
Unterricht in der Regelklasse ist,<br />
dass wir hier viel mehr Zeit haben.<br />
Wir können uns viel länger einem<br />
Thema widmen. Dieses Setting lässt<br />
es auch zu, dass die Kinder Misserfolge<br />
haben, dass sie mit ihrer Forschung<br />
in eine Sackgasse geraten.<br />
Solche Prozesse brauchen Zeit, sind<br />
aber enorm lehrreich.» Hinter all<br />
dem steht für Thomas Berset ein<br />
Ziel: «Im Grunde geht es darum, die<br />
hochbegabten Kinder anzustacheln<br />
und für die Welt der Wissenschaft<br />
zu begeistern.»<br />
Derweil werkeln die Schüler im<br />
Atelier Plus in Zweierteams an ihren<br />
Aufgaben. Es sind ausschliesslich<br />
Knaben. Das einzige Mädchen ist<br />
heute am Skitag. Der elfjährige Karol<br />
programmiert eine Webseite. Zu <br />
sammen mit einem anderen Schüler<br />
hat er im Tierpark stundenlang die<br />
Fütterung von Steinböcken beobachtet<br />
und verhaltensbiolo >>><br />
«Hochbegabte Kinder<br />
gibt es überall»<br />
Vor zehn Jahren gründete Rektor Adrian<br />
Dummermuth das Förderprogramm Atelier<br />
Plus, eines der ersten Angebote dieser Art.<br />
Adrian Dummermuth, warum haben Sie damals<br />
mit der Hochbegabtenförderung begonnen?<br />
An fast jeder Schule gab es sonderpädagogische<br />
Konzepte mit dem Ziel, lernbehinderte beziehungsweise<br />
lernschwache Schülerinnen und Schüler im<br />
Regelklassenverband zu integrieren. Auch unsere<br />
Schule hat schon sehr früh viel Geld und Zeit in ein<br />
solches Programm investiert – und macht es heute<br />
noch. Aber auf der Gegenseite des Spektrums gab<br />
es nichts. Für mich ist es eine Frage der Chancengerechtigkeit,<br />
dass man auch hochbegabten Kindern ein<br />
Angebot bereitstellt.<br />
Die Finanzierung war nie ein Problem?<br />
Nie. Die lokale Politik sah und sieht dieses Angebot als<br />
Bestandteil des Profils unserer Schule. Und die Kosten<br />
sind überschaubar. An unserer Schule haben wir ein<br />
Budget von 12 Millionen Franken. Das Atelier Plus kostet<br />
uns rund 40 000 Franken im Jahr.<br />
Wird in der Schweiz genug unternommen in<br />
Sachen Hochbegabtenförderung?<br />
Nein, die Spitzenförderung wird in der Schweiz noch<br />
immer stiefmütterlich behandelt. Hochbegabte Kinder<br />
gibt es überall, aber nicht überall werden sie gefördert.<br />
In der Gemeinde Arth mit den Schulstandorten Arth<br />
und Goldau haben wir rund 900 Primarschulkinder.<br />
Darunter hatte es all die Jahre genug Hochbegabte,<br />
um ein Förderprogramm zu betreiben.<br />
Hochbegabtes Kind?<br />
Was Eltern wissen müssen<br />
• Interessiert sich Ihr Kind auffällig früh für die<br />
verschiedensten Themen oder ist es den anderen<br />
Kindern allgemein weit voraus, könnte es<br />
hochbegabt sein.<br />
• Im Zweifelsfall kann eine Abklärung helfen. Solche<br />
Abklärungen macht zum Beispiel der<br />
schulpsychologische Dienst.<br />
• Ist Ihr Kind hochbegabt, informieren Sie die Schule<br />
und suchen Sie gemeinsam nach Möglichkeiten,<br />
Ihr Kind zu fördern.<br />
• Geben Sie Ihrem hochbegabten Kind die Chance,<br />
Kind zu bleiben. Unterstützen Sie auch Interessen<br />
des Kindes, die nicht die Schule betreffen.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>65
Erziehung & Schule<br />
>>> gisch untersucht. Wer darf<br />
zuerst zum Futter? Wer hat am meisten<br />
Rechte in der Gruppe? Aus den<br />
Erkenntnissen haben die Schüler<br />
einen Fragebogen erstellt. Künftig<br />
können Schüler im Tierpark via<br />
Smartphone die Webseite von Karol<br />
aufrufen und so ein interaktives<br />
Lehrmittel nützen. Für die Schüler<br />
sei es enorm wichtig, dass ihre Forschung<br />
produktorientiert sei, sagt<br />
Thomas Berset: «Forschung kann<br />
man nicht im kleinen Kämmerlein<br />
machen. Letztes Jahr hielten meine<br />
Schüler zum Beispiel einen grossen<br />
Vortrag an der Uni Freiburg.»<br />
Aber auch Berset selbst hat den<br />
Anspruch, dass sein Unterricht Produkte<br />
erzeugt. Aus den Experimenten<br />
seiner Schüler entstehen immer<br />
wieder ganze Forschungskisten für<br />
Regelklassen. «Es braucht zum Beispiel<br />
sehr viel Aufwand, bis man für<br />
die ganze Klasse Salzwasserkrebse<br />
züchten kann, das wäre für eine<br />
Lehrperson in der Regelklasse nicht<br />
zumutbar. Indem ich diese Projekte<br />
samt Beschrieb und Material an<br />
Regelklassen verteile, können auch<br />
diese von der Hochbegabtenförderung<br />
profitieren.»<br />
Aber was genau unterscheidet<br />
hochbegabte Schüler von Schülern<br />
seiner Regelklasse – neben der<br />
hohen Begabung? «In erster Linie<br />
sind es ganz normale Kinder. Was<br />
mir aber auffällt: Sie sind alle enorm<br />
selbstbewusst. Ich hatte noch nie ein<br />
Kind, das sagte: Das traue ich mir<br />
jetzt nicht zu. Dazu kommt, dass alle<br />
sehr interessiert sind. Einmal hat ein<br />
Schüler ein Vogelnest vom Schulweg<br />
mitgebracht. Das haben wir dann<br />
während vier Stunden untersucht.<br />
Da hat keiner gesagt, dass es ihn<br />
anöde.»<br />
«Den Satz ‹Das trau ich mir<br />
nicht zu› hab ich von einem<br />
hochbegabten Kind noch nie<br />
gehört», sagt Lehrer Berset.<br />
11.30 Uhr, der Unterricht ist aus, die<br />
Kinder gehen nach Hause. Noel<br />
wohnt mit seinen Eltern und seinem<br />
Bruder in einem Einfamilienhaus in<br />
Arth. Cornelia Hohl, Noels Mutter,<br />
steht in der Küche. «Noel war schon<br />
immer sehr interessiert, in den verschiedensten<br />
Bereichen. Wir mussten<br />
ihm viel erklären.» Noel sei den<br />
anderen Kindern stets weit voraus<br />
gewesen. Noch vor dem Kindergarten<br />
konnte er rechnen und schreiben<br />
oder das Alphabet aufsagen. Das sei<br />
schön – und anstrengend, ergänzt<br />
Christoph Hohl: «Nicola, sein kleiner<br />
Bruder, kann sich gut selbst<br />
beschäftigen, Noel fällt das schwerer.»<br />
Ausserdem sei Noel schon<br />
immer sehr kontaktfreudig >>><br />
«In erster Linie<br />
sind es ganz<br />
normale Kinder.»<br />
Thomas Berset<br />
mit Schülern<br />
vom Atelier Plus.<br />
«Die meisten Eltern<br />
fürchten sich vor<br />
der Diagnose»<br />
Das Thema Hochbegabung ist in der<br />
Schweiz noch immer ein Tabu.<br />
Darunter leiden Eltern und Kinder,<br />
sagt Giselle Reimann. Sie führt<br />
an der Uni Basel Abklärungen von<br />
Hochbegabten durch.<br />
Interview: Sandra Casalini<br />
Frau Reimann, wie merke ich, dass mein<br />
Kind hochbegabt ist?<br />
Sehr häufig haben hochbegabte Kinder einen<br />
enormen Wissensdurst. Sie interessieren sich<br />
sehr stark für verschiedene Themen. Sie haben<br />
auch eine sehr gute Auffassungsgabe und können<br />
erstaunlich schnell Schlüsse ziehen. Es<br />
gibt aber auch hochbegabte Kinder, die nach<br />
aussen sehr langsam wirken. Weil sie sehr viel<br />
denken und viel überlegen, bevor sie überhaupt<br />
etwas sagen.<br />
Es ist also gar nicht so einfach, Hochbegabung<br />
zweifelsfrei zu erkennen?<br />
Nein, gerade bei den sogenannten Minderleistern,<br />
bei Kindern, die ihr Potenzial nicht zeigen,<br />
keine guten Noten schreiben, sich im Unterricht<br />
nicht melden, ist es teilweise nicht auf den<br />
ersten Blick erkennbar, dass sie hochbegabt<br />
sind.<br />
Wie schlimm ist es, wenn hochbegabte<br />
Kinder nicht als solche erkannt werden?<br />
Das kann problematisch sein. Bei uns landen<br />
häufig Familien, bei denen dies zu Schwierigkeiten<br />
geführt hat. Wenn ein Kind permanent<br />
auf einem Niveau arbeitet, das eigentlich viel<br />
zu tief ist, kann es überhaupt nicht stolz sein<br />
auf das, was es macht, dann ist es einfach gelangweilt<br />
und auch enttäuscht von den eigenen<br />
Leistungen. Das kann sich negativ auf den<br />
Selbstwert auswirken, und in den schlimmen<br />
Fällen können ernsthafte psychische Probleme<br />
oder Verhaltensauffälligkeiten entstehen.<br />
Sollen Kinder also im Zweifelsfall immer<br />
abgeklärt werden?<br />
Es braucht nicht immer eine Abklärung. Aber<br />
wenn ein Leidensdruck da ist, würde ich das<br />
sehr empfehlen. Eine sorgfältige Abklärung<br />
kann viele Fragen der Eltern beantworten und<br />
vor allem dann auch Lösungsmöglichkeiten<br />
aufzeigen, um die Situation zu entschärfen.<br />
Wie reagieren Eltern auf die Diagnose<br />
«hochbegabt»?<br />
Viele glauben, dass Eltern zu einer Abklärung<br />
kommen und beweisen wollen, dass ihr Kind<br />
hochbegabt ist, und dann ganz stolz sind. Tatsächlich<br />
fürchten sich aber die allermeisten vor<br />
dieser Diagnose. Sie haben Angst vor dem Stigma,<br />
das sie als Eltern bekommen könnten,<br />
66 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule<br />
wenn sie zum Beispiel an die Schule gelangen<br />
und sagen: «Mein Kind hat eine hohe Begabung<br />
und braucht eine spezielle Förderung.»<br />
Es ist wirklich immer noch ein Tabu. Einzelne<br />
Eltern halten die Diagnose dann auch geheim.<br />
Sie machen zwar eine Abklärung, behalten das<br />
Resultat aber für sich.<br />
So etwas machen Eltern?<br />
Ja, das passiert. Ich bedauere das sehr. Bei einer<br />
Abklärung geht es schliesslich nicht nur<br />
darum, die Hochbegabung festzustellen, sondern<br />
vor allem darum, herauszufinden, wie der<br />
Alltag des Kindes verbessert werden kann. Es<br />
wird geschaut, welche individuellen Lösungen<br />
es gibt, die zur Familie passen. Die müssen<br />
dann aber umgesetzt werden, sonst bringt<br />
eine Abklärung wenig. Auch muss man aufpassen,<br />
dass bei der Familie kein «fixed mindset»<br />
entsteht, also kein Glaube, dass die hohen Begabungen<br />
sich nun ohne jede Anstrengung in<br />
hohen Leistungen zeigen müssen.<br />
Haben wir Schweizer ein Problem mit herausragenden<br />
Leistungen? Sind wir lieber<br />
Durchschnitt?<br />
Durchaus. Viel Forschung zum Thema Hochbegabung<br />
kommt aus dem amerikanischen<br />
Raum, und dort ist es viel selbstverständlicher,<br />
dass Leistungen nach oben ausschlagen. Bei<br />
uns sieht man das halt nicht so gerne. In der<br />
Schweiz möchte man, dass alle gleich behandelt<br />
werden. Das ist im Prinzip ja auch ein<br />
schöner Gedanke, aber so wird man nicht allen<br />
gerecht.<br />
Es gibt den Mythos, dass Hochbegabte<br />
intellektuell stark, jedoch sozial schwach<br />
sind. Was spielen solche Vorurteile für eine<br />
Rolle im Umgang mit dem Thema?<br />
Die spielen eine grosse Rolle. Gerade dieser<br />
Mythos hält sich tatsächlich sehr hartnäckig.<br />
Den höre ich immer wieder von Eltern, von<br />
Lehrpersonen und auch von Kindern selber.<br />
Aber das ist wissenschaftlich widerlegt. Es hat<br />
sich gezeigt, dass hochbegabte Kinder sozial<br />
und emotional meist sehr gut zurechtkommen.<br />
Es ist aber so, dass ein Kind, das lange in<br />
einer unpassenden Umgebung ist, emotionale<br />
Probleme entwickeln kann. Das kann zum Beispiel<br />
passieren, wenn es nicht gut gefördert<br />
wird oder wenn es von anderen Kindern wegen<br />
der Hochbegabung abgewiesen wird.<br />
Zur Person<br />
Giselle Reimann ist stellvertretende<br />
Leiterin des Zentrums für Entwicklungsund<br />
Persönlichkeitspsychologie an der<br />
Universität Basel. Sie ist unter anderem<br />
auf die Abklärung und Beratung von<br />
Hochbegabten spezialisiert.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>67
Erziehung & Schule<br />
Jeremia, 9 Jahre alt:<br />
«Am liebsten schreibe ich<br />
an meiner Geschichte»<br />
>>> gewesen, gehe selbstsicher auf<br />
andere Menschen zu. «Als er etwa<br />
fünf Jahre alt war, besuchte er zusammen<br />
mit einem Kind aus dem Dorf<br />
einen Schnuppernachmittag eines<br />
Bewegungs- und Musikkurses. Er<br />
hat dort sofort mitgemacht, während<br />
das andere Kind nur bei seiner Mutter<br />
sass. Am Schluss sagte Noel, es<br />
habe ihm nicht so gefallen, er wolle<br />
nicht wieder hingehen. Sogar wenn<br />
für ihn nicht alles hundertprozentig<br />
passt, hat er kein Problem, sich sofort<br />
in einer neuen Gruppe zurechtzufinden.»<br />
Cornelia Hohl arbeitet als Flight-<br />
Attendant und ist immer wieder<br />
über längere Zeit zu Hause. Christoph<br />
Hohl ist Hausmann, daneben<br />
betreibt er von zu Hause aus eine<br />
kleine Handelsfirma. Beide haben<br />
somit Zeit, ihren Sohn zu fördern<br />
und seinen Wissensdurst zu stillen.<br />
Vor der Einschulung wurde Noel<br />
abgeklärt. Ergebnis: hochbegabt.<br />
Noel geht seit der ersten Klasse ins<br />
Atelier Plus.<br />
Wie reagierte das Umfeld? «Was<br />
Noels Hochbegabung betrifft, haben<br />
wir noch nie negative Erfahrungen<br />
gemacht. Wir machen auch keine<br />
grosse Sache daraus», sagt Cornelia<br />
Hohl. Trotzdem wollen Hohls ihren<br />
Sohn bestmöglich fördern.<br />
Der Vater büffelt mit ihm Mathematik<br />
auf hohem Niveau oder übt<br />
für die Tests in den anderen Fächern.<br />
«Es ist ja nicht so, dass Noel sich die<br />
Jeremia, was machst du in deiner<br />
Freizeit?<br />
Am liebsten schreibe ich an meiner<br />
Geschichte. Es geht um vier Jugendliche<br />
und um Monster. Die Jugendlichen haben<br />
Elementarkräfte, damit müssen sie die<br />
Monster besiegen.<br />
Welches ist dein Lieblingsfach?<br />
Mensch und Umwelt gefällt mir am besten.<br />
Oder auch Deutsch, je nachdem, was<br />
für ein Thema wir gerade haben. Einmal<br />
hatten wir Abenteuergeschichten, das<br />
fand ich cool.<br />
Wie hat man gemerkt, dass du hochbegabt<br />
bist?<br />
In der ersten Klasse war ich einfach<br />
immer viel schneller als die anderen.<br />
Wie ist es, hochbegabt zu sein?<br />
Mir gefällt das gut. Man ist anders als die<br />
anderen und darf ins Atelier Plus gehen.<br />
Was gefällt dir besonders gut im<br />
Atelier Plus?<br />
Am besten gefällt mir, wenn ich beim Forschen<br />
einen Fortschritt erziele.<br />
Was möchtest du einmal werden?<br />
Autor oder Schauspieler.<br />
Nicht Forscher?<br />
Vielleicht, mal schauen.<br />
Karol, 11 Jahre alt:<br />
«Ich will später<br />
Millionär werden»<br />
Karol, was machst du in deiner<br />
Freizeit?<br />
Ich spiele Tennis und gehe ins Karatetraining.<br />
Und ich nehme Gitarrenunterricht.<br />
In der Freizeit spiele ich auf dem<br />
Computer oder gehe raus mit Freunden.<br />
Welches ist dein Lieblingsfach?<br />
Sport, es ist eine gute Abwechslung<br />
zum vielen Sitzen in der Schule.<br />
Wie hat man gemerkt, dass du<br />
hochbegabt bist?<br />
In der ersten Klasse war ich einfach<br />
etwas besser, war immer schneller mit<br />
den Arbeitsblättern.<br />
Wie ist es, hochbegabt zu sein?<br />
In den Filmen werden die Hochbegabten<br />
immer ausgeschlossen, aber bei mir ist<br />
das nicht so. Ich habe viele Freunde und<br />
mir gefällt es, ins Atelier Plus zu gehen.<br />
Was gefällt dir besonders gut im<br />
Atelier Plus?<br />
Mir gefällt, dass der Lehrer die Antwort<br />
auf unsere Fragen manchmal selber<br />
nicht weiss, dann können wir etwas<br />
Neues erforschen.<br />
Was möchtest du einmal werden?<br />
Anwalt oder Bankdirektor. Am liebsten<br />
aber Millionär.<br />
Nicht Forscher?<br />
Vielleicht, aber eher nicht.<br />
68 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Sachen einmal anschaut und sofort<br />
alles kann. Er versteht vielleicht die<br />
Zusammenhänge besser, aber auch<br />
er muss lernen. Manchmal ist das<br />
auch ein ziemlicher Knorz», sagt<br />
Christoph Hohl. Es sei schon wichtig,<br />
dass man dranbleibe, ergänzt<br />
seine Frau: «Wenn er jetzt nicht<br />
lernt zu lernen, dann wird es für ihn<br />
später schwierig.»<br />
«Hochbegabte müssen nicht nur<br />
lernen zu lernen, sondern auch lernen<br />
zu scheitern», sagt Victor Müller-Oppliger.<br />
Früher oder später<br />
kommt auch ein hochbegabtes Kind<br />
an einen Punkt, an dem es nicht so -<br />
fort weitergeht. «Irgendwann kann<br />
hohe Leistung nur mit harter Arbeit<br />
erreicht werden. Dazu gehören auch<br />
immer Misserfolge. Nur wenn ein<br />
Kind genug früh auf seinem Niveau<br />
herausgefordert wird, lernt es, dass<br />
Scheitern dazugehört.»<br />
Kann Noel überhaupt noch Kind<br />
sein? «Definitiv, zum Kindsein<br />
braucht er keine Förderung. Er liebt<br />
Sport oder blödelt rum, was Kinder<br />
halt so machen», sagt Cornelia Hohl.<br />
«Uns ist aber auch wichtig, dass er<br />
sich auch neben der Schule engagiert<br />
und Kinder trifft. Im Chor oder im<br />
Fussball.»<br />
Noel, der bis jetzt zugehört hat,<br />
schaltet sich ein: «Im letzten Fussballmatch<br />
gewann unser Team acht<br />
zu eins. Ich habe sieben Tore ge -<br />
schossen!»
Ernährung & Gesundheit<br />
Bild: iStockphoto<br />
«Mama, ich will die Pille»<br />
Die Pille ist das beliebteste Verhütungsmittel bei Teenagern. Seit diesem Jahr ist ein Präparat<br />
auf dem Markt, das den weiblichen Zyklus verlängert und die Blutungen auf vier im Jahr reduziert.<br />
Darin sehen viele Frauen Vorteile. Aber birgt es auch Risiken? Text: Susanna Steimer Miller<br />
Linda nimmt die Pille, seit<br />
sie 16 ist und einen festen<br />
Freund hat. Schwanger<br />
zu werden, käme für die<br />
Gymnasiastin zurzeit<br />
nicht in Frage. Zudem litt die<br />
17-Jährige während ihrer Menstruation<br />
unter starken Unterleibsschmerzen.<br />
Sie könnte auf die<br />
monatlichen Blutungen gut und<br />
gerne verzichten. Eine neue Pille<br />
könnte der Schülerin jetzt helfen.<br />
Seit diesem Jahr ist in der Schweiz<br />
erst mals eine Pille mit Langzyklus<br />
erhältlich, die ohne Unterbruch eingenommen<br />
wird und nur noch zu<br />
vier Blutungen pro Jahr führt. Ihr<br />
Name: Seasonique.<br />
Stellt sich die Frage, wie geeignet<br />
diese Pille für junge Frauen ist. Ga -<br />
briele Merki leitet an der Frauenklinik<br />
am Universitätsspital Zürich die<br />
Sprechstunde Schwangerschaftsverhütung.<br />
In einer Studie, die die<br />
70 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Medizinerin 2014 durchgeführt hat,<br />
gaben 57 Prozent der Mädchen zwischen<br />
15 und 19 Jahren an, dass sie<br />
ihre Periode als beschwerlich empfinden.<br />
Rund 80 Prozent der befragten<br />
Mädchen hätten die Blutung<br />
lieber weniger als monatlich oder<br />
gar nicht.<br />
«Aus medizinischer Sicht<br />
sind die regelmässigen<br />
Blutungen nicht nötig.»<br />
Menstruation gestern und heute<br />
Braucht es überhaupt eine monatliche<br />
Hormonentzugs- oder Abbruchblutung,<br />
wie sie bei herkömmlichen<br />
Pillen herbeigeführt wird? Sibil<br />
Tschudin, Leitende Ärztin an der<br />
Frauenklinik des Universitätsspitals<br />
Basel, erklärt: «Aus medizinischer<br />
Sicht sind die regelmässigen Blutungen<br />
unter Pilleneinnahme für die<br />
Gesundheit nicht notwendig.» Heute<br />
haben Frauen die Wahl, die Zahl<br />
ihrer Blutungen neben der Pille auch<br />
mit einem Pflaster oder Hormonring<br />
zu reduzieren.<br />
Häufige Blutungen sind eine<br />
Erscheinung der modernen Zeit.<br />
Noch vor etwa 100 Jahren hatten<br />
Frauen im Lauf ihres Lebens durchschnittlich<br />
nur zirka 160 Blutungen,<br />
weil sie zum einen die Periode später<br />
bekamen, zum anderen 10 bis 15<br />
Mal schwanger wurden, 10 Kinder<br />
zur Welt brachten und die 7 oder 8<br />
Überlebenden jeweils während etwa<br />
zwei Jahren gestillt haben.<br />
Die Menstruation wurde früher<br />
also während längerer Zeit durch<br />
zahlreiche Schwangerschaften und<br />
lange Stillzeiten unterbunden. Heute<br />
haben Frauen im Schnitt 450 Mal<br />
in ihrem Leben ihre Blutung, weil sie<br />
nur noch 1 bis 2 Kinder gebären und<br />
die Hälfte der Mütter bereits nach<br />
3 Monaten abstillt.<br />
Junge Frauen setzen auf die Pille<br />
Gemäss der letzten Gesundheitsbefragung<br />
des Bundesamtes für Statistik<br />
aus dem Jahr 2012 verhüten junge<br />
Frauen zwischen 15 und 24 Jahren<br />
am häufigsten mit der Pille. In dieser<br />
Altersgruppe verlassen sich rund 64<br />
Prozent der Frauen auf den zuverlässigen<br />
Schutz.<br />
Auch in Lindas Klasse nehmen drei<br />
Viertel der Mädchen die Pille. Die<br />
meisten versprechen sich neben dem<br />
Empfängnisschutz weitere Vorteile.<br />
Sarah, 16, schätzt die Tatsache, dass<br />
sie ihre Periode dank der Pille regelmässig<br />
bekommt und schwächer hat.<br />
Pia, 16, nimmt die Pille, weil sie seit<br />
Beginn der Pubertät an starker Akne<br />
litt. «Seit ich die Pille nehme, hat sich<br />
mein Hautbild deutlich verbessert»,<br />
sagt sie.<br />
Sibil Tschudin vom Universitätsspital<br />
Basel weiss: «Diese positiven<br />
Begleiterscheinungen machen sich<br />
nicht bei allen Jugendlichen gleich<br />
stark bemerkbar. Die Pille ist kein<br />
Wundermittel, und Mädchen müssen<br />
sich bewusst sein, dass sie ein<br />
Medikament ist.»<br />
Pillen mit niedrigem Risiko<br />
Frühestens mit 14 Jahren dürfen sich<br />
junge Frauen die Pille ohne Einwilligung<br />
ihrer Eltern verschreiben lassen.<br />
Gabriele Merki erklärt: «Einem<br />
vierzehnjährigen Mädchen, das<br />
allein in die Sprechstunde kommt<br />
und mit der Pille verhüten will, verschreiben<br />
wir diese nur dann, wenn<br />
es reif genug ist, eine solche Entscheidung<br />
treffen zu können.» Ein<br />
ausführliches Beratungsgespräch sei<br />
bei jeder Erstverschreibung äusserst<br />
wichtig (siehe Box in der Spalte<br />
rechts).<br />
Seit der Einführung der ersten<br />
Pille in den 1960er-Jahren sind<br />
unzählige Präparate auf den Markt<br />
gekommen. Doch welche Pillen eignen<br />
sich für Mädchen, die >>><br />
Was der Gynäkologe Ihre Tochter<br />
fragen sollte<br />
• Fühlst du dich für den Geschlechtsverkehr<br />
bereit oder kommt der Wunsch von<br />
deinem Freund? Wie alt ist dein Freund?<br />
• Bist du dir bewusst, dass die Pille bei<br />
korrekter Einnahme zuverlässig vor<br />
einer Schwangerschaft, aber nicht vor<br />
Geschlechtskrankheiten schützt? Vor<br />
Geschlechtskrankheiten schützt nur das<br />
Kondom.<br />
• Weisst du, dass die Pille von den meisten<br />
Frauen gut vertragen wird, aber auch<br />
Komplikationen und Nebenwirkungen<br />
auftreten können?<br />
• Zum Thrombose-Risiko:<br />
– Hat jemand in deiner Familie je eine<br />
Thrombose, eine Lungenembolie,<br />
einen Herzinfarkt oder einen<br />
Hirnschlag erlitten?<br />
– Rauchst du?<br />
– Leidest du oder jemand in deiner<br />
Familie an Bluthochdruck, Diabetes,<br />
einer Fettstoffwechselstörung,<br />
Bluterkrankungen, Lebererkrankung,<br />
einem östrogenabhängigen<br />
Karzinom?<br />
– Leidest du an neurologischen<br />
Krankheiten, Epilepsie oder Migräne?<br />
– Weisst du, dass Übergewicht das<br />
Thromboserisiko erhöht?<br />
– Was musst du wissen, wenn du die<br />
Pille mal vergessen oder zu spät<br />
eingenommen hast oder wenn du<br />
Durchfall hattest? Falls du trotz<br />
vergessener Pille Geschlechtsverkehr<br />
gehabt hast, kann die «Pille danach»<br />
vor einer Schwangerschaft schützen.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>71
Ernährung & Gesundheit<br />
Komplikationen sind selten,<br />
Nebenwirkungen wie depressive<br />
Verstimmungen möglich.<br />
>>> zum ersten Mal damit verhüten<br />
wollen? «Jungen Frauen verschreibe<br />
ich am häufigsten Präparate<br />
der zweiten Generation, da sie<br />
über das beste Nutzen-Risiko-Profil<br />
verfügen», erklärt Gabriele Merki.<br />
Diese Kombinationspräparate,<br />
die das Gestagen Levonorgestrel<br />
und das Östrogen Ethinylestradiol<br />
enthalten, haben das kleinste<br />
Thromboserisiko. In Zahlen ausgedrückt,<br />
bedeutet dies: Während zwei<br />
bis drei gesunde Frauen von 10 000,<br />
die keine Pille einnehmen, an einer<br />
Thrombose erkranken, sind es bei<br />
Kombipillen der zweiten Generation<br />
vier bis sechs Frauen während eines<br />
Anwendungsjahres. Das Risiko wird<br />
insbesondere durch die Familiengeschichte,<br />
aber auch durch Übergewicht,<br />
Rauchen und das Alter beeinflusst.<br />
Bei Pillen der dritten und<br />
vierten Generation liegt das Risiko<br />
bei sechs bis zehn zu 10 000.<br />
Auch wenn die Pille von der<br />
gros sen Mehrheit der Frauen gut<br />
vertragen wird und Komplikationen<br />
wie Thrombosen selten auftreten,<br />
sind Nebenwirkungen möglich,<br />
zum Beispiel depressive Verstimmungen,<br />
Gewichtszunahme, Libidoverlust.<br />
Meist machen sich unerwünschte<br />
Wirkungen in den drei Monaten<br />
nach der erstmaligen Einnahme der<br />
Pille bemerkbar. Gabriele Merki<br />
empfiehlt deshalb, nach Ablauf dieser<br />
Zeit eine erste Kontrolle zu ver-<br />
einbaren. Wenn Nebenwirkungen<br />
auftreten, kann ein Wechsel auf ein<br />
anderes Präparat sinnvoll sein.<br />
Neue Pille verlängert Zyklus<br />
Aber wie geeignet ist die neue Pille<br />
für Teenager? In der Zusammensetzung<br />
unterscheidet sie sich nicht von<br />
den herkömmlichen Pillen der zweiten<br />
Generation. In den USA erschien<br />
die Pille bereits 2006, in Österreich<br />
ist sie seit zwei Jahren erhältlich, von<br />
Swissmedic wurde sie sowohl für<br />
junge Mädchen als auch Frauen<br />
zugelassen.<br />
Nachteile gegenüber herkömmlichen<br />
Präparaten der zweiten Generation<br />
sehen Experten nicht. Da -<br />
durch, dass die Pillenpause durch<br />
die kontinuierliche Einnahme wegfällt,<br />
verringert sich die Gefahr, dass<br />
die Frau die nächste Packung verspätet<br />
anbricht und damit einer un -<br />
gewollten Schwangerschaft. Zudem<br />
verkürzt sich die Zeit der Blutung<br />
auf etwa drei Tage, worüber sich<br />
ebenfalls viele Anwenderinnen freuen<br />
dürften. Andererseits könnte<br />
eine Langzeitpille das Gewöhnen an<br />
die monatliche natürliche Menstruation<br />
nach Absetzen erschweren.<br />
Zeichen für Komplikationen<br />
Die Schweizerische Gesellschaft für<br />
Gynäkologie und Geburtshilfe hat eine<br />
Checkliste zusammengestellt, die dabei<br />
helfen soll, Zeichen für Komplikationen<br />
frühzeitig zu erkennen. Eine Frau sollte<br />
mit ihrer Gynäkologin oder ihrem Gynäkologen<br />
Kontakt aufnehmen, wenn:<br />
• sie unter Pilleneinnahme erstmalig<br />
Migräne hat, diese stärker auftritt<br />
oder sie häufig an ungewohnt starken<br />
Kopfschmerzen leidet;<br />
• sie plötzliche Seh-, Hör- oder<br />
sonstige Wahrnehmungsstörungen<br />
hat;<br />
• sie erste Anzeichen thrombo -<br />
em bolischer Erscheinungen hat,<br />
insbesondere Atemnot, unklare<br />
Thoraxschmerzen oder Husten<br />
unklarer Ursache;<br />
• sie unklare Schmerzen in einer<br />
Extremität und/oder Schwellung<br />
eines Beines hat, vor allem nach<br />
Flug- und Busreisen;<br />
• sie sich einer geplanten Operation<br />
unterziehen muss (mindestens vier<br />
Wochen im Voraus) oder sich nach<br />
einem Unfall oder einer Operation<br />
kaum bewegen kann – falls dies nicht<br />
möglich ist, ist eine gezielte Thromboseprophylaxe<br />
notwendig;<br />
• ihr Blutdruck plötzlich erhöht ist<br />
(bei wiederholter Messung);<br />
• Verdacht auf Herzinfarkt oder<br />
koronare Herzkrankheit besteht;<br />
• Verdacht auf Schlaganfall besteht;<br />
• sie an Gelbsucht, Hepatitis oder<br />
Juckreiz am ganzen Körper leidet;<br />
• starke Oberbauchschmerzen oder<br />
Lebervergrösserung auftreten;<br />
• sie schwanger ist oder Verdacht<br />
auf Schwangerschaft besteht.<br />
72 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Mit der Nr. 1 für Familienferien<br />
Wenn die Tochter die Pille will,<br />
machen sich manche Eltern Gedanken,<br />
ob dadurch die Fruchtbarkeit<br />
langfristig beeinträchtigt wird. Sibil<br />
Tschudin: «Die Fortpflanzungsfähigkeit<br />
wird durch die Pilleneinnahme<br />
nicht beeinträchtigt, auch<br />
wenn diese im Langzyklus eingenommen<br />
wird.» Nach Absetzen der<br />
Kombinationspille, unabhängig<br />
davon, ob diese im Monats- oder<br />
Langzyklus eingenommen wurde,<br />
kommt der Zyklus in der Regel<br />
umgehend wieder in Gang.<br />
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Die Reifung des Eibläschens und der Eisprung<br />
werden nur dann zuverlässig unterbunden, wenn<br />
die Pille regelmässig eingenommen wird. Manchen<br />
hilft eine App, um die Einnahme nicht zu vergessen<br />
(z. B. Lady Pill Reminder, myPill Erinnerung). Bei der<br />
Kombina tionspille der zweiten Generation ist die<br />
Verhütung bei einer verspäteten Einnahme bis<br />
maximal 12 Stunden gewährleistet. Danach besteht<br />
kein zuverlässiger Schutz mehr. Bei Pillen im<br />
Monatszyklus erfolgt nach 21- bzw. 24-tägiger<br />
Einnahme eine Pause von 7 bzw. 4 Tagen. Bei<br />
der Pille im Langzyklus wird die Pille ohne Pause<br />
während 91 Tagen eingenommen. 84 Tabletten<br />
enthalten die Kombination Gestagen-Östrogen, die<br />
letzten 7 Tabletten eine niedrige Dosis Östrogen.<br />
Nach Beendigung der Packung erfolgt<br />
keine Pillenpause.<br />
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Digital & Medial<br />
Nicht allein, sondern online<br />
In der Facebookgruppe Basler Mamis 2.0 leisten sich Mütter gegenseitig moderne<br />
Nachbarschaftshilfe und bieten moralische Unterstützung. Dabei scheinen<br />
sie manchmal zu vergessen, dass man im Netz nie anonym ist. Text: Bianca Fritz<br />
Es ist in der Schweiz kein<br />
seltenes Bild: Die frischgebackene<br />
Mama sitzt<br />
allein mit einem Baby<br />
und vielen neuen Fragen<br />
zu Hause. «Ist dieser Ausschlag normal?»,<br />
«Warum weint das Kleine die<br />
ganze Zeit?», und wenn das Kind<br />
dann grösser ist: «Wie löst man nur<br />
diese Matheaufgabe?», «Wie krieg<br />
ich meinen Teenager vom Handy<br />
weg?» oder auch einfach nur «Es<br />
regnet! Was sollen wir mit diesem<br />
Tag anfangen?». Manche dieser Fragen<br />
drängen. Man kann nicht warten,<br />
bis man eine Mama mit Kindern<br />
im ähnlichen Alter trifft.<br />
Genau für solche Situationen<br />
gebe es Facebookgruppen wie die<br />
Basler Mamis 2.0, wie deren Gründerin<br />
erklärt. Hier antwortet nicht<br />
nur eine, hier stehen fast 3800 erfahrene<br />
Mamis bereit. «Wir sind besser<br />
Besser als Google: Die<br />
Mamis bekommen auf jede<br />
Frage eine Antwort, und das<br />
mit geballter Erfahrung.<br />
als Google», behauptet Sandra Hofstetter<br />
und führt aus: «Bei uns be <br />
kommen die Mamis eine Antwort<br />
auf jede Frage. Und wir bringen<br />
unsere geballte Erfahrung mit ein.»<br />
Die 36-Jährige hat die aktivste regionale<br />
Facebookgruppe für Eltern in<br />
der Schweiz (siehe Box Seite 75) vor<br />
sieben Jahren ins Leben gerufen.<br />
Heute wird die Gruppe von fünf<br />
Administratorinnen betreut. Jede<br />
steckt täglich ein bis zwei Stunden<br />
Arbeit in diese ehrenamtliche Aufgabe<br />
– oft noch neben Berufstätigkeit<br />
und Kindererziehung.<br />
Die Administratorinnen sollen<br />
die Frauen wieder zur Ordnung<br />
rufen, wenn der Ton in der Gruppe<br />
zu rau wird. Bei über 50 neuen Posts<br />
pro Tag und noch mehr Kommentaren<br />
ist das eine Menge Arbeit.<br />
Doch die Admins wissen, bei welchen<br />
Themen sie besonders auf der<br />
Hut sein und wirklich jeden Kommentar<br />
mitlesen müssen.<br />
Impfen und Stillen zum Beispiel<br />
sind typische Reizthemen, bei denen<br />
gerne mal «Zickenkrieg» ausbricht,<br />
wie Sandra Hofstetter sagt. Aber<br />
auch bei Fragen, wann man den<br />
Nuggi abgewöhnen sollte (und ob es<br />
überhaupt einen geben darf) und ob<br />
Kleinkinder schon an die Fasnacht<br />
dürfen – und wenn ja, mit welchem<br />
Gehörschutz. «Da kochen die Emotionen<br />
hoch, weil jede eine Meinung<br />
hat und sie für die einzig richtige<br />
hält und dann gegenüber den anderen<br />
Mamis beleidigend wird», sagt<br />
Hofstetter.<br />
«Frag nicht hier! Geh zum Arzt!»<br />
Die Administratorinnen schreiten<br />
auch ein, wenn ein Thema nicht in<br />
die Gruppe passt, wenn es zum Beispiel<br />
zu medizinisch wird. «Wir<br />
haben zwar auch Ärztinnen und<br />
Psychologinnen in unserer Gruppe,<br />
aber all die anderen Frauen geben<br />
gut gemeinte Ratschläge, die manchmal<br />
alles schlimmer machen», be <br />
richtet Hofstetter. Ein Beispiel: Eine<br />
Mutter postete ein Bild vom Hautausschlag<br />
ihres Kindes. «Die anderen<br />
Mamis haben sie völlig verrückt<br />
gemacht, eine meinte sogar, dies<br />
könnte Leukämie sein!» Seither steht<br />
in den Gruppenregeln der Basler<br />
Mamis: Fragt hier nicht nach medizinischen<br />
Ratschlägen, sondern geht<br />
zum Arzt!<br />
Zickenkrieg und gegenseitiges<br />
Reinsteigern in Probleme sind nur<br />
die eine Seite. Die andere Seite –<br />
und wohl auch der Grund, warum<br />
so viele Mamis an der Gruppe hängen<br />
– ist die ungewöhnlich grosse<br />
Hilfsbereitschaft der Frauen unter<br />
74 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Bild: Alexander Preobrajenski<br />
Sandra<br />
Hofstetter (links)<br />
und Basler Mami<br />
Nicole Thomann<br />
zeigen den<br />
Erkennungspin.<br />
einander. Die Medienwissenschaftlerin<br />
Sarah Bizzarri hat für ihre<br />
Masterarbeit ein halbes Jahr lang die<br />
Kommunikation in der Facebookgruppe<br />
untersucht und Mitglieder<br />
und Administratorinnen interviewt.<br />
Ihr Forschungsschwerpunkt lag auf<br />
der Frage, inwiefern die Mütter eine<br />
Gemeinschaft bilden, die über ein<br />
paar Kommentare bei Facebook<br />
hinausgeht.<br />
Ich komme vorbei und helfe dir<br />
Bizzarris Ergebnis: «Wenn eine ein<br />
Problem hat, sind die anderen sofort<br />
da.» So habe sie zum Beispiel beobachtet,<br />
wie Mütter sich gegenseitig<br />
anboten, Kleider und Essen vorbeizubringen,<br />
Hilfe oder einfach Gesellschaft<br />
zu leisten, wenn ein Mami<br />
im Krankenhaus lag oder zu Hause<br />
mit den Kindern überfordert war.<br />
Dabei entstünden feste Freundschaften,<br />
aber auch lose Verbindungen,<br />
die man immer wieder aktivieren<br />
könne, wenn man gerade etwas wissen<br />
oder einfach nicht allein im Park<br />
spazieren gehen wolle.<br />
Treffen im realen Leben seien<br />
keine Seltenheit, würden aber nicht<br />
erwartet. «Das ist einzigartig: Mütter,<br />
die in unserer Gesellschaft oft<br />
isoliert sind, finden echte Hilfe,<br />
ohne sich selbst zu sehr verpflichten<br />
zu müssen», beschreibt Bizzarri ihr<br />
Ergebnis. Und fügt im Hinblick auf<br />
den manchmal sehr rauen Ton hinzu:<br />
«Ein bisschen ist das wie in einer<br />
Familie: Man streitet sich heftig.<br />
Aber man hilft sich auch, wenn es<br />
darauf ankommt.»<br />
Bizzarri schreibt in ihrem Fazit,<br />
dass sich die Trennung zwischen<br />
Online- und Offlinebeziehungen<br />
heute nicht mehr aufrechterhalten<br />
liesse. In Bezug auf Jugendliche hat<br />
man das schon häufiger gehört, in<br />
Be zug auf ihre Eltern oder in diesem<br />
Falle die Mütter selten.<br />
Sind wir normal?<br />
Neben der handfesten Unterstützung<br />
– der modernen Nachbarschaftshilfe<br />
– bietet die Facebookgruppe vor<br />
allem emotionalen Beistand. Mehrmals<br />
täglich findet man hier die Frage,<br />
ob das, was man als Mami fühlt,<br />
oder das, was das Kind macht, denn<br />
normal sei. «Die gegenseitige Rückversicherung,<br />
dass man nicht >>><br />
Die Basler Mamis 2.0 und andere<br />
Facebookgruppen<br />
Die Facebookgruppe Basler Mamis 2.0 wurde<br />
erstmals 2010 von Sandra Hofstetter und ihrer<br />
Cousine ins Leben gerufen. Die Idee war, eine<br />
regionale Verkaufsplattform für Kindersachen<br />
anzubieten. Da der Verkauf oft für Streit sorgte,<br />
schlossen die Frauen die Gruppe wieder und<br />
gründeten 2015 die Basler Mamis 2.0 als reine<br />
Diskussionsplattform. Mit rund 3800 Mitgliedern ist<br />
sie die grösste und aktivste ortsgebundene<br />
Facebookgruppe für Mütter in der Schweiz. Der<br />
Verkauf ist jetzt ausdrücklich verboten.<br />
Sarah Bizzarri untersuchte in ihrer Masterarbeit<br />
auch andere Gruppen wie die Mamis usem Berner<br />
Oberland, Mamis usem Kanton Luzern und<br />
Umgäbig, Solothurner und Aargauer Mamis, die<br />
Thurgauer Mamis und die Mamis vom Kanton<br />
Züri. Sie alle haben weit weniger Mitglieder und<br />
Diskussionsbeiträge pro Tag als die Basler<br />
Mamis 2.0. In keiner anderen Gruppe fand die<br />
Wissenschaftlerin ausserdem einen solchen<br />
Zusammenhalt und eine solche Offenheit wie bei<br />
den Basler Mamis. Die Medienwissenschaftlerin<br />
führt dies vor allem auf die sehr aktiven und<br />
engagierten Administratorinnen in Basel zurück.<br />
Auch die Gruppe der Basler Papis, die ein Partner<br />
einer Administratorin der Basler Mamis gründete,<br />
ist eher eine stille Gruppe mit 200 Mitgliedern.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>75
Warum geben die Mamis<br />
so viel von sich preis?<br />
Viele können es selbst<br />
nicht erklären.<br />
>>> allein ist, hat einen hohen<br />
Stellenwert», sagt Bizzarri.<br />
Wie intim darf es denn sein?<br />
Zudem wollen sich die Frauen<br />
manchmal auch einfach auskotzen.<br />
Über das Restaurant um die Ecke,<br />
das für Kinder kein Hahnenwasser<br />
servieren will, aber auch über den<br />
fünfjährigen Sohn, der sich partout<br />
weigert, selber Socken und Schuhe<br />
anzuziehen.<br />
Ja, und manchmal fallen auch<br />
böse Sätze über den Partner, von<br />
dem sich die Frauen mehr Unterstützung<br />
wünschen. Über den Partner<br />
und das eigene Kind im Internet<br />
schimpfen? Das Anmeldeprozedere<br />
bei den Basler Mamis vermittelt das<br />
Gefühl, dass man unter sich ist: Mitlesen<br />
können in der geschlossenen<br />
Facebookgruppe nur Mitglieder der<br />
Basler Mamis 2.0. Und Mitglied der<br />
Gruppe wird nur, wer von den<br />
Administratorinnen bestätigt wird.<br />
«Dafür prüfen wir, ob die Frau<br />
wirklich aus Basel kommt und ein<br />
realistisches Profil mit einigen<br />
Angaben und Fotos von sich hat»,<br />
sagt Hofstetter.<br />
Dennoch sieht auch die Gründerin<br />
der Basler Mamis die Offenheit<br />
der Frauen kritisch. «Wir hatten<br />
schon mehrfach die Frage: ‹Wie oft<br />
habt ihr noch Sex?›, und viele haben<br />
eine Zahl genannt. Ich glaube, diese<br />
Frauen vergessen einfach, wie viele<br />
wir sind und über welche Ecken<br />
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Digital & Medial<br />
man sich kennen könnte», sagt<br />
Hofstetter. Zudem bleibt die Gefahr,<br />
dass einer, der einem Böses will,<br />
jederzeit einen Screenshot machen<br />
und ausserhalb der Gruppe verbreiten<br />
könnte.<br />
Auch Sarah Bizzarri hat in ihrer<br />
Masterarbeit festgestellt, dass die<br />
Frauen ins Straucheln kommen,<br />
wenn sie erklären sollen, warum sie<br />
in der Facebookgruppe so offenherzig<br />
sind. «Man ist halt ein Stück weit<br />
anonym», sagen sie, obwohl viele<br />
mit Profilbild und echtem Namen<br />
bei Facebook registriert sind.<br />
Und dann gibt es natürlich auch<br />
noch jene, die gar nicht unbedingt<br />
anonym bleiben wollen. Sie kaufen<br />
Buttons, Schlüsselanhänger und<br />
Ta schen mit dem Logo der Basler<br />
Mamis, damit sie einander auf der<br />
Strasse erkennen können. Manchmal<br />
braucht es dafür aber gar keine<br />
Accessoires. Hofstetter: «Ich sass in<br />
einem Internetcafé in Ägypten, und<br />
neben mir hatte eine Frau unsere<br />
Seite am PC offen. Sie postete liebe<br />
Grüsse und dass sie in Ägypten sei.<br />
Und ich antwortete ‹Ich weiss, denn<br />
ich sitze neben dir›. Das verdutzte<br />
Gesicht war grossartig.» Spätestens<br />
in diesem Moment muss der anderen<br />
Mami klargeworden sein: «Ich<br />
bin nicht nur nicht allein, sondern<br />
auch nicht anonym.»<br />
>>><br />
Bianca Fritz<br />
Leiterin Online-Redaktion, liebt<br />
Facebookgruppen. Sie holt dort Rat zu<br />
Hundepflege, kauft und verkauft<br />
Gebrauchtes. Bei persönlichen Themen<br />
vertraut sie lieber auf Freunde und Familie.<br />
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April <strong>2017</strong>77
Digital & Medial<br />
Ich snap dir!<br />
Teenager sind begeistert, Erwachsene<br />
verstehen es nicht. Snapchat ist der<br />
digitale Hype der jugendlichen Stunde.<br />
Wieso eigentlich? Text: Michael In Albon<br />
Bild:Swisscom<br />
Für Teenager scheint die<br />
App mit dem niedlichen<br />
Geist auf gelbem Grund<br />
unverzichtbar. Das Spezielle:<br />
Die versendeten<br />
Bilder können nur für ganz kurze<br />
Zeit angeschaut werden, dann verschwinden<br />
sie wieder. Laut der<br />
JAMES-Studie 2016 zum Mediennutzungsverhalten<br />
von Jugendlichen<br />
hat Snapchat bei den Jüngeren<br />
inzwischen Facebook hinter sich<br />
gelassen. Die Anwendung zählt bei<br />
den Befragten zwischen 12 und 19<br />
Jahren mit Instagram und Whats<br />
App zu den drei meistgenutzten<br />
Social-Media-Apps. 80 Prozent<br />
haben ein Konto bei Snapchat.<br />
Mit Snapchat haben Jugendliche<br />
einen digitalen Ort gefunden, an<br />
dem sie sich ausleben können, weil<br />
diese Plattform noch weitgehend<br />
frei von Eltern und anderen Erwachsenen<br />
scheint. Viele Teenager nutzen<br />
die App für Schnappschüsse,<br />
sogenannte Snaps. Sie schiessen<br />
Fotos und legen Filter drauf – etwa<br />
fürs Gesicht oder die Umgebung.<br />
Damit können sie sich, dem Freund<br />
oder der Freundin einen Blumenkranz<br />
oder einen Schnauz verpassen.<br />
Sticker, Malereien, Texte, Uhrzeit,<br />
Datum, Temperatur und Ort<br />
hinzufügen. Und besonders spannend<br />
für die Jugendlichen: Sitzen<br />
zwei Personen nebeneinander, können<br />
sie mittels der Funktion Swap-<br />
Face die Gesichter vertauschen.<br />
Die Bilder oder kurzen Videosequenzen<br />
werden anschliessend<br />
direkt an Freunde verschickt oder in<br />
die sogenannte «Story» gepackt. In<br />
dieser können die Nutzer im Laufe<br />
des Tages Inhalte sammeln und so<br />
eine Geschichte erzählen, die sich<br />
die Freunde ansehen können.<br />
Snap und weg?<br />
Viele Teenager sind auf Snapchat ein<br />
wenig mutiger als etwa auf Instagram,<br />
denn sie wissen: Die Videos<br />
verschwinden wieder – 24 Stunden<br />
bleiben die Bilder oder Videoschnipsel<br />
online. Und der Empfänger kann<br />
die Snaps maximal zehn Sekunden<br />
ansehen. Die Kommunikation mit<br />
den Snaps funktioniert schnell,<br />
intensiv, bunt, heftig und irgendwie<br />
schrill. Ein Abbild des Alltags von<br />
Teenagern eben: Man muss ständig<br />
präsent sein, um Aufmerksamkeit<br />
buhlen, darf nichts verpassen.<br />
Wie sicher ist die App? Dass der<br />
Empfänger einen Screenshot eines<br />
Snaps machen kann, daran denken<br />
geübte Snaper sehr wohl. Sie kennen<br />
auch die Apps, die Snapchat-Bilder<br />
speichern, SnapSave etwa. Trotzdem<br />
bleibt es für Sie als Eltern wichtig,<br />
mit Ihren Kindern genau solche<br />
Sicherheitslücken zu besprechen.<br />
Indem Sie sich über die Anwendungen<br />
Ihrer Kinder schlau machen<br />
und ihnen etwa bei Snapchat aufzeigen:<br />
Das Versprechen, die Bilder<br />
nach spätestens zehn Sekunden<br />
nicht mehr einsehbar zu machen,<br />
kann Snapchat nicht halten. Technik<br />
hin oder her: Jede Einschränkung ist<br />
umgehbar. Deshalb braucht es eine<br />
kritische Haltung, die uns Eltern<br />
und unsere Kinder Schritt für Schritt<br />
zu medienkompetenten Nutzern<br />
macht.<br />
Michael In Albon<br />
Michael In Albon ist Beauftragter<br />
Jugendmedienschutz und Experte<br />
Medienkompetenz von Swisscom.<br />
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digitalen Medien im Familienalltag.<br />
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78 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Bling – Sie haben soeben zum 50 000. Mal<br />
«Iss über dem Teller» gesagt.<br />
Sie gewinnen den goldenen Elternpapagei.<br />
Tweet von @ninubinu<br />
Dick, schlaflos und<br />
schlecht entwickelt –<br />
sind die Medien schuld?<br />
Buchtipp: Von Forscherinnen<br />
und Vierbeinern<br />
Emma will Verhaltensforscherin für Tiere werden. Aber ihr Start ist<br />
harzig. Denn weder die Echsen ihrer Zwillingsbrüder, die die Namen der<br />
Minions tragen, noch die Schildkröte Herkules sind besonders spannende<br />
Forschungsobjekte. Eigentlich sitzen sie nur herum, manchmal fressen sie<br />
vielleicht noch. Kein Wunder, dass Emma völlig ausflippt vor Freude,<br />
als ein Hund in die Familie kommen soll. Blöd nur, dass Krümel gar<br />
nichts mit Emma zu tun haben will, sondern die grantige Oma sehr viel<br />
spannender findet. Und dann auch noch verschwindet … Mit ganz viel<br />
Witz und Liebe kreiert Autorin Kirsten John Charaktere, die Kindern<br />
ab neun Jahren grosse Freude machen.<br />
Kirsten John: Das Krümel-Projekt. Ein Hund auf Glücksmission.<br />
Arena, <strong>2017</strong>. 165 Seiten mit einigen Illustrationen, rund 15 Franken.<br />
Bilder: fotolia, ZVG<br />
Beim deutschen Jugendmedizinkongress im März<br />
haben Ärzte Alarm geschlagen. Denn die erste Auswertung<br />
der BLIKK-Medien-Studie legt nahe, dass die<br />
Mediennutzung von Kindern starken Einfluss auf<br />
weitere Lebensbereiche hat. BLIKK steht für «Bewältigung,<br />
Lernverhalten, Intelligenz, Kompetenz und<br />
Kommunikation», und im Rahmen einer Querschnittsstudie<br />
wurden in 84 Arztpraxen insgesamt 5650<br />
Patienten bis 14 Jahre befragt. Die bisherigen Ergebnisse<br />
nach 3200 Auswertungen:<br />
• Im Alter bis zu sechs Jahren hängen Ausmass und<br />
Intensität des Medienkonsums eindeutig mit den<br />
von Ärzten vermehrt festgestellten Sprachentwicklungsstörungen<br />
zusammen.<br />
• Ab dem siebten Lebensjahr gibt es klare Zusammenhänge<br />
zwischen den schulischen Leistungen, ADHS<br />
sowie sozial bedingten Störungen und der Dauer der<br />
Nutzung digitaler Medien.<br />
• Im Schul- und Jugendalter treten vermehrt Schlafstörungen<br />
und auch Angststörungen auf.<br />
• Übergewicht im Kindes- und Jugendalter korreliert<br />
mit extremem Medienkonsum und insbesondere<br />
mit der dabei eingenommenen Menge an Süssigkeiten<br />
und Süssgetränken.<br />
Quelle: aerztezeitung.de. In den kommenden Monaten sollen weitere<br />
Ergebnisse veröffentlicht werden – wir behalten das für Sie im Blick.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
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EIN FILM VON<br />
MARIE-CASTILLE MENTION-SCHAAR<br />
Jetzt im Kino<br />
Junge Frauen im Bannkreis religiöser Fundamentalisten. Ein<br />
starker Film über ein aktuelles gesellschaftliches Phänomen.<br />
April <strong>2017</strong>79<br />
PHOTO GUY FERRANDIS
Service<br />
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an die Partner und Sponsoren der Stiftung Elternsein:<br />
Finanzpartner Hauptsponsoren Heftsponsoren<br />
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Credit Suisse AG<br />
Rozalia Stiftung<br />
UBS AG<br />
Mirjam und Martin Bisang Staub<br />
Impressum<br />
17. Jahrgang. Erscheint 10-mal jährlich<br />
Herausgeber<br />
Stiftung Elternsein,<br />
Seehofstrasse 6, 8008 Zürich<br />
www.elternsein.ch<br />
Präsidentin des Stiftungsrates:<br />
Dr. Ellen Ringier, ellen@ringier.ch,<br />
Tel. <strong>04</strong>4 400 33 11<br />
(Stiftung Elternsein)<br />
Geschäftsführer: Thomas Schlickenrieder,<br />
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Redaktion<br />
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13 Photo AG, Zürich<br />
Korrektorat<br />
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(WEMF/SW-beglaubigt 2016)<br />
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davon verkauft 18 572<br />
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Schweizerisches Institut für Kinder- und<br />
Jugendmedien<br />
Stiftungspartner<br />
Pro Familia Schweiz / Pädagogische Hochschule<br />
Zürich / Elternbildung CH / Marie-Meierhofer-<br />
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Schweiz / Schweizerischer Verband<br />
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Kinderbetreuung Schweiz<br />
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80 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Buchtipps<br />
Fischer KJB,<br />
<strong>2017</strong>, Fr. 17.90,<br />
ab 8 Jahren<br />
Weg mit Knut!<br />
Bester Freund hin<br />
oder her – Knut<br />
muss weg, nur<br />
dann kann William<br />
gesund werden.<br />
Autor Jesper<br />
Wung-Sung lässt<br />
den unsichtbaren Freund zur<br />
Metapher einer Krebskrankheit<br />
werden.<br />
Hanser, <strong>2017</strong>, Fr. 22.90,<br />
ab 12 Jahren<br />
Sie sind immer da, hören einem zu oder<br />
spenden in schwierigen Situationen Trost:<br />
die imaginären Freunde. Als Kater,<br />
Kind oder Löwe treiben sie sich auch<br />
gerne in Kinderbüchern herum.<br />
Beste Freunde aus der Fantasie<br />
Aus dem Leben eines Unsichtbaren<br />
Crenshaw. Einmal<br />
schwarzer Kater<br />
Jacksons Familie<br />
plagen schon<br />
wieder Geldsorgen.<br />
Mit den<br />
Eltern kann<br />
Jackson nicht<br />
über seine Ängste reden – aber mit<br />
Crenshaw, dem schwarzen Kater, der<br />
jetzt für ihn da ist.<br />
Fischer Sauerländer, 2016,<br />
Fr. 17.90, ab 8 Jahren<br />
Bilder: ZVG<br />
Karlsson vom Dach ist<br />
wohl der bekannteste<br />
Vertreter seiner Gattung.<br />
Der schöne,<br />
gescheite und gerade<br />
richtig dicke Mann in seinen besten<br />
Jahren – wie er sich selbst unbescheiden<br />
bezeichnet – unterhält in<br />
drei Büchern von Astrid Lindgren<br />
den kleinen Lillebror und hilft ihm,<br />
mutiger und selbstsicherer zu werden.<br />
Ob es Karlsson wirklich gibt? So<br />
genau lässt sich das nicht sagen. Die<br />
erwachsenen Leserinnen und Leser<br />
jedenfalls sehen in ihm gerne einen<br />
imaginären Freund – eine Figur, wie<br />
viele Kinder in einem gewissen<br />
Alter sie sich erschaffen. Imaginäre<br />
Freunde sind in der Kinderliteratur<br />
beliebt. Sie ermöglichen es, ein Alter<br />
Ego des Kindes darzustellen, seine<br />
Gedanken mit jemandem teilen zu<br />
lassen.<br />
Kasimir Karton, zeit seines<br />
Lebens unsichtbarer Freund, erzählt<br />
nun selbst aus der misslichen Situation,<br />
in der er sich befindet. Schon<br />
immer hat er damit gelebt, dass die<br />
Bustüre vor seiner Nase zugeht, er<br />
im Turnen nie in die Mannschaft<br />
gewählt wird und die Eltern schon<br />
mal vergessen, ihm einen Gutenachtkuss<br />
zu geben. Aber als es<br />
traurige Gewissheit wird, dass er<br />
nur in der Fantasie seiner «Schwester»<br />
Fleur existiert, fällt für Kasimir<br />
eine Welt zusammen. Trost erhält er<br />
in der Selbsthilfegruppe der Anonymen<br />
Eingebildeten – und bald findet<br />
er auch wieder einen Freund,<br />
der ihn wirklich braucht.<br />
Michelle Cuevas,<br />
1982 in den USA<br />
geboren,<br />
studierte Kunst<br />
und Kreatives<br />
Schreiben.<br />
Marta & ich<br />
Der Löwe, den<br />
Marta gemalt hat,<br />
steigt einfach aus<br />
dem Bild!<br />
Zusammen<br />
erleben die zwei in<br />
diesem fantasievollen<br />
Bilderbuch des Schweizer<br />
Illustratorinnenduos It’s Raining<br />
Elephants wilde Abenteuer.<br />
Atlantis, <strong>2017</strong>, Fr. 29.90,<br />
ab 4 Jahren<br />
Verfasst von Elisabeth Eggenberger,<br />
Mitarbeiterin des Schweizerischen<br />
Instituts für Kinder- und<br />
Jugendmedien SIKJM.<br />
Auf www.sikjm.ch/rezensionen sind<br />
weitere B uch empfehlungen zu finden.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
April <strong>2017</strong>81
Eine Frage – drei Meinungen<br />
Der beste Freund unseres Sohnes, 13, betitelt alle möglichen Personen<br />
als «schwul». Wie sollen wir eingreifen, wenn fremde Kinder<br />
Schimpfwörter benutzen? Claudia, 37, und Marc, 38, Suhr AG<br />
Nicole Althaus<br />
Der Junge ist alt genug, um<br />
eine klare Ansage zu hören:<br />
dass «schwul» kein Schimpfwort<br />
ist, sondern eine sexuelle<br />
Ausrichtung. Dass es genau<br />
so falsch und sexistisch ist,<br />
«schwul» als Schimpfwort zu<br />
gebrauchen, wie «Nigger»<br />
rassistisch ist und dass Sie<br />
deshalb das in ihrem Haus nicht dulden.<br />
Tonia von Gunten<br />
Greifen Sie ein, und zwar so:<br />
«Du bezeichnest andere Menschen<br />
als schwul. Darüber<br />
möchte ich mit dir reden.<br />
Mich stört, dass du das sagst,<br />
und ich weiss nicht, was daran<br />
lustig sein soll. Ich wünsche<br />
mir, dass du deinen<br />
Umgang mit Leuten überdenkst<br />
und damit aufhörst, Mitmenschen aufgrund<br />
ihres Aussehens oder ihrer sexuellen Präferenz zu beleidigen.<br />
Wie siehst du das?»<br />
Peter Schneider<br />
Wenn der Freund Ihres Sohnes<br />
einen gewissen Sinn für<br />
paradoxe Ironie hätte, könnten<br />
Sie ihm sagen, sie fänden<br />
den Gebrauch des Wortes<br />
«schwul» als Schimpfwort<br />
«total behindert» und wollten<br />
das Wort daher in Ihrer<br />
Gegenwart nicht mehr hören.<br />
Andererseits müssen sie auch nicht allzu hysterisch<br />
reagieren, denn ein Schwulenhasser wird man kaum<br />
deshalb, weil man in seiner unbedarften Jugend un <br />
angemessenen Schimpfwörtern ausgesetzt war. Man<br />
wird auch keine Nymphomanin, weil die Freundin<br />
alles «geil» findet.<br />
Nicole Althaus, 48, ist Kolumnistin, Autorin<br />
und Mitglied der Chefredaktion der «NZZ am<br />
Sonntag». Zuvor war sie Chefredaktorin von «wir<br />
eltern» und hat den Mamablog auf «Tagesanzeiger.<br />
ch» initiiert und geleitet. Nicole Althaus ist Mutter<br />
von zwei Kindern, 16 und 12.<br />
Tonia von Gunten, 43, ist Elterncoach, Pädagogin<br />
und Buchautorin. Sie leitet elternpower.ch, ein<br />
Programm, das frische Energie in die Familien<br />
bringen und Eltern in ihrer Beziehungskompetenz<br />
stärken möchte. Tonia von Gunten ist verheiratet<br />
und Mutter von zwei Kindern, 10 und 7.<br />
Peter Schneider, 59, ist praktizierender<br />
Psychoanalytiker, Autor und SRF-Satiriker («Die<br />
andere Presseschau»). Er lehrt als Privatdozent<br />
für klinische Psychologie an der Uni Zürich und<br />
ist Professor für Entwicklungspsychologie an<br />
der Uni Bremen. Peter Schneider ist Vater eines<br />
erwachsenen Sohnes.<br />
Haben Sie auch eine Frage?<br />
Schreiben Sie eine E-Mail an:<br />
redaktion@fritzundfraenzi.ch<br />
Bilder: Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo, Pino Stranieri, HO<br />
82 April <strong>2017</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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